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cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 12.01.2019
Die Plotter
Kim, Un-Su

Die Plotter


gut

Turbulenzen auf dem Fleischmarkt
Im Mittelpunkt von Un-Su Kims Debütroman “Die Plotter“, der im Original bereits 2010 erschien und jetzt die Welt erobert, steht der Profikiller Raeseng. Raeseng wurde als Säugling in einer Mülltonne ausgesetzt und von dem Plotter Old Raccoon aufgezogen und zum Killer ausgebildet. Sein Zuhause war und ist eine 90 Jahre alte Bibliothek, die Dog´s Library, ein Treffpunkt für Mörder. Hier hat sich Raeseng selbst das Lesen beigebracht. Mit Anfang 30 ist er seit 15 Jahren Profikiller und erledigt seine Aufträge effizient und ohne Schuldgefühle. Zu Beginn des Romans hat er den Auftrag, einen alten General aus der Zeit der Militärjunta in Südkorea zu eliminieren. Er beobachtet, wie der Alte mit seinem Hund spielt und zögert. Später wird der alte Mann ihn zum Essen einladen und bei sich übernachten lassen, obwohl er genau weiß, was ihm bevorsteht. Raeseng kommen erste Zweifel an seinem Tun, die jetzt und später beim Mord an einer jungen Prostituierten zu eigenmächtigen Änderungen des Auftrags der Plotter führen, wodurch er selbst zur Zielperson wird. Wie der Roman deutlich zeigt, gibt es eine strenge Hierarchie. Die Killer kennen die anderen Plotter meist nicht und erst Recht nicht die Auftraggeber. Alle in diesem Gewerbe Tätigen wissen, dass keiner von ihnen an Altersschwäche sterben wird. Der kleinste Fehler bei der Ausführung der Aufträge ist ihr eigenes Todesurteil.
Im Roman geht es jedoch nicht nur um Raesengs Werdegang und Schicksal, sondern auch um die gesellschaftlichen und politischen Umstände, die den “Fleischmarkt“, wo Interessenten, die es sich leisten können, Morde einkaufen, erst ermöglichen. “Die Plotter“ porträtiert ein Land im Umbruch nach der Diktatur, wo die Menschen angesichts der allgegenwärtigen Korruption und einer Vielzahl von Verbrechen auch von Seiten der Regierenden jede Hoffnung verloren haben und niemandem mehr vertrauen. Der Fleischmarkt funktioniert nach den Gesetzen der Marktwirtschaft. Es gibt viel Konkurrenz und sinkende Erträge. Ältere Plotter werden ausgeschaltet, eine neue Generation drängt an die Macht. Raeseng trifft in Mito eine Frau, die lange Assistentin eines mächtigen Plotters war und nun mit Raesengs Hilfe die Strippenzieher vernichten und belastendes Material öffentlich machen will. Sie akzeptiert, dass dies wohl ihren Tod bedeutet. Auch Raeseng weiß das. Wenn er mitmacht, gewinnt er seine Würde zurück und verliert sein Leben.
Kims Porträt einer Gesellschaft ohne Moral und Skrupel ist interessant und in seiner Machart ungewöhnlich, aber vom Thema her schon sehr gewöhnungsbedürftig. Dem Roman wird Humor nachgesagt. Ich bin jedoch sicher, nicht gelacht oder auch nur geschmunzelt zu haben. Die sprachlich-stilistischen Qualitäten lassen sich nicht wirklich beurteilen, weil es sich hier – wie so oft bei Texten aus dem asiatischen Raum – um eine Übersetzung aus dem Englischen und nicht aus der Originalsprache handelt.

Bewertung vom 18.11.2018
Vielleicht tanzen wir morgen
Hogan, Ruth

Vielleicht tanzen wir morgen


gut

Das Leben ist voller kleiner Freuden
Im Mittelpunkt von Ruth Hogans neuem Roman “Vielleicht tanzen wir morgen“ steht Mascha, die zwölf Jahre zuvor ihren geliebten Sohn Gabriel verloren hat. Sie konnte ihn nicht retten und fühlt sich verantwortlich für seinen Tod. Seine Leiche wurde nie gefunden. Sie versinkt in unendlicher Trauer, macht Nahtoderfahrungen beim Schwimmen und Tauchen in oft sehr kaltem Wasser, um das Sterben ihres Kindes nachzuempfinden und hat jegliche Lebensfreude verloren, obwohl Freunde und Verwandte und ihr innig geliebter Wolfshund Haizum ihr helfen. Sie lernt eine Reihe von exzentrischen Menschen kennen, zum Beispiel die attraktive Kitty, vor allem aber Sally mit den roten Schuhen, die auf dem Friedhof für die Toten singt, täglich im Park die Krähen füttert und Mascha allmählich ins Leben zurückführt. Dann taucht auch noch der Olympionike, ein sehr attraktiver Mann, im Schwimmbad auf, und Mascha kann sich sogar eine neue Liebe vorstellen.
Es geht jedoch nicht nur um Mascha. Mit Alice gibt es noch eine zweite Erzählperspektive. Alice ist alleinerziehende Mutter des Teenagers Mattie und lebensbedrohlich an Krebs erkrankt. Beide Handlungsstränge werden am Ende zusammengeführt.
Hogans zweiter Roman ist eine tieftraurige Geschichte - trotz seiner positiven Botschaft: Man darf auch nach der schlimmsten Tragödie nicht aufgeben. Schließlich lebt man noch und kann die kleinen Freuden des Lebens genießen. Mehrere Charaktere im Buch machen es vor. Allein vier Frauen verlieren ein oder mehrere Kinder oder den über alles geliebten Partner und behalten den Lebensmut. Mir ist das ständig um Krankheit, Tod, Verlust und Trauer kreisende Buch trotz einiger Lichtblicke und gelegentlichem Sprachwitz zu düster. Hogans Darstellung von Krebs im Endstadium wirkt authentisch – sie hat ihre eigenen Erfahrungen schriftstellerisch verarbeitet -, aber trägt dazu bei, dass dieses Buch wirklich schwere Kost ist.

Bewertung vom 11.11.2018
Die Unsterblichen
Benjamin, Chloe

Die Unsterblichen


sehr gut

Wie gehen wir mit unserem eigenen Tod um?
In “Die Unsterblichen“, Chloe Benjamins zweitem Roman, geht es um die Golds, eine jüdische Einwandererfamilie der zweiten Generation. Die Golds leben in der Lower East Side in New York. An einem heißen Sommertag in den endlos langen, ereignislosen Ferien suchen die vier Kinder der Familie Gold eine Wahrsagerin auf, die angeblich jedem seinen genauen Todestag vorhersagen kann. Varya, 13, Daniel, 11, Klara 9 und Simon, 7 bekommen in Einzelgesprächen diese Auskunft, die ihr Leben verändert.
Benjamin erzählt in vier Abschnitten jeweils aus der Perspektive von einem der Geschwister und in der Reihenfolge ihrer Todesdaten die Lebensgeschichten, die etwa ein halbes Jahrhundert abdecken. Simon geht als 16jähriger mit seiner Schwester Klara nach San Francisco und genießt dort angesichts seiner geringen Lebenserwartung sein Leben in vollen Zügen - ohne Rücksicht auf mögliche Risiken. Klara verwirklicht ihren Traum, Magierin zu werden und ist zusammen mit ihrem Mann zuletzt sehr erfolgreich in Las Vegas. Daniel ist Arzt beim Militär und leidet sein Leben lang unter der Prophezeiung. Varya soll laut Vorhersage 88 Jahre alt werden, lebt aber so, als müsste sie durch übertriebene Vorsicht selbst dazu beitragen. Sie verliert nacheinander ihre Geschwister. Nach dem glamourösen Anfang, in dem Simon und Klara buchstäblich im Rampenlicht stehen, wirkt die zweite Hälfte zunehmend düster.
Der eindrucksvolle Roman behandelt eine Reihe von Themen neben der zentralen Frage, ob das Wissen um den eigenen Todestag ein Fluch oder ein Segen ist und inwiefern es die Lebensentscheidungen beeinflusst. Für den Leser sieht es so aus, als ob die vier Protagonisten mit diesem Wissen Entscheidungen treffen, die zwangsläufig zu dem angekündigten Tod führen. Es gibt keine Fantasy-Elemente und keinen faulen Zauber, sondern eher so etwas wie eine „self-fulfilling prophecy“. Daneben geht es um Liebe und um familiäre Beziehungen, um Trauer und Verlust. Die Geschwister sind unauflöslich miteinander verbunden und dennoch über Jahre getrennt, zerstritten, einander entfremdet. Der Roman berührt, auch wenn er teilweise etwas konstruiert wirkt und vor allem der vierte Abschnitt um die Biologin Varya eine Menge wissenschaftliches Material enthält, das den Lesefluss hemmt. Mir hat der Roman mit kleinen Einschränkungen gut gefallen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2018
Der Apfelbaum
Berkel, Christian

Der Apfelbaum


ausgezeichnet

Das Wagnis der Erinnerung
“Der Apfelbaum“ ist der Debütroman des bekannten Schauspielers Christian Berkel, in dem er die Geschichte seiner Familie über drei Generationen nachzeichnet. Er hat dafür gründlich in Archiven recherchiert, erhaltene Korrespondenz gelesen und die Schauplätze des Geschehens aufgesucht. Der im Wesentlichen auf Fakten beruhende Roman umfasst einen großen Teil des 20. Jahrhunderts. Die jüdische Großmutter Alta, ihre Tochter Isa und deren Tochter Sala, die durch die Heirat ihrer Mutter mit einem Nicht-Juden Halbjüdin ist, erleiden Verfolgung, Gefängnis und Lagerhaft. Im Mittelpunkt des Romans steht die lebenslange Liebe zwischen Sala und Otto, die sich mit 13 bzw. 17 Jahren ineinander verlieben und nach jahrelanger Trennung wieder zusammenkommen. Otto hat 5 Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft überlebt, Sala Krankheit und Hunger in einem Lager in den Pyrenäen. Salas Schicksal ist besonders bewegend. Sie wurde als Kind von der Mutter verlassen und vom Vater aufgezogen. Die Erfahrung, „indésirable“ zu sein, zugleich unerwünscht und nicht begehrenswert, prägt ihr ganzes Leben. Auf die Ablehnung durch die eigene Mutter folgt das Gefühl des Fremdseins bei ihrer Tante Lola in Paris, nochmals bei der Mutter in Madrid und schließlich bei ihrer anderen Tante in Argentinien. Ihr Versuch, sich dort eine neue Existenz aufzubauen, scheitert ebenso wie alle anderen zuvor. Erst als sie wieder nach Berlin geht und Kontakt zu Otto aufnimmt, kann sie einen Neuanfang machen. Der bis fast zum Schluss namenlose Erzähler zeichnet Gespräche mit der 91jährigen inzwischen dementen Sala auf und versucht so, fehlende Mosaiksteinchen zu ergänzen.
Mir hat der spannende und berührende Roman sehr gut gefallen, auch wenn er nicht ganz mühelos zu lesen ist. Der ständige Wechsel von Erzählperspektiven und Zeitebenen genauso wie das umfangreiche Personal verlangen einen aufmerksamen Leser. Die Erforschung der Familiengeschichte ist für den Autor ein Weg zur Identitätsfindung. Es ist wichtig sich zu erinnern und nicht zu verdrängen. Der Erzähler im Roman wird zum Sprachrohr des Autors, wenn er sich vehement gegen die häufig zu hörende Bemerkung “Irgendwann muss doch mal Schluss sein“ (S. 210) wehrt. Es geht nicht um individuelle oder historische Schuldzuweisungen, sondern darum, die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, vor allem die Nazizeit mit dem Völkermord an den europäischen Juden als Teil der deutschen Identität zu akzeptieren. “Der Apfelbaum“ ist ein ganz hervorragender Roman, den ich uneingeschränkt empfehle.

Bewertung vom 30.09.2018
Die Gestalt der Ruinen
Vásquez, Juan Gabriel

Die Gestalt der Ruinen


sehr gut

Die Wurzeln der Gewalt
In seinem neuen Roman “Die Gestalt der Ruinen“ setzt sich Juan Gabriel Vásquez mit der Geschichte Kolumbiens und der bis heute anhaltenden Instabilität auseinander. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei Attentate, die das Land entscheidend geprägt haben: die Ermordung von General Rafael Uribe Uribe im Oktober 1914 durch zwei Handwerker und der Tod des liberalen, oft mit John F. Kennedy verglichenen Politikers Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948, auf den der Bogotazo genannte Volksaufstand und später der blutige Bürgerkrieg “Violencia“ zwischen den Anhängern der liberalen und der konservativen Partei folgten. Die Taten des grausamen Drogenbarons Pablo Escobar und seiner paramilitärischen Einheiten in den 80er Jahren haben den Staat weiter destabilisiert und gespalten und sein Ansehen in der Welt nachhaltig beschädigt (“Narco-Republik“).
Die zentrale Figur des Romans ist der Schriftsteller Vásquez, der zweifach in Erscheinung tritt: als realer Autor und als fiktive Figur, der eine Fülle von autobiografischen Details, z.B. die Jahre im Exil in Barcelona, die zu früh geborenen Zwillingstöchter, seine eigenen Bücher samt literarischen Einflüssen Authentizität verleihen. Die Romanfigur Vásquez wird von dem ihm bekannten Arzt Doktor Benavides mit Carlos Carballo, einem paranoiden Verschwörungstheoretiker, zusammengebracht. Carballo hat sein Leben der Aufklärung des Mordes an Gaitán gewidmet und möchte Vásquez als Autor eines Buches gewinnen, das endlich die offizielle Version des Einzeltäters Joan Rosa Sierra widerlegt und die Wahrheit über eine nie aufgedeckte Verschwörung offenlegt. Für Carlos Carballo hängen die Morde an General Uribe und Gaitán zusammen, folgen sie nach seiner Überzeugung doch demselben Muster von sichtbaren Tätern und verdeckt agierenden Verschwörern. Auch andere Ereignisse und Morde an Prominenten gehören für ihn in dieselbe Kategorie: 9/11, die Ermordung von John F. Kennedy, der Tod von Lady Di usw. sind für ihn ebenfalls anders verlaufen, als die offizielle Version uns glauben machen möchte. Die “wirkliche“ Wahrheit muss erst noch aufgedeckt werden. Nach anfänglicher wütender Ablehnung lässt sich Vásquez immer mehr in die Sache hineinziehen, nicht zuletzt um in Benavides´ Auftrag die aus seinem makabren Privatmuseum gestohlenen Knochenreste von Uribe und Gaitán zurückzuholen, die für alle Beteiligten allmählich den Status von Reliquien annehmen.
Juan Carlos Vásquez liefert zwar eine gründliche Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien und ihren Vertretern, zeigt das undurchdringliche Geflecht von nicht beweisbaren Theorien, Gerüchten und Anekdoten, muss aber letztlich schlüssige Beweise für Verschwörungen schuldig bleiben - genauso wie der Jurist Marco Tulio Anzola, der im Fall Uribe mit seinen Aussagen und Veröffentlichungen u.a. des Buches “Wer sind sie?“ sein Leben in Gefahr brachte und notgedrungen ins Exil ging. Vásquez´ Buch ist eine sogenannte Autofiktion, in der sich autobiografische Bezüge und die fiktionale Handlungsebene vermischen. Es ist außerdem ein historischer Roman, der sich mit einer Fiktion verbindet. So führt der Autor den Leser in ein verwirrendes Labyrinth. Unscharfe Fotos und Dokumente scheinen den Wahrheitsgehalt der Darstellung zu belegen, und dennoch ist es ein Werk der Fiktion.
Mir hat der nicht leicht zu lesende, zu epischer Breite und ungeheurer Detailfülle neigende Roman insgesamt gefallen, thematisiert er doch die Frage nach Realität und Fiktion genauso wie das Leiden der Kolumbianer an der von Generation zu Generation vererbten Geschichte von Gewalt und Tod. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.

Bewertung vom 30.09.2018
Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21
Ani, Friedrich

Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21


gut

Flucht in die allumfassende Unsichtbarkeit
Im neuen Roman von Friedrich Ani geht es wieder einmal und vielleicht zum letzten Mal um den erfolgreichen Vermisstenfahnder Tabor Süden, der nach seinem Ausscheiden bei der Münchner Polizei als Privatdetektiv arbeitete. Gerade will er wieder einmal verschwinden, als ihn seine Chefin Edith Liebergesell genau da aufspürt, wo sie ihn vermutet: am Bahnhof. Sie bittet ihn, den Fall des vermissten Schriftstellers Cornelius Hallig zu übernehmen. Der Auftrag kommt von dem Hotelbesitzer, in dessen Hotel Hallig jahrzehntelang gelebt hatte, zuerst mit seiner Mutter, dann seit ihrem Tod allein. Den Hotelbesitzer Josef Ried und sein langjähriges Personal verband tiefe Freundschaft mit dem einst sehr erfolgreichen Schriftsteller, der unter dem Pseudonym Georg Ulrich eine Reihe von Kriminalromanen veröffentlicht hatte. Tabor Süden verbringt eine Nacht in Halligs Zimmer, um ein Gefühl für die Persönlichkeit des Verschwundenen zu bekommen und so seine Spur zu finden. Er liest dort ein Manuskript, verfasst von der damaligen Verlegerin des Autors, und hat nach dem Gespräch mit ihr eine Idee, an welchem Ort er suchen muss – außer am Grab der verstorbenen Mutter.
Erzählt wird aus ständig wechselnder Perspektive. So erfährt der Leser auch eine Menge über Cornelius “Linus“ Hallig, der die Orte seiner Vergangenheit noch ein letztes Mal aufsucht. Es wird immer deutlicher, wie ähnlich sich die beiden Männer sind. Beide haben keine Bindungen mehr, beide wollen sich nur noch entziehen, abtauchen in “die allumfassende Unsichtbarkeit“ (S. 10), wobei sie nicht dieselben Gründe für ihr Handeln haben. Die Aussichten, dass Süden sein Spiegelbild findet, sind gut.
Die Geschichte ist sehr düster, das Ende offen. Edith Liebergesell sieht ihren einstigen Mitarbeiter ein letztes Mal am Bahnhof, greift aber nicht ein. Wie geht es weiter? Tabor Süden verschwindet in eine ungewisse Zukunft. Wird er jemals wieder Vermisste suchen?
Mir hat Anis Roman gefallen, aber nicht so gut wie andere Werke des Autors, von dem ich mehr als ein Dutzend Bücher kenne. Andere, z.B. “Der namenlose Tag“ fand ich wesentlich packender.

Bewertung vom 30.09.2018
Ein Winter in Paris
Blondel, Jean-Philippe

Ein Winter in Paris


ausgezeichnet

Außenseiterschicksale
Der 19jährige Victor stammt aus der Provinz und besucht im zweiten Jahr eine Vorbereitungsklasse an einem Lycée in Paris. Wenn er den Concours, die Auswahlprüfung, besteht, bekommt er einen Studienplatz an einer der renommierten Grandes Ecoles, der Ecole Normale Superieur. Diese Schulen absolviert die französische Elite. Victor stammt aus einfachen Verhältnissen und verfügt nicht über die Codes in Bezug auf Herkunft, Bildung, Sprache und Kleidung, die ihm Zugang zu den betuchteren bürgerlichen Kreisen ermöglichen würden. Er ist völlig isoliert und widmet sich einzig und allein seinen Studien. Wider Erwarten sind seine Leistungen gut genug für das zweite Vorbereitungsjahr. Irgendwann lernt er den jungen Mathieu im Jahrgang unter ihm kennen, der offensichtlich das Gleiche erlebt wie er selbst. Sie rauchen zusammen und wechseln ein paar Worte. Victor kann sich eine Freundschaft mit ihm vorstellen und will ihn zu seinem Geburtstag einladen. Doch ehe es dazu kommt, begeht Mathieu Selbstmord, indem er in der Schule über ein Geländer in die Tiefe springt. Der berüchtigte Französischlehrer Clauzet hat ihn einmal zu oft gedemütigt. Dieses Ereignis verändert Victors Leben vollkommen. Auf einmal gilt er als der Freund des Opfers und wird sichtbar und beliebt. Die anderen suchen den Kontakt zu ihm, Mädchen interessieren sich für ihn, und der Star des Jahrgangs, der homosexuelle Paul, freundet sich mit ihm an, lädt ihn sogar zu sich nach Hause in die riesige Wohnung mit Blick auf den Jardin du Luxembourg ein. Victor, der außerhalb in einer Unterkunft für Studenten in Nanterre wohnt, lernt eine neue Welt kennen, hat plötzlich ein soziales Leben. Er ist sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er von Mathieus Tod profitiert. Durch die vielen Ablenkungen werden seine Leistungen schlechter, so dass er keine Aussichten auf Bestehen des Concours hat. In dieser Zeit lernt er Patrick Lestaing, Mathieus Vater kennen. Victor und Patrick Lestaing kommen sich immer näher und werden zu einem Ersatzvater und Ersatzsohn, was ihnen hilft, mit dem Verlust fertig zu werden. Victor hat inzwischen beschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen, sich zu entziehen, weil er empört ist über den Umgang der Schule mit dem Selbstmord: Nichts hat sich geändert, nicht am gnadenlosen Wettbewerb und auch nicht im Umgang der Lehrer mit ihren Schülern.
Am Beispiel von Victor und Mathieu zeigt Blondel exemplarisch, was es für junge Menschen bedeutet, ihr Milieu zu verlassen und mit Entwurzelung und Ausgrenzung zurecht zu kommen. Er behandelt dabei Themen wie Freundschaft, familiäre Beziehungen und den Konkurrenzkampf unter den Schülern. Der Autor hat diesen Roman im Alter von 50 Jahren veröffentlicht. Bei einer Präsentation seines Buches ließ er durchblicken, dass diese Geschichte autobiografische Züge hat, dass er sie sein ganzes Leben hat aufschreiben wollen. Nach eigener Aussage weckt ihn der bewusste Schrei, der im Roman mehrfach erwähnt wird, noch immer regelmäßig.
Mir hat “Ein Winter in Paris“ sehr gut gefallen – genauso gut wie “Et rester vivant“ und “06h41“.

Bewertung vom 14.09.2018
Königskinder
Capus, Alex

Königskinder


sehr gut

Die lange der Geschichte(n)
Max und Tina befinden sich mit dem Auto auf dem Heimweg in den Schweizer Bergen. Als sie einen gesperrten Alpenpass im Greyerzer Land befahren, kommen sie im Schneesturm von der Straße ab und bleiben im Graben liegen. Sie müssen die Nacht im Auto verbringen und auf die Schneefräse warten. Um sich die Zeit zu verkürzen, erzählt Max Tina eine wahre Geschichte, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zugetragen hat. Jakob Boschung, ein früh zur Vollwaise gewordener armer Hirte, hütet im Sommer hoch oben auf dem Berg die Kühe der Bauern aus der Ebene. Eines Tages begegnet er Marie, der Tochter eines reichen Bauern, und sie verlieben sich ineinander Der Bauer duldet diese Beziehung nicht. Der chancenlose Jakob verpflichtet sich für mehrere Jahre als Soldat. Marie wartet auf ihn. Dann muss er nach Versailles gehen und sich um die Kühe von Prinzessin Elisabeth, der Schwester von Ludwig XVI. auf ihrem Bauernhof in der Nähe des Schlosses kümmern. Als die Prinzessin von den getrennten Liebenden erfährt, spannt sie ihren Bruder ein und nutzt diplomatische Wege, um Jakob nach Versailles zu holen. Endlich sind die Liebenden wieder vereint. Ihr ungetrübtes Glück dauert jedoch nicht lange, denn die Französische Revolution bricht aus.
Capus erzählt eine berührende Geschichte von einer großen Liebe, die alle Widerstände überwindet und lange Jahre der Trennung überdauert. Max und Tina diskutieren und streiten, wie sie das immer tun, obwohl sie sich lieben und in den wirklich wichtigen Dingen übereinstimmen. Tina protestiert, wenn die Geschichte ihrer Meinung nach kitschig oder unglaubwürdig zu werden droht. Max verteidigt seine Version. Das Ganze wird mit viel Humor und Wortwitz erzählt. Capus´ Roman ist kurz, aber kein Leichtgewicht. Die gewählte Struktur ist raffiniert – eine Geschichte in der Geschichte – und sprachlich virtuos, manchmal drastisch; "… quer durch den Wald an urinierenden, defäkierenden und kopulierenden Hochadligen vorbei,…“ (S. 112). Den französischen Hof beschreibt er so: “…, überall diese parfümierten und gepuderten Hofschranzen, diese Gecken und Speichellecker mit ihren Hintergedanken, (…), rund um die Uhr wimmelt es im Schloss von müßiggängerischen, nichtsnutzigen Claqueuren, überall unterwürfige Lakaien, selbstgefällige Galane, läufige Hunde und kaltgeile Kokotten, an jeder Ecke lauern geschminkte und parfümierte Blutsauger und Lustknaben, nirgends ist man sicher vor dem hündischen Gehechel der Schmarotzer, dem Gewinsel der Intriganten, dem schwanzwedelnden Kratzbuckeln der Parasiten und Manipulateure und ihrem falschen Gesäusel, ihrer devoten Knickserei -…“ (S. 73). So ein Satz nimmt schon mal eine ganze Seite ein.
Ich habe den Roman gern gelesen und bleibe weiterhin ein Fan von Alex Capus.

Bewertung vom 14.09.2018
Das rote Adressbuch
Lundberg, Sofia

Das rote Adressbuch


ausgezeichnet

Haben wir am Ende genug geliebt?
Im Mittelpunkt von Sofia Lundbergs Roman “Das rote Adressbuch“ steht Doris, inzwischen 96 Jahre alt und auf fremde Hilfe angewiesen. Eine Pflegerin hat ihr den Umgang mit dem Laptop gezeigt. So kann sie mit ihrer geliebten Großnichte Jenny in den USA einmal wöchentlich skypen. Jenny ist ihre einzige noch lebende Verwandte. Von daher ist ihr der Kontakt zu ihr und den Kindern besonders wichtig. Doris´ liebster Besitz ist ihr rotes Adressbuch, das ihr Vater ihr zum 10. Geburtstag geschenkt hat. Hier stehen die Namen all der Menschen, die in ihrem Leben von Bedeutung waren, nicht alle jedoch liebenswert und geliebt. Inzwischen sind sie fast alle tot. Doris weiß, dass ihre Tage gezählt sind und schreibt die Geschichte(n) ihres ereignisreichen Lebens anhand dieser Namensliste auf. Daraus entsteht das Porträt einer langen, teilweise gefährlichen Reise durch Länder und Kontinente. Doris beschreibt ein Leben mit Höhen und Tiefen, wobei ihre glamouröseste Zeit sicher die als blutjunges Mannequin in Paris war, bis der Zweite Weltkrieg ihre Karriere beendete und sie zugleich von der Liebe ihres Lebens trennte, dem Halbamerikaner Allan Smith.
Der herzerwärmende Roman ist eine Geschichte von Liebe und Verlust, ein Plädoyer für die Liebe, die alle Katastrophen überdauert. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen. Da ist einmal die überwiegend chronologische Erzählung von Ereignissen anhand der beteiligten Personen, zum anderen in der Erzählgegenwart Doris´ aktuelle Situation, wenn sie mit Blick auf das nahende Ende Begebenheiten rekapituliert. Doris erlebt sehr traurige Dinge in ihrem langen Leben, aber ihre Großnichte Jenny beweist ihr auf anrührende Weise ihre Liebe und macht ihr am Ende ein überraschendes Geschenk. Ich habe den auch sprachlich überzeugenden Roman sehr gern gelesen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.09.2018
Loyalitäten
Vigan, Delphine

Loyalitäten


ausgezeichnet

Nicht wegschauen, handeln
Im Mittelpunkt von Delphine de Vigans neuem Roman “Loyalitäten“ stehen die zwölfjährigen Jungen Théo Lubin und Mathis Guillaume, ihre Eltern sowie ihre Lehrerin Hélène. Théos Eltern sind geschieden und erbitterte Feinde. Der Junge lebt im wöchentlichen Wechsel bei Vater und Mutter und wird zwischen beiden aufgerieben. Théo darf über den jeweils anderen nicht sprechen. Dabei ist der desolate Zustand seines Vaters, eines arbeitslosen Alkoholikers und Tablettensüchtigen, der unter Depressionen leidet und in seiner vermüllten Wohnung kaum noch das Bett verlässt, für den Jungen eine schwere Bürde. Théo verschafft sich täglich durch größere Mengen hochprozentigen Alkohols Erleichterung. Sein Freund Mathis trinkt aus Solidarität zunächst mit. Nur Hélène, die Lehrerin der Jungen, spürt aufgrund ihrer eigenen traumatischen Kindheitserfahrungen, dass mit Théo etwas nicht stimmt. Sie versucht, ihre Kollegen zu sensibilisieren und an die Eltern heran zu kommen – vergeblich. Weil sie sich bei ihren Bemühungen zu helfen zu weit aus dem Fenster lehnt, bringt sie sich selbst in Schwierigkeiten. Cécile, die Mutter von Mathis, bemerkt aufgrund einschlägiger Erfahrungen den Alkoholkonsum ihres Sohnes, ist aber in ihrer kriselnden Ehe zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt. Sie ist im Computer auf eine bisher unbekannte verabscheuungswürdige Seite ihres Mannes gestoßen. Die Lage spitzt sich immer mehr zu. Nur Mathis weiß Bescheid und muss sich entscheiden, was genau in dieser Situation Loyalität bedeutet: Hilfe suchen oder schweigen.
Die Geschichte wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt: Théo und Mathis, Cécile und Hélène, wobei die beiden Frauen als Ich-Erzählerinnen fungieren. Dadurch wird sehr deutlich, dass alle vier beschädigte Persönlichkeiten sind. Der Roman enthält eine gute Portion Gesellschaftskritik. In einer Zeit, in der Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholismus, das Zerbrechen von Familien, Gewalt und Missbrauch verbreitete gesellschaftliche Probleme sind, darf niemand wegschauen. Die Autorin stellt überzeugend dar, welche Verheerungen diese Missstände bei Kindern und Jugendlichen anrichten. Für die Autorin heißt sich loyal verhalten aktiv werden, sich kümmern. Der kurze Roman, den ich keineswegs schwächer finde als die Vorgänger, bringt den Leser zum Nachdenken – nicht zuletzt durch sein offenes Ende. Gibt es eine Rettung für Théo? In meinen Augen bestätigt die Autorin ihren Ruf als eine der wichtigsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur.