Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2021
Schutzzone
Bossong, Nora

Schutzzone


schlecht

Einsames Nilpferd

Lobhudelei beim Feuilleton und überwiegende Ablehnung bei den Leserkritiken kennzeichnen den Roman «Schutzzone» von Nora Bossong, der 2019 immerhin für den Frankfurter Buchpreis nominiert wurde. Schon mit dem Titel, mehr noch mit dem treffend gewählten Titelbild, wird auf die Vereinten Nationen hingewiesen, und damit auf eine literarisch noch wenig erschlossene Thematik. Was denn wohl auch das große Interesse an diesem Buch erklärt, erzählende Literatur kann ja auf unterhaltende Art durchaus auch Horizonte erweitern. Erfüllt dieser Roman denn derartige Erwartungen?

Durch einen Zufall lernt Ich-Erzählerin Mira in New York einen UNO-Mitarbeiter kennen, der sie spontan als seine Assistentin engagiert. Schon bald wird sie mit anspruchsvolleren Aufgaben betraut, weil sie insbesondere die Gabe besitzt, zuhören zu können, was sie als Gesprächs-Partnerin für diffizile diplomatische Verhandlungen besonders auszeichnet. Fortan pendelt sie, mit den verschiedensten Aufträgen betraut, zwischen New York, Genf, Den Haag und Bujumbura in Burundi hin und her. Ausgehend vom Jahr 2017 erzählt die Autorin in ständig wechselnden Rückblenden bis ins Jahr 2003 von ihrer Arbeit in verschiedenen Krisenregionen, bis 1994 zurückreichend auch ein wenig aus ihrer freudlosen Kindheit. Damals wohnte sie nach der Trennung ihrer Eltern als junges Mädchen einige Monate bei guten Freunden ihrer Mutter in der Nähe von Bonn. Deren acht Jahre älteren Sohn Milan trifft sie dann später bei der UNO wieder. Zwischen ihr und dem inzwischen verheirateten Mann entwickelt sich eine von vornherein zum Scheitern verurteilte, kurze Liaison. Beruflich ist sie unter anderem in diplomatischer Mission im Zypernkonflikt engagiert, später aber auch in Burundi, wo sie sogar in Kontakt zu einem mächtigen Warlord kommt, der sie privat empfängt und ihr die Situation im Lande sehr drastisch aus seiner Sicht schildert. Durch diese enge Nähe zum Terror verstrickt sie sich in eine gewisse Mitschuld bei der unzureichenden Aufarbeitung des Genozids in diesem ärmsten Staat der Welt.

Mit hehren Kapitelüberschriften wie Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Übergang erzählt Nora Bossong von der Erfolglosigkeit der UNO, der sie das private Scheitern ihrer Protagonistin gegenüberstellt. Dabei begnügt sie sich auf das reine Beschreiben, sie schildert, was ist, ohne moralisierend Verlorenheit, Unvermögen und Machtgier in einem politischen Ränkespiel anzuprangern, das sie an einer Stelle als «politische Balztänze» bezeichnet. Köstlich ist das Nilpferd-Spiel, mit dem sie die Anarchie der verkrusteten UNO-Bürokratie eindrucksvoll entlarvt. Dabei schleusen Mitarbeiter in ihre offiziellen Berichte das völlig unsinnige Wort «Nilpferd» ein, das mit dem Vorgang selbst nicht das Geringste zu tun hat. Gewinner ist derjenige, dessen Ausarbeitung unbeanstandet durch alle Instanzen bis in die Hände des höchsten Vorgesetzten gelangt. Ein starkes Bild für die Inkompetenz dieser ohnmächtigen Mega-Bürokratie!

In einem einzigen inneren Monolog wird hier sachlich und nüchtern vom diplomatischen und persönlichen Scheitern erzählt, wobei ein in langen Sätzen artikulierter, elegischer Tonfall für eine äußerst depressive Stimmung sorgt. Die wenigen Figuren treten kaum in Dialoge miteinander, sie bleiben als Charaktere farblos, geradezu unnahbar, sie wirken fast schon wie Untote. Man erfährt wenig über sie und schon gar nichts, was sie sympathisch erscheinen lassen könnte, das pralle Leben also wird hier total ausgeblendet. Ebenso uneindeutig ist auch die Auseinandersetzung mit der Thematik selbst, weder die weltpolitische Organisation als solche noch die ethischen Fragen in den ständig neu aufbrechenden Konfliktherden werden hinterfragt. Letztlich bleibt von diesem handlungslosen Roman, dessen fast unsichtbare Heldin immer wieder nur sinnierend aus dem Fenster schaut, lediglich maßlose Langeweile zurück, ohne Bereicherung in der Sache, - sieht man mal von dem einsamen Nilpferd ab

Bewertung vom 16.02.2021
Das Lied von Bernadette
Werfel, Franz

Das Lied von Bernadette


sehr gut

Denkwürdig

Der erfolgreichste Roman von Franz Werfel, «Das Lied von Bernadette», entstand aufgrund eines Gelübdes, das der österreichische Schriftstellers auf der Flucht vor den Nazis im Juni 1940, während seines kurzen Zwischen-Aufenthalts im Wallfahrtsort Lourdes, in großer Bedrängnis abgelegt hatte: Er würde einen Roman über das Wunder von Lourdes schreiben, wenn er das rettende Amerika erreicht. «Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude» hat er ein Jahr später beim Erscheinen seines Romans in Los Angeles angemerkt, wo er glücklich Zuflucht gefunden hatte. Die 1933 von Pius XI heiliggesprochene Bernadette Soubirous hatte als 14jähriges Mädchen zwischen 11. Februar und 16. Juli 1858 insgesamt 18 Visionen, die von Wissenschaft, Politik und Kirche zunächst argwöhnisch bezweifelt, später dann aber als Marien-Erscheinung gedeutet wurden.

Beim Holzsuchen erscheint Bernadette in der Grotte von Massabielle nahe dem Fluss Grave plötzlich eine wunderschöne Dame im weißen Kleid mit einem blauen Gürtel. Sie ist barfüßig, auf beiden Füßen befindet sich eine goldene Rose, sie lächelt freundlich, spricht aber kaum. Als Bernadette am nächsten Tag mit einigen Freundinnen wieder zur Grotte geht, gibt ihr die Dame zu verstehen, sie möge zwei Wochen lang täglich wiederkommen. Während der Begegnung mit der Dame bemerken die Freundinnen, die die Dame selbst nicht sehen können, eine wundersame Verklärung in Bernadettes Gesicht, sie ist in ihrer Ekstase der Umgebung völlig entrückt. Bei einem dieser Treffen flüstert die unnahbare Dame immer wieder nur «Buße, Buße, Buße». Schließlich fordert sie Bernadette auf, sie möge in der Grotte die Quelle suchen, aus ihr trinken und sich darin waschen. Und tatsächlich findet das Mädchen eine bisher unbekannte feuchte Stelle im Sand, von der niemand etwas wusste. Sie wird von den Bewohnern sogleich als überraschend ergiebige Wasserquelle gefasst. Kurz darauf ereignet sich an dem schwerkranken Nachbarkind die erste spontane Wunderheilung, nachdem die verzweifelte Mutter ihren kleinen Sohn in den Quelltopf getaucht hatte.

Franz Werfel erklärt im Vorwort: «All jene denkwürdigen Begebenheiten, die den Inhalt dieses Buches bilden, haben sich in Wirklichkeit ereignet». Und er ergänzt: «… ihre Wahrheit ist von Freund und Feind und von kühlen Beobachtern in getreuen Zeugnissen erhärtet». Mit einem stattlichen Figuren-Ensemble von mehr als 60 Personen aus Familie, Nachbarschaft und Amtsträgern von Staat und Kirche erzählt er neben der Geschichte seiner Seherin von den weitreichenden Auswirkungen ihrer mysteriösen Erscheinungen. In diesem fiktiven Teil seines Romans erweist er sich als begnadeter Erzähler, der besonders seine Figuren sehr lebensnah als Charaktere schildert, die viele Typen des Menschen-Geschlechts glaubwürdig verkörpern. Er nutzt vor allem die gelehrten Dialoge der verschiedenen Honoratioren und des Klerus für kontemplative Betrachtungen des Geschehens aus unterschiedlichsten Perspektiven, behält als Autor aber stets die nötige Distanz.

Auch wer als Atheist dem katholischen Mummenschanz ablehnend gegenüber steht, wird hier in Vorgänge und Usancen einer Weltreligion eingeweiht, die in Rom den Statthalter Christi auf Erden als unfehlbare Instanz etabliert hat. En passant erfährt man dabei faszinierende Details aus dem Klosterleben und von der pompösen Zeremonie einer Heiligsprechung. Besonders vergnüglich zu lesen sind die Ränkespiele zwischen Politik und Kirche, die an ein Schwarzer-Peter-Spiel erinnern, aus dem sich sogar Napoleon III tunlichst herauszuhalten versucht. Erstaunlich ist, dass es dem Autor trotz der weitgehend bekannten Fakten gelingt, einen Spannungsbogen aufzubauen, der bis zum Ende anhält. Bei der Heiligsprechung ist der als Erster durch Wunderheilung genesene Nachbarjunge als alter Mann unter den Besuchern im Petersdom, damit schließt sich äußerst elegant der Handlungsbogen einer denkwürdigen Geschichte.

Bewertung vom 11.02.2021
Chronik eines angekündigten Todes
García Márquez, Gabriel

Chronik eines angekündigten Todes


sehr gut

Mord und Moral

Zu den bekanntesten Werken des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez gehört der 1981 erschienene Roman «Chronik eines angekündigten Todes». Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Im Stil des Magischen Realismus geschrieben, zu deren wichtigsten Vertretern der ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor zählt, gehört der schmale Band inzwischen zu den südamerikanischen Klassikern.

«An dem Tag, an dem sie ihn töten sollten, stand Santiago Nasar um fünf Uhr dreißig morgens auf, um das Schiff zu erwarten, mit dem der Bischoff kam». In diesem ersten Satz steckt bereits ein Teil der beißenden Kritik des Autors, Bischoff und Töten werden in einem Atemzug genannt, Ursache und Wirkung also einer rigiden katholischen Sexualmoral, die dem fragwürdigen Ehrenkodex einer naiven, dörflichen Bevölkerung zugrunde liegt. Es ist die Geschichte einer pompösen Hochzeitsfeier und ihrer Folgen. Der erst vor wenigen Monaten in das Dorf gekommene, reiche und charismatische Bräutigam hat sich spontan ein schönes, junges Mädchen zu Braut erwählt. Die ist aber gar nicht begeistert, da sie ihn kaum kenne und nicht liebe. «Auch die Liebe lässt sich lernen», hält ihr die resolute Mutter entgegen, die Eltern stimmen der geplanten Ehe erfreut zu. Als die Schöne ihrer Mutter gesteht, dass sie keine Jungfrau mehr sei, werden ihre Bedenken dahingehend zerstreut, es gäbe da einschlägige Hebammen-Tricks, um dem meist ja ziemlich betrunkenen Bräutigam die geforderte Unberührtheit vorzugaukeln. Die Sache geht schief, nach der Hochzeitsnacht bringt der Bräutigam seine Braut zu den Eltern zurück, als Reklamation quasi. Die wütende Mutter prügelt aus ihr den Namen des Verführers heraus, Santiago Nasar sei es gewesen, ein arabisch-stämmiger junger Mann aus der Nachbarschaft. Die Zwillingsbrüder der Braut führen sich verpflichtet, die Familienehre wieder herzustellen, indem sie den Verführer töten. Der Skandal ist da, jeder im Dorf weiß davon, und jeder weiß auch, was nun geschehen wird.

Der Ich-Erzähler kommt 27 Jahre später in sein Heimatdorf zurück und spricht mit vielen Beteiligten über das noch fest in der gemeinsamen Erinnerung verankerte Geschehen von damals. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte erscheint nicht nur im Nachhinein völlig grotesk, es bleiben auch viele Fragen offen. Niemand habe das ahnungslose Opfer nachdrücklich vor den auf ihn lauernden Zwillingen gewarnt, keiner habe versucht, die Tat zu verhindern, die meisten aber nahmen die Drohung überhaupt nicht ernst. Die journalistisch knappe Erzählweise klammert beispielsweise die Vorgeschichte der Entjungferung ebenso aus wie das Geschehen in der Hochzeitsnacht. Nur vage wird angedeutet, dass der mit einer andern Frau verlobte Santiago Nasar mutmaßlich nicht der Verführer gewesen sei, was seine Sorglosigkeit erklärt, als er wenige Minuten vor dem Mord doch noch von der Drohung der Zwillinge erfährt.

Garcia Márquez legt den Fokus seiner Erzählung konsequent auf die Umstände vor der Tat, er blendet also alle für die Tat selbst nicht relevanten, voraus gegangenen Geschehnisse bewusst aus. Eine puristische, auf jegliche Spannung verzichtende Erzählweise, die den religiös indizierten, moralischen Irrwitz, der hier geradezu satirisch thematisiert wird, genau deshalb umso deutlicher bloßlegt. Dazu tragen insbesondere auch seine allesamt recht einfältig wirkenden Figuren bei, deren oft verschrobene, undurchsichtige Charaktere er nicht beschreibt, sondern durch ihr irreales Handeln verdeutlicht. Selbst die beiden Täter haben Zweifel an ihrer vermeintlichen Ehrenpflicht. Sie tun alles, um ihr zu entgehen, indem sie ihre Absicht lautstark ankündigen in der Hoffnung, jemand würde beherzt eingreifen und sie vom Tatzwang befreien. Ein fast kammerspielartiges Setting macht diesen kleinen Roman zu einem nachwirkenden Leseerlebnis, dessen offene Fragen den Leser noch lange beschäftigen, gerade weil sie so abstrus erscheinen.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.02.2021
Wo wir waren
Zähringer, Norbert

Wo wir waren


gut

Zum Träumen einladend

Mit der Nominierung des Romans «Wo wir waren» für den deutschen Buchpreis 2019 hat Norbert Zähringer seine bislang größte Anerkennung als Schriftsteller gefunden. In diesem fünften Roman erweist er sich erneut als ein Autor, der sein ausuferndes erzählerisches Material virtuos in verschiedene Handlungsfäden zu überführen versteht. Es ist mal wieder ein Pageturner, perfekt konstruiert, den er da geschrieben hat, argwöhnisch beäugt vom Feuilleton, das ihn als thematisch überfrachtet hart am Rande des Kitsches verortet.

Narratives Zentrum des weitverzweigten Handlungs-Geflechts ist die Mondlandung 1969. Der Protagonist Hardy Rohn, dessen Leben den dominanten Handlungsfaden des Romans bildet, damals fünf Jahre alt, flieht in dieser Fernsehnacht aus einem schrecklichen Waisenhaus. Als er in aller Frühe plötzlich am Fenster des Science-Fiction-Autors Walther auftaucht, der euphorisch eine Mondlande-Party vor seinem Fernseher veranstaltet, nehmen sich Nachbarn spontan des Jungen an. Ein Jahr später adoptiert das kinderlose Paar den schweigsamen Hardy, und er erweist sich schon bald als wahres Wunderkind. Der ein ganzes Jahrhundert umfassende, vielschichtige Plot vereint so unterschiedliche Themen wie die Weltraumfahrt, die Gräuel zweier Weltkriege, Entdecker-Freude, Globetrotter-Sehnsüchte, Vietnamkrieg, die Dotcom-Blase und anderes mehr, aber eben auch so Banales wie das Spießertum in der Reihenhaus-Siedlung mit akkurat gestutzten Buchsbaum-Hecken. Hardys Mutter, die ihn im Zuchthaus geboren und sofort zu Adoption freigegeben hat, verbüßt eine lebenslängliche Strafe wegen Doppelmordes, sie erzählt in einem längeren Kapitel dem Psychiater in der Forensik ausführlich ihre tragische Geschichte. Mit großen Zeitsprüngen wechseln auch die Handlungsorte, vom beschaulichen Kleinstadtidyll im Rheingau ins Silicon-Valley, wo der von einem unbändigen Forscherdrang getriebene Hardy eine kometenhafte Karriere zuerst mit Computerspielen und dann mit einer neuartigen GPS-Software hinlegt. Mit einer Viertel-Milliarde Dollar als Erlös für seine von der Konkurrenz übernommene Firma sinnt der nimmermüde Tüftler und Entdecker auf neue Taten. Sein Lebenstraum, in das Weltall zu fliegen, scheint durch die Absicht der Russen realisierbar, private Gäste für läppische 25 Millionen Dollar an einem Raumflug teilnehmen zu lassen, Hardy bucht als Erster.

In eine überaus spannende, turbulente Geschichte, der man atemlos folgt, wurde hier sehr viel Weltgeschehen hinein gepackt. Über Raum und Zeit hinweg jagt dieser Roman, von Cliffhanger zu Cliffhanger, durch seine vielen episodisch erzählten Szenen. Ein stimmig geschildertes, vielköpfiges Figuren-Ensemble ist dabei in allerlei schicksalhafte Situationen verstrickt. Jeder sucht sich auf seine Weise zu verwirklichen, seinen ureigenen Weg zu finden in einem ebenso durch Zufall wie durch Vorprägung bestimmten Leben. Es geht um die Essenz menschlichen Daseins, die Norbert Zähringer anhand seiner unterschiedlichste Typen verkörpernden Figuren dahingehend deutet, dass sie ganz einfach in der ungeheuren Vielfalt der Möglichkeiten liegt. Seine permanenten Rückblenden unter dem Motto «Wo wir waren» verdeutlichen anschaulich diese These.

Es ist ein ironisches Märchen für Erwachsene, das den Leser hier mit einer abenteuerlichen Fülle von wundersamen Zufällen und glückhaften Wendungen bei Laune hält, so er denn bereit ist, die zahlreichen Klischees unkritisch zu akzeptieren als unverzichtbare Bestandteile von Märchenhaftem. Der in einem flüssig lesbaren Stil geschriebene Roman führt leichtfüßig durch ein komplexes Handlungs-Dickicht, in dem alles mit allem zusammen zu hängen scheint, er überwindet spielend kulturelle Grenzen und lädt ungeniert zum Träumen ein. «Vieles ist unwahrscheinlich, aber wenn wir nur an das Wahrscheinliche glauben, dann kommen wir nicht weit» heißt es im Roman. Und genau so sollte man auch als Leser herangehen an diese zum Träumen einladende Geschichte!

Bewertung vom 07.02.2021
Kleiner Mann - was nun?
Fallada, Hans

Kleiner Mann - was nun?


sehr gut

Beklemmend aktuell

Mit dem Roman «Kleiner Mann, was nun?» gelang Hans Fallada 1932 literarisch der Durchbruch, der Bestseller wurde schon ein Jahr später verfilmt, sein Titel wurde zum geflügelten Wort. Eine ungekürzte Neuauflage mit einem informativen Nachwort ist 2016 erschienen. Wie sich zeigte, war die bisher verbreitete Buchfassung um fast ein Viertel gegenüber dem überraschend aufgetauchten Manuskript gekürzt, vor allem um politisch und moralisch ehedem bedenkliche Textpassagen. Als großartiger Zeitroman zeugt diese im Stil der Neuen Sachlichkeit erzählte Geschichte von der Fähigkeit seines Autors, Lebenswirklichkeit literarisch stimmig zu erfassen.

Der kleine Mann des Romans heißt Johannes Pinneberg, er arbeitet als Buchhalter und verliert durch eine Intrige seine Stellung. Als seine Freundin «Lämmchen» schwanger wird, heiratet er sie kurz entschlossen, das verliebte Paar freut sich trotz seiner bitteren finanziellen Nöte auf den «Murkel», wie sie das Ungeborene nennen. Pinnebergs Mutter, mit der er schon vor Jahren gebrochen hat, lädt die Beiden ein, zu ihr nach Berlin zu kommen, sie könnten bei ihr wohnen, und für eine Stellung würde sie auch sorgen. Wie von ihm befürchtet, geraten sie bei ihr jedoch in ein zweifelhaftes Etablissement. Jachmann allerdings, der zwielichtige Freund der Mutter, besorgt Pinneberg tatsächlich eine Stellung als Verkäufer in einem großen jüdischen Kaufhaus. Auch in diesem Job wird er aber nach einem Jahr fristlos gekündigt, das Paar mit dem inzwischen geborenen Sohn wohnt schließlich illegal in der Gartenlaube eines Freundes. Lämmchen verdient mit Näharbeiten ein wenig Geld, Pinneberg bekommt eine spärliche Arbeitslosen-Unterstützung. Am Ende des Romans muss er erleben, dass ihn ein Polizist vom Bürgersteig vor den eleganten Geschäften wegjagt, weil er dort als «Gesindel» nur stört. Er verliert dadurch schlagartig jede Selbstachtung. Als er völlig verzweifelt in die Laubenkolonie zurückkehrt, richtet ihn Lämmchen wieder auf. «Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen». Der versöhnliche letzte Satz lautet: «Und dann gehen sie in das Haus, in dem der Murkel schläft.»

In einem Brief hat Hans Fallada seinen Romanhelden als «Garnichts» bezeichnet, als einer von sechs Millionen dahin vegetierenden Arbeitslosen, von dem er erzähle, «was er fühlt, denkt und erlebt». Das sozialkritische Werk hatte während der Weltwirtschaftskrise den Nerv der Zeit getroffen, auch die Machtergreifung der Nazis warf bereits ihre Schatten voraus. Das Figuren-Ensemble enthält die verschiedenartigsten Typen: die Mutter als Lebedame, ihr Freund Jachmann als sympathischer, hilfsbereiter Krimineller, den netten, großzügigen Arbeitskollegen und FKK-Anhänger, die freundlichen Schwestern im Entbindungsheim, die fiesen Vorgesetzten, die desinteressierten Beamten. Von den beiden Protagonisten erweist sich Lämmchen als die Stärkere, ihr Lebenswille bleibt ungebrochen. Sie schöpft trotz der vielen Schicksalsschläge auch im ständigen sozialen Abstieg immer wieder neuen Mut und vermag ihrem verzagten «Jungen» ebenfalls Zuversicht einzuhauchen.

Hans Falladas Geschichte ist voller harter Lebenswahrheiten, die auch für sozial Abgehängte unserer Zeit, die heutigen »Garnichtse», unverändert gelten. Seine beklemmend aktuelle Kapitalismus-Kritik verdeutlicht er eindrucksvoll am Umgang der Unternehmer und Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern. Die sind ihrer Willkür und ihren Launen hilflos ausgeliefert angesichts einer jederzeit verfügbaren «Reservearmee» Arbeitsloser. Pinneberg träumt wegen des ewigen Kampfes ums Geld und des Ringens mit einer abstrusen Bürokratie, angeregt durch Robinson Crusoe, von einem Rückzug in die innere Emigration. Das Ehepaar findet sein stilles Glück daheim bei ihrem Murkel, immer ehrlich bleiben ist ihre Maxime, allen Anfeindungen zum Trotz. Der in einer leicht lesbaren Sprache geschriebene, in vier Teile gegliederte und chronologisch erzählte Roman ist in seiner Thematik beklemmend aktuell gebli

Bewertung vom 03.02.2021
Die Gewitterschwimmerin
Hauser, Franziska

Die Gewitterschwimmerin


schlecht

Ein bezeichnendes Ende

Im zweiten Roman von Franziska Hauser lässt der Titel «Die Gewitterschwimmerin» vorausahnen, dass Todessehnsucht im Spiel sein muss in dieser Geschichte. Denn bei Gewitter verlässt man tunlichst das Wasser, wenn man nicht lebensmüde ist. Tamara, Heldin und über weite Strecken Ich-Erzählerin dieses Familienromans, reizt aber genau das, denn dann hat sie den See schicksalsergeben ganz für sich allein. Über vier Generationen hinweg schildert die Autorin die abenteuerliche Geschichte ihrer eigenen Familie. Im Vorwort betont sie: «Nicht alle Personen sind mit meiner Ausführung einverstanden», alle hätten aber der Veröffentlichung letztendlich doch zugestimmt.

Der 1883 geborene Urgroßvater Friedrich Hirsch ist ein begnadeter Mathematiklehrer, er muss als Jude 1938 nach England flüchten. Sein Sohn Alfred geht nach Südfrankreich und kämpft zusammen mit seiner späteren Frau in der Résistance gegen die Nazi-Besatzer. Nach Kriegsende gelangt Friedrich in der DDR in höchste Ämter, verkehrt privat mit Manfred von Ardenne und Margot Honecker, der ewigen Bildungsministerin. Sein Sohn Alfred wird zu einem bedeutenden Schriftsteller, er betätigt sich als überzeugter Sozialist geradezu agitativ am Aufbau der neuen Gesellschaft. Mit seiner zweiten Frau Adele hat er zwei Töchter, die 1951 geborene Tamara und die drei Jahre jüngere Dascha. Die äußerst eigenwillige Tamara wird gegen den Willen der Eltern zur diplomierten Puppenspielerin. Sie hat zwei Töchter von verschiedenen Männern, die älteste ist die 1975 geborene Henriette, nicht nur vom Geburtsjahr her das Alter Ego der Autorin.

Es ist ein buntes Gemisch verschiedenster Charaktere, die da von der Kaiserzeit bis in die Jetztzeit mit den Fährnissen des Lebens kämpfen und sich selbst zu verwirklichen suchen. Ruhender Pol dieser Familie und als Figur besonders sympathisch dargestellt ist Uropa Friedrich, den alle mögen. Sein Sohn Alfred handelt beruflich als Opportunist zuweilen gegen seine Überzeugungen, genießt aber die ihm gewährte Reisefreiheit. Als Privilegierter ist er mit seiner Frau Adele ständig auch im westlichen Ausland unterwegs und lebt auf großem Fuß. In seiner freizügigen Familie wird FKK praktiziert, und sinnenfroh wie er ist vergreift er sich bedenkenlos an seinen Töchtern. Obendrein wird auch noch die kaltherzige Adele sexuell übergriffig gegen die eigenen Töchter, was dann besonders bei Dascha traumatische Folgen hat. Tamara verkörpert als Hauptfigur glaubhaft eine selbstbewusste, moderne Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, egal was da kommt, und wenn es ganz schlimm wird, springt sie mal eben bei Gewitter in ihren geliebten See.

Stilistisch reiht dieser Roman in dutzenden oft nur halbseitigen Kapiteln verschiedene Biografien ohne ein irgendwie plausibles System aneinander. Ständige Zeitsprünge und Perspektivwechsel erschweren die Lektüre, weil das vielschichtige Geschehen immer nur stroboskopartig beleuchtet wird. Wie beim Puzzle muss der Leser folglich versuchen, diese Erzählschnipsel im Kopf zu einem Ganzen zu fügen, also das Historische mit dem Privaten zu verknüpfen, um mögliche Zusammenhänge zu erkennen. Als Genese einer exzentrischen Familie scheitert der Roman genau an diesem unkoordinierten Nebeneinander. Offensichtlich wollte oder konnte Franziska Hauser ihrer in vielen Details fragwürdigen Geschichte keinen tieferen Sinn geben. Und so bleibt das Gelesene, bis auf die Abgründe von sexuellem Missbrauch, der sogar zum Suizid führt, ziemlich banal, sowohl als DDR-Roman wie auch als Familien-Epos. Nur noch peinlich ist dann die Szene am Schluss, in der eine frühere Freundin überraschend bei Tamara auftaucht, die das Elternhaus geerbt hat. Sie habe, erklärt die Besucherin, kaum noch Erinnerungen an dieses Haus am See, nur drei Bilder seien es: «Und das dritte Bild, oben, im Schlafzimmer. Adele hockt über mir, und ich muss an ihren Schamlippen spielen». Ein fürwahr bezeichnendes Ende dieses in jeder Hinsicht misslungenen Romans!

Bewertung vom 30.01.2021
So sind wir
Lustiger, Gila

So sind wir


weniger gut

Wenig bereichernd

Der dritte Roman von Gila Lustiger mit dem Titel «So sind wir» wurde 2005 zu ihrem ersten Erfolg. Ein Familienroman, in dem die Autorin auf der Suche nach der eigenen Abstammung ihre Familiengeschichte erzählt. Sie ist die Tochter des Historikers Arno Lustiger, der als 15jähriger polnischer Jude ins KZ kam, sechsmal in andere KZs verlegt wurde und zwei Todesmärsche überlebt hat. Sehr zum Ärger seiner Tochter Gila wurde er später auf seine Rolle als Holocaust-Überlebender reduziert, als solcher hat er im Januar 2005 eine Gedenkrede für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag gehalten.

Der in sieben Kapitel aufgeteilte Roman beginnt mit Kindheits-Erinnerungen an ihren Vater, den sie als geradezu süchtigen Zeitungsleser schildert, der eifrig immer wieder einzelne Artikel heraustrennt und zum Sammeln beiseite legt, wo er sie dann vergisst. So merkt er auch nicht, dass mindesten einmal im Monat die resolute Mutter seine diversen Papierstapel beherzt entsorgt. So sehr er beruflich mit der Vergangenheit befasst ist, so sehr ist er privat an der Gegenwart und Zukunft interessiert, so als wolle er seine eigene Vergangenheit ausblenden. «Wir waren und sind eine Familie, die schonend über die Vergangenheit schweigt», heißt es im Buch. Erst als erwachsene Frau stößt die Autorin, die inzwischen in Paris lebt, in einer Schlüsselszene des Romans zufällig auf einen Aufsatz ihres Vaters, der aus seinen Rundfunkvorträgen entstanden war und ihr erstmals Aufschlüsse über seinen Leidensweg lieferte. Er hatte sich vierzig Jahre lang nie darüber geäußert. «Ich wollte meinen Kindern nicht zumuten, eine Sonderrolle zu spielen. Sie sollten mit ihren Klassenkameraden unbefangen spielen, unbelastet von meiner Geschichte», hat er 2006 in einem gemeinsamen Interview mit seiner Tochter im Magazin ‹Der Spiegel› gesagt. Und Gila Lustiger ergänzte zum familiären Schweigen, «wissen wollten wir es eigentlich nie so genau». Die durch ihren Fund ausgelöste Erschütterung könne man nicht biografisch nacherzählen, erklärte sie, «Da muss man eine Szene aufbauen und mit den Mitteln der Literatur arbeiten. Das heißt, es wird zu einer Szene, die weitgehend fiktiv ist».

Und so lies sich die Autorin hauptsächlich von den wenigen noch existierenden Fotos und Erinnerungsstücken der Familie zu ihrem Roman inspirieren, sie ergänzte die magere Quellenlage durch ihre Phantasie. Ihre klugen Reflexionen über die mitteleuropäischen Juden, die sie als Verlierer der Geschichte bezeichnet, beschäftigen sich sehr tiefgreifend mit den Fragen nach der jüdischen Identität. Dabei wird auch die Entstehung des Staates Israel aus Familiensicht geschildert, denn Gilas Mutter sei als Kind persönlich dabei gewesen, als David Ben-Gurion nach langem politischen Ringen 1948 den neuen Staat proklamiert hat. Die in Deutschland geborene Autorin ist vor dem Abitur nach Israel gegangen, wohin ihre Großeltern aus Polen geflüchtet waren, hat dort einige Jahre gelebt und gearbeitet, ehe sie nach Paris ging, wo sie heute noch lebt. Sie ist natürlich durch die deutsche Sprache geprägt, aber auch durch ihre jüdische Abstammung, und ihr Leben in Paris schließlich, wo sie seit 1987 wohnt, ist ebenfalls Teil ihrer Identität.

Insoweit ist ihr Roman ein sehr persönliches Werk, in dem sich alles um ihre ureigensten Empfindungen dreht. Die eingestreuten Erinnerungs-Schnipsel bilden keine stringente Handlung, häufige Zeitsprünge erschweren zusätzlich die Orientierung. Ziemlich deplaziert wirkt im zweiten Teil des Romans ein Treffen mit ihrer schwatzhaften Freundin Dominique auf einer Party, wo eine gelangweilte französische Schickeria den existenziellen Nöten der polnischen Juden zu Zeiten des Holocaust gegenüber gestellt wird. Sieht man von der sakrosankten Thematik ab, die hier wenig bereichernd als Narrativ dient, ist dieser oberflächliche Roman weder stilistisch noch mit seiner spärlichen Handlung unterhaltsam, er bietet insoweit auch kein Lesevergnügen.

Bewertung vom 28.01.2021
Johanna
Hoppe, Felicitas

Johanna


gut

Verquer, aber emotional anregend

«Johanna», der 2006 erschienene dritte Roman von Felicitas Hoppe, widmet sich der französischen National-Heldin Jeanne d’Arc, die am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Doch ist dies mitnichten ein historischer Roman, das kurze Leben der 1920 heiliggesprochenen, von vielerlei Mythen umwobenen Jungfrau von Orleans dient hier lediglich als Gegenstand einer Dissertation. Der 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichneten, literarisch vielseitig tätigen Schriftstellerin eilt der Ruf einer begnadeten Fabuliererin voraus. «In einer Zeit, in der das Reden in eigener Sache die Literatur immer mehr dominiert, umkreist Felicitas Hoppes sensible und bei allem Sinn für Komik melancholische Erzählkunst das Geheimnis der Identität», begründete die Darmstädter Jury die Preisvergabe. Der vorliegende Roman ist ein typisches Beispiel dafür.

Die namenlose Ich-Erzählerin geht als Doktorandin eigene Wege. Indem sie Johanna als Gottes Tochter ansieht, deutet sie deren Passion abseits historischer Überlieferungen als traumhafte Angstbewältigung. Sie versucht also, den dichten mythischen Nebel um diese Heldin des französischen Freiheitskampfes mit poetischen Methoden zu lüften, indem sie das von so disparaten Mitteln wie Schwert und Gebet geprägte Geschehen intuitiv in seelische Kategorien umsetzt. Die von Offenbarungen angetriebene Jungfrau scheiterte bekanntlich an eben diesen, von der Inquisition als anmaßend bezweifelten und als ketzerisch verworfenen, göttlichen Botschaften. Die Autorin ignoriert in ihrer Erzählung radikal alle bisherigen literarischen Interpretationen, seien sie tendenziell religiös, politisch, moralisch oder sozialkritisch, negiert aber auch jeden nationalen Ansatz. Sie misst also auch dem Hundertjährigen Krieg zwischen Engländern und Franzosen keine Bedeutung zu. All diese literarischen Versuche werden als «verschrobene Knappenprosa» bespöttelt, die hoffnungslos am Kern vorbeigehe, dem Phänomen der historischen Figur also in keiner Weise gerecht werde.

Begleitet wird die Studentin bei ihren Forschungen von einem jungen, bereits promovierten Historiker, der ihrem emotionalen Ansatz skeptisch gegenübersteht, ihn als unwissenschaftlich ablehnt. Der immer wieder als furchteinflößendes Leitmotiv benutzte Rauch des Scheiterhaufens in Rouen findet seine Entsprechung im Rauchgestank, den die Kleidung ihres Doktorvaters penetrant verströmt. Eine weitere Analogie findet sich in der Angst. Johannas Angst vor der Inquisition entspricht der Angst der Doktorandin vor ihrer Prüfung, bei der sie wohl ebenfalls scheitert, aber das ist dann auch kaum noch wichtig. Denn weder die Romanfigur noch die Autorin selbst bieten eine neue Deutung der Mythen um Jeanne d’Arc an. Alle ihre Bemühungen dienen lediglich der vollständigen Aneignung und einer allfälligen Neuordnung dieses berühmten historischen Stoffes.

Der surreale Roman strotzt mit seinen zahlreichen Verästelungen nur so von Anspielungen, Zitaten, Vieldeutigkeiten und Rätseln, er erzeugt am laufenden Band die verschiedenartigsten Assoziationen. Und er führt den Leser als raffiniertes Traumspiel ganz bewusst ins undurchdringliche Dickicht der blühenden Phantasie seiner unkonventionellen Autorin. Vieles wird da nur vage angedeutet, so gut wie nichts wird rational verständlich ausgeführt oder gar erklärt. Alles erfordert vielmehr ein Weiterdenken, man muss den Faden jeweils selbst zu Ende spinnen, das wundersam Erscheinende durch eigenes Fabulieren ergänzen. Bei alldem ist eine gewisse Geschichtskenntnis unabdingbare Voraussetzung für den Lesegenuss, denn erklärt wird nichts, schon aus Prinzip nicht. Wer Handlung sucht ist hier jedenfalls auf dem Holzweg, es gibt keine. Dafür gibt es sprachliche Brillanz wie sonst selten, ein in postmoderner Prosa realisiertes virtuoses Spiel mit der existentiellen Unsicherheit. Als Roman ziemlich verquer, emotional aber wohl gerade auch deshalb äußerst anregend.

Bewertung vom 26.01.2021
Consummatus
Lewitscharoff, Sibylle

Consummatus


sehr gut

Nichts für tote Leser

Mit «Consummatus» als Titel ihres Romans zitiert Sibylle Lewitscharoff die Bibel, ‹consummatus est› waren die letzten Worte von Jesus am Kreuz. Weniger bildungssprachlich also wäre auch ‹Der Vollendete› ein passender Titel gewesen für diesen postmodernen Roman der ‹schwäbischen Pietistin›, die für intellektuell hochstehende Werke bekannt ist und ihren Lesern hier einen verblüffenden Einblick ins Reich der Toten gewährt.

Am Vormittag des 3. April 2004 sitzt der 55jährige Deutschlehrer Ralph Zimmermann sinnierend im Café Rösler in Stuttgart. Die konfusen Gedanken des Ich-Erzählers kreisen unaufhörlich um zwei tragische Todesfälle. Da ist einerseits der Flugzeugabsturz in Tansania, als eine DC-3 beim Sightseeing-Rundflug am Kilimandscharo abstürzte und seine Eltern mit in den Tod riss. An dem zweiten Todesfall, der seine Gedanken bestimmt, gibt er sich sogar eine Mitschuld. Ralphs große Liebe, seine 48jährige Freundin Joey, eine exaltierte Rocksängerin, war bei einer Fahrt in Frankreich mal wieder genervt aus dem Auto gesprungen. Als er rückwärts fuhr, um sie wieder einzusammeln, war sie im toten Winkel, für ihn unsichtbar, unter den Tourneebus der Musikband geraten. Sie hätte ihm ganz leicht, mit einem einzigen Schritt, ausweichen können, - für die Polizei war er unschuldig. In einer breit angelegten Totenklage berichtet Ralph, der vor vier Jahren selbst eine Nahtod-Erfahrung hatte, von seiner Jenseitsfahrt ins Reich der Toten und wieder zurück, ein durch viele Wodkas beflügelter Sprung ins Schwarze Loch, aus dem er Jesus immerfort lachen hörte.

Die Autorin erzählt ihre Geschichte als inneren Monolog. Ihr Protagonist erscheint dabei als ausgeglichener, gutmütiger Mann, der meist als aufmerksamer Beobachter des Geschehens fungiert. Dabei führt er viele Gespräche mit den Bewohnern des Totenreichs, die ihm zwar antworten, die aber, obwohl er sie deutlich erkennen kann, als Körperlose unberührbar sind für ihn. Zu seinen überirdischen Begegnungen zählen außer seinen Eltern und Joey auch Musiker wie Jim Morrison von den Doors oder der Pop-Art-Künstler Andy Warhol, ferner Dichter und Denker von Goethe, Hölderlin oder Lessing bis zu Siegmund Freud, ergänzt um eine riesige, bunt gemischte Schar anderer Personen der Zeitgeschichte. Drucktechnisch sind alle Stimmen aus dem Totenreich grau abgesetzt, sie verblassen gewissermaßen gegenüber dem Schwarz des diesseitigen Textes. Zu den grafischen Gags gehört auch ein kabbalistisches Spiel, die Nummerierung der 16 Kapitel mit einem magischen Zahlenquadrat der Kantenlänge vier, in dem die Summe der Zeilen und Spalten von jeweils vier Zahlen und der beiden Diagonalen die Zahl 34 ergibt, das Lebensalter von Jesus Christus. Im sechzehnten Kapitel dann, in dem Ralph nachmittags aus dem Café ins Schneegestöber hinaustritt, symbolisieren absatzweise statt Buchstaben als Sonderzeichen schwebende Schneekristalle das Nebelhafte seiner Grübeleien ebenso wie seinen inzwischen bedenklichen Wodkapegel.

Es ist zweifellos gewagt, was die Autorin da an oft zusammenhanglosen Gedanken zu einer bedeutungsschweren Erzählung kompiliert hat, deren Kennzeichen die vielen surrealen Metaphern sind. Ohne Zweifel aber ist dieser fraktionell angelegte Roman ironisch gemeint, stehen doch den oft verworrenen Gedankengängen seines Helden als Korrektiv meist die Jenseitsstimmen gegenüber. Erstaunlich auch und amüsant ist der virtuose Umgang der Religions-Wissenschaftlerin mit dem Glauben und seinen Verkündern, die sie schnippisch schon mal als ‹Jenseitsberater› bezeichnet. Nicht weniger als die gesamte Schöpfung steht zur Debatte bei diesem skurrilen Ausflug in den Hades, dessen Rezeption im Feuilleton durchaus gegensätzlich ausfiel. Sei’s drum, diesen intellektuell anspruchsvollen Roman der blitzgescheiten Schwäbin sollte man gelesen haben. Denn wer sich nicht dafür interessiere, der sei «wahrscheinlich schon tot und habe es nur noch nicht gemerkt», hat Denis Scheck süffisant angemerkt.

Bewertung vom 23.01.2021
Die Leben der Elena Silber
Osang, Alexander

Die Leben der Elena Silber


weniger gut

Vielschichtiges Panorama

In seinem Opus magnum «Die Leben der Elena Silber» erzählt Alexander Osang die fünf Generationen umfassende Geschichte einer russisch-deutschen Familie, beginnend 1905 im zaristischen Russland und endend im Jahre 2017 im heutigen Deutschland. Der autobiografisch grundierte Roman deutet schon im Titel auf ein bewegtes Leben seiner Protagonistin hin, wobei ihr Enkel Konstantin aus der Jetztzeit als narrativer Gegenpol fungiert.

Und wild bewegt beginnt es auch gleich im ersten Satz, Viktor Krasnow wird 1905 als Revolutionär von einem Lynchmob auf offener Straße gepfählt. In Todesangst, alles stehen- und liegenlassend, flieht seine Frau mit den zwei Kindern aus dem kleinen Ort nach Nischni Nowgorod. Zwölf Jahre später hat sich das Blatt gewendet, die Bolschewisten haben die Macht übernommen, die Mutter kehrt rehabilitiert nach Gorbatow zurück. Sie heiratet wieder, Tochter Jelena aber ergreift später die erstbeste Gelegenheit, aus den bedrängenden Verhältnissen herauszukommen, indem sie einen deutschen Ingenieur ehelicht, den Lenins Pläne zum Aufbau der Wirtschaft ins Land gelockt haben, Robert Silber. Sie haben fünf Kinder, alles Mädchen, von denen das jüngste schon als Kleinkind stirbt. Die Familie geht, als sich die politische Lage zuspitzt, 1936 nach Berlin und überlebt dann den Zweiten Weltkrieg in Roberts schlesischer Heimat. Im Chaos der Nachkriegszeit verschwindet Robert spurlos, die unter dem Namen Elena eingedeutschte Mutter landet auf der Flucht vor der Roten Armee auf Umwegen schließlich wieder in Berlin. Sie durchlebt politisch also Zarenreich, Kommunismus, Nazidiktatur, DDR und Wende, ehe sie 1995 hochbetagt stirbt. Einer ihrer Enkel, der in einer Schaffenskrise steckende Filmemacher Konstantin, beginnt mehr als zwanzig Jahre nach Elenas Tod, seine Mutter und deren drei Schwestern nach den wahren Hintergründen der Familien-Geschichte zu befragen. Denn in der ist manches ungeklärt, vor allem das Verschwinden von Robert Silber. Er steigert sich immer mehr in seine Recherchen hinein, reist am Ende sogar mit seinem Cousin nach Gorbatow, ohne aber wirklich Licht ins Dunkle bringen zu können.

Einiges in diesem Roman ist historisch belegt, dazu gehört vor allem die Ermordung des Ahnherrn als Initial-Ereignis. Die fiktiven Ausschmückungen betreffen vor allem die weitverzweigte Familie mit ihren persönlichen Schicksalen. In 28 Kapiteln, zeitlich vor und zurück springend, wird abwechselnd aus den Perspektiven Elenas und Konstantins erzählt. Das üppige Figuren-Ensemble wird beherrscht von Elenas vier exzentrischen Töchtern, wobei unklar bleibt, inwieweit ihre wechselvolle Lebensgeschichte sie so geformt hat. Äußerst farblos als Figur ist Konstantin, der die Suche nach sich selbst, wenig überzeugend, durch seine Recherchen vorantreiben will. Hinzu gesellt sich eine schier unübersehbare Menge bis ins Detail beschriebener Randfiguren.

Das Problem russischer Namen schließlich mit ihren diversen Koseformen und Varianten wird hier zwar ein wenig durch Hilfsmittel wie Personenregister und Stammbaum gemildert, stört den Lesefluss aber trotzdem, insbesondere in Verbindung mit den ständigen Zeitsprüngen. Störend sind mit der Zeit auch die vielen Wiederholungen, selbst wenn sie zuweilen mithelfen, den Überblick zu behalten. In einer journalistisch knappen Sprache erzählt der Autor, Alter Ego seiner Figur Konstantin, ein mit Songtexten, Filmquiz und Literaturzitaten angereichertes Epos mit dem Ziel, aus dem historischen Wirrwarr einen Sinn heraus zu destillieren. Seine vergeblichen Nachforschungen münden in die ernüchternde Erkenntnis: «Die Menschen erinnern sich nur an das, was in ihre Lebensgeschichte passt». Unwillkürlich erwartet man nach all den unergiebigen Recherchen aber doch eine Klärung, was denn nun mit Robert Silber geschah, die zum Ende hin steigende Spannung wird aber schmählich enttäuscht. Denn anders als die Pointe beim Witz steht hier der dramaturgische Höhepunkt gleich im ersten Satz!