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Top-Rezensenten Übersicht

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Lesendes Federvieh
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München
Über mich: 
Hinter dem Namen Lesendes Federvieh verbirgt sich das Blogger-Duo kathiduck und Zwerghuhn. Wir lesen querbeet alles, was uns zwischen die Finger kommt und veröffentlichen die Rezensionen dazu auf unserem Blog (lesendes-federvieh.de). Dort gibt es übrigens noch viele weitere Beiträge rund ums Thema Buch. :)

Bewertungen

Insgesamt 539 Bewertungen
Bewertung vom 13.09.2020
Hin und nicht weg
Keil, Lisa

Hin und nicht weg


ausgezeichnet

Als ihr alles zu viel wird, packt Anabel ihre Sachen, kehrt Berlin den Rücken und fährt spontan auf die Hochzeit ihres Cousins Lasse ins ländliche Neuberg. Dort trifft sie auf den charmanten Tierarzt Rob Schürmann, der ihr unverhofft einen Aushilfsjob in seiner Praxis anbietet. Mit ihrem selbstbewussten Auftreten und den bunten Tattoos sticht die leidenschaftliche Kellnerin und Hobbybäckerin heraus, sodass Rob und sie zwischen Hufverbänden, flirtenden Tierbesitzerinnen und kalbenden Kühen immer wieder aneinandergeraten und sich gleichzeitig näherkommen. Doch plötzlich ändert ein dramatischer Notfall alles.

Mochte ich Lisa Keils Debüt „Bleib doch, wo ich bin“ schon unglaublich gerne, so hat sie mit „Hin und nicht weg“ noch einen draufgesetzt. Innerhalb kürzester Zeit haben sich der sympathische Rob und vor allem die eigenwillige Anabel mit ihren bunten Tattoos und der lebendigen Art in mein Herz geschlichen.

Charismatischer, gutaussehender Tierarzt trifft auf rotzfreche Großstadtgöre, die sich angenehm erfrischend von den schmachtenden Tierbesitzerinnen abhebt – all das klingt schon nach den perfekten Zutaten für einen locker, fluffigen Sommerroman, doch die Geschichte der beiden begeistert durch so viel mehr. Zum einen sind das die spannenden Einblicke in den Berufsalltag von Rob inklusive der herzerwärmenden Schicksale der kleinen wie großen Patienten, zum anderen sorgen die herrlich frechen Dialoge für ein breites Dauergrinsen und ein kribbelndes Glücksgefühl in der Magengegend. Die liebgewonnen Charaktere des vorherigen Bandes haben ebenfalls kleine Gastauftritte, was sich wie Heimkommen anfühlt.

Dank der wechselnden Erzählperspektiven gewinnt die Geschichte zusätzlich an Tiefe, Authentizität und Vielfalt. So wird gleich zu Beginn klar, dass Rob seit der Jugend romantische Gefühle für seine beste Freundin Kaya hegt, die allerdings jemand anderen heiratet. An dieser Stelle betritt Anabel die Bühne, die Neuberg als willkommene Auszeit von ihren Zukunftssorgen sieht und sich unter keinen Umständen in den Dorfschönling – wie sie Rob bezeichnet – verlieben möchte. Auch wenn natürlich klar ist, dass die beiden ihre Rechnung ohne die Liebe gemacht haben, kommt während des Lesens kein Hauch von Langeweile auf, vielmehr fiebert man eifrig mit den beiden mit.

„Hin und nicht weg“ ist der zweite Roman der Tierärztin und Autorin Lisa Keil, welcher dank der witzigen Dialoge sowie der herrlichen menschlichen wie tierischen Nebencharaktere für tolle Lesestunden sorgt und gefühlt viel zu schnell vorbei ist. Dabei ist es übrigens nicht zwingend notwendig den vorherigen Band, „Bleib doch, wo ich bin“, gelesen zu haben.

Bewertung vom 12.09.2020
Klee Wyck - Die, die lacht
Carr, Emily

Klee Wyck - Die, die lacht


sehr gut

Die Malerin Emily Carr gab 1941 mit Klee Wyck ihr Debüt als Schriftstellerin. In 21 Kurzgeschichten erzählt sie von der indianischen Kultur und Lebensweise in Kanada. Sie lässt sich nicht von gesellschaftlichen Konventionen verbiegen und beschreibt daher die Ureinwohner, ihren Alltag und ihre Bräuche authentisch, vorurteilsfrei und natürlich. Sie gibt ihnen eine Stimme und sieht auch das Verhalten der Siedler mit kritischem Blick.

Durch ihre schlichte und direkte Sprache lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche, die Menschen und die Landschaft. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund und schreibt ihre Eindrücke genau so auf, wie sie auch tatsächlich waren. Sie tut dies mit solch einer Intensität, es ist eine wahre Freude, ihre Aufzeichnungen zu lesen. Aber nicht nur ihre Reportagen sind kleine Perlen, sondern auch die Illustrationen, die jede neue Geschichte begleiten, sind einzigartig gestaltet.

Mir hat es große Freude bereitet Emily Carr ein Stück weit auf ihren Erkundungsreisen in die indianische Kultur zu begleiten. Sie schafft es nicht nur auf der Leinwand Bilder zu erschaffen, sondern auch auf Buchseiten, die dem Leser eine faszinierende, unbekannte Welt vor Augen führen. Kein Wunder, dass Klee Wyck ein beliebter Klassiker geworden ist.

Fazit: Unverblümter Einblick in die Lebensweise der Ureinwohner Kanadas

Bewertung vom 04.09.2020
Es könnte stürmisch werden
Overbeck, Maja

Es könnte stürmisch werden


sehr gut

Jana hat sich spontan entschieden ihr Leben umzukrempeln, einen Neuanfang in Hamburg zu wagen und ihrer Wahlheimat New York den Rücken zu kehren. An ihrem ersten Abend an der Hotelbar begegnet sie Hek, gutaussehend, charmant und unwiderstehlich. Doch der tolle Abend endet im Desaster. Dabei hat sie schon genug andere Probleme, noch keine Wohnung und ihre Teenagertochter weiß auch noch nichts von ihrem Umzug nach Hamburg. Jana beschließt sich nur noch mit dem Wesentlichen zu beschäftigen. Doch dabei hat sie nicht damit gerechnet, dass sie Hek in ihrem neuen Leben nicht ausweichen kann...

Maja Overbeck ist auch mit ihrem zweiten Buch "Es könnte stürmisch werden" wieder ein kurzweiliger und sehr unterhaltsamen Roman gelungen, um auf angenehme Weise aus dem Alltag abzutauchen.

Durch die Wahl der Schauplätze im hohen Norden war es wie ein kleiner Kurzurlaub mal wieder in Hamburg und Sankt-Peter-Ording ein bisschen Zeit zu verbringen. Dabei beschreibt die Autorin diese beiden wunderschönen Orte so gut, dass ich durch Hamburg spazieren ging und beim Kite-Surfen in SPO den Wind, das Meer, die Sonne gespürt habe und die angenehme, chillige Atmosphäre am Strand auf mich übergegangen ist.

Genau vor dieser herrlichen Kulisse spielt die knisternde, turbulente Liebesgeschichte zwischen Hek und Jana. Es hat richtig Spaß gemacht die lockere Geschichte zu lesen, denn dieser Roman verfügt für mich über all das, was einen guten Liebesroman ausmacht: Humor, Romantik, Spannung, aber auch Tiefgang.

Durch den flotten und angenehmen Schreibstil der Autorin und die liebevoll und authentisch ausgearbeiteten Charaktere verflogen die Seiten im Nu. Für angenehme Lesestunden im Liegestuhl in der Sonne oder einfach im kuscheligen Lesesessel ist "Es könnte stürmisch werden" die perfekte Lektüre.

Fazit: Stürmische Liebesgeschichte vor opulenter Kulisse

Bewertung vom 04.09.2020
Liebe machen
Wolff, Moses

Liebe machen


sehr gut

Das Münchner Oktoberfest im Herbst 1970. Ein magischer Ort für Dagmar und Götz. Denn dort begegnen sich die beiden das erste Mal und die Welt scheint für einen Augenblick stehen zu bleiben. Im Getümmel der vielen Besucher verlieren sie sich aus den Augen. Doch ein Jahr später treffen sie sich an gleicher Stelle wieder. Einen Kuss später ist der magische Moment schon wieder vorbei, ihre Wege trennen sich. Jeder führt sein eigenes Leben, ohne zu wissen, wie nahe sie sich manchmal kommen...

Moses Wolff hat mit "Liebe machen" einen erfrischenden, kurzweiligen Roman vorgelegt, mit dem man herrlich aus dem Alltag abtauchen kann. Auf dieser vergnüglichen Reise durch die vergangenen 50 Jahre haucht man mit jeder Seite das Lebensgefühl des jeweiligen Jahrzehnts ein. Dazu tragen auch die liebevoll und authentischen Charaktere bei, allen voran Dagmar und Götz. Die beiden verbindet eine bittersüße Liebesgeschichte, bei der man das ganze Buch über hofft, dass sie doch noch zusammen kommen.

Flott und spannend geschrieben verflogen die Lesestunden im Nu. Denn neben "a guaden" Unterhaltung kamen ziemlich viele "Ach ja, genau so war's"- Gedanken beim Lesen auf. Das fand ich super.

Es hat mir großen Spass bereitet, "Liebe machen" zu lesen, die Kombination aus Anekdoten aus der Musikszene (z.B. Jimi Hendrix), Lokalkolorit mit dem Oktoberfest wie es einmal war und einer unerfüllten Liebe passte wunderbar. Dazu noch das tolle Cover ( es leben die Pril-Blumen), was will das Leseherz mehr.

Fazit: Beste Unterhaltung für zwischendurch

Bewertung vom 04.09.2020
Die Unschärfe der Welt
Wolff, Iris

Die Unschärfe der Welt


ausgezeichnet

Iris Wolff erzählt die wechselvolle Geschichte einer rumänischen Großfamilie vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Ostblocks. Sie verknüpft unterschiedliche Lebenswege, die sich trotz Schicksalsschlägen und räumlicher Distanz immer wieder begegnen.

Es ist wirklich mehr als beeindruckend wie Iris Wolff eine komplexe Familiengeschichte, die vier Generationen hinweg verbindet, in nur 216 Seiten erzählen kann. Das bedeutet aber auch, sich Zeit zu nehmen für dieses literarische Sahnestückchen. Ich musste mich erst ein paar Seiten einlesen, bis die Geschichte auf mich wirkte und ich mich der Sogwirkung des Buches nicht mehr entziehen konnte.

Die Autorin schafft es mit einer unglaublichen Leichtigkeit den Leser zu dieser Familie mitzunehmen. In eine Zeit des vorigen Jahrhunderts, in der in Rumänien Ceausescu gnadenlos über sein Volk herrschte, der eisernen Vorhang Risse bekam und in Deutschland Grenzen verschwanden.

Man hat das Dorf im Banat/Rumänien vor Augen, spürt den Alltag und die angespannte Situation dort, man freut sich und leidet mit Samuel, Florentine, Hannes und all den anderen absolut authentisch skizzierten Charakteren mit. Genau diese Wirkung entsteht in erster Linie durch die sprachliche Brillanz von Iris Wolff. Sie schreibt in einer klaren, direkten und zugleich poetischen Art und Weise vom Leben mit seinen Höhen und Tiefen.

Es hat mir große Freude bereitet, mich mit diesem bewegenden und beeindruckenden Text zu beschäftigen. Die Formulierung „beschäftigen“ habe ich gewählt, um zu verdeutlichen, dass es neben einer eindrucksvollen Familiengeschichte viele Feinheiten und Nuancen zwischen den Zeilen gibt, die es lohnt zu entdecken. Für mich ist Iris Wolff vollkommen zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert.

Fazit: Sprachlich beeindruckendes Familienporträt

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2020
Menschliche Dinge
Tuil, Karine

Menschliche Dinge


ausgezeichnet

Familie Farel ist ein Vorzeigefamilie: der Vater, Jean Farel ist ein berühmter Fernsehjournalist, die Mutter Claire engagiert sich für Frauenrechte und Sohn Alexandre studiert an einer Elite-Universität. Alles verläuft in geordneten Bahnen, so scheint es. Doch hinter der glatten Fassade sieht es anders an. Das Kartenhaus stürzt ein, als Alexandre wegen Vergewaltigung in Polizeigewahrsam genommen wird.

Karine Tuil ist mit "Menschliche Dinge" ein großartiges Buch über Abgründe in unserer Gesellschaft gelungen. Sie gibt mit ihren Protagonisten den Karrieremenschen und den Ich-Bezogenen- kurzum allen, die glauben sich einfach alles erlauben zu können, ein Gesicht.

Im ersten Teil zeichnet sie ein schonungsloses Bild der Familie Farel, deren Familienleben eigentlich schon lange nur noch Fassade ist. Detailliert und messerscharf porträtiert sie Claire, Jean und Alexandre. Auch die übrigen Charaktere, wie Adam oder Mila werden großartig in Szene gesetzt. Das an sich ist schon absolut fesselnd zu lesen, doch im zweiten Teil stieg für mich die Spannung nochmal sprunghaft an, denn nun geht es im Prozess darum die Wahrheit herauszufinden und dem Opfer wenigstens ein Stück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Die Autorin beschreibt die Verhandlungstage so intensiv und emotional aufwühlend, ich fühlte mich beim Lesen als ob ich selbst mit auf einem der Geschworenplätze sitzen würde. Karine Tuil schafft es perfekt zu schildern, wie schwierig es bei einem Vergewaltigungsprozess ist, im Laufe des Verfahrens alles richtig abzuwägen, um wirklich Gerechtigkeit walten zu lassen und die Wahrheit zu verteidigen und nicht verdrehen zu lassen.

Dieses Buch hat mich gedanklich noch lange begleitet, es ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, eine Momentaufnahme unserer Zeit. Doch gerade diese Tatsache zeigt, dass noch viel zu tun ist - gerade auch unter dem Aspekt der wichtigen #metoo Debatte.

Fazit: Messerscharfer, kluger Blick auf unsere Gesellschaft

Bewertung vom 28.08.2020
Weiß
Kang, Han

Weiß


sehr gut

In einer europäischen Stadt, die sich im weißen Winterschlaf befindet, wird die Erzählerin von einer Woge der Trauer in Erinnerung an ihre Schwester erfasst, die als Neugeborene nach wenigen Atemzügen in den Armen der Mutter starb. Diese Tragödie hat das Leben der Familie bestimmt und sorgt bei ihr noch heute für schmerzhafte Migräneattacken, bis sie sich in weißen Bildern mit dem verfrühten Tod ihrer Schwester auseinandersetzt, das im Weiß der Muttermilch oder der reiskuchenweißen Haut des Mädchens wieder und wieder erscheint.

Han Kang gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen Koreas, ihr Roman "Die Vegetarierin" wurde mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet und doch bin ich erst durch "Weiß" auf sie aufmerksam geworden. Dabei unterscheidet sich dieses Werk von ihren bisherigen Romanen, da es sich um eine eingehende Auseinandersetzung mit dem frühen Tod ihrer Schwester und der damit verbundenen Trauer handelt.

Han Kangs Sprache strotzt nur so vor ausdrucksstarker Kraft und Schönheit, in ihren Worten schwingt eine unnachahmliche Poesie mit, die Gefühle der körperlich spürbaren Traurigkeit, der lähmenden Melancholie und des schmerzhaften Verlustes aufkommen lässt. Mit jeder Zeile haucht sie scheinbar unbedeutenden Dingen, welche lediglich die koreanische Trauerfarbe weiß als Gemeinsamkeit teilen, Leben ein, sodass deren Zerbrechlichkeit für einen kurzen vergänglichen Augenblick bemerkbar werden. Das Herabsegeln eines Taschentuches beschreibt sie beispielsweise folgendermaßen: "Die Ränder waren nach oben gebogen, wie die Federn eines Vogels im Sinkflug. Wie eine Seele, die vorsichtig einen Platz sucht, um sich niederzulassen." (S. 83)

Jedes der kurzen Kapitel trägt dabei den Namen eines weißen Gegenstandes oder einer entsprechenden Erinnerung. Doch egal ob sie von Wellen, Wickeltüchern oder mondförmigen Reiskuchen erzählt, stets sind ihre Worte von spürbarer Traurigkeit durchzogen. Was zunächst wie ein unstetes Fließen ihrer Gedanken als Aneinanderreihung an Bildern, Momentaufnahmen und Erinnerungen anmutet, bekommt durch die Aufteilung in drei Abschnitte einen gewissen Rahmen:

Während die Erzählerin in "Ich" aus selbiger Perspektive den Anfang ihres Aufarbeitungsprozesses beschreibt, lässt sie ihre verstorbenen Schwester in "Sie" die Schönheit der weißen Dinge entdecken. Hierbei lässt sie ihre Gedanken allerdings gar so weit treiben, dass diese stellenweise ausschweifende Umwege nehmen, was für meinen Geschmack manchmal ein wenig zu viel des Guten war. Besonders eindringlich ist der abschließende Abschnitt "Alles weiß", denn durch den abermaligen Wechsel der Perspektive findet man sich mitten im Dialog mit ihrer verstorbenen Schwester, was sich geradezu intensiv intim anfühlt.

Mit geradezu außergewöhnlich berührender Poesie erzählt Han Kangs "Weiß" von persönlicher Trauer, innerem Schmerz sowie der Heilsamkeit von Literatur und brilliert dabei mit großartigen sprachlichen Bildern unter dem Deckmantel der koreanischen Trauerfarbe weiß.

Bewertung vom 28.08.2020
Während wir feiern
Ulrich, Ulrike

Während wir feiern


sehr gut

Traditionell am Abend des Schweizer Nationalfeiertages feiert die deutsche Sängerin Alexa eine Dachparty. Immer noch ohne Einbürgerungsbescheid - ebenso wie Kamal, ein junger Tunesier, der genau an diesem Tag einen sicheren Unterschlupf sucht, weil ihm die Abschiebung droht. Da in Tunesien Homosexuelle verfolgt werden, wendet er sich hilfesuchend an Zoltan, Alexas besten Freund. Doch dieser, von seinen Gefühlen überrascht, schickt Kamal fort. Damit beginnt eine Spirale von sich überschlagenden Ereignissen...

Ulrike Ulrich nimmt den Leser mit in die Welt der gut situierten und eigentlich sorgenfreien Schweizer Mittelschicht und verwebt genau dort die Problematik der Migration, die wir seit 2015 in Europa vorfinden. Dabei zeigt sie deutlich auf, dass Migrant nicht gleich Migrant ist. Auf der einen Seite ist die Deutsche Alexa, die auf ihren eigentlich sicheren Einbürgerungsbescheid wartet, auf der anderen Seite ist Kamal, der abgeschoben werden soll. Diese unterschiedlichen Lebensperspektiven in unserer Gesellschaft bringt sie glasklar auf den Punkt, jedoch ohne erhobenen Zeigefinger. Sie lässt dem Leser genug Spielraum, sich selbst Gedanken zu machen, was mir sehr gut gefallen hat.

Ebenso mochte ich die schnellen Übergänge zu den unterschiedlichen Protagonisten, das macht die Geschichte lebendig und spannend. Das mag nicht jedermanns Geschmack sein, ich fand diese Art des Erzählens intensiv und richtig fesselnd.

Die vielfältigen Charaktere bilden ein gutes Abbild unserer heutigen Zeit. Sie sind gut skizziert mit all ihren Sorgen, Ängsten, Widersprüchen und Zweifeln. Gerade zum Schluss des Buches dreht sich die Schicksalsspirale immer schneller bis zum Unvermeidlichen. Oder hätten viele Beteiligten nicht doch ihre Chance nutzen können? Dieser Roman hat mich sehr nachdenklich zurückgelassen.

Fazit: Kritischer Blick auf unsere Wohlstandsgesellschaft

Bewertung vom 25.08.2020
Das längste Verhör
Lanke, Robert

Das längste Verhör


ausgezeichnet

Juni 1944: Als Verhörspezialist im Nachrichtendienst der US-Armee springt Adam Ruby am D-Day mit dem Fallschirm über der Normandie ab. Aufgrund des schlechten Wetters landet er fernab von seinem Einsatzort, wo er weit hinter den feindlichen Linien eine gefährliche Entdeckung macht. Adam will seine Vorgesetzen warnen, doch dabei fällt er den Deutschen in die Hände und muss fortan ein riskantes doppeltes Spiel spielen, um sich und die alliierte Invasion zu retten. Denn seine Feinde dürfen niemals erfahren, dass er selbst als Jude nach Amerika geflohen ist.

Nachdem mich Imogen Kealeys cineastisch angehauchter, mitreißender Agentenroman "Die Spionin", schwer begeistert hat, war ich umso neugieriger auf mehr aus dieser ereignisreichen Zeit. "Das längste Verhör" beleuchtet nun ein ebenfalls kaum bekanntes Kapitel des Zweiten Weltkrieges, die Geschichte der Ritchie Boys.

Dabei handelt es sich um eigens für die Befragung von Kriegsgefangenen ausgebildete Soldaten, wovon viele vor dem Faschismus aus Europa geflüchtet waren. Rund 2500 Deutsche und 500 Österreicher durchliefen das Camp Ritchie, in welchem sie zudem in den Sparten Luftbildauswertung, Spionageabwehr und psychologische Kriegsführung unterrichtet wurden. Aufgrund der sprachlichen Fertigkeiten waren die Verhörspezialisten jedoch besonders relevant, welche dank Adam Ruby ein Gesicht verliehen bekommen.

Seine Hauptaufgabe ist es, deutsche Offiziere und Soldaten zu befragen, um den Alliierten mit den gewonnenen Informationen einen taktischen Vorteil zu verschaffen. Wenngleich die Figur des Adam Ruby rein fiktiv ist, so ist sie doch an einige historische Vorbilder angelehnt, was die Geschichte nicht minder spannend macht. Im Gegenteil: Von der ersten bis zur letzten Seite habe ich Adams waghalsige Mission mit zunehmender Neugier, Faszination und großer Begeisterung verfolgt.

Gerade sein doppeltes Spiel sorgt für jede Menge Nervenkitzel, denn die erfolgreiche Täuschung der Deutschen liegt nicht nur in seinen Händen. Die inhaftierten Amerikaner sind tickende Zeitbomben und könnten ihn jederzeit verraten – versehentlich oder mit Absicht, wenn sie seiner Integrität nicht mehr trauen. Eine spannende Szene folgte auf die nächste, sodass ich dieses fulminante Katz- und Maus-Spiel innerhalb kürzester Zeit verschlungen habe.

Historisch fundiert ist der temporeiche Spionagethriller "Das längste Verhör" ein wahrer Lesegenuss für all jene, die mehr über eine bis dato wenig bekannte Episode des Zweiten Weltkrieges aus der Perspektive eines außergewöhnlich gewieften Helden erfahren möchten.

Bewertung vom 24.08.2020
INSEL / HULDA Trilogie Bd.2
Jonasson, Ragnar

INSEL / HULDA Trilogie Bd.2


sehr gut

Als Hulda Hermansdóttir zu einer abgelegenen Insel geschickt wird, ahnt sie noch nicht, dass dies der wichtigste Fall ihrer Karriere als Kommissarin bei der Polizei Reykjavík werden könnte. Vier Freunde hatten einen Ausflug auf eine abgeschiedene Insel unternommen, doch nur drei waren lebend zurückgekehrt. In ihren Ermittlungen kreuzen sich Vergangenheit und Gegenwart, denn vor zehn Jahren war bereits ein Mitglied des Freundeskreises ums Leben gekommen. Allerdings hat der damals für schuldig befundene Täter im Gefängnis Selbstmord begangen…

Bereits nach dem Lesen des Prologs von "INSEL" hatte sich eine leichte Gänsehaut ausgebreitet, die sich jedoch im Folgenden verflüchtigte und einer zunehmenden Neugier wich. Denn der Aufbau dieses Bandes unterscheidet sich ein wenig von dem des Reihenauftaktes "DUNKEL", welcher mir besonders dank des grandiosen Endes noch lange in Erinnerung bleiben wird. Während letzterer mit mehreren Zeitebenen gleichzeitig arbeitet, findet man nun zwei strikt voneinander separierte Teile vor.

Beginnend im Jahre 1987 begleitet man ein junges Pärchen auf einem Wochenendliebestrip in ein verlassenes Sommerhaus der Familie, was geradezu idyllisch anmutet und doch in Erwartung eines baldigen schaurigen Unglücks für unterschwellig spürbare Spannung sorgt. Zehn Jahre später, 1997, folgt die Handlung diesbezüglich einem ähnlichen Schema, allerdings begeben sich nun die vier verbliebenen Freunde Dagur, Benedikt, Klara und Alexandra auf einen Ausflug in eine verlassene Gegend. Latente Aufgeregtheit ist auch hier zu spüren, wenngleich die mitreißenden Wendungen eher ausbleiben.

Tatsächlich fand ich den Kriminalfall an sich gar nicht besonders spannend, da die Ermittlungen beinahe schon zu glatt ohne Rückschläge in Richtung schneller Lösung des Falles laufen. Denn gerade anfangs undurchsichtige Indizien, schweigende Verdächtige und jede Menge falscher Fährten mitsamt der anschließend unvermeidlich überraschenden 180-Grad-Wendungen sorgen gewohntermaßen für mitreißendes Krimivergnügen. All das findet sich hier nicht und dennoch macht diese unaufgeregte Nüchternheit in der Erzählweise auch einen gewissen unerklärlichen Reiz aus, weshalb ich "INSEL" innerhalb kürzester Zeit verschlungen habe.

Sehr zu meinem Bedauern ist mir Hulda selbst ein wenig zu kurz gekommen, da man mit Ausnahme ihrer eingestreuten Vatersuche in den USA nichts Neues über den zuvor so markant dargestellten Charakter erfährt, wodurch sie an Authentizität und Schärfe einbüßt.

Abermals ist das Ende mein Highlight. Wenngleich es natürlich nicht derart überraschend genial sein konnte, wie das des vorherigen Bandes, so sorgte es immerhin für nachhaltige Ungläubigkeit und den dringlichen Wunsch sofort den finalen Band der Reihe, "NEBEL", zu lesen, der die unmittelbare Zeit nach dem Suizid von Huldas Tochter thematisieren wird.

Auch wenn die unaufgeregte Verknüpfung zweier Fälle in Vergangenheit und Gegenwart dem Reihenauftakt an Tiefe, Dramatik und Spannung nicht ganz das Wasser reichen kann, ist "INSEL" dennoch eine absolut lesenswerte Fortsetzung vor der Kulisse des atmosphärischen Island.