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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 738 Bewertungen
Bewertung vom 14.11.2018
Der Trafikant
Seethaler, Robert

Der Trafikant


sehr gut

Robert Seethaler erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen Dorfburschen Franz Huchel, der sein Glück in Wien suchen muss, da seiner Mutter die Einnahmequelle verloren geht und sie nicht mehr für sie beide Sorgen kann. Er wird Lehrling bei dem Trafikanten Otto Trsnjek, den seine Mutter von früher kennt.

Die Geschichte beginnt im Spätsommer 1937 und endet, nach einem Zeitsprung, im März 1945. Aufgewachsen als behütetes Kind im Salzkammergut, lernt Huchel das Leben in einer Großstadt kennen. Und das ist geprägt vom Nationalsozialismus, den der Protagonist erst in Wien kennen lernt.

Vor diesem historischen Hintergrund macht Huchel einen politischen und persönlichen Reifungsprozess durch, der ihn mehrfach in Gefahr bringt. Er lernt die Böhmin Anezka kennen und verliebt sich in sie. Seine Gefühlswelt gerät durcheinander und so sucht er Rat bei dem berühmten Professor Freud, der Kunde in seinem Geschäft ist.

„Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken ...“. (141) Mit dieser Erkenntnis verblüfft der junge Huchel sogar den großen Sigmund Freud.

Der Roman hat Atmosphäre und diese entsteht durch die Besonderheit der Beziehungen. Jugendliche Unbeschwertheit wird mit Auswüchsen des Nationalismus, Unerfahrenheit in Liebesdingen wird mit sexueller Abgeklärtheit und Unwissenheit wird mit wissenschaftlicher Erfahrung konfrontiert. „Der Trafikant“ ist eine großartig erzählte Geschichte, in die Leser sofort eintauchen.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.11.2018
Kurze Antworten auf große Fragen
Hawking, Stephen

Kurze Antworten auf große Fragen


ausgezeichnet

Stephen Hawking ist seit Mitte der 1960er Jahre durch seine Forschungen zur Kosmologie, insbesondere zu physikalischen Eigenschaften Schwarzer Löcher, in Fachkreisen bekannt und angesehen. Mit dem anspruchsvollen populärwissenschaftlichen Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ stellte er 1988 sich und seine Forschungen einem breiten Publikum vor.

Sein letztes Buch „Kurze Antworten auf große Fragen“ ist ein persönliches Buch, in dem es nicht nur um den Ursprung und die Zukunft des Kosmos geht, sondern auch um Antworten auf Fragen zur Entwicklung der Menschheit. Da Hawking seit seiner Kindheit von den Naturwissenschaften fasziniert und geprägt war, spielten theologische Antworten in seinem Leben keine große Rolle.

Hawking bezeichnete sich selbst als Optimisten, dennoch hatte er begründete Zweifel, ob die Menschheit auf der Erde überleben kann. Ressourcenknappheit, Klimawandel und Überbevölkerung erfordern die Besiedelung des Weltraums. Problematisch ist, dass die Gefahren auf der Erde schneller anwachsen, als die technischen Möglichkeiten zur Kolonialisierung benachbarter Planeten.

Die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz sieht Hawking als Fluch und Segen. „Wie würde ein von Computern ausgelöster Crash auf dem Verteidigungssektor aussehen?“ (212) Auch sollte, bevor Robotern ein Personenstatus zugesprochen wird, entsprechendes erst gegenüber Walen und Gorillas erfolgen. (216) „Die Zukunft der Kommunikation liegt, davon gehe ich aus, in Gehirn-Computer-Schnittstellen.“ (219)

Auffallend ist, dass der von Naturwissenschaften geprägte Hawking, wie in den 1980er Jahren schon Heinz Haber und Hoimar von Ditfurth, die Zukunft der Menschheit auf der Erde eher düster sieht. Rationale Erkenntnisse fließen nicht in die praktische Politik ein. Politik und Wirtschaft agieren, als ob ewiges Wachstum möglich wäre. Die Geschichte der Menschheit ist, so Hawking, überwiegend eine Geschichte der Dummheit. (215)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2018
Warum schweigen die Lämmer?
Mausfeld, Rainer

Warum schweigen die Lämmer?


ausgezeichnet

Gibt es echte Volksherrschaft? Oder sind unsere realen Demokratien nicht mehr als notwendige Illusionen zur Sicherung der Eigeninteressen oligarchischer Strukturen? Professor Rainer Mausfeld begründet ausführlich, wer bei uns das Sagen hat, welche Rolle dabei das Volk spielt und wie das Volk durch Politiker und Medien beeinflusst wird, damit es mitspielt.

Erforderlich sind eine Mixtur aus umgedeuteten Begrifflichkeiten, eine Kreation neuer Begriffe, intellektuelle Helfer und politisch apathische Konsumenten. Ziel ist die Umsetzung eines neoliberalen Programms, welches ohne Rücksicht auf ökologische Belange die Gewinne einiger weniger Profiteure maximiert und trotz Wahlentscheidungen nicht mehrt abwählbar ist.

Das Buch besteht aus Beiträgen, die aus unterschiedlichen Anlässen entstanden und nunmehr in gebündelter Form erschienen sind. Was Mausfeld beschreibt, ist gut begründet, aber schwer verdaulich. 200 Jahre nach der Aufklärung stehen wir am Anfang. Die Strukturen sind zum Vorteil der Finanzeliten verwoben, sodass Veränderungen im Interesse des Volkes nur schwer herbeigeführt werden können.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.10.2018
Über das Strafen
Fischer, Thomas

Über das Strafen


sehr gut

Strafrechtler Thomas Fischer bietet nach eigener Aussage keinen Lehrgang zum Recht der Strafverteidigung (335), sondern möchte ein Grundverständnis dafür vermitteln, was Strafen in einer Gesellschaft bedeutet und welche Rolle es über seine unmittelbar alltägliche Wahrnehmung hinaus spielt (373). Kein anderes Rechtsgebiet steht unter einem vergleichbar hohen Rechtfertigungsdruck und ist in der Presse derart präsent wie das Strafrecht und seine Anwendung.

Wie frei und verantwortlich handelt der Mensch? Ist die Entscheidungsfreiheit eine Illusion, wie Versuche der Hirnforschung nahelegen? Ist naturwissenschaftliche Kausalität bestimmend für menschliches Handeln? (30/31) Die Ergebnisse der Hirnforschung harmonieren nicht mit dem Selbstverständnis des Menschen. Fischer trennt Ursachen und Gründe. Selbst wenn die Freiheit des Willens eine Illusion ist, ist das Bewusstsein von Freiheit eine Wirklichkeit menschlichen Lebens. (34)

Strafrecht hat Berührungspunkte zu verschiedenen Fachdisziplinen, so auch zur Psychologie. Das gilt insbesondere für die Qualität von Zeugenaussagen. Erinnerung funktioniert nicht wie der Datenaufruf im Computer. Erinnerung ist eine kreative Rekonstruktion auf der Basis des jeweils aktuellen Gefühls- und Wissensstandes. (76) Erinnerung verändert sich nach Maßgabe der Gegenwart. Mit der Qualität von Geständnissen und Zeugenaussagen hat sich Fischer ausführlich in „Im Recht“ auseinandergesetzt.

Auffallend sind Fischers kritischen Ausführungen zur Darstellung von Kriminalität und Strafrecht in den Medien. Diese Kritik zieht sich durch das gesamte Buch. „Die Grenzen zwischen Bericht, Reportage, Fiktion und Analyse sind fließend geworden.“ (83) Talkshows, pseudo-dokumentarische Spielfilme, Internetforen und Gerichtsshows tragen ihren Teil bei zu einer undifferenzierten und inszenierten Strafrechtsthematisierung. In seiner Analyse kommen weder die Journalisten (fehlende Qualifikation) noch das Publikum (inkompetent) gut bei weg. (93)

Bei einem derartigen Rundumschlag stellt sich die Frage, ob Fischer auch selbstkritisch mit seiner eigenen Zunft umgeht. Er nennt Beispiele für Fehler in der Systematik des Strafrechts (159) und bemängelt den fehlenden Willen zur Korrektur (291). Den parteipolitischen Einfluss auf die Auswahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts hält er für skandalös. (287) Die Justizverwaltung ist nicht frei von Mauscheleien und die Unabhängigkeit von Richtern hat ihre Grenzen, dennoch sei die Justiz von einer „beeindruckenden bürokratischen Zuverlässigkeit“ (325).

Zur Rolle der Justiz und deren Verantwortung gäbe es im Hinblick auf die unrühmliche deutsche Vergangenheit wesentlich mehr zu sagen. Auch bezogen auf die Gegenwart stellt sich die Frage, ob die Staatsanwaltschaft den Manager eines Konzerns mit der gleichen Hartnäckigkeit verfolgt wie den Ladendieb. Fischer geht kritisch mit der Justiz um, aber im Verhältnis zu seiner Schelte an den Medien nicht kritisch genug. Dennoch handelt es sich um ein wichtiges Aufklärungsbuch eines erfahrenen Strafrechtlers.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2018
Die Geschichte von Adam und Eva
Greenblatt, Stephen

Die Geschichte von Adam und Eva


ausgezeichnet

Stephan Greenblatt, Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard Universität, widmet sich in diesem Buch dem mächtigsten Mythos der Menschheit, der Geschichte von Adam und Eva. Es ist eine historische Betrachtung über Versuche der Interpretation in unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Der Rahmen wurde von der Kirche vorgegeben. Wer es riskierte, abweichende Interpretationen zu veröffentlichten, musste sich mit der Inquisition auseinandersetzen und um sein Leben bangen.

Der Autor unternimmt einen Ausflug in die Antike, berichtet über Volksstämme im Nahen Osten, über archäologische Funde, über frühe Städte und Herrscher sowie über Quellen der heiligen Bücher. Im Fokus stehen nicht nur die Genesiserzählungen, sondern auch Ausführungen zum Gilgamesch-Epos und zum späteren Thomas-Evangelium. Vieles bleibt im Dunkeln, weil Aufzeichnungen fehlen, Quellen vernichtet wurden und seitens der Kirche wenig Interesse an einer unabhängigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der Historie bestand.

Dass Greenblatt sich mit Literatur und Geschichte auskennt, wird deutlich bei der Darstellung der Biografien und einzelner Werke von Adamantius Origenes (dem Unbeugsamen), Augustinus von Hippo, John Milton, Isaac La Peyrère, Pierre Bayle und Voltaire, um Beispiele zu benennen. Greenblatt stellt kritische Meinungen vor, die an der von der Kirche vertretenen dogmatischen Lehre rütteln. Der Mythos von Adam und Eva hat über Jahrhunderte die gesellschaftliche Rolle der Frau beeinflusst. Letztlich hat sich die Evolutionstheorie durchgesetzt.

Der Mythos lebt, nicht als archaischer Bericht über eine reale Begebenheit, sondern als Mythos über den Ursprung des Menschseins mit seinen die Tierwelt transzendierenden Möglichkeiten, über Unschuld, Versuchung, Moral und Tod reflektieren und bewusst Entscheidungen treffen zu können. Die Vision vom Garten Eden lebt im Menschen fort, nicht nur als Ursprung, sondern als ein Ziel, dem sich die Menschheit durch bewusste (humane) Entscheidungen nähern kann, ohne es jemals zu erreichen.

Bewertung vom 21.10.2018
Machtbeben
Müller, Dirk

Machtbeben


ausgezeichnet

Dirk Müller spricht wirtschaftliche Themen an und beleuchtet weltpolitische Zusammenhänge, die in unseren Leitmedien nicht zu finden sind. Seine Ausführungen sind verständlich und durch zahlreiche Quellen belegt. Sein Weltbild setzt sich aus vielen Puzzleteilen zusammen, die ein plausibles Gesamtbild ergeben. An diesem Gesamtbild lässt er die Leser teilhaben. Dabei erhebt er nicht den Anspruch, dass seine Sicht der Dinge hundertprozentig korrekt ist, sondern er ist offen für Fakten und Argumente, die seine Sicht korrigieren. Nur so funktioniere Erkenntnisgewinnung.

Die Leser lernen, warum die USA nicht pleitegehen können (29) und dass diejenigen [Politiker], die gewählt wurden, nichts zu entscheiden haben im Staat (52). Lobbyarbeit ist legal, aber sehr einflussreich. Die Verstrickungen zwischen Politik, Kapital und Wirtschaft sind gewaltig. Da die Medien Werbeeinnahmen benötigen, entwickeln sie sich zunehmend zum Sprachrohr der Wirtschaft, statt investigativen Journalismus zu betreiben. Die Leser werden mit unwichtigen Meldungen gefüttert. Zum Einfluss von Eliten aus Politik und Wirtschaft auf Leitmedien gibt es eine aussagekräftige Dissertation von Uwe Krüger [1].

Sind die Bürger wehrlos? "Die Methoden, mit denen die Massen stillgehalten wurden, änderten sich im Laufe der Jahrhunderte, doch die Mechanismen und Beweggründe waren immer die gleichen. Es ging stets darum, eine kritische Masse zu verhindern, sie früh vom Nachdenken abzuhalten und ihren stillen Gehorsam zu bewirken." (84) Gegensteuern kann nur ein kritischer engagierter Bürger. Dazu müssen Bürger unabhängig von Partei- und Religionszugehörigkeit erkennen, dass sie sich in der gleichen Situation befinden.

Autor Müller beschreibt weltweit einige Pulverfässer mit kurzer Lunte, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, da die zu erwartenden Entwicklungen uns alle betreffen. Seine Hintergrundanalysen beruhen auf der Faktenlage und sind hoch interessant. Das gilt für seine Ausführungen zum Nahen Osten, zum Ukraine-Konflikt, zu Nordkorea, zu USA, China, Japan und zu Russland. Dabei bezieht er sich u.a. auf Brzeziński [2], dessen Gedanken er weiterführt. Deutlich wird: Wer Wirtschaft verstehen will, muss die Weltpolitik verstehen. Dabei führt die Frage „Wem nützt es?“ immer wieder auf die richtige Spur.

Müller vergräbt sich nicht in Pessimismus, sondern beschreibt für die Leser nachvollziehbar Signale, die dem Crash vorausgehen und Maßnahmen, die vorab und während der Krise ergriffen werden können, um aus der Krise eine Chance zu machen. Erhellend sind auch Müllers Ausführungen zur technischen Entwicklung (Autoindustrie), zur Energieversorgung (insbesondere Öl), zur Digitalisierung und zur Arbeitssituation. Ein künftiges Grundeinkommen ist nicht ausgeschlossen. Die Überwachung der Bürger, z.B. in China, lässt Orwell [3] alt aussehen.

Es gibt zahlreiche reißerische Bücher, die sich mit Krisen- und Untergangszenarien beschäftigen. Es ist nicht leicht, die Spreu vom Weizen zu trennen. Dirk Müller geht verantwortlich mit diesem Thema um. Er scheut sich nicht, unliebsame Fakten und Folgerungen zu benennen, ist aber kein Feind der Wirtschaft. Er möchte, dass die Bürger sich einmischen mit dem Ziel eines humaneren Umgangs miteinander. Er wirkt authentisch. Das Buch zeichnet ein realistisches Bild von der Welt und ist absolut zu empfehlen.

[1] Uwe Krüger: Meinungsmacht
[2] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht
[3] George Orwell: 1984

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.10.2018
Und Gott schuf die Angst
Hofmann, Burkhard

Und Gott schuf die Angst


ausgezeichnet

Burkhard Hofmann ist ärztlicher Psychotherapeut in Hamburg mit langjähriger Berufserfahrung. Als neugieriger, aufgeschlossener Therapeut hat er seinen Wirkungskreis geografisch erweitert bis hinunter in die Golfregion. Ein Teil seiner Patienten kommt aus der arabischen Welt und ist vom Islam geprägt. Psychische Probleme kennen weder Länder- noch Kulturgrenzen. Dennoch stellt sich die Frage, ob ein in der westlichen Welt sozialisierter Therapeut in einer muslimischen Welt zurecht kommt, in der eine Trennung zwischen Kirche und Staat nicht existiert. Der Autor berichtet über seine Erfahrungen und erstellt ein Psychogramm der arabischen Psyche.

Bereits der erste Fall macht deutlich, wo die Unterschiede zur westlichen Welt liegen. Wenn sich eine Frau scheiden lassen will, steht das im krassen Gegensatz zur Verpflichtung zu ewiger Treue gegenüber der Familie und der tradierten Kultur. Die von klein auf anerzogenen strengen Regeln im Islam bewirken, dass Menschen Schuldgefühle entwickeln, wenn sie dagegen verstoßen. "Man bewegt sich eben nur in bekanntem Gelände. Es fehlt der Drang, Grenzen zu überschreiten." (25) Insofern ist es schon erstaunlich, dass Menschen mit muslimischer Prägung einen westlichen Therapeuten aufsuchen. Eine Scheidung im Islam ist möglich, aber es Bedarf vieler Verhandlungstage vor Gericht und massiver Zugeständnisse der Frau.

Hofmann stellt Fälle aus seiner Praxis vor. Es handelt sich um überwiegend gut betuchte Muslime der gehobenen Mittelschicht, die seine Praxis aufsuchen bzw. die er in ihrem Heimatland besucht. Den Behandlungsmöglichkeiten eines westlichen Therapeuten sind Grenzen gesetzt, denn das Psychische wird von vielen Muslimen immer noch als die primäre Domäne des Religiösen angesehen. Abweichungen werden unter den Verdacht der Sünde gestellt. (253) Insofern verwundert es den Leser, welche Mengen an Psychopharmaka, Schlaftabletten und Beruhigungsmittel am Golf in Umlauf sind. Hier vertraut man offensichtlich der westlichen Medizin.

Psychische Probleme erwachsen aus einer religiös geprägten Kultur, die keinen Zweifel und keinen Widerspruch duldet. Das verhindert die Abnabelung von der Familie, führt zu Unsicherheiten im Umgang mit der Sexualität und zu einem mittelalterlichen Frauenbild. Positiv gesehen fühlen sich die Gläubigen in ihrem Glauben geborgen, der ihnen hilft, Krisen zu überwinden und Sinn zu sehen, wo westlich geprägte Menschen sinnloses Leid erblicken. "Der Glaube bleibt ebenso unumstößlich wie die allerorts vorhandenen autoritären Staatsstrukturen." (128) Für Zweifel bleibt kein Platz, denn Zweifel führen je nach Ventil zu Angst oder Aggression.

Angst ist das zentrale Thema in Hofmanns Fallbeschreibungen. Stockschläge, wie bei den Beduinen erfahren, sind kein wirksames Mittel gegen Depressionen. (262) Kritik am Koran ist verbotenes Terrain. Menschen aus der gehobenen arabischen Mittelschicht werden bei ihrem Studium in Paris oder London mit völlig anderen Lebensentwürfen konfrontiert, die Zweifel säen können. Hofmanns Analysen der Psyche zeichnen ein Bild, welches tiefer geht als das, was allgemein in den Medien über den Islam zu lesen oder zu hören ist. Er plausibilisiert Verhaltensweisen, die oftmals nur oberflächlichen betrachtet werden. Dennoch gilt: "Wir [im Westen] sollten nicht versuchen, uns kompatibler zu geben, als wir sein können und vielleicht auch wollen. Das Verleugnen des Trennenden hilft nicht bei der Wirklichkeitsbewältigung." (283)

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.10.2018
21 Lektionen für das 21. Jahrhundert
Harari, Yuval Noah

21 Lektionen für das 21. Jahrhundert


sehr gut

Nachdem sich Yuval Noah Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ mit der Vergangenheit und in „Homo Deus“ mit der Zukunft auseinandergesetzt hat, liegt der Fokus in „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ auf der gegenwärtigen Situation der Menschheit. Dabei versucht er verschiedene Aspekte der globalen Gegenwart zu erfassen. Kennzeichnend sind seine verständlichen interdisziplinären Betrachtungen. Über Götter und Ideologien äußert er sich gewohnt misstrauisch.

Wenngleich das Buch in fünf Teile und einundzwanzig Kapitel untergliedert ist, gibt es thematische Überschneidungen. Die technologischen (Teil 1) und politischen (Teil 2) Herausforderungen lassen sich nicht scharf trennen. Im dritten Teil geht es um Gefahren, daraus resultierenden Ängsten und wie Menschen diesen begegnen können. In den Teilen vier und fünf diskutiert Harari philosophische Fragen. Dabei nimmt die Frage nach dem Sinn des Lebens breiten Raum ein.

Wer „Homo Deus“ gelesen hat, ist darauf vorbereitet, dass sich Harari insbesondere mit den gesellschaftlichen Folgen der Biotechnologie und Informationstechnologie auseinandersetzt. Wenn Algorithmen den Menschen besser kennen als er sich selbst und fundierte Entscheidungen treffen können, wird die Kompetenz des Menschen und seine Freiheit in Frage gestellt. Der Mensch wird nicht nur arbeitslos, sondern bedeutungslos. Sind wir auf dem Weg in eine digitale Diktatur?

Im letzten Kapitel berichtet der Autor über sich selbst. Er bezeichnet sich als skeptischen Menschen, auf der Suche nach der Wahrheit. Als Suchender, so meine Einschätzung, wird er auch seine eigenen Thesen kritisch reflektieren. Ergänzend zur Wissenschaft versucht er es mit Meditation, um mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen. Selbstbeobachtung sei schwierig, aber notwendig, damit nicht die Algorithmen, die uns besser kennen, für uns entscheiden. (417) Damit schließt sich der Kreis seiner Ausführungen.

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.09.2018
Der große Roman der Mathematik
Launay, Mickaël

Der große Roman der Mathematik


sehr gut

Es handelt sich nicht um einen Roman im literarischen Sinne, sondern um ein populärwissenschaftliches Sachbuch über die Entwicklungsgeschichte der Mathematik. „Roman“ ist eher eine Metapher für die Geschichte dieser Wissenschaft. Der Fokus liegt auf den Urgründen. Was versteht man unter Mathematik? Warum gibt es Mathematik?

Mickaël Launay, promovierter Mathematiker, setzt sich zum Ziel, Menschen für die Mathematik zu begeistern. Er konfrontiert die Leser mit der Erkenntnis, dass die Anforderungen des Alltags sehr viel mit Mathematik zu tun haben. Das galt vor 10.000 Jahren bei der Fertigung von Tonkrügen in Mesopotamien und das gilt für die Neuzeit.

Der Autor stellt antike Zählsteine zur Ermittlung der Anzahl von Schafen vor und erläutert die Anfänge der Landvermessung in Babylon, die den Beginn der Geometrie einläutete. Mathematik war zweckgebunden, blieb es aber nicht. Die Liebe zur Mathematik im alten Griechenland führte zu Theoremen, mit denen noch heute Schüler konfrontiert werden.

Während die Mathematik der Antike plausibel dargestellt wird, gelingt das bei den Grundlagen der Triangulation nicht. Der Zusammenhang zwischen Meridian, Dreiecksvermessungen und Kartenerstellung bleibt nebulös. Zu diesen Themen finden interessierte Leser bei Mania [1] oder Murdin [2] weitergehende Erläuterungen.

Launays Schwerpunkt liegt in der Aufarbeitung der Historie. Der Mehrwert der Mathematik für Alltag, Vermessung und Naturwissenschaft lässt sich aus dieser Entwicklung heraus plausibel belegen. Aktuelle mathematische Untersuchungen dürften für eine breite Leserschaft zu abstrakt sein.

Über die Frage, warum die Mathematik so gut zur physikalischen Welt passt, spekuliert Launay nicht. (184) Er erläutert Paradoxa und benennt Grenzen der Axiomatisierung, wie sie durch Gödels Unvollständigkeitssatz zum Ausdruck kommen. Dass Mathematik schöne Gebilde produzieren kann, wird an der Darstellung der Mandelbrot-Menge deutlich.

[1] Hubert Mania: Gauß
[2] Paul Murdin: Die Kartenmacher

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.