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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Die Gottespartitur
Rai, Edgar

Die Gottespartitur


sehr gut

Buchtitel und Buchcover hätten mich kaum angesprochen – wenn mich nicht vor kurzer Zeit Edgar Rais Nächsten Sommer gut unterhalten hätte. In der Gottespartitur traf ich nun auf einen ausgebrannten Literaturagenten im Hamsterrad der Frankfurter Buchmesse. Gabriel Pfeiffer hat offenbar persönlich und beruflich seinen Tiefpunkt erreicht. Die Literaturagentur wird inzwischen von seiner Assistentin Leonore allein vermutlich erfolgreicher geleitet als von Gabriel selbst. Wenn Manuskripte aufgrund eines Autorenfotos gekauft und Buchtitel nach Beerenobst genannt werden, besteht für Gabriels einzigartigen Instinkt für erfolgreiche Manuskripte offenbar kein Bedarf mehr. Auch in Gabriels Privatleben herrscht Trostlosigkeit; sein einziges Kind hat Gabriel noch nie getroffen. Der ernüchternde Lauf von Gabriels beruflichem Hamsterrad auf der Messe wird unterbrochen mit dem Auftritt eines Schülers im karierten Hemd, der eine wichtige Entdeckung ankündigt. Doch noch ehe Gabriel sich mit dem Rätsel um die Entdeckungen eines Musikwissenschaftlers im 18. Jahrhundert befassen kann, wird der junge Mann in einem katholischen Seminar (Internat) in Gödelsburg bei Altötting tot aufgefunden. Gabriels Jagdinstinkt ist geweckt; er lässt Buchmesse Buchmesse sein reist sofort an den Tatort. Dort ist der Tote ohne Obduktion in unchristlicher Hast bereits beerdigt worden. Nach einer Phase der Unschlüssigkeit, ob die Handlung sich evtl. Gabriels wenig glücklicher Kindheit zuwenden könnte, fängt Edgar Rais Hauptfigur endlich Feuer und ermittelt in der British Library in London. Im letzten Abschnitt zeigt sich Gabriel von seiner professionellen Seite, nutzt sein berufliches Netzwerk und untersucht die Originalmanuskripte des Charles Burney.

Wenn der Roman für meinen Geschmack auch im mittleren Teil etwas an Tempo verlor, hat mich Edgar Rai mit seinen höchst ironischen Betrachtungen des Buchmarkts, seinem Blick für schrullige Gestalten und erneut mit seiner leichten Hand für die Figurenzeichnung begeistert. Grundsätzliches Interesse an Büchern, Orgelmusik, Neurophysiologie und ungewöhnlichen Typen vorausgesetzt, wird das Buch mit Sicherheit wieder ein Erfolg für Egar Rai werden – Autorenfoto hin oder her.

Bewertung vom 04.01.2017
Agaat - Die Kinderfrau
van Niekerk, Marlene

Agaat - Die Kinderfrau


ausgezeichnet

Kamilla de Vet ist unheilbar an ALS erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Der Sarg ist gekauft, das Grab schon ausgehoben. Die Patientin kann selbst nur noch die Augenlider öffnen oder schließen und ist völlig auf ihre Pflegerin Agaat angewiesen. Millas einzig verbliebene Kraft ist ihre Vorstellungskraft. Ihr Sohn Jakkie ist bereits aus Kanada auf dem Weg nach Südafrika, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Die 70-jährige Milla und die eine Generation jüngere Agaat verbindet ein besonderes Verhältnis, das sich im Dialog der beiden Frauen, aus Millas Tagebüchern und einer weiteren Erzählperspektive erschließt. Der Dialog der beiden Frauen muss einseitig bleiben; denn Milla kann nur Ja oder Nein signalisieren, und Agaat versteht die Dinge so, wie sie sie gern verstehen will. Alles, was Milla ein Leben lang Agaat gegenüber an Redensarten und Allgemeinplätzen von sich gegeben hat, kommt nun wie ein Bumerang zu ihr zurück, ohne dass sie sich dagegen wehren könnte. Als Milla mit letzten Kräften versucht, sich von Agaat etwas bringen zu lassen, von dem sie nicht deutlich machen kann, was sie meint, stelle ich mir vor, wie schrecklich es für einen Hilfebedürftigen sein muss, wenn er über etwas Abstraktes sprechen möchte, das die Pflegeperson evtl. gar nicht kennt. - Rückblicke in unterschiedlichen Tonlagen führen in die 60er Jahre zurück. Milla heiratete damals Jakobus de Vet und beschloss, die Farm ihrer Großmutter wieder selbst zu bewirtschaften. Milla hat die Verwaltung eines landwirtschaftlichen Betriebes mit Mischwirtschaft wie selbstverständlich im Elternhaus gelernt und geht irrtümlich davon aus, das sie die Farm gemeinsam mit Jak führen wird. Doch die beiden scheitern an der Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau und damit auch an der Anleitung ihrer schwarzen Arbeiter. Ein "Baas" und eine Farmerin müssen sich den Respekt ihres Personals durch tägliche Präsenz immer neu erarbeiten. Für den Haushalt bildet Milla nur die kleine Agaat aus, die damals noch ein Kind ist. Die Hausherrin zwingt Agaat gnadenlos, zusätzlich zum Haushalt und zur Kinderpflege auch die Landwirtschaft zu lernen. In einem Land mit Rassentrennung per Gesetz wird es erhebliche Probleme geben, wenn Arbeitgeber zulassen, dass ein schwarzes Dienstmädchen in der Hierarchie der Farm eine zu mächtige Rolle einnimmt. Dieses für das Verständnis von Ereignissen in Südafrika entscheidende Faktum hat der Texter/die Texterin des Klappentextes nicht begriffen, sonst würde dort nicht die völlig undenkbare Vorstellung genannt, ein schwarzes Hausmädchen könnte in Südafrika 1960 „mit zur Familie“ gehört haben. Agaat kann zwar Millas Sohn Jakkie wie ein eigenes Kind aufziehen, aber die de Vets konnten zur Zeit der Handlung unmöglich im Apartheids-Staat öffentlich gemeinsam mit Agaat auftreten. - Mit dem Verhältnis zwischen einer völlig hilflosen Patientin und ihrer vertrauten Pflegerin schafft Marlene van Niekerk den Rahmen für eine vielschichtige Handlung, in der es nicht nur um die Beziehung dieser beiden Frauen geht, sondern um das staatlich erzwungene Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß zur Zeit der Apartheid, um Eifersucht zwischen Mutter und Kindermädchen, um männliche und weibliche Rollenbilder und das Verhältnis zwischen einem Farmer und "seinen" schwarzen Arbeitern in Südafrika. Außerordentlich beeindruckend finde ich die unterschiedlichen Tonlagen, in denen van Niekerk erzählt, darunter Millas Lautmalereien ("girts, garts", zieht sie die Handschuhe an), mit denen sie ihre begrenzte Wahrnehmung wiedergibt. Wem es beim Lesen gelingt, die europäische Brille seines persönlichen Urteils über eine uns fremde Kultur beiseitezulegen, der wird aus den gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Schwarz und Weiß auf der Farm Grootmoedersdrift erkennen können, wie die Verhältnisse der 60er Jahre zu den ungelösten Problemen des heutigen Südafrika geführt haben.

Bewertung vom 04.01.2017
Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums (Relaunch)
Saenz, Benjamin A.

Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums (Relaunch)


ausgezeichnet

Aristoteles Mendoza
Alter: 15 Jahre
Interessen: sein Hund, sein Pick-Up, sein Nebenjob
Wohnort: El Paso/Texas/USA
Identität: mexikanisch
Geschwister: 2 erwachsene Schwestern, 1 erwachsener Bruder, der im Gefängnis sitzt
Mutter: Lehrerin
Vater: Vietnam-Veteran
Zeit der Handlung: 1987

Dante Quintana
Interessen: Kunst und Zeichnen
Wohnort: El Paso/Texas/USA
Identität: mexikanisch
Geschwister: keine
Freund von Aristoteles
Vater: Literaturprofessor
Mutter: Psychotherapeutin

Aristoteles, genannt Ari, findet es peinlich, mit 15 immer noch Nichtschwimmer zu sein. Im Schwimmbad begegnet er Dante, der die Peinlichkeit einfach aus der Welt schafft. Dante bringt Ari das Schwimmen bei. Beide Jungen sind Kinder von Einwanderern aus Mexico. Ihre Eltern sind zu Recht stolz darauf, dass sie auch unter schwierigen Bedingungen ein Studium abgeschlossen haben und wollen für ihre Kinder "das Beste". Die neuen Freunde entdecken Gemeinsamkeiten, sie sind offenbar die einzigen jungen Amerikaner, die ohne Fernsehen aufwachsen. Ari bemerkt aber auch sofort, dass Dantes Familie offen und humorvoll miteinander spricht, während in seiner Familie die wirklich wichtigen Themen verschlossen und verschwiegen werden: das Kriegstrauma seines Vaters und sein Bruder Bernardo, der im Gefängnis sitzt. Beide Jungen sind auf ihre Art Außenseiter. Aristoteles wird durch den Vornamen seines Großvaters zur Lachnummer in der Schule. Der Junge hat keine Freunde und weiß auch nicht, wie er es anstellen sollte, Freunde zu finden. Dante zeichnet leidenschaftlich gern und will später Künstler werden. Ein Junge wie er findet nur schwer Gesprächspartner unter Gleichaltrigen. Beide sind in einem Alter, in dem der Körper auf beängstigende Art aus dem Ruder läuft und man sich einfach elend fühlt. Seit Ari mit Dante befreundet ist, sieht er seinen Vater mit völlig anderen Augen und will nicht mehr hinnehmen, dass in seiner Familie eisern über den Krieg und über Bernardo geschwiegen wird. Die ruhige Freundschaft zwischen Ari und Dante gerät durch einen schweren Unfall und Dantes zeitweiligen Umzug nach Chicago in sehr unruhiges Fahrwasser.

Als Dantes Vertrauen in Ari groß genug ist, will er seinen Freund seine Zeichnungen ansehen lassen. Für Ari ist diese Geste noch viel zu intim, hat er nicht gerade erst Abstandsregeln eingeführt, damit andere ihm nicht zu nahe kommen können? Neben seinem peinlichen Nichtschwimmer-Dasein ist Ari auch der einzige Junge an der Schule, der noch kein Mädchen geküsst hat, meint Gina. Dieses Problem ist sehr viel schwerer zu lösen als das Schwimmen; denn wen soll Ari küssen, ein Mädchen oder einen Jungen? Die zahlreichen Wegkreuzungen, an denen beide Jungen wichtige Entscheidungen treffen müssen, beschreibt Benjamin Alire Sáenz mit bewundernswertem Verständnis für die Nöte der Pubertät. Das miteinander Reden in all seinen Variationen charakterisierte von Beginn an die Beziehung der Freunde: Reden beim locker Rumhängen, Reden als rhetorisches Kräftemessen, als Philosophieren über das Universum an sich oder als Austausch persönlichster Gedanken und Gefühle. Beim Reden kann man Wörtern eine ganz neue Bedeutung geben.

Ein trauriges, rührendes, witziges Buch, in das die Leser am besten ganz spontan eintauchen. Ein Buch für Jungen - wünsche ich mir.

^^^^^
Zitat
'Ich überlegte, wo er wohl das Zeichnen gelernt hatte. Plötzlich war ich neidisch auf ihn. Er konnte schwimmen, er konnte zeichnen und war zufrieden mit sich. Und ich fragte mich, warum manche Leute mit sich zufrieden waren und andere nicht. Vielleicht war es einfach so.' (Seite 85)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Winterkrieg
Teir, Philip

Winterkrieg


sehr gut

Um noch in eine Midlife-Krise zu geraten, ist Max Paul reichlich spät dran; sein 60. Geburtstag steht kurz bevor. Der finnlandschwedische Soziologie-Professor war vor Jahren einmal als Experte für Ehe und Familie ein beliebter Talkshow-Gast und wird seitdem von der Presse als finnischer Sexpapst bezeichnet. Doch Max' Stern ist längst verblasst; das Buch, das ihn bekannt machte, erschien schon vor 25 Jahren. Mit seinem aktuellen Buchmanuskript kommt Max nur schwer vom Fleck, so dass sein Verleger ihm heuchlerisch eine junge Frau als Lektorin und Ghostwriterin zur Seite stellt. Max neue Mitarbeiterin ist Laura, die einmal für ein kurzes Semester bei ihm studiert hat. Mit Laura steht dem alternden Max eine Vertreterin der zornigen Generation gegenüber, die sich von den Älteren um ihre Zukunft betrogen fühlen. Max und seine Freunde haben die Wirtschaftskrise und die daraus folgende Massenarbeitslosigkeit unbeschadet überstanden und ihren gehobenen bürgerlichen Lebensstandard halten können. Die Pauls bewegen sich in Kreisen, in denen man keine Meinung äußert, auch wenn man eine haben sollte, sondern alles “spannend“ findet.

Im Privatleben nervt Max damit, dass er das Dozieren auch außerhalb des Hörsaals nicht lassen kann. Diskussionsforen im Internet bieten ihm in schlaflosen Nächten eine Spielwiese für seinen Selbstdarstellungsdrang. Max und seine Frau Katriina haben zwei erwachsene Töchter, deren Lebenswege verblüffend den Trends ähneln, die Max als Soziologe erforscht hat. Tochter Helen hat früh geheiratet, zwei Kinder bekommen und ist voll berufstätig. Die jüngere Tochter Eva beginnt mit 29 gerade ein Zweitstudium der bildenden Kunst. Dass Eva sich noch immer nicht über ihre Ziele im Leben klar geworden ist, hatten ihre Eltern sich vermutlich einmal anders vorgestellt. Auch wenn Max und Katriina bei gesellschaftlichen Anlässen pflichtgemäß den aktuellen Familienstand ihrer Töchter abspulen und von zwei „fantastischen“ Enkeln schwärmen, können ihre Töchter sie nicht glücklich machen. Mit dem Zwang zum Glücklichsein übt Katriina Druck auf sich selbst und andere aus. Max Gattin, die für ein Dienstleistungsunternehmen im Gesundheitsbereich Pflegepersonal in Asien rekrutieren soll, wirkt erschöpft von ihrem banalen Leben. Die Pauls beschäftigen sich mit derart abstrakten Dingen, dass es lachhaft ist, urteilt Max ältere Schwester. Zwischen Max und seiner Frau liegen die Nerven frei, jedes ungeschickte Wort kann das Fass zum Überlaufen bringen.

Die Ereignisse dieses Gesellschafts- und Familienromans beginnen im Winter und eskalieren im Frühling. Der Titel „Winterkrieg“ spielt auf die karelische Geschichte an (1939-1940). Zum bizarren Höhepunkt trägt ein Hamster der Kinder bei, stellvertretend für das wackelige Glücksgebäude der Familie. Glückliche Kinder haben natürlich Haustiere, auch wenn niemand dafür eine freie Minute erübrigen kann. Philip Teir hat mich mit unerwarteten Wendungen seiner Geschichte und ironischen Untertönen überrascht, damit hatte ich bei einer Figur mit einem so banalen Leben wie Max nicht gerechnet.

Bewertung vom 04.01.2017
Nie mehr Wolkengucken mit Opa?
Baumbach, Martina

Nie mehr Wolkengucken mit Opa?


ausgezeichnet

Lillis Großeltern leben in einem Häuschen wie aus dem Bilderbuch. Lilli und Opa sitzen besonders gern gemeinsam auf der Schaukel, um Wolkenbilder anzusehen. Als der Opa erkrankt und kurz darauf stirbt, kann Lilli anfangs nur schwer begreifen, dass tot sein endgültig ist. Um ihrem Opa nahe zu sein, versteckt Lilli sich unter seinem Gartenhut ' und kann hier allein zum ersten Mal weinen. Lillis Trauerprozess wird für den Betrachter mit dem Blick durch das Fenster auf die leere Schaukel im Garten besonders deutlich. Die Oma, die zunächst in der innigen Beziehung zwischen Opa und Enkelin nicht abgebildet war, wird nun deutlicher im Kreis der trauernden Familie abgebildet. Lilli macht sich Gedanken darüber, ob ihre Oma Angst vor dem Tod hat. Im Moment kann Lilli sich nicht vorstellen, dass ihre Trauer um den Großvater je nachlassen könnte. Zum Glück kann Lilli vor der Trauerfeier in der Kirche mit ihrem Cousin Tim sprechen, der die Ereignisse auch aus der Perspektive eines Kindes erlebt. Im Buch wechseln helle und dunkle Szenen einander ab, der Kirschbaum bildet den Rahmen der Handlung und hilft Lilli schließlich, in die Zukunft zu blicken.

Beim gemeinsamen Betrachten der realistischen, detailreichen Bilder von Trauerfeier und Beisetzung können Eltern alle auftauchenden Fragen ihrer Kinder beantworten. Martina Baumbach legt hier nicht nur ein Sachbuch zum Thema Tod für Kinder im Kindergartenalter vor, sie gibt außerdem in sehr einfühlsamer Weise Einblick in die kindliche Gedankenwelt. Ihr Nachwort wendet sich direkt an trauernde Kinder als Zielgruppe. Hier finden sich Gesprächsanregungen, von denen nicht nur Kinder profitieren.

Bewertung vom 04.01.2017
Zarte Landung
Donoghue, Emma

Zarte Landung


sehr gut

Jude Turner aus Ireland/Ontario/Kanada hat einen aufgeregten Anruf von ihrer Tante in England erhalten. Judes Mutter ist in ihrer alten Heimat zu Besuch und Tante Louise ist von der Situation deutlich überfordert. Jude packt am ersten Tag des Jahres ihre Sachen und macht sich auf den Weg nach England. Die möglichen Katastrophen kann jeder sich ausmalen: Judes Mutter ist schwer krank, plötzlich dement oder Tante Louise hat den Bezug zur Realität verloren. Jude hat bisher sehr abgeschieden gelebt, sie leitet das kleine Heimatmuseum ihres Heimatortes. Jude verlässt Ireland nur, wenn es unbedingt nötig ist – und dann fährt sie mit dem Auto. Ein bizarres Ereignis im Flugzeug führt zur Begegnung Judes mit einer gut aussehenden irischen Flugbegleiterin mit indischen Wurzeln. Der Blitz schlägt sofort ein. Die Kontraste könnten kaum größer sein. Jude, das Landei, liebt eine fast vierzigjährige weltgewandte, kulturell interessierte Frau aus Dublin. Sie wohnen auf zwei Kontinenten, 5000 Meilen voneinander entfernt. Síle hatte sich zuvor keine Gedanken darüber gemacht, dass in Kanada bis in den April hinein kniehoch Schnee liegt. Dass Menschen, die Englisch als Muttersprache sprechen, sich verständigen können, zeigt sich mit fortschreitender Beziehung als frommer Wunsch. Irisches und kanadisches Englisch könnten kaum verschiedener sein.

Jude verachtet moderne Kommunikationsmittel, Síle O’Shaughnessy hängt wie am Tropf an ihrem Smartphone. Wer sonst würde sie auch daran erinnern, dass Zahnpasta gekauft werden muss. Jude kennt kaum etwas außer Ireland/Ontario, Síle weiß vermutlich an manchem Morgen nicht, wo sie gerade aufwacht. Aus dem Leben vor ihrer großen Liebe bringt Jude Rizla ein, den sie mit 18 geheiratet hat und der sich bisher das Scheidungsverfahren nicht leisten konnte. Síle lebt in Dublin in fester Beziehung mit Kathleen. Ihrer Liebe ist irgendwann einmal die Leidenschaft abhanden gekommen. Síles Freundeskreis in Irland zeigt sich so bevormundend wie egoistisch besitzergreifend - Wer ist eigentlich diese Kanadierin, die ihnen ihre alte Freundin wegschnappen will? Für Síle bedeutet ihre Liebe auch, sich mit dem Schicksal ihrer Mutter Sunita auseinandersetzen zu müssen, die ebenfalls als Flugbegleiterin die Liebe ihres Lebens kennenlernte und dafür praktisch von einem Tag auf den anderen ihre Familie und ihre Heimat aufgab. Der kleine Zensor im Kopf wirkt auch auf die Leser. Ist diese Beziehung nicht völlig undenkbar, fragt man sich und wünscht sich, dass es dennoch ein gemeinsames Leben für die beiden Frauen geben kann.

Die Autorin von Raum hat hier eine zarte Liebesgeschichte zweier Frauen verfasst, deren Zwischentöne Nachdenkliches über Fernbeziehungen und das Auswandern vermitteln.

Bewertung vom 04.01.2017
Was sie begehren
Mackenzie, Kenneth

Was sie begehren


ausgezeichnet

Charles Fox kommt als Fünfzehnjähriger in ein australisches Jungeninternat. Als fleißiger Schüler hatte Charles sein tägliches Lernpensum bisher stets schnell erledigt und verbrachte den Rest des Tages ungebunden in der Natur. Charles hat seinen Vater nie kennengelernt, er lebte allein mit der Mutter auf deren Farm, die zum Teil verpachtet ist. Zum Abschluss einer höheren Schule gibt es nur diesen Weg von vier Internatsjahren, darüber gibt es mit Charles Mutter keine Diskussion. Charles muss als Neuer im Internat als Initiationsritus verharmloste sexuelle Gewalt älterer Schüler über sich ergehen lassen, für die englische Internate berüchtigt sind. Die Meute spürt, dass dieser rothaarige Neue anders ist als sie und doch gern dazugehören würde. - Direktor Fox schlägt Charles vor, aufgrund guter Leistungen ein Schuljahr zu überspringen. Charles erhofft sich, so die verhasste Schule in kürzerer Zeit hinter sich bringen zu können. Zur Vorbereitung auf die nötige Prüfung soll Mr. Penworth Charles zusätzlichen Unterricht geben. Der erst 25-jährige Penworth, aus England an die australische Schule abgeordnet, wird selbst mit der Einsamkeit nicht fertig und missbraucht Charles Isolierung an der Schule in deutlich pädophiler Absicht. Dem Kollegium und der Klasse gegenüber verbirgt Penworth seine verbotene Zuneigung zu einem Abhängigen hinter unpassenden Bemerkungen zu Charles „unmännlichem“ Aussehen. Der Missbraucher wirft sein Opfer der Klasse zur Vernichtung vor, anstatt seiner Verantwortung für die Schüler nachzukommen. Dass Charles zuvor weder männliche Bezugsperson noch gleichaltrige Freunde hatte, lässt ihn in der Schule zum willkommenen Mobbingopfer und zum leichten Opfer des fachlich und menschlich inkompetenten Penworth werden. Nach einheimischen Maßstäben ist Penworth ein Versager, den außerhalb der Schule niemand ernstnehmen würde, erkennt Charles. Direktor und Kollegium sind mit eigenen Machtkämpfen beschäftigt; Penworth „unnatürliche“ Empfindungen gefährden das ohnehin labile Gleichgewicht zwischen den Lehrern. Unter diesen alptraumhaften Bedingungen entwickelt Charles Fox sich weitgehend normal. Im Klassenkameraden Mawley findet Charles einen Vertrauten und verliebt sich in den Schulferien in das Mädchen Margaret. - „The Young Desire it“ war vermutlich der erste australische Roman, der sich mit der Innenwelt seines Protagonisten befasst, stellt David Malouf in seinem Vorwort zur englischen Klassikerausgabe des Buches fest. MacKenzie war mit seiner Darstellung des pädophilen Interesses eines Lehrers an dessen minderjährigem Schüler seiner Zeit weit voraus. Sein großartiger Entwicklungsroman lässt den Lesern breiten Raum für eigene Interpretation und spricht vielfältige Probleme an. Penworth und seine Kollegen repräsentieren als Vertreter des britischen Empires kurz vor seinem Verfall ein im Scheitern begriffenes koloniales Bildungssystem, das als letztes Lebenszeichen einem anderen Kontinent unreflektiert sein humanistisches Bildungsideal aufdrückt. MacKenzie zeigt das Verhältnis zwischen heranwachsendem Sohn und seiner alleinerziehenden Mutter als von beiden empfundenen Normalzustand, der so in der Literatur selten zu finden ist. Auch seine offene Darstellung von Strukturen in einer Bildungseinrichtung, die Mobbing und Pädophilie stützen, dürfte bis heute selten sein. Schließlich bietet MacKenzie Lesern der Moderne die Möglichkeit, sich in die Empfindungen von Jugendlichen einzufühlen, die vor 80 Jahren aufwuchsen. Vieles wird in diesem Roman nur angedeutet, mögliche Konflikte zwischen Mutter und Sohn, Charles körperliche Entwicklung, seine Liebe zu Margaret, wie es sich für die damalige Zeit gehörte. MacKenzie hat seinen Roman selbst als Jugendlicher begonnen und ihn beendet als er so alt wie Penworth war. Für einen jungen Autor finde ich auch MacKenzies zurückhaltende Zeichnung der circa fünfzigjährigen Mutter und der Figuren älterer Lehrer (aus der Perspektive des Jungen gesehen) ungewöhnlich einfühlsam.

Bewertung vom 04.01.2017
Ins Dunkel hinein
Frazier, Charles

Ins Dunkel hinein


ausgezeichnet

Der Mann von der Behörde stellt Luce die Kinder ihrer Schwester einfach vor die Tür, zusammen mit ein paar Pappkartons. Luce ist die einzige leibliche Verwandte der Zwillinge. Luce’s Schwester Lily war von ihrem Mann vor den Augen der Kinder ermordet worden. Bud war nicht der leibliche Vater der Kinder, er hatte die verwitwete Lily geheiratet. Es war das alte Lied mit dem Paar: Bud verdient nicht genug und will trotzdem nicht, dass seine Frau arbeitet. Er schlägt Lily. Luce haust als Hausmeisterin in einer leer stehenden Lodge in idyllischer Lage. Niemand weiß so genau, was Luce dort draußen am See so treibt, außer ihren Gemüsegarten zu pflegen. Der Weg in die Stadt ist weit, und das Boot, mit dem Luce die Abkürzung über den See nehmen könnte, hat sie verbrannt, anstatt es abzudichten.

Luce muss keine Pädagogin sein um zu bemerken, dass die Zwillinge Dolores und Frank traumatisiert und in ihrer Entwicklung gestört sind. Die Kinder sind circa fünf Jahre alt und sprechen nur miteinander ein für andere unverständliches Kauderwelsch. Sie verhalten sich aggressiv gegen einander und gegenüber anderen, sie zündeln, sowie man sie einen Moment aus den Augen lässt. Bei all den schwarzen Gedanken in ihrem Kopf ist es vielleicht sogar besser, dass sie nicht sprechen. Doch Luce und Lily sind selbst geschlagen und vernachlässigt worden. Luce überlegt sich, wie sie den bösartigen kleinen Wesen beibringen kann, dass der Mensch säen und pflegen muss, wenn er ernten und essen möchte. Luce muss sich mit gesundem Menschenverstand dagegen zur Wehr setzen, dass die Kinder sich gegenseitig umbringen oder ihr das Haus über dem Kopf anzünden. Für ihr Erziehungsprogramm setzt Luce auf die Kraft von Geschichten, den Einfluss der Natur und sie hat ein Pferd eingeplant. Unbelastet von pädagogischen und therapeutischen Ansätzen verlässt sie sich allein auf konsequente Durchsetzung einfacher Regeln.

Bud, Lilys Mörder, kommt schon bald auf freien Fuß. Der Mann ist nicht schwer einzuschätzen. Er will die Zeugen seiner Tat aus seinem Weg räumen und er will an „seine“ Beute aus einem Raub, die verschwunden ist, seit die Kinder zu Luce gebracht wurden. Der dritte Erwachsene im Bunde ist Stubblefield, der die Lodge und das Land drum herum von seinem Großvater geerbt hat und sich Luce und den sonderbaren Kindern vorsichtig nähert. Buds Suche nach den Kindern wird auf sehr amerikanische Weise eskalieren, niemand kann einschätzen, wie die Kinder reagieren werden. Wer wird die Kraftprobe gewinnen – Bud, die Kinder, die Natur, niemand?

Charles Frazier hat mich in seinem Roman einfach mit seinen Figuren gefesselt. Seine Sprache ist nüchtern, scheint aus achtlos hingeworfenen Sätzen zu bestehen. Vor großartiger Landschaft lässt er eine ganze Truppe von Sonderlingen aufeinander treffen: Schwarzbrenner, Schmuggler, Hillbillys, seltsame Käuze, die sich höchst raffiniert durchschlagen, ohne dazu besondere Intelligenz zu benötigen. Luce, die früher in der Telefonvermittlung arbeitete, hat sich weitgehend von anderen Menschen und der Konsumgesellschaft zurückgezogen. Sie braucht kaum Geld und ist zu den Anbaumethoden der Ureinwohner zurückgekehrt, die an ihren Maisstauden die Bohnen entlang ranken ließen. Luce möchte nicht besitzen, sondern Fertigkeiten beherrschen, beispielsweise Vogelstimmen erkennen und imitieren. Für den Überlebenspakt, den sie mit den Kindern schließt, muss man sich nicht lieben, aber ein Minimum an Respekt füreinander aufbringen. Wer essen will, muss im Garten arbeiten, wer einen Schlafplatz möchte, sollte besser das Haus nicht anzünden, und wer das Pferd der Nachbarin mag, muss den Kopf heben und der Frau beim Sprechen ins Gesicht sehen. Mir hat der Gedanke gefallen, dass Luce winzige Fortschritte mit diesen traumatisierten Kindern erreichen kann, obwohl sie dafür nicht ausgebildet wurde und nicht die Interessen irgendeines Amtes zu vertreten hat.

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Bewertung vom 04.01.2017
Vaterjahre
Kleeberg, Michael

Vaterjahre


ausgezeichnet

Die Angst trifft Charly Renn am 14.9.1994 mitten auf der Hamburger Köhlbrandbrücke. Der Moment, in dem er plötzlich nicht mehr weiterfahren kann und sich von seiner Frau abholen lassen muss, wird als größtmögliche Peinlichkeit in seiner Erinnerung eingebrannt bleiben. Karlmann Renn, kaufmännischer Leiter eines Hamburger Schiffsmaklers, war im Zuge einer McKinsey-Unternehmens-Beratung aus dem Berufsleben heraus optimiert worden. Charly befindet sich im besten Mannesalter, in dem seine Geschlechtsgenossen überproportional häufig den plötzlichen Herztod sterben. Seine Angstattacke führt Charly zu einer Verhaltenstherapeutin, deren Stimme fortan Charlys Kümmernisse aus mütterlich-ironischer Distanz kommentiert. Mit anderen offen über seine Therapie sprechen kann Charly nicht, sie lässt sich zum Glück als Coaching verharmlosen. Seine Treffen mit der Therapeutin Petra Wedekind erweisen sich als Notbremsung in letzter Minute; um über Gefühle reden zu können, hat Charly in seinem Leben schon immer die Zuwendung von Frauen benötigt. - Karlmann Renn hat mit Mitte 40 in kurzer Zeit alle für sein Leben wichtigen Entscheidungen getroffen: er hat Job, Haus, eine standesgemäße Ehefrau und zwei Kinder. Familie als Heimat bedeutet Charly viel, denn als Kind musste er ein Nomadenleben quer durch Deutschland führen, weil sein Vater mehrfach die Stelle wechselte. Charlys und Heikes Leben scheint momentan zu stagnieren; denn was soll man sich noch erzählen, nachdem die Karriere in die Wege geleitet ist und die Kinder gezeugt sind? Während Charly tagsüber im Beruf mit Millionenwerten jongliert, würden seine Kinder dringend seinen Trost benötigen; denn der Hund der Familie wird bald sterben. Noch geizt Charly mit seiner Nähe zu Luisa und Max; er kann am Abend nur schwer von beruflicher Anspannung in die Vaterrolle umschalten. Berufliche Kaltschnäuzigkeit mit Sensibilität im Privatleben zu vereinbaren, gelingt in Charlys Generation wohl nur wenigen Männern. - Nach der für Charly traumatischen Zwangsverschlankung seiner alten Firma arbeitet er inzwischen beim traditionsreichen Kautschukimporteur Sieveking & Jessen. Der alte Jessen ist ein typischer Hamburger Pfeffersack, der von seinen Mitarbeitern gediegene hanseatische Herkunft und die Führungsqualitäten eines Seemannes erwartet. Jessen stellt Charly ein aufgrund seines passenden Stallgeruchs einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Um seine Position des Alphamännchen zu sichern und die alteingessene Firma in die Zukunft zu führen, setzt Jessen seinem Neffen und Geschäftspartner mit Charly einen starken Konkurrenten vor die Nase. Revierverteidiger und Eindringling könne sich nun ähnlich wie Raubkatzen gegenseitig in Schach halten. ... - Charlys Lebensthema ist 'die Verknöcherung der sozialen Fontanelle', einen Prozess, den Michael Kleeberg aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Kleebergs umfangreiche Personenliste, eng von Hand geschrieben, umfasst eine komplette Seite des Vorsatzpapiers und lässt bereits ein komplexes Beziehungsgefüge ahnen. - Mit "Vaterjahre" legt Michael Kleeberg einen brillant komponierten Roman der um 1960 geborenen (Männer-)Generation und der 90er Jahre vor. Es ist ein Buch über Obsessionen und Fehleinschätzungen, über Freundschaft, die Arbeitswelt von Kaufleuten in Zeiten einer kriselnden Weltwirtschaft und über hanseatische Tugenden. Ein Blick in die Innenwelt Hamburger Kaufmannsfamilien wandert weiter zu Männerfreundschaften und schließlich zur gesamtdeutschen Familiengeschichte, an der Charly offenbar noch immer zu knabbern hat. Die Schicksale, die Kleebergs fiktive Figuren aus dem damals real existierenden geteilten Deutschland mit in die Gegenwart bringen, haben mich unerwartet tief berührt und seinen Roman damit - für mich - zu einem der besten Bücher des Jahres gemacht.