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Aischa

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Insgesamt 548 Bewertungen
Bewertung vom 01.06.2021
Taiwan - Eine politische Satire
Pei, Lao

Taiwan - Eine politische Satire


sehr gut

Selbst für eingefleischte Comic-Liebhaber dürfte diese deutsch-chinesische Sammlung ausgewählter Bildgeschichten des taiwanesischen Bloggers Lao Pei abseits des Mainstreams liegen. Wobei Lao Pei ein Pseudonym ist, seine wahre Identität hält der Regimekritiker geheim.

Die 51 Cartoons erlauben einen Blick über den europäischen Tellerrand. Die Stips thematisieren zum großen Teil die Politik der Republic of China / R.O.C. (so die offizielle Bezeichnung Taiwans), die angespannte Beziehung zur Volksrepublik China sowie verschiedene Territorialkonflikte Südostasiens.

Der Zeichenstil ist einfach und plakativ, die Nationalstaaten und die beiden großen, konkurrierenden Parteien Taiwans sind durch witzige, charakteristische Figuren dargestellt, deren Entwicklung der Autor im Anhang kurz erläutert.

Übersetzer Marc Herman hat für den deutschsprachigen Leser erfreulicherweise einige hilfreiche Anmerkungen zu Politik, Geschichte und Kultur Taiwans eingefügt. Für mich waren diese leider zu wenig bzw. zu knapp, einige Comics habe ich leider erst nach eigener Recherche oder auch gar nicht verstanden.

Ein Pluspunkt für alle, die auf unterhaltsame Weise ihr Chinesisch verbessern wollen, ist eine umfangreiche online Vokabelliste, auf die im Buch verlinkt wird.

Ich habe durch kurzweilige Lektüre sehr viel über Taiwan gelernt, auch wenn die ein oder andere Geschichte unverständlich war. Ein wenig überrascht hat mich, wie "Festland-China-freundlich" der Autor ist. In Zusammenhang mit seiner geheimen Identität bleibt für mich ein leicht seltsamer Nachgeschmack ...

Bewertung vom 31.05.2021
Brot backen mit den Jahreszeiten
Loidl, Matthias

Brot backen mit den Jahreszeiten


sehr gut

Das Deutsche Brotregister verzeichnet aktuell über 3.200 unterschiedliche Brotspezialiäten. Braucht es also wirklich ein weiteres Brotbackbuch im Land der Brotweltmeister?

Nun, Matthias Loidl hätte den bekannten Brotsorten vermutlich noch einige hinzuzufügen, in jedem Fall bietet er besondere Spezialiäten zum nachbacken an. Sein Brotbackbuch enthält mehr als 80 Rezepte, die nach den Jahreszeiten gegliedert sind. Denn für die Backwaren benötigt man außer den Grundzutaten auch noch frisches Gemüse, Obst oder Kräuter, die man selbst anbauen oder in der Natur sammeln kann.

Optisch ist das Buch definitiv ein Hochgenuss. Die ganzseitigen Farbfotos, die jedes Rezept illustrieren, sind modern und ästhetisch, und man möchte beim Betrachten am liebsten sofort mit dem Backen loslegen. Weitere Pluspunkte sind die kurzen Hintergrundinfos, die jedem Rezept vorangestellt sind, sowie auf einen Blick erkennbare Variationen, Tipps und Hinweise.

Doch wenn ein Backbuch nicht als reines Coffee Table Book gekauft wird, kommt es natürlich nicht nur auf die Optik, sondern vor allem auf das Gelingen der Rezepte an. Nachdem ich mehrere Brote selbst gebacken habe, kann ich feststellen, dass dies definitiv kein Buch für Anfänger ist. Zum einen erläutert Loidl einige Fachbegriffe nicht oder nur sehr spärlich. Wie schwadet man einen Backofen ohne Dampffunktion? Wie stellt man selbst Sauerteig her? Die Antworten auf diese und weitere Fragen muss man leider selbst recherchieren.

Die Rezepte selbst sind auf den ersten Blick sehr klar und übersichtlich gegliedert, Zubereitungs-, Arbeits-, Gar- und Backzeiten sind extra ausgewiesen. Da sich die meisten Zubereitungen aber über zwei, machen sogar über drei Tage erstrecken, muss man sich jedoch selbst einen genauen Zeitplan machen, um nicht mitten in der Nacht oder werktags im Büro einen Arbeitsschritt zu verpassen.

Auch hätte ich mir genauere Angaben zu den erforderlichen Gerätschaften gewünscht. Offenbar geht der Autor davon aus, dass jeder Hobbybäcker eine Teigknetmaschine hat oder zumindest eine hochwertige Küchenmaschine. Mangels beidem kam mein Handrührgerät schnell an seine Leistungsgrenze und ich beim Kneten der schweren, zähen Teige mit der Hand gehörig ins Schwitzen.

Matthias Loidl ist eigentlich Antiquar, als Bäcker also Quereinsteiger. Durch seine jahrelange Brotbackleidenschaft hat er es jedoch als einer von wenigen Autodidakten zum Bäckermeister geschafft. Diese Leidenschaft äußert sich auch in den wirklich kreativen Brotkreationen. Hier finden sich sehr originelle, eigenständige Rezepte, die ich in dieser Form noch nicht kannte: Rhabarberbrötchen, Holunder- oder Lindenblütenbrot, Maiwipferl- oder Topinamburbrot. Die Rubrik "Fingerfood" bietet kulinarische Leckereien für Buffet oder Grillparty, z.B. gefüllte Kartoffelbrotrollen, Spargelknusperstangen oder Dachziegelbrot. Sehr schön sind auch Brote, die außergewöhnlich verziert werden, durch Blüten oder feine Reliefs, und die sich dadurch besonders als Geschenk eignen.

Loidl beschreibt auch, wie man die (teils ungewöhnlichen) Zutaten selbst herstellen kann. Ob dies jedoch den manchmal immensen Aufwand rechtfertigt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Interessant ist es allemal, wie man selbst Birkensaft abzapft, Löwenzahnsud herstellt oder wie aus grünen Walnüssen nach sechs Monaten Reifung "schwarze Nüsse" werden.

Fazit: Ein Potpourri kreativer Backrezepte, die mit saisonalen und (weitgehend) regionalen Zutaten hergestellt werden können. Meine Empfehlung für Brotliebhaber und erfahrene Hobbybäcker, die auch einen größeren Aufwand nicht scheuen.

Bewertung vom 19.05.2021
Die Farbe des Vergessens
Resch, Ina

Die Farbe des Vergessens


ausgezeichnet

Bereits die erste Szene macht es deutlich: Dieser Thriller ist definitiv nichts für Zartbesaitete. Schonungslos detailliert schildert Autorin Ina Resch die medizinische Sektion einer Leiche. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, den erwartet ein großartiger Thriller, bei dem der Spannungsbogen bis zum Ende extrem hoch bleibt. Auf blutrünstige Schilderungen wird dabei - vom Anfang abgesehen - verzichtet. Der Suspense entsteht vielmehr dadurch, dass der Leser lange Zeit nicht weiß, was an den fragmentarischen Erinnerungen der Protagonistin real und was eingebildet ist. Zahlreiche überraschende Wendungen im Fortgang der Handlung tun ihr Übriges - ich konnte den Roman im wahrsten Sinn des Wortes kaum zur Seite legen.

Hervorragend gelungen sind auch sämtliche Figuren. Egal ob sie eine tragende Rolle in der Geschichte spielen oder nur in wenigen Szenen vorkommen, alle sind so geschickt geschildert, dass sie glaubhaft agieren. Auch beim Setting stimmt einfach alles, ob Münchner Straßenzüge und markante Gebäude oder die lokale Drogenszene, hier wurde bestens recherchiert, und ich mag den Lokalkolorit, der durch solche Details entsteht. Apropos "Lokalkolorit": Dieser ist keineswegs auf Münchnerisches beschränkt, denn die Autorin lässt eine Nebenfigur authentisch berlinern, und auch in die Kultur einer türkischen Einwandererfamilie gewährt die Geschichte Einblick.

Ina Resch ist ein Roman über menschliche Abgründe gelungen, über Schicksale, an denen viele zerbrechen. Aber eben nicht alle, und so ist es auch eine Geschichte, die hoffen lässt. Schwere Kost, die lange nachhallt, eine wirklich empfehlenswerte Lektüre.

Bewertung vom 19.05.2021
Ich liebe unendlich Gesellschaft
Nolte, Dorothee

Ich liebe unendlich Gesellschaft


ausgezeichnet

Bereits das Vorwort macht neugierig und weckt große Erwartungen, zietiert Autorin Dorothee Nolte doch gleich anfangs den Dichter Heinrich Heine mit seinem Urteil, Rahel Varnhagen sei "die geistreichste Frau des Universums".

Nolte zeichnet ein anschauliches Bild Rahels, angefangen von ihrer schweren Kindheit, in der sie als Tochter eines reichen jüdischen Juwelenhändlers zwar keine materielle Not kannte, aber enorm unter dem cholerischen Vater litt. Kurz und prägnant - das ganze Büchlein umfasst gerade einmal gut 120 Seiten - skizziert Nolte, in welchem Umfeld Rahel aufwächst. Dabei fokussiert sie sich nicht nur auf Privates, sondern man erfährt als Leser auch einiges über das Berlin im ausgehenden 18. Jahrhundert. Man begleitet Rahel durch ihr abwechslungsreiches Leben mit vielen Höhen und Tiefen, mit reichlich Verliebtheiten und Liebesbeziehungen bis zur späten Heirat mit einem deutlich jüngeren Mann und ihrem frühen Tod mit nur 61 Jahren.

Rahel schart berühmte Zeitgenossen um sich, Alexander und Wilhelm von Humboldt, Fürst Pückler oder die Familie Mendelssohn Bartholdy gehen bei ihren Gesellschaften ein und aus. Ihr scharfer Verstand wird dabei allseits geschätzt - ihre ebenso scharfe Zunge stößt hingegen so manchen vor den Kopf. Dies nimmt Rahel jedoch in Kauf, stellt sie doch das Ringen um Wahrheit über alles. Und so wählt sie ihre Diskussionspartner denn auch in erster Linie danach aus, wer sie als Mensch interessiert, unabhängig davon, welchem Stand oder welcher Religion er oder sie angehört.

Über 6.000 Briefe und zahlreiche Tagebücher sind von Rahel erhalten. Sie wollte sie noch zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wissen. Dies ist bemerkenswert, galten diese damals einzig mögliche Ausdrucksformen für eine Frau doch als minderwertige Literatur. Die Anerkennung von Rahels literarischem Nachlass als Werk hat daher zweifellos Bedeutung für die Emanzipation der Frau.

Das schmale Büchlein ist sehr liebevoll gestaltet. Die kurzen Kapitel sind mit originellen, treffenden Überschriften versehen und analog zu Rahels Lebensabschnitten in größere Segmente unterteilt. Deren Titel sind, ebenso wie der Untertitel auf dem Cover, in eine altertümlich anmutende Schreibschrift gesetzt - ein wunderschöner Bezug zu den handschiftlichen Hinterlassenschaften Varnhagens.

Eine Zeittafel, Literaturtipps und ein Lesebändchen runden die hübsche Ausstattung ab. Eine rundum gelungene Kurzbiografie; lediglich Rahels scharfer Verstand trat für mich nicht wirklich hervor, dazu hätte ich mir ein paar Beispiele gewünscht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.05.2021
Deine fabelhaften Kräuter
Breithuber, Andrea

Deine fabelhaften Kräuter


ausgezeichnet

Die Leidenschaft Andrea Breithubers fürs Kräutergärtnern ist in diesem umfangreichen Ratgeber auf jeder Seite spürbar und extrem ansteckend.

In 47 detaillierten Porträts werden die schmackhaften und gesunden Pflanzen vorgestellt. Man erfährt, ob das Kraut ein- oder mehrjährig ist, wie es am besten angebaut und vermehrt wird, oder auch welches Grünzeug sich für eine Bienenweide eignet. Die Autorin stellt außergewöhnliche Kräuter vor, wie die exotische Agastache, nordamerikanisches Oswegokraut oder chinesisches Jiagulan. Aber auch bei heimischen Kräutern gibt es noch etwas zu entdecken, etwa wenn Estragon statt des üblichen Basilikums als Würze für Tomatensalat empfohlen wird.

Überhaupt wartet das Buch mit erfreulich vielen Überraschungen und Innovationen auf: ob Kräuteryoga für die aromatische Entspannung, Kräutergrußkarten oder Würzbuschel als individuelle Geschenke oder das ubekannte Oxymel, ein Stärkungsmittel aus Kräutern, Honig und Essig - dieser Ratgeber ist eine wahre Fundgrube für Kräuterliebhaber (und alle, die es werden wollen)!

Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Gestaltung sind hervorragend gelungen. Besonders angetan haben es mir neben den wunderschönen Fotos die farbenfrohen Illustrationen von Ruth Veres. Ihre Figuren zeigen nicht nur die immer noch viel zu häufigen klischeehaften blauäugigen Magerblondinen, sondern sind so bunt und vielfältig wie unsere Gesellschaft. Da gibt es mollige Frauen im Bikini, rollstuhlfahrende Gärtner, Menschen verschiedenster Hautfarben und Altersklassen, mit krausem Haar oder Kopftuch.

Die Sprache ist modern, jung und frech, ebenso wie das Layout. Ein Glossar mit Fachbegriffen, weiterführende Web-Links und Bezugsquellen sowie last but not least ein DIN A3-formatiger Anbaukalender zum Aufhängen runden dieses hochwertige Hardcover ab. Besonderes Lob gebührt dem Verlag dafür, dass er all seine Bücher cradle-to-cradle produziert, also nach höchsten ökologischen Standards. (Grüne) Daumen hoch, ich bin verliebt in diesen Ratgeber!

Bewertung vom 04.05.2021
Geheimnisvolle Weiten
Brezina, Otokar

Geheimnisvolle Weiten


gut

Der tschechische Dichter Otokar Březina wurde von seinen Anhängern stolze acht Mal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen; mir war er jedoch bis zur Lektüre dieses Buches gänzlich unbekannt. Seine erste Gedichtsammlung, "Geheimnisvolle Weiten", ist im Ketos-Verlag in zweisprachiger Ausgabe erschienen, im tschechischen Original und von Ondřej Cikán ins Deutsche übertragen.

Cikán legt bei seiner Arbeit als Übersetzer besonderen Wert darauf, sowohl die Bedeutung als auch die Form der Gedichte möglichst gut zu erhalten. Besonders schade ist daher, dass beim Layout nicht mehr Sorgfalt an den Tag gelegt wurde: Manchmal reicht die Schrift bis auf wenige Millimeter an den Seitenrand, dies sieht nicht schön aus. Gerade bei Gedichten ist mir auch die Ästhetik wichtig, in der die Zeilen präsentiert werden.

Ich habe die Verse still gelesen und teils auch laut rezitiert, wobei der Klang der Worte durchaus einen gewissen Zauber entfaltet. Dennoch mochte ich die Lektüre nicht wirklich. Zu düster ist mir Březinas Gedankenwelt, zu schwermütig und kalt wirken seine Worte. Er spricht vom Mysterium des Verderbens, schildert blutverfärbte Blätter und die Gram kommender Zeiten. Zwar kommen neben all der Finsternis und Schwere auch Wehmut und Hoffnung vor, aber für meinen Geschmack ist die Grundstimmung der Zeilen zu negativ. Die Sprache schreckt mich zu sehr, um den Wunsch in mir zu wecken, mich intensiver mit Březinas Gedichten zu beschäftigen.

Lobend erwähnen möchte ich neben dem ausführlichen Nachwort insbesondere die Holzschnitte von Christian Thanhäuser. Mal wie ein Vexierbild, mal schemenhafte Struktur, lafen sie den Betrachter zum Träumen ein. Ich konnte in den Bildern viel Poesie entdecken, sie haben mich mehr angezogen als die (für mich) zu düstere Sprache Březinas.

Bewertung vom 15.04.2021
Die Abenteuer des Miguel Littin
García Márquez, Gabriel

Die Abenteuer des Miguel Littin


ausgezeichnet

Der chilenische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez ist hierzulande vor allem als großartiger Romancier bekannt. Dass er auch als Journalist Brilliantes leistete, zeigt diese Reportage.

Sie beruht auf Tonbandprotokollen eines mehrtägigen Interviews, das Márquez mit dem chilenischen Regisseur Miguel Littín führte. Littín musste nach dem Militärputsch Pinochets ins Exil gehen. Nach zwölf Jahren reiste er unter falscher Identität wieder in sein Heimatland, im Gepäck einen wahnwitzigen und dennoch meisterhaften Plan: Als Aufnahmen für einen Werbefilm getarnt dreht er mit Unterstützung dreier internationaler und einiger lokaler Kamerateams sechs Wochen lang die Zustände in Chile nach jahrelanger Unterdrückung durch die Militärjunta. Heraus kamen 32.000 Meter Film, die als Dokumentation "Acta General de Chile" für reichlich internationales Aufsehen sorgte.

Littín schildert im Gespräch mit Márquez detailliert, wie es ihm gelang, den Staatsapparat an der Nase herum zu führen und der Überwachung durch die Geheimpolizei zu entgehen. Márquez hat das Protokoll des Filmdrehs stark gekürzt, dabei aber noch ausreichend berührende, skurrile, beängstigende oder lustige Begebenheiten behalten.

Herausgekommen ist eine ganz besondere "Geschichtsstunde", die unter die Haut geht. Man schaudert vor den Risiken, die alle Beteiligten eingingen, und man spürt die grenzenlose Liebe Littíns zu seinem Land.

Ich ziehe meinen Hut - vor der journalistischen Leistung Márquez`, und noch viel mehr vor der Leistung des Filmemachers Littín und seinen Unterstützern, die sprichwörtlich Kopf und Kragen für einen Dokumentarfilm riskiert haben.

Bewertung vom 15.04.2021
Als wir uns die Welt versprachen
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


sehr gut

Selten hat sich meine Wahrnehmung eines Romans während der Lektüre so verändert wie bei diesem. Romina Casagrande ist mit "Als wir uns die Welt versprachen" ein Bestseller über das jahrhundertelange Martyrium der sogenannten Schwabenkinder gelungen.

Die Jungen und Mädchen stammten aus bettelarmen Bauersfamilien in Tirol, Vorarlberg oder der Schweiz und zogen über die Alpen, um als ausgebeutete Saisonarbeiter auf schwäbischen Höfen zu schuften. Ich hatte bereits vom Schicksal der Schwabenkinder gehört. Mit großem Interesse verschlang ich daher die ersten Kapitel des Romans - und war zunächst ziemlich enttäuscht.

Casagrande fügt häufig gedankliche Einschübe der Protagonistin in Klammern ein. Dies soll wohl witzig wirken, mich nervte es einfach. Es gibt zwei Erzählstränge, einen in der Gegenwart und einen, der in der Kindheit der Hauptfigur spielt. Während letzterer sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnte, ist die Handlung des Gegenwartsstrangs nicht unbedingt realistisch: Eine hochbetagte, leicht demente Seniorin macht sich zu Fuß auf, um in mehreren Tagen die Alpen zu überqueren, Übernachtungen im Freien und einen Papagei, den sie im Transportkäfig hinter sich herzieht inklusive ...? Das war mir dann doch zu realitätsfern. Ganz zu schweigen von all den skurrilen Begegnungen und schrägen Abenteuern, die dieser Roadtrip über die Berggipfel umfasst.

Doch irgendwann verabschiedete ich mich von der Idee, dass Casagrande hier etwas erzählte, was so stattgefunden haben könnte. Ich entschloss mich vielmehr, die Geschichte als Allegorie unbändiger Willenskraft zu lesen, als eine Art modernes Märchen, vermischt mit Teilen eines Historienromans. Und mit dieser Interpretation konnte ich mich auf die Erzählung einlassen; plötzlich wurde ich berührt, konnte schmunzeln, musste lachen.

Fazit: Ein lesenswertes Buch, nicht nur, aber auch um das Andenken an die Schicksale der Schwabenkinder zu bewahren.

Bewertung vom 13.04.2021
Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5
Atkinson, Kate

Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5


ausgezeichnet

Mit "Weiter Himmel" legt Kate Atkinson den fünften Band um Privatermittler und Ex-Polizisten Jackson Brodie vor.

Für mich war es der Einstieg in die Reihe, dennoch wurde ich schnell mit den Figuren vertraut. Atkinsons Stil ist ungewöhnlich. Sie transportiert viele Informationen über innere Monologe, was für mich eine willkommene Abwechslung zum leider weit verbreiteten Infodumping ist. Manche Szenen werden zweifach geschildert, aus unterschiedlichen Erzählperspektiven. Dadurch wird man als Leser gefordert, aber auch durch neue Einsichten belohnt. Besonders unterhalten haben mich die zahlreichen Zitate und Anspielungen, auch wenn ich sicher als Deutsche nicht alle sprachlichen Finessen verstanden habe.

Jedenfalls blitzen die umfangreiche Bildung und der Witz der Autorin immer wieder auf, und so ist trotz des deprimierenden Themas gute Unterhaltung garantiert.

Der Plot ist spannend, wenngleich der Suspense weniger durch das vor allem in der ersten Hälfte eher gemächliche Handlungstempo als vielmehr dadurch, dass Atkinson schonungslos aufzeigt, welche moralischen Abgründe sich hinter vielen bürgerlichen Fassaden verbergen.

Fazit: Ein ungewöhnlicher Krimi, sehr humorvoll und intelligent geschrieben.

Bewertung vom 06.04.2021
Krone der Welt
Weiß, Sabine

Krone der Welt


sehr gut

Der neueste Historienroman von Erfolgsautorin Sabine Weiß entführt den Leser ins Amsterdam des 16. Jahrhunderts. Die studierte Historikerin hat beeindruckende Recherchearbeit geleistet, die sich in zahlreichen liebevollen Details der Geschichte zeigt, vor allem bei der Beschreibung der Stadtentwicklung der heutigen niederländischen Metropole.

Eine große Stärke des Romans liegt zudem in der Herausbildung der Protagonisten, dreier charakterlich sehr verschiedener Geschwister. Weiß zeichnet ihre Figuren facettenreich und glaubwürdig, selbst der Bösewicht ist nicht nur einfach fies, sonder ein Blick in seine Herkunft gibt eine Ahnung davon, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist.

Die Story ist sehr informativ, aber auch anspruchsvoll, und ehrlich gesagt war ich bisweilen etwas überfordert, gerade wenn es um politische Irren und Wirren ging. Hier hätte mir eine Zeittafel mit den wichtigsten historischen Ereignissen hilfreiche Dienste geleistet.

Ansonsten ist das Paperback umfangreich ausgestattet: Ein Personenverzeichnis fehlt genauso wenig wie historische Karten und ein Glossar. Die großzügige Verwendung niederländischer Begriffe gibt dem Text zwar eine authentische Note, ist mir aber etwas zu ausufernd geraten. Ich musste extrem viel zwischen Text und Glossar hin und her blättern; Fußnoten wären hier die elegantere Lösung gewesen und hätten den Lesefluss nicht so sehr gestört.

Auch inhaltlich ist die Autorin etwas über das Ziel hinausgeschossen. Der Roman wirkte auf mich an einigen Stellen überfrachtet, es gab einfach zu viele Nebenschauplätze. Eine Konzentration auf die Hauptthemen Glaubenskriege, wirtschaftliche Konflikte und die Stadtentwicklung Amsterdams hätte der Geschichte gut getan.

Dennoch bleibt ein hervorragend recherchierter, mitreißend und detailreich erzählter Historienroman, den ich sehr gern gelesen habe. Übrigens: Auf der Homepage der Autorin finden sich interessante Zusatzinformationen wie etwa zu Amsterdams Grachten, Geheimkirchen oder Waisenhäusern.