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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 11.01.2019
Der Turm der blauen Pferde / Kunstdetektei von Schleewitz Bd.1
Jaumann, Bernhard

Der Turm der blauen Pferde / Kunstdetektei von Schleewitz Bd.1


weniger gut

Im gleichnamigen Buch des mit dem Friedrich-Glauser- und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Kriminalschriftstellers Bernhard Jaumann (61) geht es natürlich um das weltbekannte Gemälde „Der Turm der blauen Pferde“ des Expressionisten Franz Marc (1880-1916), das seit 1945 verschollen und wohl für immer verloren ist. Eingebettet in eine locker geschriebene Handlung um den möglichen Verbleib dieses Kunstwerks, aufbauend auf historischen Fakten, ist Jaumanns Krimi zugleich eine kritische, zumindest augenzwinkernde Auseinandersetzung mit der Kunst im Allgemeinen und deren kommerzieller Vermarktung, die – so verstehe ich das im Januar beim Berliner Verlag Galiani veröffentlichte Taschenbuch – in ungerechtfertigter Weise zu überzogenen Spitzenpreisen einzelner Meisterwerke führt.
Die kleine Münchner Kunstdetektei des Rupert von Schleewitz bekommt den Auftrag, die Herkunftsgeschichte des seit Kriegsende verschollenen und nun plötzlich im Besitz eines reichen Industriellen aufgetauchten Gemäldes herauszufinden. Man weiß, dass es 1913 gemalt wurde, aus der bekannten Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 entfernt wurde und mit anderen Gemälden in den Besitz Hermann Görings kam. Nach Kriegsende soll es 1945 und auch noch drei Jahre später in Berlin gesichtet worden sein. Doch dies und alles weitere ist reine Spekulation. Bis heute blieb „Der Turm der blauen Pferde“ verschollen.
Hier setzt der Autor fiktiv an und erzählt uns die weitere Geschichte des Bildes: Zwei Hitlerjungen entdecken in den letzten Kriegstagen das Gemälde in einem Zug voller Kunstschätze, der in einem Berchtesgadener Bergtunnel verborgen ist. Einer der beiden ist vom „Turm der blauen Pferde“ so fasziniert, dass er im Streit seinen Kameraden erschlägt, nur um in den Besitz des Gemäldes zu kommen. Immer wieder erfahren wir durch die in die aktuelle Handlung kapitelweise eingestreuten Rückblenden etwas mehr über den angeblichen Verbleib des Kunstwerks seit 1945. Dies alles sollen nun die vom Industriellen beauftragten Detektive herausfinden und ihm damit die Echtheit des Gemäldes garantieren, die von Kunstexperten vehement bestritten wird. Am Schluss des Romans werden sogar sieben Exemplare des Gemäldes entdeckt, eines genau so perfekt gemalt wie das andere. Welches ist nun das echte? Oder sind alle doch nur Fäschungen? Verliert das Original seinen mehrfachen Millionenwert, wenn es mehrere, täuschend echte Kopien gibt? Was macht also den Wert eines Malers und seines Gemäldes aus, wenn ein Kopist doch genau so gut malt?
„Der Turm der blauen Pferde“ ist ein unterhaltsamer, wenn auch stellenweise ziemlich alberner Krimi. Die Idee einer spannenden Geschichte aus der Welt der Kunst wäre tatsächlich ein seltener und deshalb interessanter Ansatz für einen Kriminalroman, weshalb ich mich auch für diese Neuerscheinung entschieden hatte. Doch leider ist hier die Handlung wild konstruiert und stark überzeichnet. Jaumanns Protagonisten sind allzu klischeehaft und oberflächlich wie Comicfiguren. Viele Buchseiten behandeln die reale Historie des berühmten Gemäldes, erscheinen in ihrer Sachlichkeit aber fast aus Wikipedia abgeschrieben, was zu einem stilistischen Bruch im Roman führt. Amüsant zu lesen, ist allerdings Jaumanns kritische Betrachtung der Kunstszene und der für Laien unerklärlichen Wertangaben mancher Kunstwerke. Beim Lesen solcher Passagen fällt einem die bekannte Frage ein: „Ist das Kunst? Oder kann das weg?“ Gleiches muss man sich leider auch bei Jaumanns Buch fragen. „Der Turm der blauen Pferde“ war mein erster Krimi von ihm und Band 1 seiner neuen Krimireihe um die kleine Münchner Kunstdetektei. Weitere Bände sollen also folgen? Seinen Auszeichnungen nach zu urteilen, muss Jaumann schon bessere Krimis geschrieben haben.

Bewertung vom 08.01.2019
Aurora Floyd
Braddon, Mary E.

Aurora Floyd


sehr gut

Die norddeutsche Publizistin und Journalistin Anja Marschall (52) schreibt zwar selbst seit einigen Jahren historische Kriminalromane, doch diesmal geht es nicht um sie als Autorin, sondern als Übersetzerin. Marschall nennt sich selbst eine „bekennenden Anglophile“ mit Begeisterung für das 19. Jahrhundert und widmet sich seit Jahren dem Leben der englischen Schriftstellerin Elizabeth Maria Braddon (1837-1915) und deren viktorianischen Krimis. Braddon war eine der populärsten Schriftstellerinnen des viktorianischen England und gilt als „Erfinderin des Ermittlerkrimis“, einst hochgelobt von Kollegen wie Charles Dickens und Thomas Hardy. Sie schrieb über 80 Romane, in denen sie unerschrocken damals heikle Themen wie Bigamie, Ehebruch oder Abtreibung in ihre Romane aufnahm. Nach Anja Marschalls 2013 veröffentlichter Neuübersetzung des Braddon-Krimis „Das Geheimnis der Lady Audley“ von 1862, der vor 150 Jahren ein einziges Mal auf Deutsch übersetzt wurde, erschien im November im Frankfurter Dryas-Verlag ihre zweite Übersetzung, der Krimi „Aurora Floyd“ (1863), den es anscheinend zuvor noch nie auf Deutsch gab.
Die junge Aurora Floyd kehrt von einer Pariser Privatschule auf den väterlichen Landsitz Felden Woods zurück. Zwar fügt sie sich sofort ins heimische Gesellschaftsleben ein, doch in Paris muss etwas geschehen sein, worüber Aurora beharrlich schweigt. Sogar ihrem Verlobten, einem ehrbaren Offizier, verweigert sie die Wahrheit, weshalb sich dieser von ihr trennt. Aurora verlobt sich ein zweites Mal und heiratet einen sorglosen, lebenslustigen und nur an Pferderennen interessierten Gutserben. Doch dann wird auf dem Gutshof die Leiche eines Mannes entdeckt. Handfeste Indizien weisen auf Aurora als mögliche Mörderin hin, doch weigert sich, mit Offenbarung ihres Geheimnisses zur eigenen Entlastung beizutragen. Dieses hartnäckige Schweigen droht nicht nur Aurora selbst, sondern sogar ihrem Ehemann und ihrem Vater zum Verhängnis zu werden.
Sicherlich wäre eine zeitgenössische Übersetzung dieses Romans für den heutigen Leser schwierig zu lesen, möglicherweise würde er die Lektüre als „verstaubt“ ablehnen. Es ist deshalb zweifellos das Verdienst der Übersetzerin Anja Marschall, mit ihrer Übertragung in unsere moderne Sprache und mit ihrer Überarbeitung dieses Romans ein zweites Werk der längst vergessenen britischen Bestseller-Autorin für uns lesbar zu machen, dabei aber in Satzbau und Wortwahl die Atmosphäre jener Zeit zu wahren. Denn natürlich ist dieser Krimi aus dem Jahr 1863 ein Spiegelbild seiner Zeit. Da gibt es die unbesorgt im Wohlstand lebende Oberschicht und das auf dem Gutshof arbeitende Proletariat der Landarabeiter und des Hauspersonals. Aber da wie dort gibt es Ängste, Hass und Missgunst und die Sehnsucht nach Glück.
Mit diesen Gefühlen spielt die viktorianische Bestseller-Autorin hervorragend, so dass ihr Roman „Aurora Floyd“ auch für uns spannend bleibt. Nur eines mag Braddons viktorianischer Krimi aus dem 19 Jahrhundert vielleicht von modernen des 21. Jahrhunderts unterscheiden: Beginnt heute fast jeder Krimi mit einem Toten und startet mit hoher Handlungsgeschwindigkeit, geht es in Braddons Roman weitaus geruhsamer zu und der Mord geschieht auch erst gegen Mitte des Buches. Dies mag auf manchen Leser anfangs vielleicht langatmig wirken. Doch Durchhalten ist empfohlen, denn Tempo und Spannung steigern sich von Kapitel zu Kapitel. In jedem Fall ist die Lektüre des Romans „Aurora Floyd“ für Krimi-Freunde ein interessantes Experiment und ein Erlebnis, zumal wir darin von den Anfängen moderner Polizeiarbeit lesen.

Bewertung vom 06.01.2019
Graue Nächte / Flovent & Thorson Bd.2
Indriðason, Arnaldur

Graue Nächte / Flovent & Thorson Bd.2


sehr gut

Auf der aktuellen Welle historischer Kriminalromane aus jüngerer Geschichte schwimmt inzwischen auch Arnaldur Indriðason (57) recht erfolgreich mit, der durch seine frühere Krimireihe um Kommissar Erlendur zu Islands führendem Bestseller-Autor wurde. Nach dem ersten Band „Der Reisende“ um den isländischen Kommissar Flóvent und seinen Kollegen, den kanadisch-amerikanischen Militärpolizisten Thorsen, die gemeinsam mörderische Kriminalfälle auf der Insel zur Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs aufzuklären haben, erschien nun im Dezember mit „Graue Nächte“ der zweite Band dieser neuen Krimireihe.
Es ist Frühling 1943 in Reykjavik, die politische Lage ist angespannt, Island ist von den Amerikanern besetzt. Am Strand nahe einer berüchtigten Soldatenkneipe wurde eine männliche Leiche, anscheinend ein junger US-Soldat, angespült. Offensichtlich wurde er ermordet. Zeitgleich müssen sich Flóvent und Thorsen, der dank seiner isländischen Abstammung die Landessprache beherrscht, in einem zweiten Fall ermitteln: Eine Frau, die sich oft und allzu leichtsinnig mit den Besatzungssoldaten amüsiert hatte, ist spurlos verschwunden.
Zwischendurch lesen wir von Geschehnissen, die sich, ohne dass dies durch konkrete Jahresangabe deutlich gemacht wird, schon zwei Jahre zuvor im Kriegswinter 1941 zugetragen haben: Auf einer von den Deutschen genehmigten Transferfahrt eines isländischen Schiffes durch den von U-Booten umkämpften Nordatlantik kehren Isländer aus dem von der Wehrmacht besetzten Dänemarkt sowie aus skandinavischen Nachbarländern in die Heimat zurück. Der Medizinstudent Osvaldur wurde allerdings kurz vor der Abfahrt von der Gestapo verhaftet, so dass seine Freundin ohne ihn reisen muss. Einer seiner Kommilitonen geht während der Schiffsreise ohne erkennbaren Grund über Bord.
Arnaldur Indriðason, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, dessen Krimis in 40 Sprachen übersetzt wurden, macht uns in seinem Roman mit der nordischen Insel, ihrer schroffen, scheinbar ungastlichen Landschaft und ihren eigenwilligen, zum Leidwesen beider Ermittler recht wortkargen Bewohnern vertraut. Zudem versteht er es ausgezeichnet, in leicht lesbarem Schreibstil die gleichermaßen für Besatzer wie für die Isländer komplizierte Lage damaliger Besatzungsjahre atmosphärisch nachvollziehbar wiederzugeben.
„Graue Nächte“ ist wie zuvor „Der Reisende“ keiner der gegenwärtig aus Skandinavien kommenden, überwiegend bluttriefenden Psychothriller, sondern besticht durch seine ruhige Erzählweise. Es ist ein spannender, historisch interessanter und sauber gearbeiteter Krimi klassischen Stils, in der die schwierige Aufklärungsarbeit beider Ermittler sachlich und wirklichkeitsnah geschildert wird. Bei Indriðason gibt es keine Superhelden. Die Ermittler zeigen manche Schwäche, zumal beide noch recht jung und in der kriminalistischen Arbeit unerfahren sind.
Irritierend mag die Verknüpfung der beiden um zwei Jahre verschobenen Handlungsstränge sein, die nebeneinander geschildert werden. Doch führt dies nach anfänglicher Irritation bei weiterer Lektüre eher zu erhöhter Aufmerksamkeit. „Graue Nächte“ ist ein spannender Roman - besonders für Liebhaber klassischer Krimis.

Bewertung vom 05.01.2019
Marlow / Kommissar Gereon Rath Bd.7
Kutscher, Volker

Marlow / Kommissar Gereon Rath Bd.7


ausgezeichnet

Einen Höhepunkt der chronologisch geordneten Reihe um Kommissar Gereon Rath und dessen Ehefrau Charly ist zweifellos „Marlow“, der siebte Band der im Berlin der Dreißiger Jahre angesiedelten und spätestens seit der TV-Serie „Babylon Berlin“ fast schon zum Kult gewordenen, in viele Sprachen übersetzten Krimi-Serie von Volker Kutscher. War der erste Band „Der nasse Fisch“ (2007) noch ein schlichter Kriminalroman vor historischer Kulisse, trat in den nachfolgenden Bänden allmählich die historische Szenerie, die Regierungsübernahme durch die Nazis, immer stärker hervor. Stand in Zeiten der Republik noch der Mensch im Vordergrund der Romane Kutschers ist es in Zeiten der Diktatur das Regime und dessen Methoden, unter dem die Menschen zu leiden und ihr Handeln abzuleiten haben.
In „Marlow“ geht es um einen anfangs unerklärlichen Verkehrsunfall, der sich erst später zum Kriminalfall mausert. Ein Taxi fährt scheinbar grundlos gegen eine Mauer, beide Insassen sind sofort tot. Gereon Rath, gerade im Wechsel von der Berliner Mordkommission ins Landeskriminalamt, findet beim toten Fahrgast eine Akte mit Geheimdokumenten, die eine Observierung des Ministers Hermann Göring durch den SS-Geheimdienst zeigen. Während seiner Ermittlungen entdeckt Rath zudem, dass sein alter Widersacher, der Unterweltkönig Johann Marlow, auch mit diesem Fall zu tun hat.
Die Besonderheit dieses Bandes liegt in dessen Komplexität: Drei Handlungsstränge laufen parallel und werden zudem durch Rückblenden unterbrochen. Einerseits geht es um Gereon Raths laufende Ermittlungsarbeit, die persönlichen Feindschaften innerhalb der Nazi-Führung, die Bespitzelung Görings und dessen Verbindungen ins Drogenmillieu. Gleichzeitig wird Ehefrau Charly, inzwischen als Privatdetektivin tätig, von Marlows rechter Hand, dem Chinesen Liang Kuen-Yao, um Hilfe für seine Ausreise nach China gebeten.
Doch sind dies eher Nebenschauplätze, denn eigentlich geht es um Gangsterboss Marlow, der nicht nur seinen Smoking gegen die SS-Uniform getauscht hat, sondern ausgerechnet in dieser Zeit der NS-Verbrecherherrschaft versucht, dank seiner Kontakte zu Göring aus seinen kriminellen Geschäften auszusteigen und in die legale Geschäftswelt zu wechseln. In den Rückblenden erfahren wir aus Marlows Jugend und begleiten ihn vom Sanitätsunteroffizier im Ersten Weltkrieg bis zum gnadenlosen Boss eines Berliner Ringvereins. Am Ende seines wieder ausgezeichneten Krimis verbindet Kutscher die Handlungsstränge und bringt seine Geschichte zum folgerichtigen und doch überraschenden Abschluss.
Kutscher versteht es, die politische und gesellschaftliche Realität jener Jahre mit der fiktiven Geschichte in Einklang zu bringen. Wieder zeigt er fast beiläufig, wie das NS-System das Alltagsleben beeinflusst und am Beispiel Raths die Familien spaltet. Während Charly die Nazis verachtet, ist ihr Pflegesohn begeistertes HJ-Mitglied. Gereon Rath, unpolitisch und bisher ohne festen Standpunkt, spürt dann aber doch die Gefahr, ein willenloser Mitläufer zu werden: „Die Heil-Rufe schwollen an, je näher der schwarze Mercedes kam, und Rath spürte, dass er, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben und ohne dies bewusst zu wollen, dabei war, mit den anderen den rechten Arm zu heben, weil hier niemand war, der nicht den Arm hob, weil alle es taten; und er merkte, dass er nicht dagegen ankam.“ Auch jenen Lesern, die noch keinen Kutscher-Roman kennen, ist dieser siebte Band „Marlow“ zu empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2019
Der Platz an der Sonne
Torkler, Christian

Der Platz an der Sonne


sehr gut

Ein aus mehreren Gründen bemerkenswertes Buch ist dem deutschen Autor Christian Torkler (47) mit seinem Debütroman „Der Platz an der Sonne“ gelungen. Mit dem Flüchtlings- und Migrationsproblem greift er zwar ein nicht mehr neues, vor allem in Deutschland viel diskutiertes und von Journalisten abgearbeitetes Thema auf. Doch gelingt es ihm mit seinem überraschenden Ansatz, die Problematik aus völlig neuer Sichtweise zu betrachten: Bei ihm zieht es nicht die politisch verfolgten und unter schwierigsten Wirtschaftsverhältnissen lebenden Einwohner Afrikas in das aus ihrer Sicht paradiesische Europa. Torkler dreht den Spieß einfach um und erschafft in seinem Roman die total „verkehrte“ Situation eines nach dem dritten Weltkrieg endgültig zerstörten, in mehrere Länder aufgeteilten Deutschlands und eines im üppigen Wohlstand lebenden Afrikas. Jetzt sind es die Deutschen, die auf dem schwarzafrikanischen Kontinent ihren „Platz an der Sonne“ suchen.
Berlin, die Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, liegt 1978 in Trümmern. Die Republik wird seit Jahren von wechselnden korrupten Politikern beherrscht, die sich vor der nur scheinbar demokratischen Wahl als Wohltäter aufführen, doch kaum an der Macht sich wie ihre Vorgänger schamlos bereichern. In dieser korrupten Welt lebt der junge Josua Brenner, der ohne Ausbildung, aber voller Tatendrang versucht, sein Leben zu meistern und sich zunächst mit Aushilfsjobs, später mit dem Betrieb einer Kneipe seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch wo Korruption herrscht, regiert auch das Verbrechen. Als Ganoven Josuas Kneipe abfackeln, zieht es auch ihn wie zuvor viele seiner Landsleute in den Süden, um sich in einer besseren Welt ein besseres Leben aufzubauen.
Das Bemerkenswerte an Torklers Roman ist nicht nur die überraschende Perspektive auf das Flüchtlingsproblem durch schlichte Verkehrung der Realität, sondern die uns dadurch gebotene Möglichkeit, jene uns doch so fremden Alltagsprobleme im fernen Afrika nachvollziehbarer zu verstehen – nach dem Motto „Was wäre,wenn“. Dabei hätte es gar nicht eines dritten Weltkrieges bedurft, um diese Situation zu verdeutlichen, ähnelt doch so manches den Jahren im und nach dem zweiten Weltkrieg, als viele Deutsche zunächst aus politischen, später aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland flohen, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Strebt nicht jeder Mensch nach einem friedlichen, unbeschwerten Leben frei von Verfolgung, Zwang und Hunger? Ist es nicht der natürliche Selbsterhaltungstrieb eines jeden, für sich und seine Familie sorgen zu wollen? Doch vielleicht braucht nach bald 75 Jahren die heute in Wohlstand sorglos aufgewachsene Leserschaft diesen neuen Gedankenanstoß?
Autor Christian Torkler stammt aus einer Greifswalder Pfarrersfamilie und lebte von 2002 bis 2009 im afrikanischen Tansania. Er weiß also, wie Menschen unter politischem Druck, aber auch unter wirtschaftlichem Elend leiden. Doch trotz dieser direkten Erfahrungen und Eindrücke verzichtet er in seinem Roman auf Anklagen, erschöpft sich nicht in schmerztriefender Beschreibung des Tragischen. Nein, er schreibt ungemein locker, frech und witzig. Bei allem Ernst des Themas darf und kann man beim Lesen oft schmunzeln. Nur hätte Torkler seinen Roman um einige Seiten straffen sollen. Gewiss dauert Josuas beschwerliche Flucht viele Monate, aber wir Leser brauchen wirklich nicht jeden Kilometer mitzulaufen. Doch von solchen Längen abgesehen, ist der Roman unbedingt lesenswert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.12.2018
Narren und Sterbliche
Cornwell, Bernard

Narren und Sterbliche


weniger gut

William Shakespeare (1564-1616) und seine Theatertruppe im London des Jahres 1595. Als langjähriger Theaterfreund reizte mich gerade dieses Thema, zum ersten Mal einen historischen Roman des britischen Bestseller-Schriftstellers Bernard Cornwell (74) zu lesen. Cornwell wird dank der Vielzahl seiner in über 20 Sprachen übersetzten und mit mehr als 20 Millionen Exemplaren verkauften Romane als „unangefochtener König des historischen Abenteuerromans“ gepriesen. Doch sein neuestes Werk „Narren und Sterbliche“ (2017), im Juli im Wunderlich-Verlag auf Deutsch erschienen, war für mich mehr als enttäuschend. Es ist nur ein allzu seichter Unterhaltungsroman, der sich allenfalls als Vorlage für einen zweitrangigen Kostüm- oder Mantel-und-Degen-Film eignen könnte, in dem Schauspieler Schauspieler spielen, die in einem Schauspiel ein Schauspiel spielen.
So kompliziert sich dies in einem zusammenfassenden Satz formuliert anhören mag, breitet Cornwell die bescheidene Handlung auf 510 Seiten aus, so dass jegliche Dramatik der Story um Eifersucht, Verrat, Liebe und die Kunst zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss. Wir befinden uns in dem noch mittelalterlichen anmutenden London des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Schauspieltruppen, so auch die des 31-jährigen William Shakespeare, die früher mit Possen und Tierschauen über die Jahrmärkte Englands tingeln mussten, haben inzwischen vor der Stadtmauer riesige Theater mit Platz für tausende Zuschauer gebaut. Die Einwohner Londons sind trotz oder gerade wegen des herrschenden Puritanismus von der Traumwelt des Theaters fasziniert. Zwar sind die Schauspieler - so auch Shakespeares Truppe - in den Augen der puritanischen Obrigkeit „halbseidenes Gesindel“, doch selbst der Hochadel und die Königin lieben das Theater. Bei einer Adelshochzeit will Shakespeare seine gerade fertiggestellte Komödie „Ein Sommernachtstraum“ mit dem wiederum darin eingebauten Stück „Pyramus und Thisbe“ uraufführen. Mitglied dieser Truppe ist – als Erzähler des Romans - Williams acht Jahre jüngerer Bruder Richard, der wie damals üblich als Nachwuchstalent bislang nur in Frauenrollen auftrat. Der Leiter eines konkurrierenden Theaters lässt ihm nun das einzige Textbuch stehlen. Unser junger Held Richard will es zurückstehlen, um sich bei William dadurch den erhofften Respekt zu verschaffen und endlich eine Männerrolle spielen zu dürfen. Zu jeder Mantel-und-Degen-Handlung gehört natürlich eine Liebesgeschichte, weshalb Richard im Schloss der Braut mit dem Dienstmädchen Silvia anbandelt. Dass diese Romanze glücklich endet und Richard tatsächlich seine erste Männerrolle bekommt, dürfte jetzt kaum noch verwundern.
Der geschichtliche Hintergrund des Romans mit der Beschreibung des historischen Londons und der Wandlung des früheren Gauklertums zur ernsthaften Schauspielerei, wie wir sie heute kennen, ist von Cornwell gut recherchiert. Doch auch hier stört, abgesehen von der rein fiktiven und belanglosen Handlung des Romans, die sich in einer netten Kurzgeschichte schildern ließe, die auf über 500 Seiten ausgewälzte epische Breite, die Langeweile aufkommen lässt. Er beschreibt ausgiebig die mit Kot und Dreck bedeckten Straßen Londons und die für diese Zeit typische Garderoben der einfachen Menschen oder des Adels. Besonders störend sind dabei mehrmalige Wiederholungen von Fakten, die ein halbwegs intelligenter Leser eigentlich schon beim ersten Mal verstanden haben sollte.
Historisch wirklich interessant sind allenfalls die ersten zehn Seiten von Cornwells Nachwort. Darin schildert er die realen Sachverhalte und Zusammenhänge im London des ausgehenden 16. Jahrhunderts in kompakter Form. Wer diese zehn Seiten gelesen hat, kann sich eigentlich die Lektüre des Roman ersparen - es sei denn, er ist ein Liebhaber genau solcher märchenhaften Unterhaltungsromane.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.12.2018
All die Nacht über uns
Jäger, Gerhard

All die Nacht über uns


ausgezeichnet

Vor zwei Jahren war dem Schriftsteller Gerhard Jäger mit seinem beeindruckenden Debütroman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ ein erstaunlicher literarischer Erfolg gelungen. Den Erfolg seines zweiten, im August beim Picus-Verlag veröffentlichten Kurzromans „All die Nacht über uns“ mitzuerleben, der durchaus verdient auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises kam, blieb ihm schon versagt: Der Österreicher starb am 20. November im Alter von nur 52 Jahren.
„Gerhard Jäger zieht einen förmlich in seine Geschichte, man folgt ihm atemlos und ahnt nach und nach Schreckliches“, begründete die österreichische Buchpreis-Jury ihre Entscheidung. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie es dem Autor wieder gelingt, den Leser auf allen 240 Seiten zu fesseln, obwohl – vordergründig betrachtet – eigentlich überhaupt nichts geschieht: Ein Soldat hält in regnerischer, stockdunkler Nacht einsam Wache auf seinem Turm. Und doch prasselt in diesen zwölf Stunden nicht nur der Regen mit Blitz und Donner auf ihn herab, sondern auch tiefsitzende Erinnerungen an die erschütternden Ereignisse seines Lebens und treiben ihn in die Verzweiflung, wenn nicht sogar an den Rand des Wahnsinns. Denn hier auf dem Wachturm kann der Mann seinen Erinnerungen nicht entfliehen - „der einsame Soldat auf seinem einsamen Turm, er will mit seiner Großmutter reden, über all das, über ihre Flucht, über seine Flucht, [….] vielleicht sind wir alle auf der Flucht, Flüchtende wir alle, alle flüchtig.“
In jungen Jahren entfloh er einst der bedrückenden Enge seines Heimatdorfes in die Großstadt, wo er seine spätere Ehefrau kennenlernte. Der gemeinsamen Verantwortung für den Tod ihres kleinen Sohnes durch Ertrinken entfloh er, der junge Vater, auf lange Spaziergänge in die Felder, seine Frau floh in die innere Isolation und schließlich in den Freitod. Im vergilbten Tagebuch seiner Großmutter, das er auf seinem Wachturm liest, erfährt er von der Flucht der erst 14-Jährigen aus Pommern. Heute steht er selbst in dunkler Nacht Wache, um heimatlos gewordene Flüchtlinge an der Grenze abzuhalten, die durch ihr Eindringen die Ruhe und egoitische Selbstzufriedenheit seiner Landleute stören könnten. Der kurze Roman „All die Nacht über uns“ ist die tragische Chronik eines ganzen Lebens, das in nur zwölf dunklen Stunden über den Protagonisten – und in aller Dramatik zwischen Liebe und Schmerz, Verlust und Verantwortung zugleich über uns Leser – wie der gewaltige Regensturm in dunkler Nacht herabstürzt.
Es ist wie schon in seinem Debütroman diese erstaunliche Sprachgewalt, diese Bildgewalt des Buches, die den Leser in den Sog der bedrückenden Erinnerungen und Gedanken seines Protagonisten hineinzwingt und dem man sich kaum zu entziehen vermag: Man leidet mit dem Soldaten, man ängstigt sich mit ihm, wenn Geräusche in der Dunkelheit böse Ahnungen aufkommen lassen, und man fürchtet am Ende um sein Leben. Gerhard Jäger schafft es wie kaum ein anderer, die psychischen Gewalten wie auch Naturgewalten in seinen Sätzen lebendig und erdrückend werden zu lassen.
Durch den frühen Tod dieses durch sein eigenes Schicksal geprägten Autors, der nach Berufsjahren als Behindertenbetreuer, Lehrer und Außendienstvertreter erst spät zum Schriftsteller wurde und, seit seinem Unfall (2007) querschnittgelähmt, zum Schreiben einen Sprachcomputer nutzte, ist der deutschsprachigen Buchwelt ein großartiger Literat verloren gegangen.

Bewertung vom 29.11.2018
Die Mittelmeerreise
Ortheil, Hanns-Josef

Die Mittelmeerreise


sehr gut

Ein aus mehreren Gründen ungewöhnlicher Roman ist „Die Mittelmeerreise“ von Hanns-Josef Ortheil (67), im November beim Luchterhand-Verlag erschienen. Nach seiner „Moselreise“ (2010) und der „Berlinreise“ (2014) ist dies die Schilderung einer weiteren Urlaubsreise des Knaben Ortheil mit seinem Vater. Ungewöhnlich ist dieser detaillierte Reisebericht schon wegen seiner Mischung aus längeren Prosatexten des erst 15-jährigen Ortheil mit originalen Tagebucheinträgen und kurzen Essays, ergänzt durch einige zum jeweiligen Thema passende Reisenotizen des bald 60-jährigen Vaters.
Sohn und Vater reisen als einzige Passagiere im Sommer 1967 auf einem Frachtschiff von Antwerpen, vorbei an Gibraltar ins Mittelmeer, in griechische Häfen und weiter bis Istanbul. Es ist die erste Auslandsreise des Latein- und Griechisch-Schülers und angehenden Pianisten. Sowohl auf hoher See als auch in den fremden Häfen überwältigen neue, intensive Eindrücke den bislang in Köln als Einzelkind eher in Klausur lebenden Knaben. Auch die vielen Gespräche mit den charakterlich so unterschiedlichen Schiffsoffizieren, aber auch mit dem Steward Denis, nur acht Jahre älter als er, prägen den noch unerfahrenen Jungen. Denis ist es, der den jungen Ortheil in Griechenland in die ihm völlig fremde Welt von Love, Drugs and Rock'n'Roll einführt. In einer Diskothek lernt Hanns-Josef die 23-jährige Delia kennen, die ihn spontan verführt und damit emotional überfordert.
So gleicht diese Mittelmeerreise mit ihren Stürmen und überwältigenden Eindrücken für den Gymnasiasten Ortheil nicht nur der Odyssee des von ihm verehrten Dichters Homer, sondern wird für den Pubertierenden zu einer ganz persönlichen, verwirrenden Odyssee aus dem Kindesalter in die Männlichkeit. Der junge Ortheil beobachtet in seinen Reisenotizen nicht nur die Wandlung in sich selbst, seinen Weg in die Selbstständigkeit des Erwachsenen, sondern beginnt auch, seinen Vater und ständigen Begleiter – sowie aus der Ferne seine daheimgebliebene Mutter – aus neuem Blickwinkel, mit den Augen eines erwachsenen Sohnes zu sehen, der sich, statt sich wie bisher führen zu lassen, nun seinerseits um den bald 60-jährigen „alternden“ und herzschwachen Vater sorgt.
„Die Mittelmeerreise“ wird alle Freunde Ortheil'scher Bücher sicher begeistern. Doch sollte man seine autobiographischen Bände „Die Erfindung des Lebens“ (2009) und „Der Stift und das Papier“ (2015) gelesen haben, um zu wissen, wie aus dem einst stummen Kind, das sich nur schriftlich mitzuteilen wusste, jede Beobachtung notierte und später zu Erzählungen ausarbeitete, ein so sprachgewaltiger Schriftsteller wurde. Es ist die Authenzität dieses Erzählens, die die Freunde seiner Bücher immer wieder, so auch in diesem neuesten Werk, begeistert.
Wer Ortheils Bücher noch nicht kennt, mag das 635 Seiten starke Werk irgendwann, spätestens in der zweiten Hälfte wohl zu Recht langweilig finden. Spannt sich der Handlungsbogen anfangs nach dem Auslaufen und den Stürmen auf hoher See, über die ersten Landgänge bis hin zu den ersten romantischen und sexuellen Erfahrungen des 15-Jährigen mit der jungen Griechin noch auf, flacht er in der zweiten Hälfte des Buches mangels neuer Überraschungen wieder ab. Ortheils Art zu schreiben mag man oder man mag sie nicht. Doch ich schätze Ortheils "leise Art" zu schreiben, seine genaue Beobachtungsgabe und die heute bei vielen verloren gegangene Fähigkeit, sogar in Kleinigkeiten, scheinbar Nebensächlichem, noch etwas Großes zu entdecken.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.11.2018
Lenz / Kommissar Eschenbach Bd.6
Theurillat, Michael

Lenz / Kommissar Eschenbach Bd.6


sehr gut

In welches Genre gehört eigentlich „Lenz“, der neue Roman des Schweizer Schriftstellers Michael Theurillat (57)? Ist es ein Krimi, wie der Ullstein-Verlag den im Oktober veröffentlichten sechsten Band aus der Reihe um den Züricher Kommissar Eschenbach nennt? Oder ist „Lenz“ eher ein Agenten- und Geheimdienst-Roman? Oder vielleicht sogar ein geopolitischer Politkrimi mit tagesaktuellem Bezug? „Lenz“ lässt sich in keine dieser Schubladen packen. Gerade dies macht den Roman so interessant und lesenswert.
Nach dreimonatiger Auszeit in den USA findet Kommissar Eschenbach, diensterfahrener Leiter der Züricher Kriminalpolizei, seine Dienststelle verändert vor. Seine Vertreterin Ivy Köhler hat das Team um Ermittler Claudio Jagmetti und Sekretärin Rosa inzwischen „aufgemischt“ und ein aktueller Todesfall wurde von Köhler kurzerhand zu den Akten gelegt: Der 62-jährige Walter Habicht soll Selbstmord begangen haben. Doch Eschenbach rollt den Fall wieder auf, spürt aber bald, dass ihm Nachrichten vorenthalten werden. Zu allem Überfluss fehlt ihm sein kollegialer Freund: Ewald Lenz, der langjährige Leiter des Polizeiarchivs, ist spurlos verschwunden. Bis dahin ist „Lenz“ ein Kriminalroman. Erst im weiteren Verlauf erfahren wir mehr über den toten Walter Habicht und lernen noch Isabel Cron kennen. Habicht und Cron sind wissenschaftliche Genies und mit Lenz – auch der unscheinbare Archivar hat einen IQ von 150 – über 40 Jahre seit Studienzeiten befreundet. Jetzt wird aus dem Krimi plötzlich ein Agentenroman und schließlich ein Politthriller: Was mit einem Selbstmord in Zürich begann, endet im Umfeld des Syrien-Krieges.
Autor Michael Theurillat versteht es glänzend, mit seinem spannenden Kammerspiel um nur vier Figuren – Eschenbach, Lenz, Habicht und Cron – uns Lesern die geopolitischen Hintergründe zu erklären, die zum Krieg in Syrien geführt haben: Es geht nicht um Syrien und dessen Bevölkerung, nicht um Religion und einen Bürgerkrieg. Es geht in Syrien ausschließlich um die geopolitische Vorherrschaft der Supermächte, um Erdöl und Erdgas. Es ist ein Machtspiel zwischen den USA, Russlands im Zusammenwirken mit nahöstlichen Ländern wie Saudi-Arabien und Katar, Türkei und Iran sowie um die Auswirkung auf den weltweiten, in Teilen von den Mächten für eigene Zwecke gelenkten Terrorismus.
Dies alles funktioniert nicht ohne die Manipulation der Öffentlichkeit über die Medien und sozialen Netzwerke. Nicht ohne Grund bringt Michael Theurillat eingangs das Zitat „Die Wahrheit – sofern sie sehr unwahrscheinlich erscheint – glaubt einem niemand. Sie ist besser als jede Lüge.“ Geheimdienste manipulieren die Medien und versorgen sie so lange zielgerichtet mit Fake News, bis nach endloser Wiederholung die Öffentlichkeit nur noch das als Wahrheit nimmt, was die Geheimdienste uns glauben machen wollen. Wir werden von den Herrschenden manipuliert, auch Eschenbach und noch mehr Lenz werden im Roman unbewusst von anderen gesteuert und für ihre Zwecke missbraucht.
Der neue Roman von Michael Theurillat liest sich flüssig, ist spannend, lässt den Leser stellenweise auch schmunzeln. Stören mag manche, dass beide parallel laufenden Handlungsstränge – einerseits um Eschenbachs Ermittlungsarbeit, andererseits um seinen Freund Ewald Lenz – zeitlich um wenige Tage versetzt sind. Doch ist dies zu vernachlässigen. Vielleicht andere irritierend, für mich eher interessant ist der unerwartete Bruch in der Handlung, der Bruch in der Charakterisierung der Protagonisten. Sie sind plötzlich aus Sicht der Geheimdienste ganz anders zu beurteilen. Da stellt sich tatsächlich die Frage: Wie gut kennt man seine Freunde?

Bewertung vom 16.11.2018
Das hungrige Krokodil
Brökel, Sandra

Das hungrige Krokodil


ausgezeichnet

Eine beeindruckende, stellenweise auch berührende, in jedem Fall lesenswerte Romanbiografie ist „Das hungrige Krokodil“ von Sandra Brökel (46), die im Februar im Pendragon-Verlag erschien. In ihrem Debütroman schildert uns die gelernte Schreib- und Trauertherapeutin die wahre Lebensgeschichte des tschechischen Arztes Pavel Vodák (1920-2002), die ein Beispiel für das Schicksal vieler Tschechen ist.
Es ist die Geschichte von Angst und Ohnmacht vor dem „hungrigen Krokodil“, eine Geschichte von der Angst vor diktatorischen Regimen oder allgemein vor der Autokratie der Mächtigen, die Ohnmacht vor dem gewaltigen und gewalttätigen Krokodil, das nur scheinbar ruhig und träge am Ufer liegt, tatsächlich aber seine Umgebung genau im Blick hat, um plötzlich und unerwartet nach Beute zu schnappen.
Das erste Mal kam der erst 19-jährige Medizin-Student Pavel Vodák dem Krokodil im Jahr 1939 zu nahe: Ohne Vorwarnung marschierten die deutschen Truppen in die Tschechoslowakei ein und besetzten Vodáks Heimatstadt Prag. Lebten dort zuvor Tschechen und Deutsche friedlich miteinander – Vodáks Mutter ist Deutsche –, wurden sie plötzlich zu Feinden. Bei Kriegsende wird die Tschechoslowakei von den Russen besetzt und unter Zwang zum Bündnisstaat der Sowjetunion. Das „Krokodil“ hat sich in einen russischen Bären verwandelt, der jeden Gedanken nach Freiheit und Selbstbestimmung in seinen mächtigen Pranken zerquetscht. In den Folgejahren ist das Krokodil nur scheinbar gesättigt und träge. Viele Tschechen, so auch Pavel Vodák, fassen neuen Mut und werden im „Prager Frühling“ aktiv. Und wieder schnappt das Krokodil zu, verschlingt 1968 nicht nur Menschen, sondern mit ihnen auch jede Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung.
Als Unterstützer der Reformbewegung steht Vodák, längst ein erfolgreicher und international anerkannter Psychiater sowie Chefarzt eines Kinderkrankenhauses, unter Beobachtung der Geheimpolizei. In dem Wissen, damit seiner 12-jährigen Tochter Pavli jede Chance auf ein Studium genommen zu haben, entschließt er sich, im Zuge einer Urlaubsreise mit Ehefrau, Tochter und krebskranker Schwiegermutter nach Jugoslawien, dem Krokodil über Italien und Österreich nach Deutschland zu entkommen. Seine Kontakte und seine fachliche Anerkennung ermöglichen ihm einen beruflichen Neustart in Nordrhein-Westfalen. Erst 1989 konnten auch die Menschen in der Tschechoslowakei das „hungrige Krokodil“ erfolgreich besiegen. Oder haben sie es nur vertrieben?
Gemeinsam mit Vodáks Tochter Pavli, die später in Deutschland wie ihr Vater Ärztin war, arbeitete Autorin Sandra Brökel die in einer alten Arzttasche gefundenen schriftlichen Erinnerungen des Vaters auf. In ihrem Buch geht es allerdings weniger um die Biografie des Arztes Pavel Vodák, sondern vielmehr um die Frage nach Heimat, um die Identität eines Menschen, um den Mut zum Widerstand, zum Kampf für die Freiheit und Selbstbestimmung, zum Kampf für die eigenen Ideale. Dazu passt das Zitat des tschechischen Schriftstellers und späteren Staatspräsidenten Vàclav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Pavel Vodák hat für die Flucht aus der Heimat mit Entwurzelung und Entfremdung zahlen müssen. Aber er und seine Familie bekamen damals einen kostbareren Gegenwert – körperliche und geistige Freiheit.
Gerade heute, in unserem politisch immer instabiler werdenden Europa, ist das Buch auch als Warnung zu lesen, als Aufruf zur Wachsamkeit. Denn wer die Augen verschließt, kann schon im nächsten Moment verschlungen werden. Das „hungrige Krokodil“, wie es Pavel Vodák in seinen schriftlichen Erinnerungen selbst genannt hat, kann überall auf Beute lauern.