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Bewertungen
Insgesamt 612 BewertungenBewertung vom 04.01.2017 | ||
Can Evinman ist ein Söldner des deutschen Literaturbetriebs, er schreibt als Ghostwriter Prominenten-Biografien. Zurzeit verarbeitet er mit der bekannten Schauspielerin Anna Roth deren Leben. Can soll offenbar über den Umweg dieses Auftrags geködert werden, sich mit Ereignissen während des Nationalsozialismus zu befassen. Es geht um die Enteignung von sephardischen Juden in Thessaloniki während der deutschen Besetzung der griechischen Stadt. Drei Deutsche waren in die Vorfälle verstrickt: Max Merten, als Verwaltungsrat zuständig für die Versorgung der Stadt und die Beschlagnahmung jüdischen Vermögens, Martin Eissler, Chef der SS-Dienststelle in der Stadt (später Anna Roths Schwiegervater) und Eisslers Lakai Mahler. Gemeinsam betrieben sie 1943 die Enteignung des Tabakunternehmens der Familie Counio. Ein Einheimischer, der damals den Weg der drei kreuzte, heißt Evinman, genau wie Can. - Der Ghostwriter ist sich des Verkaufswertes der bisher unbekannten Geschichte sehr bewusst. Can, der mit Frau und Kindern das sorgenfreie Leben einer Hamburger Mittelschichtfamilie führt, ist selbst durch den Tod seiner Eltern um seine Erinnerungen und seine Herkunft betrogen worden. Je weiter er den damaligen Ereignisse in Thessaloniki nachspürt, je deutlicher wird ihm, dass er bisher wie ein Mensch ohne Vergangenheit gelebt hat. Can ist bei deutschen Pflegeeltern aufgewachsen und konnte sich deshalb nie entscheiden, ob ihn die Geschichte seines Volkes interessiert oder nicht. Seine Familiengeschichte verschwand einfach, wurde vielleicht auch im guten Glauben verschwiegen, das Kind damit vor traumatischen Erinnerungen zu schützen. Wenn eine winzige Volksgruppe wie die Ladino sprechenden Sepharden in alle Winde zerstreut wird, stirbt ihre Sprache unter dem Druck der Assimilation aus. Can ist das lebendige Beispiel für diese tragische Folge eines Integrationsprozesses. - Die faszinierende Geschichte der Stadt Thessaloniki als 'Jerusalem des Balkans' mit ihrer legendären Religions- und Berufsfreiheit und der Dönme, den Nachfahren sephardischer Juden, hat Orkun Ertener solide recherchiert und verknüpft sie mit einer krimireifen Spurensuche. Thessalonikis jüdische Bevölkerung wurde in ihrer durch einen Brand zerstörten Heimatstadt bereits 1917 im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Griechen aus der Türkei durch diese Flüchtlinge verdrängt. Die Dönme waren als Konvertiten formal zum Islam übergetreten, weil sie sonst keine politischen Ämter hätten übernehmen können. Die nationalsozialistischen Besetzer erklären die Dönme wieder zu Juden, um ihr Vermögen beschlagnahmen zu können. In der Folge kommen 50 000 Bürger Salonikis in Ausschwitz ums Leben. Um den unvorstellbar kostbaren Goldschatz, der in Thessaloniki zusammengerafft wurde und an Bord eines Schiffes gesunken sein soll, ranken sich noch immer Legenden professioneller Schatzsucher. - Die Verknüpfung des persönlichen Schicksals sephardischer Juden mit den historisch belegten Ereignissen in Thessaloniki fand ich fesselnd, das Thema des Kulturverlusts durch Assimilierung höchst aktuell. Schließlich baut sich die Erkenntnis auf, dass gestohlener Reichtum völlig nutzlos sein kann, wenn ein Betrüger außer dem geraubten Vermögen selbst kein Talent, keine Geschäftsbeziehungen und keine Begeisterung für sein Metier mitbringt. - Can Evinman muss in einer sehr verschachtelten Handlung erst in mehrere Länder reisen, damit der üppige Plot eine Lösung finden kann. Ohne die übersprudelnde Fülle sehr ausführlich ausgearbeiteter Nebenfiguren hätte mir Orkun Erteners Buch erheblich besser gefallen. "Lebt" ist der Roman eines Mannes, seiner Familiengeschichte, seiner Bücher und seiner Stadt. Das allmähliche Vordringen durch viele Schichten von Erinnerung als würden alte Tapetenschichten freigelegt, muss man mögen. Mir waren es zu viele Schichten und zu viele Verzögerungen. Ich empfehle das Buch entdeckungsfreudigen Lesern, die sich gern ohne feste Genre-Zuordnung auf einen Roman einlassen. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Deutsche unter 25 Jahren haben immer nur im wiedervereinigten Deutschland gelebt und wissen von der deutschen Teilung aus Erzählungen oder gar nicht. Ricarda Junge legt 25 Jahre nach der Wiedervereinigung einen Roman über Flüchtlingskinder vor, deren Eltern aus der damaligen DDR in den Westen flüchteten. - Anna ist in Wiesbaden aufgewachsen, ihre Mutter arbeitet als Ärztin im Gesundheitsamt, der Vater ist protestantischer Pfarrer. Absolut zuverlässig hastet Annas Mutter in jeder Mittagspause nach Hause, um für ihre schulpflichtigen Kinder zu kochen. Annas Mutter verhielt sich als Erwachsene noch immer, als sei sie auf der Flucht. Sie verabscheute das Sammeln von Dingen, die für sie Ballast waren. Verständlich, dass chaotische Kinderzimmer und Überraschungseier-Sammlungen ihr den letzten Nerv töten konnten. 'Ich wünschte, in der Familie könnte jeder seine Grenzen so klar abstecken wie ich,' (Seite 156) definiert Annas Mutter ihre Position. Anna, die im vierten Schuljahr noch immer nicht Lesen gelernt hat, stößt bei Mutter und Bruder auf wenig Verständnis für ihre Fantasiegeschichten. Verstanden fühlt Anna sich allein vom Großvater (väterlicherseits), der selbst einmal Autor werden wollte und sich seinen Traum versagte, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. - Die erwachsene Anna arbeitet mit fast 30 Jahren nach einem Literaturstudium als Werbetexterin eines Online-Versands in Berlin. Die Autorin und ihre Hauptfigur gehören einer Generation an. Annas Berufung ist es jedoch, einen Roman über das Schicksal ihrer Mutter zu verfassen, die als Kind mit ihren Eltern aus der DDR flüchtete. Kurz nach der Ankunft im Westen verschwand Annas Großvater mütterlicherseits, über sein Schicksal wurde in der Familie nie wieder gesprochen. Anna hat sich das tiefe Misstrauen ihrer Mutter immer mit deren Kindheit in der DDR erklärt und mit dem Schock, unvorbereitet von einem Tag auf den anderen ihr gesamtes Leben hinter sich zurücklassen zu müssen. Der Mutter und ihrem Bruder mussten damals die Fluchtpläne verheimlicht werden. Wäre der Plan aufgeflogen, hätten die Eltern lange Haftstrafen als Republikflüchtlinge vor sich gehabt, die Kinder wären zur Adoption frei gegeben worden. Das Thema Flucht aus der DDR bleibt in Annas Familie verschwiegen und verdrängt, man konzentriert sich auf den Aufbau einer neuen Existenz im Westen. Erst mithilfe des Nachlasses ihres Onkels Georg (des Bruders der Mutter) können Anna und ihr Bruder das Schicksal des verschwundenen Großvaters klären. - 'Die letzen warmen Tage' als Roman zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung ist ein Buch über das Schweigen. Geschwiegen wird aus Angst um das eigene Leben, aus Scham, aus Erschöpfung und vielleicht auch, weil die Kinder nach Meinung ihrer Eltern nicht genug Anteil an deren Kindheitserlebnissen nehmen. In Annas Leben setzt sich dieses Schweigen fort im Erleiden selbstzerstörerischer Beziehungen in der rechtsradikalen Szene und der Affäre mit einem sehr viel älteren Mann. Es ist auch der Roman der Generation Praktikum, die sich mit Praktikantenjobs und Stellen als Scheinselbstständige durchschlägt, die eine Zukunftsplanung verhindern. Wem die Gesellschaft keine verantwortungsvolle Aufgabe überträgt, dessen mangelnde Zielstrebigkeit sollte sie besser nicht kritisieren. - Anna neigte schon immer zu simplen Schuldzuweisungen. Von den Eigenheiten ihrer strukturiert planenden Mutter, über ihre Lehrerin, die aus Annas Sicht die Schuld an ihren Schulproblemen trug, bis zur Freundin ihres Bruders Eike, von der sie sich vom ihr zustehenden Platz in dessen Leben entthront fühlt ' Anna scheint auf die Rolle der Anklägerin abonniert. Da Anna mit fast 30 Jahren weder ihr Verhältnis zu ihrer Mutter reflektiert, noch sonst Verantwortung für ihr Handeln übernommen hat, halte ich den sonst fesselnden Roman zur Wirkung der deutschen Teilung auf eine einzelne Familie für wichtig, auf Annas Ichperspektive reduziert jedoch nicht für komplett gelungen. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Wer bereits etwas von Kristof Magnusson gelesen hat, wird von ihm keine von hübschen Krankenschwestern umschwirrten Halbgötter in Weiß erwarten und sich unter einem von ihm geschriebenen 'Arztroman' eher das Gegenteil vorstellen. Magnussons Notarzt ist eine Frau und sie ähnelt im Dienst äußerlich eher einem Feuerwehrmann. Anita Cornelius arbeitet am Notarztstützpunkt des Urban-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie rückt häufig gemeinsam aus mit ihrem Lieblingskollegen, dem Rettungssanitäter Maik. Mit 40 Jahren ist Anita an einem Punkt im Leben angekommen, an dem sie als erfahrene Notärztin zwar große Befriedigung im Beruf erfährt, sich aber auch fragen muss, was aus ihren Idealen geworden ist, aus denen sie sich für das Medizinstudium entschieden hat. Die meisten Notarzteinsätze in einer alternden Gesellschaft mit wachsender Anzahl von alleinlebenden Menschen entsprechen längst nicht mehr Anitas idealistischer Vorstellung vom Helfen. Zu oft flicken sie und ihre Kollegen in den Krankenhäusern nur notdürftig die Löcher, die eine kurzsichtige Sozial- und Gesundheitspolitik hinterlassen haben; zu viel Zeit verbringen sie mit sinnlosen bürokratischen Abläufen. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Ein dreizehnjähriges Mädchen richtet einen schriftlichen Monolog an ihren Therapeuten. Einwände oder Rückfragen sind in dieser Textform nicht zu erwarten, die Verfasserin kann konsequent in der Welt ihrer Vorstellungen bleiben. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Der Krimiautor als Figur seines eigenen Romans, |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Absolute Jungensache: 99 Fragen und Antworten für Jungs Sabine Thor-Wiedemann kann sich knapp und für ihre Zielgruppe ab 11 Jahren verständlich ausdrücken. Die einzelnen Beiträge umfassen meist eine halbe bis eine Buchseite, enthalten zahlreiche Begriffserklärungen und sind ansprechend illustriert. Themen sind die körperliche und seelische Entwicklung in der Pubertät, Zoff zwischen Eltern und ihren Söhnen und der geheimnisvolle zu entdeckende Kontinent „Mädchen“. Warum Mädchen gleichaltrigen Jungen in der Entwicklung eine Weile lang voraus sind oder was einen Erwachsenen vom Jugendlichen unterscheidet, kommt ebenso zur Sprache wie der allgemeine Weltschmerz in diesem Alter, Körperpflege, was ein nicht volljähriger Junge über seine Rechte und seine Verantwortung wissen sollte, der Sex mit seiner Freundin haben möchte, oder was vom Männer- und Frauenbild zu halten ist, das durch Pornografie vermittelt wird. Im Vergleich zu älteren Büchern zur Sexualaufklärung Jugendlicher, die inhaltlich weiterhin völlig korrekt sind, klärt dieser Titel auch über Online-Kontakte, Cyber-Mobbing, Cyber-Grooming und Sexting in Sozialen Medien auf. Das Buch ist bei Interesse auch für jüngere Leser geeignet, Sexualkundebücher sprechen in den meisten Fällen auch eingefleischte männliche Nicht-Leser an. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Als Mitglied einer militanten Studentengruppe in Bengalen, die der marxistisch-leninistischen Naxalbari-Partei nahestand, hätte Udayan niemals heiraten dürfen. Seine Frau Gauri ist in der Familie Mitra unerwünscht, weil Udayans Eltern die Ehe nicht arrangiert haben, und fortan verpflichtet, sich in allem ihrer Schwiegermutter unterzuordnen. Udayan und sein Bruder Subhash, die einander als Kinder zugetan waren wie Zwillinge, sind 1943 und 1944 geboren. Als fleißige, technisch und naturwissenschaftlich interessierte Schüler liegt vor den Brüdern in Indien eine solide Ausbildung und anschließend ein Dasein als qualifizierte Arbeitslose. Der ältere Subhash erlangt ein Stipendium zum Studium in den USA und kann sich den traditionellen Vorstellungen der Eltern zunächst entziehen. Als Udayan von der Polizei getötet wird, liegt vor seiner jungen Witwe, die zuvor Philosophie studierte, ein von der Welt abgeschottetes Leben im weißen Sari unter der Fuchtel der Schwiegermutter. Subhash tut, was er nie beabsichtigt hatte. Um Gauri mit nach Rhode Island nehmen zu können, schließt er eine Vernunftehe und übernimmt die Vaterschaft für Udayans ungeborenes Kind. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Cecilie Engers Mutter ist an Altersdemenz erkrankt und kann nicht mehr allein in ihrem Haus leben. Die Auflösung des Haushalts konfrontiert die Tochter mit Erinnerungsstücken ihrer Kindheit. Dinge, die ein Leben lang ihren Dienst taten, sind auf einmal nur noch Müll, wenn keines der Kinder Platz dafür hat. Erwachsenen Kindern fällt der endgültige Abschied vom Elternhaus erfahrungsgemäß sehr schwer; sie hatten erwartet, dass dort alles so bleibt wie es ihnen aus ihrer Kindheit vertraut ist. Ruth hat gegen das völlige Versagen ihres Kurzzeitgedächtnisses mit Erinnerungszetteln und Listen zu kämpfen versucht. Viele der Termine existierten nur im Kopf der Kranken. Sie hinterlässt aus gesunden Zeiten eine penibel geführte Liste, welche Geschenke ihre Familie zu Weihnachten vergeben und erhalten hat. Ruths Geschenkeliste muss es in der Familie Enger genauso gegeben haben; sie ist auf dem Vorsatzblatt des Buches abgedruckt. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Ritas Vater und sein 2,5-Tonner Hanomag sind wie ein eingeschworenes Team. Transporte mit dem Hanomag sichern den Lebensunterhalt der Familie. Umgekehrt behandelt der Vater seinen Lkw, als wäre er ein Lebewesen und hätte ein Herz. Anfang der 60er Jahre beschließt der Vater, in eine norddeutsche Hafenstadt (vermutlich Bremerhaven) zu ziehen, um sein Transportgeschäft auszubauen und am Wirtschaftsaufschwung teilzuhaben. In jener Zeit war der Ausbau des Hafens zum Containerhafen im Gespräch. Die Zeiten der Personenschifffahrt, die Auswanderer in die USA transportierte, waren endgültig vorbei. Streng nach den Rollenvorstellungen der Zeit fällt der Vater die Entscheidung zum Umzug seiner Familie, ohne dass Mutter oder Tochter nach ihrer Meinung gefragt werden. Ritas Vater müsste ein größeres Fahrzeug anschaffen, er braucht einen Kredit und eine Konzession. Vom Kontakt mit dem Hafenmeister hatte er sich die Unterstützung seiner Pläne versprochen, doch der sorgt zunächst dafür, dass seine eigenen Taschen stets gefüllt sind. |
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