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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 743 Bewertungen
Bewertung vom 09.12.2018
Das trügerische Gedächtnis
Shaw, Julia

Das trügerische Gedächtnis


sehr gut

Gleich im ersten Kapitel räumt Rechtspsychologin Julia Shaw mit verbreiteten Vorstellungen über Gedächtnisleistungen auf, die aus neurobiologischer Sicht unmöglich sind. Dazu zählen frühkindliche Erinnerungen sowie Erinnerungen an die eigene Geburt oder an die Zeit davor. Die strukturelle Entwicklung des Babygehirns, der Mangel an Organisation und die fehlende Sprache verhindern, dass bewusste Erinnerungen entstehen können. (34)

Die Autorin erläutert bildhaft die Physiologie des Gehirns, dessen Formbarkeit und Anpassungsfähigkeit für eine Welt der Unsicherheit und Entscheidungsfähigkeit geschaffen wurde. Dafür werden Erinnerungsfehler als Nebenprodukt in Kauf genommen. Der Fokus liegt auf diesen Schwächen des Gehirns, die einem selbst nicht bewusst sind, sondern erst durch empirische Untersuchungen zutage treten. Betroffen von diesem Phänomen sind auch sog. Gedächtnisgenies. (105)

Erinnerungen bilden wir nicht im Schlaf, sondern nur wenn wir aufmerksam sind. Schlaf dient im Gegenteil dazu, einer Reizüberflutung entgegen zu wirken, die zu einer Schädigung der Nervenzellen führen kann. (140) Da für die Erzeugung von Erinnerungen Aufmerksamkeit erforderlich ist, hält die Autorin auch intelligenzfördernde Babyvideos, Hypnose oder sublime Botschaften im Hinblick auf Beeinflussungen für Fiktionen. (156) Dabei beruft sie sich auf zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen.

Die Autorin muss als Kriminalpsychologin Expertengutachten erstellen. Sie bedauert, dass Polizei und Justiz zu wenig über Erinnerungsprobleme und Wahrnehmungsverzerrungen wissen. Aufgrund mangelhafter Selbsteinschätzung gab es und gibt es zahlreiche Justizirrtümer. Zum Thema hat sich bereits Thomas Fischer in "Im Recht" ausführlich geäußert, der Zeugenaussagen kritisch sieht und eine Lanze bricht für Indizienprozesse. Aus psychologischer Sicht sind seine Bedenken gerechtfertigt.

Menschen können suggestiv falsche Erinnerungen eingepflanzt werden. Hierzu gibt es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Erinnerungen an emotionsgeladene Ereignisse können fehlerhaft sein, mit manchmal schrecklichen Folgen für Betroffene. "Das trügerische Gedächtnis" richtet sich gegen die Selbstüberschätzung des Menschen. Julia Shaw beweist mit ihrer kritischen Haltung Bodenhaftung. Die Begründungen könnten mehr in die Tiefe gehen, dennoch handelt es sich um ein wichtiges Aufklärungsbuch.

Bewertung vom 28.11.2018
Torte mit Stäbchen
Hornfeck, Susanne

Torte mit Stäbchen


sehr gut

Der Roman behandelt die Jugendzeit der gebürtigen Brandenburgerin Inge Finkelstein in Schanghai. Inges Vater, Inhaber einer Konditorei, befindet sich im nationalsozialistischen Deutschland aufgrund seiner jüdischen Wurzeln in Lebensgefahr. Nach der Reichsprogromnacht 1938 erwerben sie Fahrkarten für eine Schiffspassage nach Schanghai, dem einzigen Hafen, der zu dieser Zeit noch bereit ist, jüdische Flüchtlinge ohne Visum aufzunehmen.

Auch China befindet sich im Kriegszustand. Schanghai ist von den Japanern besetzt, die mit den Deutschen verbündet sind. Familie Finkelstein wird ein Platz im Ghetto zugewiesen, den sie nach kurzer Zeit verlassen, da sie bei Familie Fiedler, in dessen Backstube Inges Vater arbeiten kann, wohnen dürfen. Inge, gerade mal neun Jahre alt, verbringt die nächsten neun Jahre in Schanghai. Als aufgewecktes Mädchen macht sie sich, weitaus besser als ihre Eltern, mit der chinesischen Sprache und Kultur vertraut.

Der Roman ist einfühlsam und verständlich geschrieben. Hinsichtlich der Beziehungen der Protagonisten untereinander wäre noch mehr Tiefe möglich gewesen. Die Autorin verzichtet weitgehend auf Gewaltszenen, dennoch ist der Alltag vom Kriegsgeschehen gezeichnet. Sie leben in einer von den Japanern besetzten Stadt und erleben auch die Befreiung durch die Amerikaner. Beeindruckt haben mich die Beschreibungen der einfachen Dinge des Alltags in einer chinesischen Metropole.

Autorin Susanne Hornfeck kennt sich bestens mit der chinesischen Kultur aus und kann diese auch anschaulich vermitteln. Die Leser erfahren einiges über den Aufbau der chinesischen Schrift und die Besonderheiten der chinesischen Sprache, über das Marktgeschehen und über Essgewohnheiten. So wie Inge von ihrem Freund Sanmao nach und nach in chinesische Geflogenheiten eingeweiht wird, lernen die Leser gleich mit. Hinsichtlich Aufbau und Inhalt handelt es sich um ein Jugendbuch.

Bewertung vom 25.11.2018
Zukunftsblind
Herles, Benedikt

Zukunftsblind


ausgezeichnet

Die rasante technologisch-wissenschaftliche Entwicklung stellt die Menschheit vor Herausforderungen, die es in der Form nie gegeben hat. Das gilt insbesondere für Innovationen in der Informatik, Robotik und Mikrobiologie. Die digitale Transformation ist nicht aufzuhalten. Benedikt Herles analysiert Möglichkeiten und Risiken dieses Wandels im Hinblick auf gesellschaftliche, ökonomische und politische Aspekte.

Wir sind Kinder der Evolution, die voller Stolz ihren eigenen Bauplan entschlüsselt haben und nunmehr dabei sind, ihn zu verändern. Hoimar von Ditfurth bezeichnete 1987 Gen-Manipulationen beim Menschen noch als Utopie, sah aber die Notwendigkeit im Hinblick auf die Behandlung von Erbkrankheiten. Aber der Grat zwischen Heilen und Optimieren ist äußerst schmal, erkennt Herles. (140)

Der Autor beschreibt nicht nur einzelne Entwicklungen, sondern integriert diese in einen Gesamtkontext. So könnte aktive genetische Manipulation eine Auffächerung unserer Spezies bewirken mit enormen gesellschaftlichen Folgen. Ein genetisch designter Nachwuchs würde eine optimierte Bio-Kaste begründen, die ihre "Herren" als minderbemittelt ansehen könnte.

Wem die Fantasie fehlt, der braucht nur an vergangene Kolonialzeiten denken. Neben der organischen Intelligenz bestimmen zunehmend Computer, Internet und Roboter, genauer gesagt deren innewohnende Algorithmen, Wirtschaft und Alltag. Die Börse wird dominiert von Algo-Tradern. (37) Frank Schirrmacher sprach in "Ego" in diesem Zusammenhang von "ökonomischem Imperialismus" und von "computergestützten Ego-Strategien".

Spannend wird es auch, wenn Biologie und Technik miteinander verknüpft werden. Maschinen, die durch Gedanken gesteuert werden, die Kopplung von Gehirn und Internet sowie künstliche Intelligenz auf Basis organischer Substanzen werden in naher Zukunft Realität sein. Herles wird bei manchen Analysen konkreter als Yuval Noah Harari in "Homo Deus". Beide thematisieren die Bedeutung des Menschen in naher Zukunft.

Wenn es darum geht, Veränderungen zu begleiten und zu reglementieren, ist die Politik gefragt. Hier tuen sich, wie Herles schreibt, Abgründe auf. "Reformen dürfen nicht wehtun" (197) und so erfolgt der politische Fortschritt im Rollatortempo (200). Es müssen schließlich Wahlen gewonnen werden. Was machen Millionen Menschen, wenn Roboter ihre Arbeit übernommen haben? Wie sieht eine zukunftsfähige Gesellschaft aus?

Herles kritisiert nicht nur, sondern er macht konkrete Vorschläge für notwendige Reformen. Dabei geht es um Steuern, Grundeinkommen, Aktien und Bildung, um Beispiele zu benennen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen hat bereits Dirk Müller in "Machtbeben" diskutiert. Bei Herles ist es ein bedingtes Grundeinkommen (246). Der Fokus liegt bei ihm auf ökonomischen und politischen Maßnahmen.

Der Schutz der Natur kommt m.E. zu kurz. Die Probleme sind existenziell, sodass ein Zukunftsministerium (256) notwendig, aber nicht hinreichend ist, um notwendige Maßnahmen im Hinblick auf den Klimawandel, Vermüllung der Meere, Raubbau an natürlichen Ressourcen etc. umsetzen zu können. Politische Beschlüsse auch internationaler Art (s. z.B. Kyoto) scheitern meist an der Umsetzung.

Herles hat sich intensiv mit Zukunftsfragen beschäftigt und klärt kompetent darüber auf. Erkennbar ist seine positive Grundhaltung und sein Einsatz für eine lebenswerte Zukunft, die in zehn konstruktiven Vorschlägen mündet. Glaubt man Rainer Mausfeld in "Warum schweigen die Lämmer", ist die politische Situation noch dramatischer als er sie darstellt. Das Buch ist ein Weckruf, sich aktiv an der Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beteiligen.

Bewertung vom 17.11.2018
Der Federndieb
Johnson, Kirk Wallace

Der Federndieb


ausgezeichnet

Ich-Erzähler Kirk Wallace Johnson, engagierter Entwicklungshelfer, Flüchtlingsaktivist und Hobby-Detektiv, ist einem Kriminalfall auf der Spur. Es geht nicht um Mord, Erpressung oder Bankraub, sondern um den Raub von Federn seltener Vögel. Als passionierter Fliegenfischer hat Johnson eine Beziehung zum Thema, jedoch ist er von der Besessenheit, mit der manche Fliegenbinder ihr Hobby betreiben, erstaunt.

Johnson behandelt ein Thema, welches mir und sicherlich vielen Lesern neu ist. Der Raubbau an der Natur ist in der Presse präsent, wenn es um Abholzungen tropischer Regenwälder geht oder um die Ausrottung von Elefanten, Nashörnern und Großkatzen. Was menschliche Gier in den letzten 200 Jahren in der Vogelwelt, insbesondere in der Welt bunter exotischer Vögel, angerichtet hat, wird in diesem Buch deutlich.

Der Autor berichtet über Reisen des Naturforschers Alfred Russel Wallace in entlegene Winkel der Erde und seine erste Begegnung mit den imposanten Paradiesvögeln. Dass diese Vögel in der viktorianischen Zeit abgeschlachtet werden würden, um Frauenhüte zu schmücken, konnte Wallace nicht ahnen. Neben der Federindustrie etablierte sich daher bereits vor 140 Jahren eine Gegenbewegung zum Schutz bedrohter Vogelarten.

Der wissenschaftliche Hintergrund dient dazu, den Kriminalfall besser zu verstehen. Damit nähern wir uns der psychologischen Dimension der Geschichte. Der Fliegenbinder Edwin Rist gehört zu den besten einer eingeschworenen Zunft. Der Autor erzählt seine Geschichte, um seine Motivation deutlich zu machen. Es ist der fanatische Wettkampf um Höchstleistungen, der (nicht nur) ihn antreibt und ethische Grenzen verdrängen lässt.

Wallace beschreibt eine wahre Geschichte über einen Museumsraub in Tring. Kritiker könnten anmerken, es gehe doch nur um Federn. Das ist richtig, es handelt sich nicht um einen Thriller. Der Autor vermittelt Wissen, macht ein seltenes Hobby bekannt und setzt sich mit psychologischen Fragen auseinander. In seiner eigenen Motivation, sich jahrelang mit diesem Fall zu beschäftigen, spiegelt sich die Besessenheit der Protagonisten wider.

Bewertung vom 14.11.2018
Der Trafikant
Seethaler, Robert

Der Trafikant


sehr gut

Robert Seethaler erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen Dorfburschen Franz Huchel, der sein Glück in Wien suchen muss, da seiner Mutter die Einnahmequelle verloren geht und sie nicht mehr für sie beide Sorgen kann. Er wird Lehrling bei dem Trafikanten Otto Trsnjek, den seine Mutter von früher kennt.

Die Geschichte beginnt im Spätsommer 1937 und endet, nach einem Zeitsprung, im März 1945. Aufgewachsen als behütetes Kind im Salzkammergut, lernt Huchel das Leben in einer Großstadt kennen. Und das ist geprägt vom Nationalsozialismus, den der Protagonist erst in Wien kennen lernt.

Vor diesem historischen Hintergrund macht Huchel einen politischen und persönlichen Reifungsprozess durch, der ihn mehrfach in Gefahr bringt. Er lernt die Böhmin Anezka kennen und verliebt sich in sie. Seine Gefühlswelt gerät durcheinander und so sucht er Rat bei dem berühmten Professor Freud, der Kunde in seinem Geschäft ist.

„Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken ...“. (141) Mit dieser Erkenntnis verblüfft der junge Huchel sogar den großen Sigmund Freud.

Der Roman hat Atmosphäre und diese entsteht durch die Besonderheit der Beziehungen. Jugendliche Unbeschwertheit wird mit Auswüchsen des Nationalismus, Unerfahrenheit in Liebesdingen wird mit sexueller Abgeklärtheit und Unwissenheit wird mit wissenschaftlicher Erfahrung konfrontiert. „Der Trafikant“ ist eine großartig erzählte Geschichte, in die Leser sofort eintauchen.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.11.2018
Kurze Antworten auf große Fragen
Hawking, Stephen

Kurze Antworten auf große Fragen


ausgezeichnet

Stephen Hawking ist seit Mitte der 1960er Jahre durch seine Forschungen zur Kosmologie, insbesondere zu physikalischen Eigenschaften Schwarzer Löcher, in Fachkreisen bekannt und angesehen. Mit dem anspruchsvollen populärwissenschaftlichen Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ stellte er 1988 sich und seine Forschungen einem breiten Publikum vor.

Sein letztes Buch „Kurze Antworten auf große Fragen“ ist ein persönliches Buch, in dem es nicht nur um den Ursprung und die Zukunft des Kosmos geht, sondern auch um Antworten auf Fragen zur Entwicklung der Menschheit. Da Hawking seit seiner Kindheit von den Naturwissenschaften fasziniert und geprägt war, spielten theologische Antworten in seinem Leben keine große Rolle.

Hawking bezeichnete sich selbst als Optimisten, dennoch hatte er begründete Zweifel, ob die Menschheit auf der Erde überleben kann. Ressourcenknappheit, Klimawandel und Überbevölkerung erfordern die Besiedelung des Weltraums. Problematisch ist, dass die Gefahren auf der Erde schneller anwachsen, als die technischen Möglichkeiten zur Kolonialisierung benachbarter Planeten.

Die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz sieht Hawking als Fluch und Segen. „Wie würde ein von Computern ausgelöster Crash auf dem Verteidigungssektor aussehen?“ (212) Auch sollte, bevor Robotern ein Personenstatus zugesprochen wird, entsprechendes erst gegenüber Walen und Gorillas erfolgen. (216) „Die Zukunft der Kommunikation liegt, davon gehe ich aus, in Gehirn-Computer-Schnittstellen.“ (219)

Auffallend ist, dass der von Naturwissenschaften geprägte Hawking, wie in den 1980er Jahren schon Heinz Haber und Hoimar von Ditfurth, die Zukunft der Menschheit auf der Erde eher düster sieht. Rationale Erkenntnisse fließen nicht in die praktische Politik ein. Politik und Wirtschaft agieren, als ob ewiges Wachstum möglich wäre. Die Geschichte der Menschheit ist, so Hawking, überwiegend eine Geschichte der Dummheit. (215)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2018
Warum schweigen die Lämmer?
Mausfeld, Rainer

Warum schweigen die Lämmer?


ausgezeichnet

Gibt es echte Volksherrschaft? Oder sind unsere realen Demokratien nicht mehr als notwendige Illusionen zur Sicherung der Eigeninteressen oligarchischer Strukturen? Professor Rainer Mausfeld begründet ausführlich, wer bei uns das Sagen hat, welche Rolle dabei das Volk spielt und wie das Volk durch Politiker und Medien beeinflusst wird, damit es mitspielt.

Erforderlich sind eine Mixtur aus umgedeuteten Begrifflichkeiten, eine Kreation neuer Begriffe, intellektuelle Helfer und politisch apathische Konsumenten. Ziel ist die Umsetzung eines neoliberalen Programms, welches ohne Rücksicht auf ökologische Belange die Gewinne einiger weniger Profiteure maximiert und trotz Wahlentscheidungen nicht mehrt abwählbar ist.

Das Buch besteht aus Beiträgen, die aus unterschiedlichen Anlässen entstanden und nunmehr in gebündelter Form erschienen sind. Was Mausfeld beschreibt, ist gut begründet, aber schwer verdaulich. 200 Jahre nach der Aufklärung stehen wir am Anfang. Die Strukturen sind zum Vorteil der Finanzeliten verwoben, sodass Veränderungen im Interesse des Volkes nur schwer herbeigeführt werden können.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.10.2018
Über das Strafen
Fischer, Thomas

Über das Strafen


sehr gut

Strafrechtler Thomas Fischer bietet nach eigener Aussage keinen Lehrgang zum Recht der Strafverteidigung (335), sondern möchte ein Grundverständnis dafür vermitteln, was Strafen in einer Gesellschaft bedeutet und welche Rolle es über seine unmittelbar alltägliche Wahrnehmung hinaus spielt (373). Kein anderes Rechtsgebiet steht unter einem vergleichbar hohen Rechtfertigungsdruck und ist in der Presse derart präsent wie das Strafrecht und seine Anwendung.

Wie frei und verantwortlich handelt der Mensch? Ist die Entscheidungsfreiheit eine Illusion, wie Versuche der Hirnforschung nahelegen? Ist naturwissenschaftliche Kausalität bestimmend für menschliches Handeln? (30/31) Die Ergebnisse der Hirnforschung harmonieren nicht mit dem Selbstverständnis des Menschen. Fischer trennt Ursachen und Gründe. Selbst wenn die Freiheit des Willens eine Illusion ist, ist das Bewusstsein von Freiheit eine Wirklichkeit menschlichen Lebens. (34)

Strafrecht hat Berührungspunkte zu verschiedenen Fachdisziplinen, so auch zur Psychologie. Das gilt insbesondere für die Qualität von Zeugenaussagen. Erinnerung funktioniert nicht wie der Datenaufruf im Computer. Erinnerung ist eine kreative Rekonstruktion auf der Basis des jeweils aktuellen Gefühls- und Wissensstandes. (76) Erinnerung verändert sich nach Maßgabe der Gegenwart. Mit der Qualität von Geständnissen und Zeugenaussagen hat sich Fischer ausführlich in „Im Recht“ auseinandergesetzt.

Auffallend sind Fischers kritischen Ausführungen zur Darstellung von Kriminalität und Strafrecht in den Medien. Diese Kritik zieht sich durch das gesamte Buch. „Die Grenzen zwischen Bericht, Reportage, Fiktion und Analyse sind fließend geworden.“ (83) Talkshows, pseudo-dokumentarische Spielfilme, Internetforen und Gerichtsshows tragen ihren Teil bei zu einer undifferenzierten und inszenierten Strafrechtsthematisierung. In seiner Analyse kommen weder die Journalisten (fehlende Qualifikation) noch das Publikum (inkompetent) gut bei weg. (93)

Bei einem derartigen Rundumschlag stellt sich die Frage, ob Fischer auch selbstkritisch mit seiner eigenen Zunft umgeht. Er nennt Beispiele für Fehler in der Systematik des Strafrechts (159) und bemängelt den fehlenden Willen zur Korrektur (291). Den parteipolitischen Einfluss auf die Auswahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts hält er für skandalös. (287) Die Justizverwaltung ist nicht frei von Mauscheleien und die Unabhängigkeit von Richtern hat ihre Grenzen, dennoch sei die Justiz von einer „beeindruckenden bürokratischen Zuverlässigkeit“ (325).

Zur Rolle der Justiz und deren Verantwortung gäbe es im Hinblick auf die unrühmliche deutsche Vergangenheit wesentlich mehr zu sagen. Auch bezogen auf die Gegenwart stellt sich die Frage, ob die Staatsanwaltschaft den Manager eines Konzerns mit der gleichen Hartnäckigkeit verfolgt wie den Ladendieb. Fischer geht kritisch mit der Justiz um, aber im Verhältnis zu seiner Schelte an den Medien nicht kritisch genug. Dennoch handelt es sich um ein wichtiges Aufklärungsbuch eines erfahrenen Strafrechtlers.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2018
Die Geschichte von Adam und Eva
Greenblatt, Stephen

Die Geschichte von Adam und Eva


ausgezeichnet

Stephan Greenblatt, Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard Universität, widmet sich in diesem Buch dem mächtigsten Mythos der Menschheit, der Geschichte von Adam und Eva. Es ist eine historische Betrachtung über Versuche der Interpretation in unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Der Rahmen wurde von der Kirche vorgegeben. Wer es riskierte, abweichende Interpretationen zu veröffentlichten, musste sich mit der Inquisition auseinandersetzen und um sein Leben bangen.

Der Autor unternimmt einen Ausflug in die Antike, berichtet über Volksstämme im Nahen Osten, über archäologische Funde, über frühe Städte und Herrscher sowie über Quellen der heiligen Bücher. Im Fokus stehen nicht nur die Genesiserzählungen, sondern auch Ausführungen zum Gilgamesch-Epos und zum späteren Thomas-Evangelium. Vieles bleibt im Dunkeln, weil Aufzeichnungen fehlen, Quellen vernichtet wurden und seitens der Kirche wenig Interesse an einer unabhängigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der Historie bestand.

Dass Greenblatt sich mit Literatur und Geschichte auskennt, wird deutlich bei der Darstellung der Biografien und einzelner Werke von Adamantius Origenes (dem Unbeugsamen), Augustinus von Hippo, John Milton, Isaac La Peyrère, Pierre Bayle und Voltaire, um Beispiele zu benennen. Greenblatt stellt kritische Meinungen vor, die an der von der Kirche vertretenen dogmatischen Lehre rütteln. Der Mythos von Adam und Eva hat über Jahrhunderte die gesellschaftliche Rolle der Frau beeinflusst. Letztlich hat sich die Evolutionstheorie durchgesetzt.

Der Mythos lebt, nicht als archaischer Bericht über eine reale Begebenheit, sondern als Mythos über den Ursprung des Menschseins mit seinen die Tierwelt transzendierenden Möglichkeiten, über Unschuld, Versuchung, Moral und Tod reflektieren und bewusst Entscheidungen treffen zu können. Die Vision vom Garten Eden lebt im Menschen fort, nicht nur als Ursprung, sondern als ein Ziel, dem sich die Menschheit durch bewusste (humane) Entscheidungen nähern kann, ohne es jemals zu erreichen.