Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Volker M.

Bewertungen

Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 27.12.2022
Chamissimo
Guhr, Sebastian

Chamissimo


sehr gut

Adelbert von Chamisso war ein Wanderer zwischen den Welten. Ein Spätberufener, ein Vielbegabter, ein Vorausschauer und Sinnsucher. Er wurde berühmt als Autor von „Peter Schlemihl“, er wurde berühmt als Weltumsegler, er wurde berühmt als Botaniker, Linguist und Naturforscher und doch dauerte es sehr lange, bis er seinen eigenen Weg fand. Ein ereignisreiches Leben, das als Sohn eines Adeligen in der Französischen Revolution begann und kurz vor der Revolution in Berlin endete.
Sebastian Guhr hat Chamissos Biografie in eine romanhafte Form gebracht, nah an den tatsächlichen Ereignissen, meist gut recherchiert und mit lebendigen Details und klugen Ausschmückungen ergänzt. Er beschreibt Adelbert als einen Menschen, der lange auf der Suche nach seiner eigentlichen Bestimmung ist, aber vor allem dem Neuen gegenüber stets offenbleibt. Erst nach seiner Weltreise, da ist er 37, gründet er eine Familie, nachdem er sich seine gesamte Jugend und frühe Erwachsenenzeit durch Deutschland und die Schweiz treiben ließ. Vieles von dem, was ihm widerfuhr, war dem Zufall geschuldet, aber Chamisso war ein Meister darin, im Zufall auch die Chance zu ergreifen. Als verarmtem französischen Adeligen war ihm in Deutschland kein goldenes Leben vorherbestimmt, aber er probiert sich in allem aus, was ihn interessiert, unabhängig davon, ob es ihm Geld einbrachte oder nicht. Eine sehr moderne Strategie, irgendwann sein Glück zu finden.

Sebastian Guhr schreibt chronologisch linear, immer aus der Sicht Chamissos, wodurch seine Absichten und Gedanken zwar nachvollziehbar und klar werden, aber die Veränderungen in seinem Umfeld nur durch die eigene Beobachtung geschildert werden können. Es liest sich ein bisschen wie eine Autobiografie aus der Er-Perspektive, was das Risiko birgt, eintönig zu werden, hier allerdings durch den lebendig beschriebenen Hintergrund relativiert wird. Guhr gelingt es, die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, mit denen Chamisso in Berührung kommt, zwar in modernen Dialogen, aber im Geist des frühen Bürgertums zu schildern, das sich dann in der Restauration nach 1815 mehr oder weniger ins Private zurückzieht.

Dennoch ist Guhrs Chamisso keine reale Person, sondern letztlich ein Romanheld, was spätestens in der Schlussszene klar wird: Hier fährt Chamisso auf der Jungfernfahrt der Eisenbahn Leipzig-Dresden zu einer Preisverleihung und die Bahn (die erste Fernverbindung Deutschlands!) wird zum Symbol für Adelberts Zukunftsglauben und Aufgeschlossenheit dem Neuen gegenüber. In der Realität wurde diese Strecke aber erst zwei Jahre nach Chamissos Tod eingeweiht. Da die historische Kulisse ansonsten gesellschaftlich und historisch sehr präzise gezeichnet wird, bin ich nicht sicher, ob dies der dichterischen Freiheit oder einem üblen Recherchefehler geschuldet ist. Biografisch bin ich zu Chamisso leider nicht genügend sattelfest, um eine abschließende Wertung über die „Wahrheit“ in diesem Roman abzugeben. Alleine, dass ich daran jetzt Zweifel hege, hat mir zum Schluss ein wenig das ansonsten große Lesevergnügen verhagelt. Denn schreiben kann Sebastian Guhr, das steht außer Frage.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 26.12.2022
Das Berliner Schloss
Hinterkeuser, Guido

Das Berliner Schloss


ausgezeichnet

J’accuse! Eine Anklage gegen die geschichtsvergessene Berliner „Kultur“politik

Bereits 2012 erschien vom selben Autor eine Monografie zur Innenausstattung des Berliner Schlosses, die damals das Ziel hatte, den Entscheidungsprozess über die Ausgestaltung des Humboldt-Forums beratend zu unterstützen. Zu einem Zeitpunkt, als die Bauarbeiten am Forum nicht einmal begonnen hatten, wäre es ein Leichtes gewesen, die geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Erkenntnisse mit einfließen zu lassen und das Berliner Schloss nicht nur als architektonisches Zentrum Berlins anzuerkennen, sondern auch seinen geschichtlichen Stellenwert zu betonen. Heute findet man nur einige wenige Versatzstücke aus der alten Ausstattung lieblos und ohne Kontext präsentiert und laute aktivistische Stimmen fordern immer häufiger, sämtliche Bezüge auf Preußen, das Christentum und westliche Kultur nachträglich zu entfernen. Dieser woke Totalitarismus bekämpft aggressiv und kompromisslos unsere kulturellen und geschichtlichen Wurzeln und belegt sie mit einer condamnatio memoriae, auch gegen den erklärten Willen der Mehrheit.

Die Wiederauflage des Buches durchzieht nicht nur die Kritik an den im Planungsverfahren vergebenen Chancen, sondern es ist in Umfang und Eindringtiefe noch einmal deutlich erweitert worden. Zahlreiche weitere Objekte konnten identifiziert werden, weitere Bilddokumente ergänzen den visuellen Eindruck mittlerweile so detailliert, dass man anhand des Buches tatsächlich einen Rundgang durch alle wichtigen Räume, insbesondere der Privatgemächer absolvieren kann. Der Autor zeichnet mit großer historischer Präzision die unterschiedlichen Nutzungsphasen nach, die spätestens ab dem Ende des 19. Jahrhunderts sehr gut belegt sind. Aus nahezu jeder Stilepoche seit dem 16. Jahrhundert waren bis zum Ende des Weltkriegs originale Raumensembles erhalten und wenn auch die mobile Einrichtung wechselte, so war die wandgebundene Dekoration oft noch unverändert. Guido Hinterkeuser thematisiert das Thema „Originalität“ sehr qualifiziert, indem er bewusst macht, dass es so etwas wie eine „originale Einrichtung“ nie gegeben hat. Der letzte Bewohner des Schlosses, Wilhelm II., hatte beispielsweise einen fast schon kleinbürgerlichen Geschmack, der sich auch in seinen mit Andenken und Nippes vollgestellten Wohnräumen widerspiegelt und den man in seinem letzten Domizil im holländischen Doorn auch heute noch sehen kann. Das nach der Revolution von 1918 eingerichtete Schlossmuseum bemühte sich über 35 Jahre lang, das Nutzungskonzept unter stilhistorischen Gesichtspunkten mit Leben zu füllen und testete in dieser Zeit unterschiedliche Varianten aus. Guido Hinterkeuser fordert zu keinem Zeitpunkt, dass eines dieser früheren Konzepte zur Grundlage einer Präsentation im heutigen Humboldt Forum werden müsse, aber es wäre historisch sehr wünschenswert, wenn einige wenige Räume rekonstruiert und illustrativ mit Originalstücken als dem alten Bestand möbliert würden, um das Schloss als Wohnresidenz und Machtzentrum wieder erlebbar werden zu lassen. Die Finanzierung wäre im übrigen nie das Problem gewesen, es waren und sind dagegen politische „Überlegungen“, die Geschichte durch Totschweigen umzuschreiben, wie man es aus totalitären Regimen kennt.

Der Band ist ein Mahnmal. Ein Mahnmal für das, was untergegangen ist, aber auch ein Mahnmal, was nun erneut unterzugehen droht. Wenn wir die historische Realität zukünftig nur noch in Fachpublikationen in Eigeninitiative recherchieren, aber nicht mehr aus eigener Anschauung in Museen erleben können, dann werden die Wurzeln unserer Kultur durchtrennt. Der woke Aktivismus schießt in seiner kompromisslosen Intoleranz, Geschichts- und Kulturvergessenheit völlig über das Ziel hinaus. Bücher wie „Das Berliner Schloss“ sind über ihren informativen Gehalt wichtige Wissensspeicher für die Zeit nach der Hysterie und vielleicht erfüllt sich dann auch Guido Hinterkeusers Wunsch, das Schloss nicht nur als teilrekonstruierte Fassade wiedererstehen zu lassen, sondern auch im Inneren in ausgewählten Bereichen einen authentischen Blick in die Vergangenheit zu erlauben. Das Originalmaterial steht in großer Auswahl zur Verfügung, man muss nur gewillt sein, es auch auszustellen.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 25.12.2022
Günter Grass als Buchkünstler
Detering, Heinrich;Kunze, Lisa;Wellnitz, Katrin

Günter Grass als Buchkünstler


ausgezeichnet

Günter Grass besaß eine Mehrfachbegabung als herausragender Schriftsteller und Grafiker. Büchermachen war für ihn Lebenszweck und Bücher waren für ihn weit mehr als die Aufbewahrungsmittel seiner Texte: Es waren Gesamtkunstwerke, auf deren Layout und Ausstattung er persönlich Einfluss nahm. Seit 1993 erschienen seine Bücher im Steidl Verlag, aber erst hier wurde dem grafischen Werk der gleiche Stellenwert gegeben wie dem literarischen.

„Günter Grass als Buchkünstler“ ist kein Catalogue raisonné. Es werden nicht nur die publizierten Endergebnisse dokumentiert, sondern auch viele Zwischenschritte und Entwürfe, oft mit Grass‘ handschriftlichen Kommentaren versehen. Hinzu kommen Hintergrundkorrespondenz und weiteres sekundäres Material, das die Autoren in ihre Analyse mit einbeziehen, die aufgrund des sehr umfangreichen und sorgfältig referenzierten Quellenmaterials wissenschaftlichen Anspruch hat. Der Zugriff auf das Grass-Archiv in Lübeck und das Steidl-Archiv in Göttingen erlaubt dabei einen fast schon mikroskopischen Blick in Günter Grass‘ Gedankenwelt und vor allem den Arbeitsprozess. Die Autoren verknüpfen dabei bewusst auch die literarischen Texte mit den grafischen Aussagen und interpretieren sie vor dem autobiografischen und quellenhistorischen Hintergrund. Besonders eindrucksvoll sind für mich persönlich die Faksimiles von Grass‘ Notizbüchern, die er in seiner charakteristischen Handschrift mit Texten und spontanen Grafiken füllte, die später, wenn auch meist künstlerisch weiterentwickelt, in den Publikationen verwendet wurden. Steidl stellte Grass diese handgefertigten „Kladden“ aus säurefreiem Papier jedes Jahr zur Verfügung und sie besitzen eine direkte Authentizität, eine Spontaneität, die ein serienreifes Buch meist nicht mehr hat. „Günter Grass als Buchkünstler“ füllt diese Lücke, indem es den Weg von der Idee bis zum fertigen Buch aufzeichnet, durch Grass‘ eigene Worte kommentiert und mit biografischer Präzision recherchiert.

Sehr präsent ist neben der dokumentarischen Sorgfalt das besondere Verhältnis zwischen Günter Grass und Gerhard Steidl, die sich symbiotisch ergänzten. Beide besitzen ein intuitives Gespür für Bücher, wobei Steidl wie ein Lotse auf Grass wirkt. Er nimmt niemals direkten künstlerischen Einfluss auf die Aussage, sondern lenkt das Werk durch Layout (wobei gerade Grass als ausgebildeter Grafiker in diesem Punkt relativ autark war),die Auswahl von Materialien und Drucktechniken. Diese Wechselbeziehung ist stets spürbar, besonders auch im Interview mit Gerhard Steidl, in dem der Verleger u. a. seine Gedanken über die Materialität eines Buches beschreibt. Überspitzt gesagt: Selbst die Faserlänge im Papier muss zu Inhalt und Leser passen.

„Günter Grass als Buchkünstler“ ist eine sehr persönliche Annäherung an Grass‘ Werkprozess, mit zahlreichen biografischen und literarischen Querverweisen und hunderten Abbildungen verschiedener Arbeitsstände. Ein Buch, das Günter Grass sicherlich sehr gefallen hätte.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 16.12.2022
Börsenatlas 2023
Weimer, Wolfram;Spichalsky, Florian

Börsenatlas 2023


weniger gut

Der Titel "Börsenatlas 2023" hat mir suggeriert, dass der Börsenanleger wertvolle Informationen rund um das Börsenjahr 2023 erhält. Welche Branchen und Werte haben das Potential, sich besonders gut zu schlagen? Von welchen Aktien sollte man im nächsten Jahr besser die Finger lassen? Welche Werte sind aktuell die Dividendenstars? Aber leider hat mich das Buch enttäuscht, da es auf diese aktuellen Fragestellungen nicht eingeht und die vorhandenen Grafiken den Nutzen für den Anleger nicht darstellen. Auch habe ich keinen Jahresbezug zu 2023 gefunden. Zumindest sind die Grafiken und Tabellen größtenteils mit sehr aktuellen Daten (bis ins Jahr 2022) hinterlegt.

Die Autoren Wolfram Weimer und Florian Spichalsky betrachten die Wirtschaft aus neun verschiedenen Blickwinkeln, wie z. B. globale und historische Perspektiven, unternehmerische Perspektiven, Markt-, Ertrags- und Anleger-Perspektiven.
Es gibt Grafiken zu den größten Volkswirtschaften, den reichsten und ärmsten Ländern, den größten Crashs aller Zeiten, der Zusammensetzung des DAX 40, den teuersten NTFs, den reichsten Männern und Frauen in D, USA, Ö, CH oder zum Geldvermögen der Deutschen. Anekdotisch mag das interessant sein, hat aber kaum einen Bezug zur Börsenwelt 2023.
Interessant fand ich die Grafiken mit den Rohstoffrenditen in den letzten 10 Jahren und den größten Unternehmen der Welt und in Deutschland, gebündelt nach Branchen.

Grafiken sollen komplexe Sachverhalte vereinfachen. Einige der meist doppelseitigen Grafiken sind allerdings so simpel gestrickt, dass es dafür wirklich keiner Visualisierung bedarf: Die Börsengänge in 6 Ländern oder die größten Automobilkonzerne mit insgesamt 9 Marken sind Beispiele hierfür.

Bei vielen Grafiken sind die Zeitreihen nicht genau ablesbar, was eine Zuordnung zu historischen Ereignissen erschwert oder unmöglich macht. Es gibt auch eindeutige Fehler, wie die ANT GROUP als größter Börsengang in 2020. Dieser Börsengang wurde abgesagt und bis 2022 auch nicht nachgeholt.

Der "Börsenatlas 2023" konnte mich nicht wirklich überzeugen. Die Grafiken sind zwar visuell gefällig, aber der Aussagenutzen für den Börsenalltag ist gering. Viel Lärm um wenig.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 11.12.2022
Schockmomente
James, Harold

Schockmomente


ausgezeichnet

In der Geschichte zeigt sich, dass Erschütterungen oft ihren Ausgang in kleinen und zunächst unscheinbaren Vorfällen nehmen, z. B. im Auftreten der Kraut- und Knollenfäule in Irland, Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Ausbreitung eines neuen Coronavirus in Wuhan Ende 2019 oder auch im Attentat auf einen österreichischen Erzherzog im Jahre 1914. Hungertote, Weltkrieg und Wirtschaftskrisen waren die Folge. Diese Eskalation mahnt uns, auch kleine Ereignisse ernst zu nehmen, wie Harold James in seinem Buch "Schockmomente" anhand vieler Beispiele zeigt.

Im Einleitungskapitel analysiert der Autor Schockmomente der letzten 180 Jahre und stellt die Parallelen und Unterschiede heraus, während er sieben einzelne, besonders kritische Momente genauer unter die Lupe nimmt: Der mächtige Angebotsschock in den 1840er-Jahren in Europa (Hungersnöte, Mangelernährung, Krankheiten und Aufstände), die Finanzkrise von 1873 (Gründerkrise mit nachfolgender Deflationsphase), der Erste Weltkrieg (Angebotsschock und Reparationszahlungen mit Inflation und anschließender Hyperinflation), die Weltwirtschaftskrise ab 1929, die Ölkrise in den 1970er-Jahren (wiederum ein Angebotsschock mit anschließender Inflation), die Finanz- und Eurokrise von 2008/2009 sowie die Corona-Krise mit Lockdowns in 2020 und 2021.

Wenn Politiker nach Auswegen suchen, ist Geld ein einfacher und verlockender Weg (Corona-Hilfen, Überbrückungshilfen, Soforthilfen, Energiepreispauschale, Gaspreisbremse). Inflation ist die naheliegende Sofortreaktion auf Angebotsschocks, welche für steigende Preise sorgt. Der Autor beschreibt sehr anschaulich die gefährliche Spirale und nennt viele Beispiele aus der Geschichte, die Parallelen zur Gegenwart zeigen. Es sollte uns alarmieren.

Ein radikaler Schock kann aber auch positive Auswirkungen haben. So kann die Krise die Suche nach Alternativen beschleunigen, wie z. B. nach neuen Produkten, anderen Energiequellen, neuen Gütertransporttechnologien.

Der Autor belegt an vielen Beispielen die Auswirkungen auf die Globalisierung. Corona veranlasste viele Staaten, zunächst ihr nationales Eigeninteresse in den Vordergrund zu stellen. Der Impfnationalismus ließ vor allem die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Russland und China aneinandergeraten, führte aber auch in der Europäischen Union zu heftigem Streit. Die protektionistische Wende und der schärfere Wettbewerb zwischen den Staaten bildeten den Hintergrund für den aggressiv erpresserischen Einsatz von Energielieferungen sowie für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022.

Die Geschichte lehrt uns, dass jede Krise im Detail anders ist und es keine Blaupause gibt. James gelingt es dennoch am Ende seines Buches sieben allgemeingültige Regeln herauszuarbeiten. Seine Ausführungen sind sehr anspruchsvoll und fordern den Leser. Es lohnt sich aber durchzuhalten.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 09.12.2022
Reise zum Vesuv
Splitter, Rüdiger

Reise zum Vesuv


sehr gut

Am Ende des 15. Jahrhunderts wurde in Italien die Antike wiederentdeckt. Päpste und Fürsten sammelten römische Kunstwerke, aber es war eine Jagd nach Schätzen, die mit wissenschaftlicher Archäologie nichts zu tun hatte. Johann Joachim Winckelmann gilt als Begründer der Kunstgeschichte und seine kritischen Ausführungen über die Ausgrabungen von Herculaneum bei Neapel werden oft als Geburtsstunde der Archäologie dargestellt. Rüdiger Splitter hinterfragt diesen Mythos und kommt zu einer etwas anderen Sichtweise. Die von Winckelmann erhobenen Vorwürfe, dass die unterirdischen Ausgrabungen von Herculaneum unfachmännisch und zerstörerisch betrieben wurden, sind zum Teil überzogen und decken sich nicht mit dem für die damalige Zeit großen technischen Aufwand und der vergleichsweise guten Dokumentation.

Der Angelpunkt für Splitters Darstellung ist die mehrjährige Italienreise des Simon Louis du Rys, Hofbaumeister unter dem Landgrafen Friedrich II. in Kassel. Seine Aktivitäten sind detailliert belegt und sie tangieren immer wieder das Feld der Antikenbegeisterung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In Briefen, Tagebüchern und Zeichnungen sind die Begegnungen mit den Protagonisten der Ausgrabungen in Portici festgehalten, sowie du Rys Versuche, im Auftrag des Landgrafen Antiken und Antikenkopien zu erwerben.

Splitter zieht die Kreise in jedem Kapitel ein wenig weiter: Er beleuchtet die politischen Entwicklungen im Königreich beider Sizilien (Neapel), den Bau des Königspalasts in Portici, sowie des Museums. Die Anfänge der Ausgrabungen reichen allerdings noch weiter zurück und Splitter tritt auch dem Gerücht entgegen, Herculaneum sei „vergessen“ gewesen. Manchmal versteigt er sich allerdings doch etwas in seinen Aussagen: Raphael Mengs‘ Portrait des jugendlichen König Ferdinand von 1760 ist ganz sicher nicht „eines der bedeutendsten Gemälde des 18. Jahrhunderts“. Angesichts von Zeitgenossen wie Reynolds oder Gainsbourough ist der rückwärtsgewandte Mengs höchstens zweite Garde. Ich würde es nicht erwähnen, wenn Splitter nicht regelmäßig auch seine Kollegen spitzzüngig kritisierte.

Sehr sorgfältig wird die Quellenlage aufgearbeitet, mit zahlreichen Originalzitaten, oft erstmals publiziert und einer wirklich exzellenten Auswahl der Abbildungen. Obwohl Splitter ein wenig zum Themenhopping neigt, gelingt es ihm doch, durch die gute Visualisierung die Übersicht zu halten. Er stellt spannende Bezüge her und hinterfragt auch Wahrheiten, die als etabliert gelten, teilweise mit überraschenden Ergebnissen. Er ist sehr bewandert in der Publikationsgeschichte und als Museumsmensch beleuchtet er auch detailliert die Sammlungsgeschichte sowohl in Portici/Neapel als auch in Kassel (Fridericianum).

Der Fokus liegt auf dem Zeitraum von ungefähr 1750-1800, dem Höhepunkt der Antikenbegeisterung und der Geburtsstunde des Klassizismus, dem auch du Rys angehört. Das Schlusskapitel beleuchtet ebenfalls den Niedergang unter Wilhelm IX., Sohn Friedrichs II., der weder die naturwissenschaftlichen noch die künstlerischen Ambitionen seines Vaters teilte. Eine Entwicklung, die es zeitgleich an vielen absolutistischen Höfen gab.

Rüdiger Splitter schreibt eloquent, wenn auch aus meiner Sicht manchmal etwas unfokussiert. Sein enormes Detailwissen steht ihm etwas im Weg, allerdings muss ich auch zugeben, dass er viele Einzelaspekte zu neuen Erkenntnissen kombiniert, die man vielleicht nicht immer teilen muss, die er aber spannend inszeniert. Und die Auswahl der Abbildungen ist wirklich herausragend gut, das muss ich zum Abschluss noch einmal erwähnen.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 07.12.2022
Die neue Vielfalt des Geldes
de la Rubia, Cyrus

Die neue Vielfalt des Geldes


sehr gut

Während Angela Merkel mit ihrer Aussage "Das Internet ist für uns alle Neuland" Kopfschütteln verursachte, stimmt das durchaus für das digitale Geld - zumindest noch. Kryptowährungen wie Bitcoin werden bei vielen Menschen als "Erpresserwährung" von Kriminellen oder aufgrund seiner Wertschwankungen als unsichere Geldanlage angesehen, aber Cyrus de la Rubia ist sich sicher, dass es in 10 Jahren anders aussehen wird. In "Die neue Vielfalt des Geldes" skizziert er, wie Digitalwährungen selbstverständlich geworden sind, die Blockchain-Technologie auch außerhalb des Finanzwesens für Verträge aller Art eingesetzt wird und das Bargeld fast verschwunden ist.

Aber zuvor beschreibt de la Rubia unser herkömmliches Geld- und Zahlungssystem. Er erläutert die Rolle der Zentral- und Geschäftsbanken und den Prozess der Geldschöpfung, zeigt die Unterschiede zwischen Bargeld und Buchgeld auf und stellt die Funktion von Zahlungsanbietern wie PayPal vor. Dann gibt es einen kurzen Überblick über die heutigen Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum, Stablecoins und eine Erläuterung der Blockchain-Technologie. Besonders gut fand ich die Schilderungen zum Bitcoin-Zahlungsvorgang sowie die Klärung der Frage "Ist Bitcoin Geld?". Zwar bewertet der Autor die einzelnen Kryptowährungen, aber eine grundsätzliche Kritik an der Technologie sucht man vergebens.

Aufbauend auf dem derzeitigen Stand der Technik entwickelt de la Rubia, wie die neue Vielfalt des Geldes in naher Zukunft aussehen könnte. Überall auf der Welt forschen die Notenbanken zu digitalen Zentralbankwährungen. In Nigeria und auf den Bahamas verwendet man sie schon, ansonsten gibt es viele Pilotprojekte in China (e-CNY), Süd-Korea oder sogar in Frankreich mit dem "France CBDC“. Das hat mich angesichts unserer europäischen Währung doch sehr gewundert, aber der Autor hat diese Parallelentwicklung zum digitalen Euro nicht weiter aufgeklärt.

Immer wieder geht de la Rubia auf das disruptive Potential von Bitcoin & Co. ein. Seine Analyse bleibt dabei immer nüchtern und sachlich. Ist Bitcoin ein Ersatz für das Zentralbankgeld? Welche Aufgaben bleiben für Banken? Welche Regularien sind sinnvoll und notwendig? Werden die Menschen Digitalwährungen überhaupt akzeptieren (Stichwort: der gläserne Kunde, Repressalien durch die Politik)?

De la Rubia erläutert die Zukunftsfelder, die eine Ethereum-Blockchain ermöglicht und geht auch ins Detail (z. B. Tokenisierung von Vermögenswerten wie Immobilien). In diesem Zusammenhang geht der Autor auch auf NFT (Non-Fungible Token) ein, die von der Kunstszene für digitale Kunstwerke eingesetzt werden und auf der Ethereum-Blockchain basiert.

Die Vielfalt des Geldes wird auch gesellschaftliche Folgen (Strukturwandel, neue Geldordnung) haben. Im Einzelnen geht es um den Bedeutungsverlust von Bargeld, der finanziellen Inklusion ("Banking the Unbanked"), aber auch um größeren Aufklärungsbedarf bei der Geldanlage und neue makroökonomische Stabilitätsrisiken.

Dem Autor gelingt es, die epochalen Veränderungen, die uns die digitalen Währungen, die Blockchain-Technologie sowie die Tokenisierung von Vermögenswerten bringen werden, sachlich neutral und verständlich näher zu bringen.
Wird alles so kommen, wie der Autor es präsentiert hat? In 10 bis 15 Jahren wissen wir es.

Leider wurde mir das Lesen durch die verwendete "geschlechterinklusive Sprache" erheblich erschwert. Sätze werden verunstaltet und sind teilweise fast unlesbar, grammatisch und im Wortsinn auch inhaltlich falsch. Da wird uns eine angeblich „natürliche Sprachentwicklung“ von einer intoleranten Minderheit als politisch totalitäres Weltbild aufgezwungen. Widerstand ist dringend notwendig. Die Kontrolle über die Sprache ist erst der Anfang, wie schon Orwell wusste.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 05.12.2022
Residenzschloss Ludwigsburg

Residenzschloss Ludwigsburg


ausgezeichnet

Das Residenzschloss Ludwigsburg, das den Krieg weitgehend unbeschadet überstand, wurde kürzlich grundlegend restauriert, was auch mit einer umfangreichen Bestandsdokumentation einherging. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse, insbesondere zur ursprünglichen Gestaltung und Ausstattung der königlichen Räume im Alten bzw. Neuen Corps de Logis sind Thema dieses detaillierten und inhaltlich anspruchsvollen Bandes der Schlösserverwaltung Baden-Württemberg.
Mit fast detektivischem Spürsinn werden die heute noch erhaltenen Schichten und Spuren freigelegt, wobei sich erstaunlicherweise zeigt, dass der harmonische Gesamteindruck der Innenräume über die Stilmischung des Dekors täuscht. Nicht nur das Residenzschloss selber, sondern auch die Inneneinrichtung ist das Ergebnis eines Gestaltungsprozesses, der sich über 100 Jahre hinweg zog. Schon vor diesem Hintergrund ist Ludwigsburg eher Schloss als Residenz. Anders als Versailles (wenn auch mit Einschränkungen), Würzburg oder Mannheim bietet Ludwigsburg keinen einheitlichen äußeren Anblick. Die Haupthäuser und Flügel wurden über mehr als ein halbes Jahrhundert in mindestens drei großen Bauphasen bis 1725 geplant und ausgeführt und entsprechend heterogen wirkt das Ensemble im Vergleich zu den monotonen Fensterreihen z. B. der Würzburger Residenz. Ähnlich verfuhr man mit der wandgebundenen Ausstattung, die bei der Umgestaltung im klassizistischen Stil in Teilen übernommen und behutsam dem Zeitgeschmack angepasst wurde. Nach 1828 gab es keine wesentlichen Veränderungen mehr.

Die Beiträge zeigen sehr detailliert und unter regelmäßiger Verwendung architektonischer und kunstgeschichtlicher Fachbegriffe diese Entwicklung. Ausgezeichnet illustriert und mit sachkundigen Hintergrundbeiträgen zur Geschichte des Hauses Württemberg und der Planungsgeschichte des Residenzschlosses, werden die einzelnen Raumfluchten systematisch dargestellt und anhand ausgewählter Einzelbeispiele auch die konservatorische Herangehensweise bei der Restaurierung von Objekten gezeigt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Möbeln im Schloss, die z. T. noch identifizierbar sind, auch wenn sie nicht immer am originalen Standort stehen. Die Herzöge und späteren Könige von Württemberg zeigen sich als kunstaffin und international ausgerichtet, was sich auch in der württembergischen (Luxus-)Möbelproduktion der Zeit widerspiegelt.

Den Schluss bilden Überlegungen zur konservatorisch adäquaten Lichtregie in den historischen Räumen, die dank LED-Technik wesentlich schonender und gleichzeitig effektvoller realisiert werden kann.

Der Band ist ausgesprochen detailliert, umfassend illustriert, fachlich auf hohem Niveau und besitzt eine enorme Informationsdichte, sowohl bezüglich der geschichtlichen Hintergründe als auch der restauratorischen Maßnahmen. Die Entdeckungen unter Farbschichten, hinter Fensterflügeln und in zugemauerten Wirtschaftsräumen sind oft verblüffend und geben Auskunft über das Leben im Schloss vor 300 Jahren, aber auch die Selbstwahrnehmung seiner Schöpfer.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 04.12.2022
Die neuen Bilder des Augustus

Die neuen Bilder des Augustus


ausgezeichnet

Donald Trump hat getwittert. Olaf Scholz hat einen Facebook-Account. Karl Lauterbach setzt sich zu Lanz. Claudia Roth färbt sich die Haare orange.
All das sind Maßnahmen, um öffentlich sichtbar zu werden (und zu bleiben). Wer aber glaubt, dass dieses politische Bedürfnis erst seit Einzug moderner Medien existiert, der irrt sich gewaltig. Augustus war einer der ersten, die meisterhaft auf der Klaviatur der Selbstdarstellung und des Framings zu spielen wussten. Aus dem brutalen Vernichter der Republik, unter dessen Säuberungen Hunderte wohlhabende Römer ihr Leben (und ihr Vermögen) ließen, wurde der Begründer der Pax Romana. Er schrieb nicht nur seine eigene Biografie, sondern seine Standbilder blieben wie ein inverser Dorian Gray stets jugendlich viril, während Augustus selber schon ein Greis war.

Das Bucerius Kunst Forum zeigt im Schwerpunkt Antiken aus dem Archäologischen Nationalmuseum in Neapel, mit zahlreichen herausragenden Kunstwerken aus der Epoche des Augustus bis etwa 100 n. Chr., die nicht nur eine starke öffentliche Präsenz des Imperator Caesar Augustus belegen, sondern auch seine im Lauf der Zeit wechselnden Rollen. Auf den ersten Blick sind alle Augustusportraits ähnlich, aber es gibt dennoch Typusentwicklungen, wie die Autoren anschaulich in ihren Beiträgen illustrieren. Die Veränderungen gehen einher mit Augustus‘ politischem Werdegang und der öffentlichen Wirkung, die er erzielen wollte. Das betrifft Münzbilder, aber auch Narrative, bis hin zu monumentalen Skulpturen. Gleichzeitig gestaltet Augustus die Stadt Rom von Grund auf um. Dass er „eine Stadt von Ziegeln vorgefunden und eine aus Marmor hinterlassen hätte“ ist ein Zitat aus seiner Autobiografie, das zwar nicht ganz der Wahrheit entspricht, dafür aber ein schönes Beispiel für antikes Framing darstellt. Die Autoren zeigen, wie auch Augustus‘ Frau Livia Drusilla in dieses Gesamtbild eingefügt und ihre öffentliche Wahrnehmung gesteuert wird.

Der hohe Anteil an (qualitativ sehr hochwertigen) Fundstücken aus Pompeji führt zu einem weiteren Themenkomplex, der nur insofern Berührungspunkte mit Augustus hat, als dass die private Wohnkultur daraufhin untersucht wird, ob sich der „neue Stil“ auch hier widerspiegelt. Die Hinweise darauf sind eher spärlich, aber ihr Fehlen gibt wiederum Auskunft darüber, dass die römische Politik sich nicht direkt in das Privatleben einmischte. Es gibt eine ausgeprägte Wertschätzung für die „Alte Kunst“, die sich z. B. in Wandbildern zeigt, die zum Zeitpunkt des Untergangs von Pompeji bereits Jahrhunderte alt waren.

Die Ausstellung und die zumeist eingängig geschriebenen Fachartikel liefern keine grundlegende Neubewertung der Medienpolitik unter Augustus. Der Imperator war nicht der Erste, der sein öffentliches Bild kontrollierte, aber er war der Erste, dem es, auch aufgrund seiner langen Regentschaft gelang, dieses Bild bis in die hintersten Winkel seines Reiches zu tragen. Das belegen die Objekte und die Beiträge in großer Deutlichkeit. Bahnbrechend neu ist das nicht, aber es ist spannend zu sehen, dass auch unsere Politiker immer noch nach denselben Prinzipien handeln – und bewertet werden. Wenn die Kontrolle über das öffentliche Bild entgleitet, kann ein unbedachtes Lachen schon mal die Kanzlerschaft kosten....

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 01.12.2022
Das Monopol im 21. Jahrhundert
Jakobs, Hans-Jürgen

Das Monopol im 21. Jahrhundert


ausgezeichnet

Als große Krisengewinner der Pandemie gelten zu Recht die Digitalunternehmen. Aber auch die Logistik- und Nahrungsmittelbranche hat letztlich profitiert. Die gestörten Lieferketten durch Covid-19 und den Ukrainekrieg haben den Bedarf an Transportraum nach einem kurzen Einbruch enorm in die Höhe schnellen lassen. Die rapide gestiegenen Frachtkosten gehen letztendlich in die Güterpreise ein und treiben die Inflation. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass immer größere Unternehmen die Preismacht übernommen und den Wettbewerb stark zu ihren Gunsten beeinflusst haben. Im Vorgänger "Wem gehört die Welt?" hatte Hans-Jürgen Jakobs die Akteure des Weltfinanzsystems ins Visier genommen, diesmal kommen weitere Felder wie Mobilität, Internet, Gütermärkte und Rohstoffe hinzu, bei denen er eine zunehmende Monopolisierung feststellt.

Nachdem Jakobs die Geschichte des Monopolismus mit ihren verschiedenen Denkschulen und das Hase und Igel-Spiel zwischen Politik und Unternehmen kurz dargestellt hat, zeigt er anhand vieler Bereiche, wie sich die Konzentration auf wenige große (positiv ausgedrückt) „Marktführer“ fortgesetzt hat und die MARKTwirtschaft durch MACHTwirtschaft abgelöst wurde.

Besonders sichtbar ist dies bei den Digitalmonopolen, die durch die Big Five, also Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft repräsentiert werden. Jakobs erklärt, wie diese globalen Techunternehmen zu machtvollen Akteuren geworden sind, die heute einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft haben, und beschreibt ihren skrupellosen Weg dorthin.

Auch bei den Rohstoffen ist die Tendenz zur Monopolisierung allgegenwärtig: OPEC+ Russland bei Öl und Gas, China bei Seltenen Erden. Der Ukrainekrieg hat unleugbar sichtbar gemacht, wie die Abhängigkeiten zu Lieferproblemen und extremen Preisausschlägen geführt haben. Russland und China nutzen ihre strategischen Monopole, um den Gang der Geschichte zu beeinflussen und zeigen dabei wenig Skrupel, wirtschaftlichen Druck als Macht- und Außenpolitik einzusetzen.

Beim Geld zeigt sich, wer Herr über Vermögen ist. Blackrock und sein CEO Larry Fink verwalten ein Vermögen von über 10 Billionen Dollar und kämen damit - so Jakobs - in einer der weltgrößten Volkswirtschaften auf den dritten Platz, hinter den USA (23 Bio.) und China (17 Bio.). Fink und seine 18400 Mitarbeiter bewegen auf den Weltmärkten ein Kapital, das zweieinhalbmal so groß ist wie alles, was Deutschland (4 Bio.) in einem Jahr an Gütern und Dienstleistungen produzieren.

Die Preismacht der Marktführer und damit auch die Inflation ist eine unmittelbare Folge einer wachsenden Monopolisierung. Jakobs zeigt, dass die oligopolistisch überhöhten Preise für Energie, Nahrung, Baustoffe und Fracht bedeutende Treiber der Inflation und somit sozialer Sprengstoff und eine Gefahr für unseren Wohlstand sind.

Besonders anschaulich sind die zahlreichen Grafiken mit sehr spannenden und aktuellen Fragestellungen, wie z. B. Wo auf der Welt werden welche Rohstoffe hergestellt? Wer sind die größten Produzenten von Nahrungs- und Düngemitteln? Wer sind die größten Rüstungskonzerne? Sehr interessant ist auch die Gegenüberstellung der Wirtschaftsblöcke der Demokratien (mit USA, EU, Japan und Australien) vs. Autokratien (China, Indien, Russland) in Bezug auf Staatsverschuldung, BIP, Börsenwert der Top 10 Unternehmen, Naturkapital, Patentanmeldung Soldaten, Waffen etc.

Jakobs gelingt es, gut strukturiert, sachlich, nachvollziehbar und in verständlicher Sprache die Gefahr wachsender Monopolisierung zu vermitteln, deren Auswirkungen wir gerade jetzt zu spüren beginnen. Ob es einen Ausweg gibt, ist mehr als fraglich. Dennoch bewertet er verschiedene Lösungen, die zur Zeit diskutiert werden, wie z. B. die Zerschlagung von Unternehmen. Ein spannendes Buch, aber keine Gute-Nacht-Lektüre.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)