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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Lebt
Ertener, Orkun

Lebt


sehr gut

Can Evinman ist ein Söldner des deutschen Literaturbetriebs, er schreibt als Ghostwriter Prominenten-Biografien. Zurzeit verarbeitet er mit der bekannten Schauspielerin Anna Roth deren Leben. Can soll offenbar über den Umweg dieses Auftrags geködert werden, sich mit Ereignissen während des Nationalsozialismus zu befassen. Es geht um die Enteignung von sephardischen Juden in Thessaloniki während der deutschen Besetzung der griechischen Stadt. Drei Deutsche waren in die Vorfälle verstrickt: Max Merten, als Verwaltungsrat zuständig für die Versorgung der Stadt und die Beschlagnahmung jüdischen Vermögens, Martin Eissler, Chef der SS-Dienststelle in der Stadt (später Anna Roths Schwiegervater) und Eisslers Lakai Mahler. Gemeinsam betrieben sie 1943 die Enteignung des Tabakunternehmens der Familie Counio. Ein Einheimischer, der damals den Weg der drei kreuzte, heißt Evinman, genau wie Can. - Der Ghostwriter ist sich des Verkaufswertes der bisher unbekannten Geschichte sehr bewusst. Can, der mit Frau und Kindern das sorgenfreie Leben einer Hamburger Mittelschichtfamilie führt, ist selbst durch den Tod seiner Eltern um seine Erinnerungen und seine Herkunft betrogen worden. Je weiter er den damaligen Ereignisse in Thessaloniki nachspürt, je deutlicher wird ihm, dass er bisher wie ein Mensch ohne Vergangenheit gelebt hat. Can ist bei deutschen Pflegeeltern aufgewachsen und konnte sich deshalb nie entscheiden, ob ihn die Geschichte seines Volkes interessiert oder nicht. Seine Familiengeschichte verschwand einfach, wurde vielleicht auch im guten Glauben verschwiegen, das Kind damit vor traumatischen Erinnerungen zu schützen. Wenn eine winzige Volksgruppe wie die Ladino sprechenden Sepharden in alle Winde zerstreut wird, stirbt ihre Sprache unter dem Druck der Assimilation aus. Can ist das lebendige Beispiel für diese tragische Folge eines Integrationsprozesses. - Die faszinierende Geschichte der Stadt Thessaloniki als 'Jerusalem des Balkans' mit ihrer legendären Religions- und Berufsfreiheit und der Dönme, den Nachfahren sephardischer Juden, hat Orkun Ertener solide recherchiert und verknüpft sie mit einer krimireifen Spurensuche. Thessalonikis jüdische Bevölkerung wurde in ihrer durch einen Brand zerstörten Heimatstadt bereits 1917 im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Griechen aus der Türkei durch diese Flüchtlinge verdrängt. Die Dönme waren als Konvertiten formal zum Islam übergetreten, weil sie sonst keine politischen Ämter hätten übernehmen können. Die nationalsozialistischen Besetzer erklären die Dönme wieder zu Juden, um ihr Vermögen beschlagnahmen zu können. In der Folge kommen 50 000 Bürger Salonikis in Ausschwitz ums Leben. Um den unvorstellbar kostbaren Goldschatz, der in Thessaloniki zusammengerafft wurde und an Bord eines Schiffes gesunken sein soll, ranken sich noch immer Legenden professioneller Schatzsucher. - Die Verknüpfung des persönlichen Schicksals sephardischer Juden mit den historisch belegten Ereignissen in Thessaloniki fand ich fesselnd, das Thema des Kulturverlusts durch Assimilierung höchst aktuell. Schließlich baut sich die Erkenntnis auf, dass gestohlener Reichtum völlig nutzlos sein kann, wenn ein Betrüger außer dem geraubten Vermögen selbst kein Talent, keine Geschäftsbeziehungen und keine Begeisterung für sein Metier mitbringt. - Can Evinman muss in einer sehr verschachtelten Handlung erst in mehrere Länder reisen, damit der üppige Plot eine Lösung finden kann. Ohne die übersprudelnde Fülle sehr ausführlich ausgearbeiteter Nebenfiguren hätte mir Orkun Erteners Buch erheblich besser gefallen. "Lebt" ist der Roman eines Mannes, seiner Familiengeschichte, seiner Bücher und seiner Stadt. Das allmähliche Vordringen durch viele Schichten von Erinnerung als würden alte Tapetenschichten freigelegt, muss man mögen. Mir waren es zu viele Schichten und zu viele Verzögerungen. Ich empfehle das Buch entdeckungsfreudigen Lesern, die sich gern ohne feste Genre-Zuordnung auf einen Roman einlassen.

Bewertung vom 04.01.2017
Die letzten warmen Tage
Junge, Ricarda

Die letzten warmen Tage


sehr gut

Deutsche unter 25 Jahren haben immer nur im wiedervereinigten Deutschland gelebt und wissen von der deutschen Teilung aus Erzählungen oder gar nicht. Ricarda Junge legt 25 Jahre nach der Wiedervereinigung einen Roman über Flüchtlingskinder vor, deren Eltern aus der damaligen DDR in den Westen flüchteten. - Anna ist in Wiesbaden aufgewachsen, ihre Mutter arbeitet als Ärztin im Gesundheitsamt, der Vater ist protestantischer Pfarrer. Absolut zuverlässig hastet Annas Mutter in jeder Mittagspause nach Hause, um für ihre schulpflichtigen Kinder zu kochen. Annas Mutter verhielt sich als Erwachsene noch immer, als sei sie auf der Flucht. Sie verabscheute das Sammeln von Dingen, die für sie Ballast waren. Verständlich, dass chaotische Kinderzimmer und Überraschungseier-Sammlungen ihr den letzten Nerv töten konnten. 'Ich wünschte, in der Familie könnte jeder seine Grenzen so klar abstecken wie ich,' (Seite 156) definiert Annas Mutter ihre Position. Anna, die im vierten Schuljahr noch immer nicht Lesen gelernt hat, stößt bei Mutter und Bruder auf wenig Verständnis für ihre Fantasiegeschichten. Verstanden fühlt Anna sich allein vom Großvater (väterlicherseits), der selbst einmal Autor werden wollte und sich seinen Traum versagte, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. - Die erwachsene Anna arbeitet mit fast 30 Jahren nach einem Literaturstudium als Werbetexterin eines Online-Versands in Berlin. Die Autorin und ihre Hauptfigur gehören einer Generation an. Annas Berufung ist es jedoch, einen Roman über das Schicksal ihrer Mutter zu verfassen, die als Kind mit ihren Eltern aus der DDR flüchtete. Kurz nach der Ankunft im Westen verschwand Annas Großvater mütterlicherseits, über sein Schicksal wurde in der Familie nie wieder gesprochen. Anna hat sich das tiefe Misstrauen ihrer Mutter immer mit deren Kindheit in der DDR erklärt und mit dem Schock, unvorbereitet von einem Tag auf den anderen ihr gesamtes Leben hinter sich zurücklassen zu müssen. Der Mutter und ihrem Bruder mussten damals die Fluchtpläne verheimlicht werden. Wäre der Plan aufgeflogen, hätten die Eltern lange Haftstrafen als Republikflüchtlinge vor sich gehabt, die Kinder wären zur Adoption frei gegeben worden. Das Thema Flucht aus der DDR bleibt in Annas Familie verschwiegen und verdrängt, man konzentriert sich auf den Aufbau einer neuen Existenz im Westen. Erst mithilfe des Nachlasses ihres Onkels Georg (des Bruders der Mutter) können Anna und ihr Bruder das Schicksal des verschwundenen Großvaters klären. - 'Die letzen warmen Tage' als Roman zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung ist ein Buch über das Schweigen. Geschwiegen wird aus Angst um das eigene Leben, aus Scham, aus Erschöpfung und vielleicht auch, weil die Kinder nach Meinung ihrer Eltern nicht genug Anteil an deren Kindheitserlebnissen nehmen. In Annas Leben setzt sich dieses Schweigen fort im Erleiden selbstzerstörerischer Beziehungen in der rechtsradikalen Szene und der Affäre mit einem sehr viel älteren Mann. Es ist auch der Roman der Generation Praktikum, die sich mit Praktikantenjobs und Stellen als Scheinselbstständige durchschlägt, die eine Zukunftsplanung verhindern. Wem die Gesellschaft keine verantwortungsvolle Aufgabe überträgt, dessen mangelnde Zielstrebigkeit sollte sie besser nicht kritisieren. - Anna neigte schon immer zu simplen Schuldzuweisungen. Von den Eigenheiten ihrer strukturiert planenden Mutter, über ihre Lehrerin, die aus Annas Sicht die Schuld an ihren Schulproblemen trug, bis zur Freundin ihres Bruders Eike, von der sie sich vom ihr zustehenden Platz in dessen Leben entthront fühlt ' Anna scheint auf die Rolle der Anklägerin abonniert. Da Anna mit fast 30 Jahren weder ihr Verhältnis zu ihrer Mutter reflektiert, noch sonst Verantwortung für ihr Handeln übernommen hat, halte ich den sonst fesselnden Roman zur Wirkung der deutschen Teilung auf eine einzelne Familie für wichtig, auf Annas Ichperspektive reduziert jedoch nicht für komplett gelungen.

Bewertung vom 04.01.2017
Arztroman
Magnusson, Kristof

Arztroman


sehr gut

Wer bereits etwas von Kristof Magnusson gelesen hat, wird von ihm keine von hübschen Krankenschwestern umschwirrten Halbgötter in Weiß erwarten und sich unter einem von ihm geschriebenen 'Arztroman' eher das Gegenteil vorstellen. Magnussons Notarzt ist eine Frau und sie ähnelt im Dienst äußerlich eher einem Feuerwehrmann. Anita Cornelius arbeitet am Notarztstützpunkt des Urban-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie rückt häufig gemeinsam aus mit ihrem Lieblingskollegen, dem Rettungssanitäter Maik. Mit 40 Jahren ist Anita an einem Punkt im Leben angekommen, an dem sie als erfahrene Notärztin zwar große Befriedigung im Beruf erfährt, sich aber auch fragen muss, was aus ihren Idealen geworden ist, aus denen sie sich für das Medizinstudium entschieden hat. Die meisten Notarzteinsätze in einer alternden Gesellschaft mit wachsender Anzahl von alleinlebenden Menschen entsprechen längst nicht mehr Anitas idealistischer Vorstellung vom Helfen. Zu oft flicken sie und ihre Kollegen in den Krankenhäusern nur notdürftig die Löcher, die eine kurzsichtige Sozial- und Gesundheitspolitik hinterlassen haben; zu viel Zeit verbringen sie mit sinnlosen bürokratischen Abläufen.

Anitas Trennung von ihrem Mann Adrian ist Folge dieser Bestandsaufnahme in der Lebensmitte. Nicht nur beruflich hatten Adrian und sie sich auseinander entwickelt. Beide müssen auch die Weichen für die nächsten 25 Berufsjahre neu stellen. Anita und ihr Mann hatten ursprünglich auf der Intensiv-Station gearbeitet. Anita trifft Adrian dort in Abständen wieder, wenn sie einen Patienten einliefert. Der gemeinsame Sohn lebt mit Adrian und seiner neuen Partnerin. Oberflächlich gesehen sind Trennung und Sorgerecht für beide Seiten vernünftig geregelt. Anita kann jedoch nur schlecht damit umgehen, dass ihr 14-jähriger Sohn Lukas inzwischen eigene Wege geht und sie nicht mehr auf alle Entwicklungen in seinem Leben Einfluss hat. Als Anita eine Beziehung mit dem Bootsbauer Rio beginnt, kommt ihr die Idee, Adrian, Lukas und Heidi zu einer gruppendynamischen Bootsfahrt gemeinsam 'in ein Boot zu holen'.

Magnusson hat die die Abläufe im Rettungsdienst und die Fachsprache sorgfältig recherchiert; sein Roman arbeitet mit den Mitteln der Reportage. Mit drastischen, unappetitlichen Szenen und Insider-Begriffen ist also zu rechnen. Seine Beschreibungen aus Anitas Berufswelt konzentrieren sich auf Beobachtungen im Milieu ihrer Patienten und auf äußere Abläufe. Als Leser erlebt man Anita als genaue Beobachterin der Lebensverhältnisse ihrer Patienten, seltener als glamouröse Retterin. Die Innenwelt einer Person im Schichtdienst ist mir dabei etwas zu kurz gekommen. Zwar wird am Rande gestreift, dass Anita bei Dienstende nur schwer abschalten kann und ihr Schlafzimmerfenster schwarz beklebt hat, um tagsüber schlafen zu können. Die besondere Lebenssituation einer Person, die gegenläufig zu anderen arbeitet und schläft, hätte m. A. deutlicher herausgearbeitet werden können. Kristof Magnusson zeigt in seinem 'Arztroman' die Sinnkrise Vierzigjähriger in der Lebensmitte und lässt seine Leser als Beifahrer im Notarztwagen hinter die Kulissen unseres Gesundheitssystems blicken.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Geschichte von Blue
Winter, Solomonica de

Die Geschichte von Blue


ausgezeichnet

Ein dreizehnjähriges Mädchen richtet einen schriftlichen Monolog an ihren Therapeuten. Einwände oder Rückfragen sind in dieser Textform nicht zu erwarten, die Verfasserin kann konsequent in der Welt ihrer Vorstellungen bleiben.

Blue ist die Tochter von Daisy und hat sich schon immer ungeliebt von ihrer Mutter gefühlt. Blue ist bereit, jeden zu töten, der ihr in die Quere kommt. Zunächst will sie ihr Buch „Der Zauberer von Oz“ gegen vermeintliche Angreifer verteidigen. Blue trägt ihr Buch wie ein Schutzschild vor sich her. Nicht nur das Buch muss mit allen Mitteln verteidigt werden, auch die Ehre von Blues Vater. Die unerbittliche Konsequenz des Mädchens verursacht mir eine Gänsehaut. Offenbar hat das Mädchen an einem Punkt in der Vergangenheit aufgehört zu sprechen. Wegen der Lebensverhältnisse von Mutter und Tochter und Blues Weigerung zu sprechen wurde Blue als Soziopathin diagnostiziert. Jedenfalls behauptet Blue das. Meine Gedanken wandern. Eine diagnostizierte Soziopathin hätte praktisch Narrenfreiheit für ihre Impulse. Töten ist Blues Art Hindernisse zu beseitigen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Plant Blue einen Amoklauf? Wer mitten in der Pubertät aufhört zu sprechen, muss nicht erwachsen werden. Blue will keine Frau werden. Ihr beschränkter Blick auf die Welt macht mir jetzt endgültig Angst. Von den Ursachen für Blues Schweigsamkeit ganz zu schweigen. Eine einzige Person hält Blue für normal, Charlie, ein Typ, den sie im Minimart getroffen hat. Charlie könnte Blue retten. Aber will sie überhaupt gerettet werden?

Eine siebzehnjährige Autorin aus prominenter Schriftstellerfamilie debütiert hier mit dem beklemmenden Psychogramm einer psychisch kranken Dreizehnjährigen und einer überraschenden Auflösung.
Beeindruckend.

^^^^
Zitat
„Und dann verschwand ihre Stimme aus meinem Kopf. Einfach so. Ich hörte sie nicht mehr, keinen einzigen Ton. Und ich fragte mich, warum sie wohl glaubte, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und der einzige Mensch zu sein, der richtig und falsch unterscheiden konnte. Das konnte nur mein Buch. In dieser Welt wird mich niemand je stören. Niemand kann mich verurteilen oder mir Angst machen. Niemand kann mich anrempeln oder mich nach der Urzeit fragen. Dort gibt es keine Motelduschen mit Abflüssen voller Haare. Keine dreckigen Fingernägel. Keine schreienden Obdachlosen, die um den Block ziehen. Keine Schüsse. Keinen Mord. Keine kokainsüchtige Mutter, die sich über mich ärgert, die sich vor mir fürchtet. In meinem Buch bin ich sicher. Mein Buch ist die Droge, nach der ich mich sehne.“ (S. 56)

Bewertung vom 04.01.2017
Absolute Zero Cool
Burke, Declan

Absolute Zero Cool


sehr gut

Der Krimiautor als Figur seines eigenen Romans,
So geht es dem zunächst namenlosen Autor in Declan Burkes selbstreflektierender Krimi-Satire. Die Grenzen zwischen Autor, Lektor und seiner Hauptfigur verschwimmen; der Autor befindet sich gleichzeitig in seiner Geschichte und außerhalb. Der Autor als Protagonist wirkt planlos, er versetzt seine Leser damit in dieselbe Situation. Warum sollte es Burkes Krimilesern besser gehen als ihm selbst? Karlsson arbeitet als Hilfskraft in einem irischen Krankenhaus. Als Mitarbeiter auf der untersten Sprosse der Hackordnung transportiert er Waren, beseitigt Müll. Man nimmt ihn erst dann wahr, wenn der Müll nicht wie gewohnt abgeholt wird. Karlsson könnte an seinem Arbeitsplatz diverse Knüppel ins Getriebe des Betriebs werfen, weil er zu wenig Anerkennung bekommt.

Im Zwiegespräch mit seinem Autor mimt der Protagonist gern den Moralapostel. Er hält sich für eine Art Robin Hood des Gesundheitssystems, klaut, dealt, erpresst seinen Vorgesetzten und mischt sich in Dinge ein, die ihn nichts angehen. Mehrere ungeklärte Todesfälle soll es auf Stationen gegeben haben, zu denen Karlsson Zutritt hat. Auf mich hat Karlsson wie ein Unterhändler gewirkt, der aus seinem Autor möglichst viele Vorteile für sich herausschlagen will, während der zunehmend die Kontrolle über sein Kunstprodukt verliert.

In einem Unterhaltungsroman finde ich die Unsicherheit darüber zwar anstrengend, wer gerade wer ist, aber dennoch unterhaltsam.

Bewertung vom 04.01.2017
Absolute Jungensache: 99 Fragen und Antworten für Jungs
Thor-Wiedemann, Sabine

Absolute Jungensache: 99 Fragen und Antworten für Jungs


ausgezeichnet

Sabine Thor-Wiedemann kann sich knapp und für ihre Zielgruppe ab 11 Jahren verständlich ausdrücken. Die einzelnen Beiträge umfassen meist eine halbe bis eine Buchseite, enthalten zahlreiche Begriffserklärungen und sind ansprechend illustriert. Themen sind die körperliche und seelische Entwicklung in der Pubertät, Zoff zwischen Eltern und ihren Söhnen und der geheimnisvolle zu entdeckende Kontinent „Mädchen“. Warum Mädchen gleichaltrigen Jungen in der Entwicklung eine Weile lang voraus sind oder was einen Erwachsenen vom Jugendlichen unterscheidet, kommt ebenso zur Sprache wie der allgemeine Weltschmerz in diesem Alter, Körperpflege, was ein nicht volljähriger Junge über seine Rechte und seine Verantwortung wissen sollte, der Sex mit seiner Freundin haben möchte, oder was vom Männer- und Frauenbild zu halten ist, das durch Pornografie vermittelt wird. Im Vergleich zu älteren Büchern zur Sexualaufklärung Jugendlicher, die inhaltlich weiterhin völlig korrekt sind, klärt dieser Titel auch über Online-Kontakte, Cyber-Mobbing, Cyber-Grooming und Sexting in Sozialen Medien auf. Das Buch ist bei Interesse auch für jüngere Leser geeignet, Sexualkundebücher sprechen in den meisten Fällen auch eingefleischte männliche Nicht-Leser an.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Tiefland
Lahiri, Jhumpa

Das Tiefland


ausgezeichnet

Als Mitglied einer militanten Studentengruppe in Bengalen, die der marxistisch-leninistischen Naxalbari-Partei nahestand, hätte Udayan niemals heiraten dürfen. Seine Frau Gauri ist in der Familie Mitra unerwünscht, weil Udayans Eltern die Ehe nicht arrangiert haben, und fortan verpflichtet, sich in allem ihrer Schwiegermutter unterzuordnen. Udayan und sein Bruder Subhash, die einander als Kinder zugetan waren wie Zwillinge, sind 1943 und 1944 geboren. Als fleißige, technisch und naturwissenschaftlich interessierte Schüler liegt vor den Brüdern in Indien eine solide Ausbildung und anschließend ein Dasein als qualifizierte Arbeitslose. Der ältere Subhash erlangt ein Stipendium zum Studium in den USA und kann sich den traditionellen Vorstellungen der Eltern zunächst entziehen. Als Udayan von der Polizei getötet wird, liegt vor seiner jungen Witwe, die zuvor Philosophie studierte, ein von der Welt abgeschottetes Leben im weißen Sari unter der Fuchtel der Schwiegermutter. Subhash tut, was er nie beabsichtigt hatte. Um Gauri mit nach Rhode Island nehmen zu können, schließt er eine Vernunftehe und übernimmt die Vaterschaft für Udayans ungeborenes Kind.

Über Udayans Tod und die Vorstellungen des jungen Paares von ihrer Zukunft wird in der neuen Heimat kaum gesprochen. Subhash stellt sich für Gauri ein traditionelles Dasein als Hausfrau vor, obwohl sich für das Leben eines jungen Paars mit Kind auf dem Campus auch andere Rollenmodelle angeboten hätten. Gauri bringt anfangs jede freie Minute als Gasthörerin an der Uni zu, sie wird gefördert, promoviert, bis sie schließlich förmlich den Sari ablegt, Mann und Kind verlässt, um in Kalifornien selbst Philosophie zu lehren. Der Kontakt zwischen Subhash und Gauri reisst ab. Aus Scham und Sprachlosigkeit verschweigen Subhash und Gauri zukünftig ihr Schicksal und leben, als hätte es nie einen Ehepartner gegeben. Gauri zeigt sich flexibler als ihr zweiter Mann; sie wechselt in kurzer Zeit ihre Rollen von der Studentin zur Witwe, wieder zur Ehefrau, übernimmt die Mutterrolle und legt sie wieder ab. Subhash zieht seine Tochter allein auf, eine Rolle, auf die ihn niemand vorbereitet hat. Er, der arrangierte Ehen abgelehnt hatte, findet selbst im liberalen Uni-Milieu ohne die Orientierung seiner eigenen Kultur nur schwer in seine neue Rolle. Zum Moment der Wahrheit kommt es nie, in dem er seine Tochter Bela über ihre Herkunft informieren könnte. Auch über Indien und die Lebensumstände der Großeltern wird bei Mitras nicht gesprochen. Tochter Bela nimmt als Erwachsene das Leben einer sozial engagierten und umweltbewussten Vagabundin auf und stellt den Lebensentwurf ihres Vaters damit demonstrativ infrage. Den Groll auf den Vater verdrängt Bela jahrelang, dem sie die Schuld daran gibt, dass ihre Mutter die Familie verlassen hat. Ihre Mutter erklärt sie anderen gegenüber für tot. Belas im Vagabundendasein verborgene Rollensuche zeigt beispielhaft, wie schwer eingefahrene Verhaltensmuster als Partner und Eltern zu verändern sind, wenn dafür Vorbilder fehlen. Bela bricht schließlich das Schweigen unter den in alle Winde verstreuten Familienmitgliedern.

Jhumpa Lahiri zeichnet auch in "Das Tiefland" (Tiefland wird das sumpfige Stück Flachland hinter dem Elternhaus der Brüder Mitra genannt) das Schicksal bengalischer Einwanderer in den USA nach. Über vier Generationen und mehr als 50 Jahre können Lahiris Leser die Suche der Nachkommen einer traditionellen indischen Familie nach einem neuen Lebensentwurf verfolgen. Ein großartiger Roman mit unvergesslichen Figuren.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Geschenke meiner Mutter
Enger, Cecilie

Die Geschenke meiner Mutter


ausgezeichnet

Cecilie Engers Mutter ist an Altersdemenz erkrankt und kann nicht mehr allein in ihrem Haus leben. Die Auflösung des Haushalts konfrontiert die Tochter mit Erinnerungsstücken ihrer Kindheit. Dinge, die ein Leben lang ihren Dienst taten, sind auf einmal nur noch Müll, wenn keines der Kinder Platz dafür hat. Erwachsenen Kindern fällt der endgültige Abschied vom Elternhaus erfahrungsgemäß sehr schwer; sie hatten erwartet, dass dort alles so bleibt wie es ihnen aus ihrer Kindheit vertraut ist. Ruth hat gegen das völlige Versagen ihres Kurzzeitgedächtnisses mit Erinnerungszetteln und Listen zu kämpfen versucht. Viele der Termine existierten nur im Kopf der Kranken. Sie hinterlässt aus gesunden Zeiten eine penibel geführte Liste, welche Geschenke ihre Familie zu Weihnachten vergeben und erhalten hat. Ruths Geschenkeliste muss es in der Familie Enger genauso gegeben haben; sie ist auf dem Vorsatzblatt des Buches abgedruckt.

Diese Liste führt Cecilie wie eine Familienchronik zurück zu den Weihnachtsfesten ihrer Kindheit und zu Verwandten, die schon nicht mehr leben. Die Großeltern mütterlicherseits waren beide kulturell interessiert, Cecilies Großvater arbeitete als Theaterkritiker und schrieb für eine kommunistische Zeitung; seine Frau hatte als Bildhauerin und Malerin ein eigenes Atelier. Als ihre Tochter Ruth einen Ingenieur heiratet, der in den USA studiert hatte, sah der Großvater etwas hochnäsig auf seinen technisch begabten Schwiegersohn herab. Beide Großeltern wurden von ihren Enkeln wie Gottheiten verehrt. Die unverheiratete Großtante Kaja sprach schon mit der fünfjährigen Cecilie über Glück und hinterließ ihr ein Buch mit selbstverfassten Gedichten, deren Wert das kleine Mädchen erst viel später schätzen sollte. Ein Großonkel suchte sein Glück in Amerika, wie Kaja hatte er in der Familie eine Rolle, die vielen Familien vertraut sein wird. Die Geschenke, die mit viel Liebe angefertigt und ausgesucht wurden, sind nicht nur Gegenstände, sie sprechen eine deutliche Sprache über das Netz gegenseitiger Verpflichtungen zwischen Schenkendem und Beschenktem. Für die demente Ruth sind Dinge jedoch längst nicht mehr mit Erinnerungen verknüpft, sie verängstigen sie, weil sie nicht mehr weiß, was sie bedeuten.

Der Weg zurück in ihre Kindheit erinnert Cecilie daran, dass ihre Mutter ein ungewöhnliches, erfülltes Leben geführt hat. Ruth konnte sich derart über die Ungerechtigkeiten in aller Welt aufregen, dass in der Familie diskussionsfreie Zonen eingerichtet werden mussten, damit sie wieder zurück auf den Teppich kommen konnte. Auch wenn die Tochter ihre Mutter nun nichts mehr über die Vergangenheit fragen kann, versöhnt der Rückblick sie mit dem Schicksal ihrer Mutter. Neben der versöhnlichen Wirkung, die Cecilie Engers biografischer Roman auf seine Leser ausübt, schärft er auch die Wahrnehmung erster Anzeichen der Krankheit, die Betroffene und ihre Angehörigen im frühen Stadium meist noch nicht wahrnehmen.

Bewertung vom 04.01.2017
Hanomag (eBook, ePUB)
Eckert, Hella

Hanomag (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ritas Vater und sein 2,5-Tonner Hanomag sind wie ein eingeschworenes Team. Transporte mit dem Hanomag sichern den Lebensunterhalt der Familie. Umgekehrt behandelt der Vater seinen Lkw, als wäre er ein Lebewesen und hätte ein Herz. Anfang der 60er Jahre beschließt der Vater, in eine norddeutsche Hafenstadt (vermutlich Bremerhaven) zu ziehen, um sein Transportgeschäft auszubauen und am Wirtschaftsaufschwung teilzuhaben. In jener Zeit war der Ausbau des Hafens zum Containerhafen im Gespräch. Die Zeiten der Personenschifffahrt, die Auswanderer in die USA transportierte, waren endgültig vorbei. Streng nach den Rollenvorstellungen der Zeit fällt der Vater die Entscheidung zum Umzug seiner Familie, ohne dass Mutter oder Tochter nach ihrer Meinung gefragt werden. Ritas Vater müsste ein größeres Fahrzeug anschaffen, er braucht einen Kredit und eine Konzession. Vom Kontakt mit dem Hafenmeister hatte er sich die Unterstützung seiner Pläne versprochen, doch der sorgt zunächst dafür, dass seine eigenen Taschen stets gefüllt sind.

Obwohl Rita mit 16 Jahren ganz mit ihren eigenen Plänen und dem Erwachsenwerden beschäftigt sein sollte, hat sie ein erstaunliches Gespür für die Anpassungsprobleme ihres Vaters und die Sicht anderer Personen auf ihre Eltern. Sich selbst betrachtet Rita als unkompliziert; die Komplikationen in ihrem Leben verursachen stets Erwachsene. Rita verfolgt die Entwicklung ihrer Mutter, die eine Stelle als Schreibkraft annimmt und durch ihr eigenes Einkommen und die Anerkennung Fremder ihre gewohnte Rolle ablegt. Rita selbst experimentiert mit verschiedenen Ferienjobs. Sie arbeitet kurze Zeit in einem Plattenladen, was die Stimmung der 60er Jahre stimmungsvoll vermittelt. Im Fadenkreuz der Gedanken stehen in den 60ern die USA, deren Musik- und Filmidole einerseits Sehnsüchte deutscher Teenager wecken, durch den Vietnamkrieg andererseits aber auch das Ende der unbeschwerten Nachkriegsjahre andeuten. Rita wächst in einer Zeit auf, in der Mädchen noch nicht einfach fortgehen oder -fahren; denn zu solchen Plänen gehörte damals noch ein Mann. So träumt Rita folgerichtig davon, gemeinsam mit einem Mann nach Alaska auszuwandern. Die für die 60er charakteristische Aufbruchsstimmung vermittelt Hella Eckert sehr atmosphärisch mit den Namen von fremden Städten und Häfen, die der Vater von Schiffen abliest und Rita von der beleuchteten Skala des Radios.

Hella Eckart erzählt in sprödem Ton aus der Ichperspektive von Rita, vordergründig von der Existenzgründung des Vaters und der Beziehung ihrer Eltern. In der melancholisch wirkenden Beschreibung der äußeren Umstände verbirgt sich der äußerst treffend beobachtete Coming-of-Age-Prozess der siebzehnjährigen Icherzählerin.