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hasirasi2
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Dresden

Bewertungen

Insgesamt 1115 Bewertungen
Bewertung vom 22.12.2022
Ein hoffnungsvoller Aufbruch / Salon-Saga Bd.2
Fischer, Julia

Ein hoffnungsvoller Aufbruch / Salon-Saga Bd.2


ausgezeichnet

Zeit für einen Neuanfang

„Ja, der Tod vom Hans hat uns alle verändert.“ (S. 273) Vor 5 Jahren ist Lenis Bruder kurz vor der Geburt seines Sohnes Peter bei einem Autounfall umgekommen, seitdem leben der und seine Mutter Charlotte bei Leni und ihrer Mutter Käthe. Käthe führt immer noch ihren kleinen Frisörsalon im Ort und Leni arbeitet im Salon Keller am Hofgarten in München. Als sie wie abgesprochen Käthes Salon übernehmen soll, schickt ihr Chef sie zu einem dreimonatigen Praktikum zu Vidal Sassoon nach London.
Charlotte war früher Mannequin und arbeitet jetzt als Gemeindesekretärin, von ihrem alten Leben kann sie nur noch träumen. Doch dann vermittelt Leni sie als Assistentin an Maria Bogner vom gleichnamigen Modelabel. Endlich hat sie wieder mit Mode zu tun, kann ihre Kreativität und ihren Einfallsreichtum einbringen. Schon an ihrem ersten Tag dort lernt sie den Fotografen Walter Marquart kennen, der ihr bald den Hof und Fotos von ihr macht. Aber kann sie einen anderen Mann als Hans lieben und in ihren alten Beruf zurückkehren?

Julia Fischer hat mich sofort in den Bann der Swinging Sixties und von Lenis Familie gezogen. Ihr Leben scheint seit Hans‘ Tod still zu stehen, lediglich der kleine Peter, um den sich die drei Frauen und sein Patenonkel Schorsch liebevoll kümmern, sorgt für Abwechslung und Aufregung. Doch Lenis Praktikum und Charlottes neuer Job wirbeln alles gehörig durcheinander.

„Manchmal liegt im Fortgehen mehr Segen als im Bleiben.“ (S. 476) Das Leben, die Mode und die Musik sind in London so ganz anders als in Deutschland und eine Offenbarung für Leni. Sassoon verpasst ihr einen neuen Haarschnitt und Mary Quandt eine neue Garderobe, bei deren Anblick Käthe die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Und Leni wird wieder bewusst, was sie aus ihrem Leben machen wollte. „London war ein Abenteuer gewesen, eine Reise, die Leni zu sich selbst geführt hatte…“ (S. 183) Der Plan von ihrem eigenen Salon nimmt Gestalt an. Sie will darin nur mit ihren selbst entwickelten Produkten von „Landmann Kosmetik“ arbeiten. Kann sie die Münchner mit diesem Konzept überzeugen?

In den 1960ern befindet sich Deutschland im Aufschwung, die Röcke werden kürzer und die Frauen unabhängiger. „Sie waren Märchenprinzessinnen und Pippi Langstrumpf in einem.“ (S. 112) Aber so frei sich die Frauen auch fühlen könnten, die Vorstellungen ihrer Mütter sind noch fest in ihren Köpfen verankert und es dauert, sich davon zu lösen. Eins meiner Lieblingszitate des ersten Bandes war: „Das Glück sollte leicht sein.“, aber es fällt ihnen immer noch nicht leicht, sich einzugestehen, was sie glücklich macht. Leni fühlt sich ihrer Mutter verpflichtet und hat Angst, sie zu verletzen, wenn sie deren Salon nicht übernimmt. Charlotte glaubt, dass ihr Dasein als Mutter nicht mit einem Vollzeitberuf oder gar der Arbeit als Fotomodell zu vereinbaren wäre. Und ein neuer Mann in ihrem Leben? Lange undenkbar.

Auch die Männer in diesem Buch haben es nicht leicht. Schorsch ist seit Jahren in Leni verliebt, die gerade ihre große Liebe Karl wiedergetroffen hat. Walter hat ein Geheimnis, dass er aus Rücksicht auf seine Eltern noch nicht lüften kann. „Aber wie konnte er eine Zukunft planen, solange er seine Vergangenheit in einem Koffer versteckte und sich selbst hinter dem Namen seiner Mutter?“ (S. 40) Und Lenis Chef Alexander muss wegen des §175 achtgeben …

Julia Fischer lässt eine sehr spannende Zeit wieder lebendig werden, die Musik, die Mode und natürlich die Frisuren (meine Mutter trägt heute noch den Vidal Sassoon Bob), die Stars und Sternchen, die Wiedereröffnung der Münchner Staatsoper und die Olympische Winterspiele in Innsbruck, das Attentat auf JFK und den Besuch der Queen in München.
Und wie schon im ersten Band hat sie ihre Figuren unglaublich toll entwickelt, man fühlt und leidet mit ihnen mit, durchlebt das Auf und Ab ihrer Gefühle und kann ihre Beweggründe jederzeit nachvollziehen. Das Buch ist wieder sehr emotional und war leider viel zu schnell auserzählt. Ein weiteres #lesehighlight der Autorin. Schade, dass es keinen dritten Band mehr geben wird.

Bewertung vom 19.12.2022
Die Henkerstochter und die Schwarze Madonna / Henkerstochter Bd.9
Pötzsch, Oliver

Die Henkerstochter und die Schwarze Madonna / Henkerstochter Bd.9


sehr gut

Der Meister des Todes

Eigentlich will der ehemalige Schongauer Scharfrichter Jakob Kuisl zusammen mit seinem Enkel Paul die Familie in München besuchen – seine Tochter Magdalena, deren Mann Simon und ihre Tochter Sophia. Doch dann kommt auch Pauls Bruder Peter, der in Ingolstadt Medizin studiert, überraschend nach Hause. Kurfürst Max Emanuel hat ihn zu sich befohlen. Peter soll ihm als Pilger (und Spion) nach Altötting folgen, wo sich der Kurfürst mit dem deutschen Kaiser treffen wird, um zusammen zur Schwarzen Madonna zu beten und sich gegen die Türken zu verbünden. Außerdem soll Simon ihn als Kurfürstlicher Hofmedicus begleiten. Also macht sich die komplette Familie Kuisl auf nach Altötting. Dort sterben bald zwei Personen aus dem Umkreis der Herrscher. Was aus Familienausflug begann, wird schnell zur atemlosen Mörderjagd und die Kusils geraten selbst in Gefahr, weil der Attentäter bemerkt, dass sie ihm dicht auf den Fersen sind. „Ein Attentat auf den Kaiser und den Kurfürsten… Und ich dachte, wir machen einfach mal eine schöne Reise zusammen.“ (S 153)

Als Fan der ersten Stunde habe ich mich sehr über den inzwischen 9. Band der Reihe um den Scharfrichter Jakob Kusil und seine Tochter Magdalena gefreut. Inzwischen ermittelt die gesamte Familie, selbst die erst zehnjährige Sophia scheint ganz nach ihrer Mutter und ihrem Großvater zu kommen. Und das ist auch gut so, denn dem alten Scharfrichter geht es in letzter Zeit nicht gut, seine Hände zittern oft und er vergisst Wörter – er braucht also würdige Nachfolger. Paul, der gerade das Henkershandwerk bei seinem Onkel erlernt, scheint ungeeignet zu sein. Er kann seine Wut oft nicht kontrollieren, fügt anderen gerne Schmerzen zu und trinkt zu viel. Und er fühlt sich in der Familie nicht willkommen: „Ich war immer auf der anderen Seite, ich bin einer von denen, keiner von euch …“ (S. 269) Jakob Kuisl hat eine Ahnung, warum das so ist, weiß aber nicht, ob und wie er mit Magdalena darüber reden soll.

„Die Henkerstochter und die schwarze Madonna“ ist ein extrem persönlicher Fall für die Kusils, an dem die Familie zu zerbrechen droht. Neben der Mörderjagd müssen sie sich vor allem mit dem aus der Art geschlagenen Paul auseinandersetzen, der sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Bald müssen sie sich die Frage stellen: „Was ist uns unser Sohn wert? Würden wir für ihn auch morden?“ (S. 461) Und auch der alte Henker bringt sich mehr als einmal in die Bredouille, sei es durch sein loses Mundwerk oder sein „überschäumendes“ Temperament.
Was Paul mit Gewalt erreichen will, versuchen Peter und Simon durch ihren Verstand zu klären, leider kommen sie dadurch manchmal fast zu spät auf die Lösung, was vor allem Magdalena aufregt. Es geht heiß her und die kleine Sophia kocht unbeobachtet von allen ihr eigenes Süppchen.

Die Geschehnisse werden abwechselnd aus der Sicht der verschiedenen Familienmitglieder geschildert, dadurch wechseln der Handlungsstrang und -ort immer wieder, trotzdem bleibt es bis zum Ende spannend. Außerdem hat sich Oliver Pötzsch hier für sehr interessante Verdächtige entschieden, die ich aus Gründen der Spannung natürlich nicht verrate, und historische und medizinische Fakten geschickt mit der Handlung verwoben. Trotzdem kommt es für mich nicht ganz an die Vorgängerbände heran. Aber nach den dramatischen Ereignissen um Jakob und Peter bin ich sehr gespannt, wie die Reihe weitergeht.

Bewertung vom 15.12.2022
Schritt für Schritt zum Glück
Simsion, Graeme;Buist, Anne

Schritt für Schritt zum Glück


sehr gut

Einen Tag nach dem anderen

„Das war damals die schönste Zeit meines Lebens.“ (S. 48) Vor 3 Jahren haben sich die Amerikanerin Zoe und der Brite Martin auf dem Jakobsweg kennengelernt und ineinander verliebt, sich danach aber trotzdem für getrennte Leben entschieden, weil keiner von ihnen seine Heimat verlassen wollte.
Jetzt treffen sie wieder aufeinander. Bei Zoes Freundin Camille wurde Multiple Sklerose festgestellt, darum will sie mit ihr den Assisiweg von Cluny nach Rom gehen, solange sie es noch kann. Martin will sie einen Teil der Strecke begleiten und seine Tochter Sarah, die gerade Semesterferien hat, schließt sich ihm spontan an.
Was als Trip zu zweit geplant war, wird schnell zu einer kleinen Gruppenreise, als auch noch Camilles Ex-Mann Gilbert und Bernhard mitkommen, den sie ebenfalls auf dem Jakobsweg kennengelernt haben.

Jeder von ihnen befindet sich gerade an einem Punkt im Leben, an dem er es noch mal ändern könnte. Zoes Karriere als Comic-Zeichnerin stagniert. Martin setzt für die Reise seinen Job aufs Spiel, an dem er aber auch nicht mehr so richtig hängt. Sarah ist nicht sicher, ob sie weiter Medizin studieren soll. Bernhard will vom Ingenieurs- zum BWL-Studium wechseln. Camille überlegt, was sie mit der Zeit anfangen soll, die ihr noch bleibt, und Gilbert liebt sie immer noch, fühlt sich für sie verantwortlich und hat seine Firma verkauft um nur für sie da sein zu können – obwohl sie ihn nicht darum gebeten hat.

Schnell wird klar, dass sie den Weg aus verschiedenen Gründen gehen. Camille ist Katholikin, pilgert um Buße zu tun und hofft auf eine Audienz beim Papst, die Vergebung einer großen Sünde und die Spontanheilung ihrer Krankheit – denn Wunder passieren immer wieder. Gilbert geht ihn wegen ihr und weil ihm sein Arzt mehr Bewegung verordnet hat. Zoe geht es um die Herausforderung an sich, 1.600 km in 47 Tagen. Zudem denkt sie, dass Camille es allein nicht schaffen würde und ihre Hilfe braucht. Und Martin hofft, Zoe diesmal überzeugen zu können, dass sie zu ihm zieht.

Das Buch lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Einerseits bekommt man einen sehr guten Eindruck, wie körperlich anstrengend und nervlich aufreibend das Pilgern ist, dass man dabei immer wieder an seine Grenzen stößt und sich jeden Tag entscheiden muss, wieder loszugehen, einen Tag nach dem anderen, ohne an morgen oder gar übermorgen zu denken. Anderseits ist die Handlung sehr problembeladen und aufgrund der vielen Personen zum Teil etwas unübersichtlich. Aber man bekommt auch einen tiefen Einblick in ihre jeweilige Gedanken- und Gefühlswelt und wird sich genau wie sie seiner Endlichkeit bewusst.
Außerdem merkt man, dass Grame Simsion und Anne Buist den Weg selbst gegangen sind und aus Erfahrung sprechen, wenn die Herbergen und ihrer Betreiber beschreiben, die Schwierigkeiten, mit denen diese zu kämpfen haben.

Wie schon in „Zum Glück gibt es Umwege“ werden die Geschehnisse abwechselnd aus Zoes und Martins Sicht geschildert, so dass man unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen bekommt. Zum besseren Verständnis würde ich übrigens empfehlen, das Buch vorher zu lesen.

Bewertung vom 13.12.2022
Caroline Märklin - Sie brachte Kinderaugen zum Leuchten, doch kämpfte um ihr eigenes Glück
Feyerabend, Charlotte von

Caroline Märklin - Sie brachte Kinderaugen zum Leuchten, doch kämpfte um ihr eigenes Glück


sehr gut

Falsche Erwartungen

Ich verbinde mit dem Namen Märklin die berühmte Spielzeugeisenbahn, die es auch bei uns in der DDR gab und die mein Papa jedes Jahr zur Weihnachtszeit mit uns zusammen aufgebaut hat. Dafür hatte er eine riesige Spanplatte mit Tunneln und Bergen, kleinen Dörfern, Bahnhöfen und Wäldern gebaut. Und auf dem Tunnel drauf lag dann unsere Katze und hat die Züge von den Schienen geschubst, sobald sie vorbeigefahren kamen …
Darum hatte ich auch erwartet, dass es in Charlotte von Feyerabends Buch um die Erfindung der Spielzeugeisenbahn geht, aber die wurden gar nicht von Caroline, sondern anderen Firmen und später dann ihren Söhnen entwickelt. Die erfanden nämlich das variable Schienen- und Weichensystem, mit dem wir heute noch spielen.

„Wäre sie bloß als Mann auf die Welt gekommen, dann hätte sie die väterliche Firma übernommen und es gäbe sie noch heute.“ (S. 8) Caroline war ihrer Zeit immer etwas voraus. Sie hätte gern die Firma ihres Vaters weitergeführt, war unglaublich kreativ und wollte etwas aufbauen, sich etwas Eigenes schaffen, aber für einen Frau ziemte sich das damals natürlich nicht.
Sie galt als späte Jungfer, war schon Anfang 30, als sie (endlich) Wilhelm Märklin heiratete. Der Witwer und Vater zweier Töchter war ein Geschäftspartner ihres Vaters und mochte Carolines Unabhängigkeit, dass sie so anders war als andere Frauen und Grenzen überschritt. Allerdings stellte sich bald heraus, dass er von ihr als seiner Ehefrau anderes erwartete. Sie sollte sich um seine Kinder und den Haushalt kümmern, ihm Erben gebären. Trotzdem schaffte sie es, ihm hin- und wieder die Erlaubnis abzutrotzen, mit einer Sondergenehmigung auf Handelsfahrt zu gehen – mit der neumodischen Eisenbahn, von der sie begeistert und fasziniert war.

Wilhelm war Flaschner, heute würden wir wahrscheinlich Spengler sagen, und stellte Artikel aus Blech her, wie Töpfe und Kellen, aber auch Waschbecken oder Badewannen. Aus den Blechabfällen machte er für seine Töchter Miniaturmöbel und -kochgeschirr. Caroline wollte diese Sparte ausweiten, hatte ständig neue Ideen für Spielzeuge, denn damals änderten sich langsam die Ansichten zur Erziehung und Entwicklung von Kindern. Sie wurden nicht mehr nur als kleine Erwachsene angesehen, sondern durften spielen und ihre Interessen wurden gefördert. Doch Wilhelm war ziemlich stur und erst seine Söhne erkannten später unter Carolines Anleitung das Potential und eroberten diesen Markt für sich.

Caroline gehörte zu einer sehr großen Familie, schien unzählige Schwestern und Brüder zu haben, die aber zum Teil nach Amerika ausgewandert waren und als verschollen galten. Dadurch bekommt man zwar einen sehr guten Eindruck vom damaligen Zeitgeist, wie die Arbeitswelt funktionierte und Familien strukturiert waren, aber Caroline als Person konnte ich nicht richtig fassen. Man erlebt sie zwar als Ehefrau und liebevolle Mutter, aber sie schien ihre Gefühle in ihrem Innersten zu verschließen. Der Eindruck von ihr als Unternehmerin, die um jeden Preis den Fortschritt will und dafür auf ihr eigens Glück verzichtet, überwog.

Bewertung vom 12.12.2022
Die Suche nach Heimat
Janos, Indra Maria

Die Suche nach Heimat


ausgezeichnet

Heimat oder Freiheit

„Aber die meisten, die das Café besuchten, wollten sich mit Verlegern, Kritiken oder Künstlerkollegen treffen. Mascha konnte sich nicht Schöneres vorstellen, als eines Tages dazuzugehören und ihren eigenen Namen in der Zeitung zu lesen, über einem ihrer Texte.“ (S. 17/18)
Im Sommer 1928 glaubt die 21jährige Mascha im Romanischen Café in Berlin und bei Saul Kaléko endlich eine Heimat gefunden zu haben. Darum willigt sie auch in den Antrag des knapp 10 Jahre älteren Hebräischlehrers ein, obwohl sie sich eine Familie und Kinder noch gar nicht vorstellen kann. Sie will berühmt werden und ihr Leben genießen. Aber Saul verspricht, ihr alle Freiheiten zu lassen.

Bald veröffentlicht sie regelmäßig Gedichte in Zeitungen und trägt sie auf der Bühne vor, 1931 erscheint ihr erster Lyrikband. Während all der Zeit hält Saul ihr den Rücken frei und hat nichts dagegen, dass sie fast jeden Abend ausgeht und mit anderen Männern flirtet. Und nach zwei Ehejahren wird ihr klar, dass er ihr zu alt, langweilig, gesetzt und vorhersehbar ist. Aber sie bleibt bei ihm, denn er liebt sie über alles und gibt ihr Halt.
Außerdem überrollen sie die politischen Entwicklungen. Hitler kommt an die Macht und das Leben der jüdischen Bevölkerung ändert sich eklatant. Es kommt zu Übergriffen und Boykotten, sie werden in ihrer Freiheit immer mehr eingeschränkt. Viele Schriftsteller und Künstler verlassen deshalb Deutschland und auch Saul will nach Palästina emigrieren, aber Mascha kann sich ein Leben außerhalb Berlins nicht vorstellen. Sie hofft, dass der braune Spuk bald vorbei ist. Und dann lernt sie den Dirigenten Chemjo Vinaver näher kennen und verliebt sich in ihn …

Indra Maria Janos erzählt in „Die Suche nach Heimat“ von Mascha Kalékos Aufstieg und ihrem Leben in Berlin bis zur Emigration nach Amerika. Das Buch liest sich zum Teil wie das Who's Who der Literaturszene, denn im Romanischen Café traf sich alles, was Rang und Namen hatte (wie z.B. Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Claire Waldoff, Joachim Ringelnatz und Berthold Brecht) und Mascha gehörte dazu.
Sie lässt diese aufregende Zeit im Leben der Dichterin lebendig werden, ihren Schaffensprozess und Durchbruch als Schriftstellerin, den Austausch mit anderen Künstlern, die gegenseitige Förderung, aber auch die immer stärker werdende Angst ab 1930 und die Überlegungen, was man gegen die Nazis tun kann. „Wir haben alle eine Stimme. Und wir sollten sie nutzen. Schreiben Sie darüber!“ (S. 111)
Dazu kommen das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern, die Eheprobleme mit Saul und der Zwiespalt, als sie sich in Chemjo verliebt. Diese Zerrissenheit schildert die Autorin besonders empathisch.

Ergänzt wird die Handlung durch Maschas Gedichte. Zuerst sind sie heiter und leicht, werden aber immer ernster und schwerer. Sie zeigen ihre künstlerische Entwicklung und spiegeln ihre jeweilige Gefühlslage und die Weltpolitik wider. Geht es zu Beginn noch um amüsante Alltagssituationen oder die ersten Zweifel an ihrer Liebe zu Saul, werden sie schnell politischer und kritischer, düsterer und hoffnungsloser.

Indra Maria Janos schreibt sehr fesselnd und hat mir das bewegte Leben einer außergewöhnlichen Künstlerin nähergebracht, über die ich sie gut wie nichts wusste, wie ich beim Lesen des Buches feststellen musste.

Bewertung vom 06.12.2022
Prost, auf die Gaukler
Kalpenstein, Friedrich

Prost, auf die Gaukler


ausgezeichnet

Das letzte Konzert

„Das ist kein Hund, sondern ein Dackel, und obendrein noch eine Kollegin von uns.“ (S. 59) Schon seit Kommissar Tischlers erstem Fall hoffe ich, diesen Satz zu lesen. Dackeldame Resi hat endlich eine Hauptrolle, den Förster Ferstel liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus und Tischlers Freundin Britta ist für Ärzte ohne Grenzen für 4 Monate in Brasilien. Da ist der Platz neben ihm auf der Couch (und im Bett, natürlich nur ausnahmsweise 😉) ja eh frei und auch bei den Ermittlungen zum Tod des Volksmusiksängers Ron Goldinger auf dem Brunngrieser Volksfest ist Resi immer dabei.
Dabei hieß es erst: „Da draußen hinter dem Bierzelt liegt der Goldinger und schläft seinen Rausch aus!“ (S. 11), aber der schläft nicht, sondern hat den Pfeil einer Pistolenarmbrust aus der Schießbude nebenan im Hals. Leider hat der Betreiber nicht gemerkt, dass ihm „schon wieder“ eine geklaut wurde. Tischler und Polizeiobermeister Fink raufen sich die Haare – wie soll man denn so arbeiten, zumal auch Polizeioberrat Schwenk und der der Bürgermeister vor Ort sind und sich sofort einmischen …

„Prost, auf die Gaukler“ ist bereits der 6. Band der Reihe von Friedrich Kalpenstein und genauso spannend und unterhaltsam wie die Vorgänger. Mit viel Macho-Gehabe (Fink hat sich endlich emanzipiert und gibt Tischler ordentlich Kontra), schnellen Autos und einiger stuntreifer, sehr sportlicher Verfolgungsjagden bringen die beiden Ermittler die Verdächtigen ordentlich ins Schwitzen. Und Verdächtige gibt es viele, zu viele. Goldinger war ein Frauenschwarm und hat nichts anbrennen lassen. Hat sich vielleicht eine verlassenen Ex-Geliebte oder ein gehörnter Ehemann gerächt? Außerdem war bei dem „Star“ längst nicht alles so eitel Sonnenschein, wie er es in seinen Liedern immer besungen hat. Auch für die große Karriere hat es nie gereicht, stattdessen tingelte er zusammen mit seinem Manager über Volksfeste und zu Kaufhauseröffnungen.

Friedrich Kalpenstein nimmt die Volksmusikszene ordentlich aufs Korn, persifliert sich prügelnde konkurrierende weibliche Fanclubs, übertriebenes Merchandising und selbstverliebte Möchtegernstars. Ich habe mich köstlich amüsiert.

Aber natürlich ist die Reihe auch was fürs Herz. Fink hat endlich eine Freundin, die seinen Kleidungsstil und sein Ego positiv beeinflusst, und Tischler mag gar nicht an die Zeit denken, wenn er Resi zurückgeben muss – ich sag nur Dackelblick.

Ich mag auch die Nebenfiguren der Reihe sehr. Nageldesignerin Tereza und Gastwirtin Nori steigern sich weiter in ihren Kleinkrieg rein. Ich bin gespannt, wann es bei ihnen zum Äußersten kommt und wie das dann ausgeht. Und Tischlers Automonteur steht diesmal auf der richtigen Seite des Gesetzes, also zumindest teilweise, aber das ist ja schon mal ein Anfang.

Mein Fazit: Wer einem Dackelblick nicht widerstehen kann und kurzweilige Regionalkrimis mag, ist in Brunngries genau richtig!

Bewertung vom 28.11.2022
Ein Schuss Whiskey / Kulinarische Kriminalromane Bd.3
Henn, Carsten Sebastian

Ein Schuss Whiskey / Kulinarische Kriminalromane Bd.3


gut

Viel Whiskey und wenig Krimi

„Ein Mord hat stattgefunden, aber niemand würde ihm glauben.“ (S. 31) Janus Rosner ist ein deutscher Schriftsteller mit Schreibblockade in Dublin. Um diese zu überwinden, zieht er nachts durch die Pubs und achtet beim Whiskeytrinken eher auf Quantität als Qualität. Doch als er sieht, wie eine junge Frau mit rotem Schal an einem Flussufer erschossen wird, ist er wieder stocknüchtern. Trotzdem glaubt ihm die Polizei nicht, zumal weder eine Leiche noch Spuren gefunden werden. Aber genau gegenüber dem Tatort entdeckt Janus in einem kleinen alten Buchladen einen roten Schal, der sogar noch etwas feucht ist. Also macht er sich zusammen mit seiner Mitbewohnerin auf die Suche nach dem Täter und diesen damit auf sich aufmerksam. Eine Hetzjagd durch Dublin beginnt, bei der nicht immer klar ist, wer gerade wen jagt …

Nach „Der Gin des Lebens“ und „Rum oder Ehre“ dreht sich in Carsten Sebastian Henns neuem Krimi alles um Dublin und (den einzig wahren) irischen Whiskey. „Whiskey ist für uns Iren nicht bloß ein Getränk, er ist Selbstbehauptung und einen Genuss Selbstvergewisserung.“ (S. 59)

Das Setting des Krimis hat mir wieder ausgesprochen gut gefallen, man bekommt einen sehr guten Eindruck von Dublin und lernt viel Interessantes über Whiskey (seine Geschichte, Herstellung und Fachbegriffe, ergänzt durch Cocktail-, Koch- und Backrezepte), aber die Krimihandlung an sich war mir zum Teil zu verworren und konstruiert, außerdem fehlte mir an einigen Stellen der rote Faden, so dass der filmreife Showdown fast wie aus dem Nichts kam.

Janus wirkt etwas verloren, sowohl beim Schreiben als auch im Leben. Er hat nach seinem Germanistikstudium einige Jobs gemacht, sich aber immer als Schriftsteller ohne Inspiration verstanden. Da sein Vater Polizist ist, will er es jetzt mit einem Krimi versuchen und verarbeitet dabei direkt seine Ermittlungsergebnisse. Die Auszüge aus seinem Manuskript werden immer mal wieder kursiv in die Haupthandlung eingeschoben.
Auch der Mörder kommt regelmäßig zu Wort, allerdings wirkt er einerseits sehr intelligent, andererseits klingt er beim Denken sehr prollig, wie eine Mischung aus John Wayne und Rambo. Das hat für mich irgendwie nicht gepasst.

Ich denke, dass alle Dublin- und Whiskeyfans hier voll auf ihre Kosten kommen, Krimiliebhaber aber über einige Ungereimtheiten hinwegsehen müssen.

Bewertung vom 25.11.2022
Weihnachtsfest mit einem Engel
Marschall, Anja

Weihnachtsfest mit einem Engel


ausgezeichnet

Ein letztes kleines Abenteuer

„Man darf einen Engel nie nach dem ersten Eindruck beurteilen.“ (S. 312) Wobei das bei Georg echt schwerfällt. Der vollbärtige, langlockige, nur mit einem recht kurzen weißen Nachthemd und weißen Cowboystiefeln bekleidete Mann, der da kurz vor Weihnachten auf einem Stuhl an ihrem Krankenhausbett lümmelt und auf ein mit Strasssteinchen verziertes Handy starrt, wirkt auf Maria nicht besonders vertrauenserweckend und ziemlich ruppig ist auch. Und warum kann ihn sonst keiner sehen? Wird sie etwa langsam plemplem? Die bis dato rüstige Achtzigjährige ist beim Spaziergang am Strand umgekippt, und wenn sie Georg richtig versteht, läuft ihre Zeit jetzt ab. Er wartet nur noch auf den „erlösenden Anruf“, um sie in den Himmel zu begleiten. Dabei wollte Maria die Festtage so gerne in München bei ihren Enkeln und ihrem verwitweten Schwiegersohn Ben verbringen, aber dessen neue Partnerin hat andere Pläne.
Zum Glück kann Maria Georg überreden, die Wartezeit auf ihren Abgang sinnvoll zu verbringen – im Zug zu ihrer Familie. Doch dann kommt alles ganz anders und ein aufregender Roadtrip quer durch Deutschland beginnt – ein letztes kleines Abenteuer.

Georg ist ein echter Antiheld mit zweifelhafter Moral. Er wurde zur „Abholung“ strafversetzt, weil er im Himmel gepokert (und dabei betrogen) hatte und will Maria immer wieder zu kleinen Straftaten wie z.B. Schwarzfahren oder Mundraub anstiften. Aber sie überrascht ihn, indem sie ihm zeigt, dass man sein Ziel auch anderes erreichen kann – indem man mit den Menschen redet, sie um etwas bittet oder an ihr Mitgefühl appelliert. „Sie unterschätzen die Menschen … Und sie unterschätzen, welche Bedeutung Weihnachten für die Menschen noch hat. … Es geht um die Sehnsucht nach dem Guten, verstehen Sie das?“ (S. 78)
Auf ihrer aufregenden Reise lernen sie viele Menschen kennen, denen Maria neuen Mut macht, sie an eigene Wünsche und Träume erinnert und ihnen Lösungswege aufzeigt. Und so langsam ändert sich auch Georgs Sicht auf die Dinge und er beginnt, es ihr gleichzutun. „Sie ist mehr Engel, als du oder ich es je sein werden.“ (S. 247) Aber wie lange kann er Marias Ableben hinauszögern?

„Weihnachtsfest mit einem Engel“ ist eine ganz zauberhafte, lustige, philosophische und berührende Weihnachtsgeschichte, die nicht nur gut unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Denn was könnte an Weihnachten wichtiger, als mit der Familie zusammen zu sein?!

Bewertung vom 23.11.2022
Die Rote Insel / Fräulein Gold Bd.5
Stern, Anne

Die Rote Insel / Fräulein Gold Bd.5


ausgezeichnet

Im Exil

„… sosehr sie sich auf die Erlösung und das Kind freute, so sehr fürchtete sie den Moment, da ihr Leben noch ein ganzes Stück komplizierter würde.“ (S. 13)
Im Frühsommer 1926 ist Hulda Gold regelrecht abgetaucht. Sie darf aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht mehr in der Frauenklinik arbeiten und ist bei ihrer Vermieterin ausgezogen, um ihr keine Probleme zu bereiten. Zum Glück hat die Ärztin Grete Fischer sie in Schöneberg auf der „Roten Insel“ als Arzthelferin eingestellt und ihr eine winzige Kellerwohnung besorgt. Obwohl Hulda froh sein muss, in ihrem „Zustand“ (unverheiratet und schwanger) überhaupt irgendwo untergekommen zu sein, sehnt sie nach ihrer alten Stelle, ihrem alten Zimmer und ihrem alten Ich. Und manchmal sogar nach ihrem verstorbenen Verlobten Johann, obwohl sie sich inzwischen eingestehen musste, dass sie ihn nie richtig geliebt hat, nur verliebt war.

Die Weimarer Republik ist eine Zeit voller politischer Unruhen und die Rote Insel ein Brandherd. Obwohl, oder gerade, weil sie fest in der Hand der Kommunisten ist, kommt es immer öfter zu blutigen Auseinandersetzungen mit den Nazis. Eines Morgens wird ein Kohlenhändler erschlagen aufgefunden und für die Roten ist klar, dass das die Braunen waren. Doch Hulda zweifelt und stellt Nachforschungen über den Toten an. Dabei läuft sie einem alten Bekannten über den Weg – dem Privatdetektiv Karl North. Mit ihm sie schon viel erlebt und lange eine On-Off-Beziehung geführt. Jetzt soll er auf der Insel etwas für seinen Vater herausfinden, der einen Ringverein leitet.

Noch in keinem Teil der Reihe ist man Hulda so nahegekommen wie hier. Sie hadert mit ihrer Situation und fühlt sich auf der „Roten Insel“, einem Bereich zwischen vier S-Bahnbrücken, wie im Exil. Oft muss sie sich vorwerfen lassen, dass sie nicht von hier stammt und darum keine Ahnung hat, wie man hier (über)lebt und aus was man sich besser raushält. Außerdem weiß sie nicht, wem sie trauen kann, da selbst Grete ein Geheimnis zu haben scheint. Auch die Arbeit mit ihr ist anders als gedacht. Während Hulda sehr mitfühlend mit ihren Patientinnen umgeht, scheint Grete völlig emotionslos, lässt nichts an sich rankommen oder zeigt Mitleid.

Hulda ist extrem zerrissen. Einerseits freut sie sich auf ihr Kind, andererseits weiß sie nicht, wie es nach der Geburt weitergehen, wo und wovon sie leben soll. „Wo zum Teufel gehörte sie nun hin? Wo würde sie akzeptiert werden – und gleichzeitig sie selbst sein können?“ (S. 77) Sie träumt davon, wieder als Hebamme zu arbeiten, aber wie soll das als alleinerziehende Mutter gehen? In ihrem alten Viertel am Winterfeldplatz hatte sie ein großes Netzwerk, aber da traut sich das „gefallene Mädchen“ nicht mehr hin. Auch mit Johanns Familie will sie eigentlich nichts mehr zu tun haben, schließlich war sie seinen Eltern nie gut genug, aber ihr Kind soll Kontakt zu den Großeltern haben. Hulda muss über viele Schatten springen und die Brücken, die sie hinter sich abgerissen hatte, mühsam wieder aufbauen. Sie durchläuft eine regelrechte Metamorphose und wird endlich erwachsen, begreift, dass das Kind und dessen Wohlergehen im Vordergrund stehen und sie auch mal zurückstecken oder etwas massiv einfordern muss.

Anne Stern schildert Huldas Situation und Entwicklung sehr empathisch, lässt die Leser jederzeit an deren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Ich habe mit ihr mitgefühlt und hätte sie wahlweise manchmal gern in den Arm genommen oder ihr den Kopf gewaschen.

Auch das Leben der Insulaner beschreibt die Autorin fesselnd und atmosphärisch, man spürt die aufgeheizte Stimmung, das gegenseitige Misstrauen und die Gewaltbereitschaft der verschiedenen Parteien und Interessengruppen.

Meine Lieblingsnebenfigur in diesem Band war das ehemalige Kindermädchen Fräulein Eugenie Fink – inzwischen wohl so um die 70, aber immer noch topfit. Ich hoffe sehr, dass sie im nächsten Buch wieder dabei ist.

5 Sterne und meine Empfehlung für dieses Lesehighlight!

Bewertung vom 19.11.2022
Café Leben
Leevers, Jo

Café Leben


sehr gut

Projekt Lebensbuch

„Ich bin aus verschiedenen Gründen für die Stelle geeignet. Erstens neige ich nicht zu Gefühlsausbrüchen oder Sentimentalität. Zweitens besitze ich ausgezeichnete Qualifikationen im Büromanagement und bin somit gut gerüstet, um die Lebensgeschichten rechtzeitig zu verschriftlichen, bevor die Betroffenen sterben. Drittens mag ich es, eine Deadline zu haben.“ (S. 12) Mit diesen Worten bewirbt sich Henrietta in der Beratungsambulanz eines Krebszentrums. Ihre Aufgabe wird es sein, zusammen mit den Patienten in nur 6 Sitzungen á 1 Stunde deren Leben aufzuschreiben und daraus ein Buch für die Hinterbliebenen zu machen. Dafür gibt es einen Vordruck, aber schon Henriettas erste Patientin Annie macht ihr klar, dass ihre Erinnerungen nicht in das starre Gefüge des Formulars passen. „Wenn du auf dein Leben zurückschaust, dann hat es keine geordnete Form. Es sind eher Schnappschüsse, wie in einem Fotoalbum. Und manchmal fällt es schwer, sich an die Teile dazwischen zu erinnern, daran, was in dem Moment passiert ist, bevor das Foto aufgenommen wurde, oder gleich danach.“ (S. 50) Dann rattert sie ihre Geschichte herunter und erwähnt kurz, dass ihre jüngere Schwester Kathy vor 46 Jahren mit gerade mal 18 verschwand und kurz darauf für tot erklärt wurde, weil es keine verwertbaren Spuren gab. Henrietta wird hellhörig und forscht nach, wobei es ihr zu Beginn gar nicht mal darum geht, die Lücke zu füllen, die Kathys Verschwinden in Annies Leben gerissen hat, sondern darum, das Lebensbuch abzurunden – sie mag einfach keine Leerstellen.

„Café Leben“ von Jo Leevers ist aufgrund der tragischen Schickale der drei Frauen ein sehr berührendes Buch voller unausgesprochener Vermutungen, Wahrheiten und dunkler Geheimnisse. Denn nicht nur Annie und Kathy, auch Henrietta hatte es bisher nicht leicht im Leben, dabei ist sie gerade mal Anfang 30. Sie lebt mit ihrem Hund sehr zurückgezogen und beschränkt die Kontakte zu anderen Menschen auf das absolut Notwendigste. Ich habe lange überlegt, ob sie evtl. eine Bindungsstörung hat, da sie sich nicht auf andere einlassen und Gefühle zeigen kann (ihr Gesicht ist eine unbewegte Maske). Aber im Laufe der Handlung wird klar, dass sie so erzogen wurde, ihre Eltern ihr das genauso vorleben und sie für einen Vorfall in ihrer Kindheit verantwortlich machen bzw. sogar bestrafen …
Annie scheint das ganze Gegenteil zu sein, will auffallen und Spuren hinterlassen, selbst wenn es nur ihre Fingerabdrücke auf einer frisch geputzten Glastür sind. Seit dem Tod ihres Mannes trägt sie Vintage-Kleider: „Ein bisschen exzentrisch, aber daran gibt es nichts auszusetzen, denn es gleicht die vielen Jahre der Unsichtbarkeit aus.“ (S. 228 / 229) und so lange es ihr noch gut ging, hat sie regelmäßig neue Restaurants und Cafés ausprobiert. Doch insgeheim drehen sich alle ihre Gedanken um ihr Leben mit und ohne Kathy, hinter der sie immer zurückstehen musste und die sie trotzdem so sehr vermisst. „Die Erstgeborene, aber immer an zweiter Stelle. Liebe und Groll waren die Zwillingsfäden, aus denen das Band zwischen den Schwestern bestand.“ (S. 163)

Sehr gefühlvoll beschreibt Jo Leevers die Beziehung zwischen den Schwestern und was damals passiert ist, wie sich Henrietta und Annie langsam aneinander annähern und öffnen, sich ihre größten Geheimnisse, Ängste und schlimmsten Erinnerungen erzählen. Man braucht beim Lesen starke Nerven, muss die Dramen, die die drei erleben bzw. erlebt haben, und die explizit beschriebenen Sterbeszenen der Krebskranken aushalten können. Aber sie macht auch Mut indem sie zeigt, wie es für die Zurückgebliebenen weitergeht. „Ich finde, es ist an der Zeit, dass Sie sich ins Leben stürzen.“ (S. 216)