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sleepwalker

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Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 05.01.2021
Meine lieben jungen Freunde
Fallada, Hans

Meine lieben jungen Freunde


ausgezeichnet

„Meine lieben jungen Freunde: Briefe an die Kinder“ von Hans Fallada, herausgegeben von Nele Holdack, ist ein schmaler Band (das Buch hat nur 144 Seiten), in dessen erstem Teil augenscheinlich nicht mal wirklich viel steht. Kennt man aber die Biografie des Schriftstellers, dann steht zwischen den Zeilen sehr viel und im zweiten Teil noch viel mehr. Außerdem besteht nur der erste Teil des Buchs aus Briefen, aber nicht an DIE Kinder, sondern fast ausschließlich an seine Tochter Lore, genannt Mücke, die als Neunjährige ein Internat in Hermannswerder bei Potsdam besuchte, da es in der ländlichen Heimat nur eine Dorfschule gab. Die Briefe an seinen Sohn Uli, der im Internat in Templin (Uckermark) war, sind übrigens in „Mein Vater und sein Sohn“ erschienen. Den zweiten Teil macht ein Vortrag aus, den Fallada für den literarischen Verein seines Sohnes Ulrich schrieb (und auch hielt). Von diesem stammt auch der Titel des Buchs.
Der erste Teil, die Briefe an Mücke sind zwar eher trivial, denn Fallada lässt die Tochter durch seine Berichte am Leben zu Hause teilhaben. In der Hauptsache bestehen seine Briefe aus Erzählungen darüber, was sie verpasst, Kritik an ihrer mangelhaften Rechtschreibung und Bitten, sie möge doch öfter und vielleicht etwas ausführlicher schreiben. Mücke schreibt kurz und erzählt eher wenig und auch ihre vielen Rechtschreibfehler sind übernommen. Da die Briefe aus der Zeit August 1942 bis Ende 1943 stammen, fehlen aber auch Fliegerangriffe und Luftalarme in Mückes Briefen nicht, was das Buch zu einem eher unterschwelligen, wenn auch sehr knappen, Zeitdokument macht. Die Eltern auf dem Land sehen den „Feuerschein über Berlin“ aus der Ferne und hören die Flugzeuge, Mücke erlebt manches hautnah.
Der zweite Teil des Buch, der Vortrag an „meine lieben jungen Freunde“, ist autobiografisch angehaucht und zeigt eine Art „Innenansicht“ des Schriftstellers, der zwar wohl tatsächlich der liebende Vater war, den die Briefe des ersten Teils erahnen lassen, aber der auch eine andere, eine dunkle Seite hatte. So war er Alkoholiker, Morphinist und nahm es mit der ehelichen Treue nicht so genau. Und er war ein Getriebener, einer, der gegen seine Dämonen ankämpfte und letztendlich verlor. „Man muss Bücher schreiben, weil man sie schreiben muss!“ Sogar: „Schreibe ich denn diese Bücher? Es schreibt sie in mir.“ – war nicht nur seine Erklärung dafür, was es braucht, ein Schriftsteller zu werden, sondern auch eine Art Entschuldigung für seinen Lebensstil und seinen Lebenswandel.
Die heile (Familien-)Welt, die der erste Teil vermuten lässt, ist nämlich tatsächlich nicht so heil, wer Fallada kennt, weiß beispielsweise, dass er nicht nur mehrfach zum Entzug in diversen Sanatorien war, sondern auch im Gefängnis saß, weil er seine Frau im Rausch mit einer Pistole bedrohte. Mit diesem Wissen im Hinterkopf liest sich das Buch dann zwischen den Zeilen doch etwas anders. Aber fest steht, dass er mit Sicherheit ein liebender und liebevoller Vater und ein außergewöhnlicher Schriftsteller war. Mir hat das Büchlein den Menschen Hans Fallada (oder Rudolf Ditzen, wie er mit bürgerlichem Namen hieß) etwas näher gebracht. Eine Lese-Empfehlung für alle, die, wie ich, Falladas Werk schätzen. 5 Sterne.

Bewertung vom 04.01.2021
Der Spiegelmann / Kommissar Linna Bd.8
Kepler, Lars

Der Spiegelmann / Kommissar Linna Bd.8


sehr gut

Endlich ein neuer Joona-Linna-Thriller! Mit „Der Spiegelmann“ haben Lars Kepler (dahinter verbirgt sich ja bekanntlich ein Autoren-Duo) den achten Teil der Serie veröffentlicht und reißen ihre Leser mit in einen Strudel aus Gewalt, Brutalität und Mord.
Fünf Jahre nach ihrem Verschwinden, wird die Schülerin Jenny Lind erhängt auf einem Spielplatz aufgefunden. Joona Linna beginnt er mit seinen Ermittlungen und findet mehr zufällig (wenn man bei Joona Linna überhaupt irgendwas zufällig ist) eine Auffälligkeit an der Leiche. Zwar bietet sich mit einem psychisch kranken Zeugen auch direkt ein potenzieller Täter an, aber Linna erkennt schnell: so einfach, wie es aussieht, ist an diesem Fall rein gar nichts. Näher möchte ich auf die Handlung gar nicht eingehen, denn sie ist sehr komplex und rasant erzählt. Aber eines ist klar: in Brutalität, Vielschichtigkeit und Verwirrung steht auch dieser Band den Vorgängern aus der Serie in nichts nach.
Der Thriller spielt in drei verschiedenen Handlungssträngen, die erst sehr spät zu einem Ganzen verflochten werden. Er fängt spannend an, geht spannend weiter und endet mit einem (für mich nicht ganz) überraschenden Schluss – und natürlich dem unvermeidlichen Cliffhanger und dem kleinen Ausblick auf das, was einen in Band 9 so erwarten könnte. Zwischendrin hat das Buch allerdings ein paar eher gemächliche Passagen, in denen der Leser bei so viel rasanter Spannung und Brutalität etwas zu Atem kommen kann. Das ist meiner Meinung nach bei den sehr detailliert beschriebenen Gewalttaten auch nötig, denn die sind nichts für schwache Nerven und sensible Mägen. Manche waren selbst mir zu brutal und ich bin als eingefleischter Krimileser wirklich einiges gewohnt.
Interessant fand ich die (eventuell gar nicht beabsichtigte) Namensähnlichkeit des ersten Opfers Jenny Lind mit der jungen Cecilia Lind aus Cornelis Vreeswijks „Balladen om Fredrik Åkare“. Seltsam falsch ist der Begriff „Adlernest“ (schwedisch: örnbo) – es heißt auf Deutsch korrekt „Adlerhorst“. Schade auch, dass der Rechtsmediziner in der Übersetzung „Åhlén“ heißt und der „Sprachwitz“, dass er „Nålen“ (die Nadel) genannt wird, verloren geht. Selbst in der englischen Übersetzung wird dieser mit „the needle“ aufgegriffen. Auch sind Oberarme nicht „muskulär“, sondern muskulös und die Pulsader am Hals heißt Halsschlagader. Alles in allem hat das Buch ein paar Schwächen, einige davon liegen in der Übersetzung, andere in der Recherche der Autoren, worauf ich allerdings nicht näher eingehen kann, ohne zu spoilern. Allerdings muss ich aus eigener Erfahrung sagen, dass da sehr vieles viel zu pauschal abgearbeitet wird und auch fachlich auf dem Gebiet der Psychologie und Medizin nicht alles ganz korrekt ist.
Der Spannungsbogen ist konstant hoch, die Geschichte packend und rasant erzählt. Obwohl es schon der achte Band der Serie ist, konnte man ihn auch problemlos einzeln verstehen, selbst das Zerwürfnis zwischen Joona Linna und seiner Tochter Lumi, das aus dem vorhergehenden Teil stammt, wird hinreichend erklärt. Gefreut habe ich mich über ein Wiedersehen mit dem „Hypnotiseur“ Erik Maria Bark. Bei aller Spannung waren manche Szenen allerdings eher widerlich-brutal und man hätte sie ohne Verlust innerhalb des Plots auch weglassen können. Aber auch das bin ich von Lars Kepler gewohnt. Ebenso die manchmal nervige, fast übermenschliche Ermittlungsgenialität von Joona Linna.
Der Thriller ist eine klare Lese-Empfehlung für alle Fans des Autoren-Duos und alle, denen brutalste Folter-, Missbrauchs- und Tötungsszenen nichts ausmachen. Ich freue mich auf Band 9, überlege aber, ihn im Original zu lesen. Abzüglich eines Übersetzungs-Sterns vergebe ich 4 Sterne.

Bewertung vom 21.12.2020
Glücksritter
Kleeberg, Michael

Glücksritter


ausgezeichnet

„Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist der Titel von Thomas Kleebergers Roman und gleichzeitig ist dieser Titel Programm. Denn sein Vater, dem er sich nach dessen Tod anzunähern versucht, scheint sein Leben lang auf der Suche nach dem Glück zu sein („Glück ist etwas gewesen, dem mein Vater sein Leben lang hinterher gejagt hat“). Aber er war zwar ein Glücksritter, aber weniger ein Ritter ohne Furcht und Tadel, sondern eher einer von der traurigen Gestalt.
Wie so viele Familien ihrer Zeit, standen die Eltern von Thomas Kleeberger bei seiner Geburt 1959 mit einem Fuß noch im 2. Weltkrieg und mussten mit dem Erlebten klarkommen (die Tante entging knapp einer Vergewaltigung durch einen Soldaten, der Vater musste sich nach dem Ende der Kinderlangverschickung alleine nach Hause durchschlagen und die Mutter erinnert sich noch lebhaft an Nächte in Luftschutzkellern) und mit dem anderen Fuß standen sie im Wirtschaftswunder, versuchten, „zu etwas zu kommen“. Geld und Besitztümer, vor allem wohl Autos, waren in der Familie ein großes Thema.
Der Vater scheint aber ein „ewig zu kurz Gekommener“ gewesen zu sein, und dennoch schien er zu glauben, das Universum schulde ihm wenigstens ein Quäntchen („Und wenn ich es recht bedachte, hatte mein Vater immer Pech gehabt, wenn es um Geld gegangen war oder immer die falschen Entscheidungen getroffen. Was vielleicht erstaunlich war bei einem Menschen, der so sehr vom Geld besessen war wie er, und vielleicht dann auch wieder nicht.“) Enkeltrick, beziehungsweise in diesem Fall „Nigeria-Trick“, sind Dinge, die die meisten nur aus den Medien kennen. Thomas Kleebergers Eltern fielen im fortgeschrittenen Alter auf diesen Trick herein, als er es bemerkte, hatten sie schon Tausende Euro verloren, Geld, das sie sich unter anderem in der Verwandtschaft geliehen hatten. Kleebergers Buch ist eine Mischung aus Familiengeschichte, Lebensgeschichte des Vaters und auch ein zeitgeschichtliches Dokument ab der Zeit des 2. Weltkriegs. Aber insgesamt ist es natürlich auch eine Abrechnung mit den Eltern, vor allem dem Vater, einem, der sich nie etwas sagen ließ – und am Schluss beinahe alles verloren hätte.
Recherche über meinen Vater lässt eigentlich ein nüchternes, eher wissenschaftliches Werk erwarten. Das empfand ich aber nicht so. Zwar nähert er sich akribisch an seinen Vater an, aber er verliert nie die persönliche, die „Sohn-Komponente“. Vor allem muss er selbst recherchieren, denn nach dem Tod des Vaters schreitet die Demenz der Mutter rasant fort und sie kann ihm nicht mehr beim Graben in der Vergangenheit helfen. Es ist eine liebevolle aber fast kriminologisch aufklärerische Annäherung an den Vater, die zwiegespaltene Persönlichkeit. Einerseits der charmante Mann („Mein Vater sagte ›proper‹ oder ›rundlich‹, selbst seine Schwägerin, meine adipöse Tante, die bei 1,63 Körpergröße zuletzt weit über 100 Kilo wog, nannte er liebevoll ›moppelig‹.“), der auch die Demenz der Mutter lange mit „nicht mehr so fit im Kopf …“ umschrieb. Auf der anderen Seite war er wohl jähzornig und auch die Mutter legte den Sohn des Öfteren übers Knie und versohlte ihn mit dem Kochlöffel. Zudem war der Vater nicht in der Lage, auf seinen Sohn stolz zu sein. Der sollte ein „Herr Doktor“ werden, wurde er aber nicht. Und auch den Unterhaltungsroman, den der Vater gerne von ihm gelesen hätte, blieb er schuldig, obwohl der Vater überzeugt war „So was wollen die Leute lesen. Nicht nur immer Probleme. Damit hättest du Erfolg.“
Das Buch ist wohlformuliert und flüssig zu lesen, die Sprache ist alltagsnah und gefällig. Der Inhalt ist zum Teil schwere Kost, an der man eine Weile zu kauen hat. Für mich aber definitiv einer DER Familienromane des Jahres und eine ganz klare Lese-Empfehlung. „Mein Vater war also vor seinem Tod mit mir im Reinen, aber – das fragte ich mich, während wir in seiner letzten Wohnung beisammensaßen – war ich auch endlich mit ihm im Reinen?“ – es ist ihm auf jeden Fall von ganzem Herzen zu wünschen. Von mir 5 Ste

Bewertung vom 15.12.2020
Die schönsten bretonischen Sagen
Bannalec, Jean-Luc;Spreckelsen, Tilman

Die schönsten bretonischen Sagen


ausgezeichnet

In meiner Kindheit waren es „Grimms Märchen“ oder der „Große Märchenschatz“, die mir meine Oma abends vorgelesen hat. Die Faszination hat mich mein ganzes Leben lang begleitet, daher habe ich mich auf und über „Die schönsten bretonischen Sagen“ ganz besonders gefreut. Herausgegeben wird das Buch von Jean- Luc Bannalec, dem Schöpfer des Buch- und Fernsehkommissars Dupin, und Tilmann Spreckelsen, der dem einen oder anderen Krimi-Fan durch sein Buch „Nordseegrab“ ein Begriff sein dürfte. Diese Sagen-Sammlung ist ganz sicher nichts für Kinder, sondern ein wahres Füllhorn an Geschichten für Erwachsene.
Mit Beschreibungen der Landschaft, die ich im Schüleraustausch kennenlernen durfte, führen die 21 Erzählungen die Leser ins Reich von Zauber, Magie, Feen, Gnomen und Riesen, die dort beheimatet sind. Die Sagen sind wie man es von diesem Genre kennt: spannend, mystisch, manchmal brutal und gruselig. Auf jeden Fall sind sie nichts für schwache Nerven und in fast jeder steckt eine Moral von der Geschicht‘ und in manchen ein erhobener Zeigefinger. Auch sprachlich sind die Sagen in gewohnter und bewährter Manier geschrieben: eher kompliziert und rasant, altertümlich und zum Teil poetisch, da muss man schon ganz genau lesen, um alles mitzubekommen und nicht zwischendrin den Faden zu verlieren. Was auffällt, ist der enorme religiöse Bezug, der war mir noch nie so stark aufgefallen, wie bei der Lektüre dieses Buchs.
Schön sind die Geschichten nicht alle, in manchen wird mit den Charakteren ganz schön fies und gemein umgegangen und nicht alle haben ein gutes Ende. Für mich war das Buch aber auf jeden Fall eine Reminiszenz an meine Kindheit und die Schülerzeit, eine Reise durch Zeit und Raum und eine wahre Lese-Freude. Daher von mir 5 Sterne und eine Lese-Empfehlung für die Fans der Bretagne, von Kommissar Dupin und überhaupt jeden, der Märchen und Sagen mag.

Bewertung vom 11.12.2020
Was uns verbindet
Gowda, Shilpi Somaya

Was uns verbindet


sehr gut

Karina und Prem, die beiden Kinder der Familie Olander sind ein Herz und eine Seele. Die indisch-amerikanische Familie, die im Mittelpunkt von Shilpi Somaya Gowdas Roman „Was uns verbindet“ steht, ist von England in die USA ausgewandert. Die Eltern Yaya und Keith haben es zu etwas Wohlstand gebracht, Haus mit Pool, gute Schule für die Kinder und ein weitgehend sorgenfreies Leben. Karina hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihren jüngeren Bruder zu beschützen. Und ausgerechnet sie ist alleine mit ihm zu Hause, als der Achtjährige im Pool ertrinkt.
Nach diesem Schicksalsschlag wird für die komplette Familie alles anders. Jeder trauert für sich alleine und Karina bleibt mehr oder weniger auf der Strecke, als die Familienmitglieder in unterschiedliche Richtungen auseinanderdriften. „Letzten Endes verlor Karina sowohl ihren Bruder als auch ihre Eltern. Sie ließen sich in dem Sommer scheiden, als sie sechzehn wurde, zwei Jahre nach Prems Tod.“
Trotz einiger Schwächen fand ich das Buch sehr bewegend. Das Thema „Verlust eines Kindes“, gekoppelt mit allseitigen Schuldgefühlen ist nicht leicht zu behandeln und manchmal hatte ich daher das Gefühl, die Autorin hat sich ab und zu ein bisschen verrannt und driftet in Klischees ab. Aber alles in allem ist es emotional beschrieben und sicher sehr realitätsnah. Alle drei verwaisten Familienmitglieder suchen nach dem Verlust einen neuen Anker im Leben und nach einem Weg, um mit ihren Schuldgefühlen klarzukommen. Für die Mutter ist es der Glaube, für den Vater neue Beziehungen und die Arbeit und Karina findet Trost in Schule und Lernen. Und, unbemerkt von ihrer Umwelt, beginnt sie, sich selbst zu verletzen, die „Flucht“ ins Studium scheitert und sie rutscht komplett ab.
Das Buch wird aus der Sicht aller Beteiligten erzählt, selbst der verstorbene Prem kommt aus dem Jenseits zu Wort. Ihm macht es zu schaffen, dass die Familie nach, seinem Tod, beziehungsweise durch ihn, zerbrach. „Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Ich hätte versuchen sollen, länger zu bleiben. Ich wusste nicht, dass ich der Kitt war.“- was für eine traurige Schlussfolgerung. Traurig, aber sicher nicht realitätsfern, fand ich auch die Tatsache, dass die Eltern ihre Tochter völlig aus den Augen verlieren. Sie geben ihr zwar keine Schuld am Tod des Bruders, sehen aber fortan nur noch sich selbst und die Verzweiflung und die Schuldgefühle von Karina bleiben unbemerkt.
Die kulturellen Unterschiede innerhalb der Familie kommen zwar zur Sprache, werden mir aber zu wenig vertieft. Der amerikanische Banker und die indisch-stämmige Diplomatentochter haben, als es hart auf hart kommt, nichts mehr gemeinsam. Sie lebt fortan für ihre Religion als Ausdruck ihrer Kultur, er für Geld und Erfolg und Karina steht als Produkt ihrer einstigen Liebe und Mischung aus ihnen beiden zwischendrin und verliert Anker, Bezugspunkte und den Boden unter den Füßen, und das nicht nur wegen ihrer Trauer und der Schuldgefühle, sondern auch, weil sie nicht mehr weiß, wo sie dazugehört.
Das erste und das letzte Drittel des Buchs fand ich sehr gut, teils sogar spannend geschrieben. Der Mittelteil dreht sich für meinen Geschmack ein bisschen zu viel um Vater Keith und die Wirtschaftskrise. Sprachlich fand ich das Buch gut geschrieben und flüssig zu lesen. Die Geschichte ist gut konstruiert, die verschiedenen Erzähl-Ebenen (teilweise wird dasselbe Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beschrieben) fand ich interessant. Der Inhalt ist auf psychologischer Ebene gut aufgearbeitet, klischeehaft, aber berührend und unterhaltsam zu lesen. Wer aber ein wirklich tiefgehendes Buch über Trauer und Verlust eines Kindes/Familienmitglieds sucht, ist mit diesem Buch eventuell nicht gut bedient. Von mir daher 4 Sterne.

Bewertung vom 11.12.2020
Todeswall / Emma Klar Bd.5
Peters, Katharina

Todeswall / Emma Klar Bd.5


ausgezeichnet

Da ich die Autorin schon von „Fischermord“ und „Bornholmer Schatten“ kannte, habe ich mich auf den neuen Krimi von Katharina Peters sehr gefreut. Zwar ist „Todeswall“ schon der fünfte Teil der Emma-Klar-Serie, die ich bislang noch nicht kannte, aber auch diese Ermittlerin konnte bei mir von Anfang an punkten. Sie war mir sofort ebenso sympathisch wie Romy Beccare und Sara Pirohl.
„Man erinnert sich an alles, dachte Emma. Man braucht nur eine Brücke“ – dieser Satz ist bezeichnend für den Thriller. Denn die Wurzeln des aktuellen Falles liegen in der Vergangenheit. Und einige Personen erinnern sich, andere können oder wollen sich nicht erinnern. Und der Fall, in dem Emma Klar ermittelt, hat es in sich. Anna Bohn, eine als fleißig und eher besonnen bekannte Abiturientin, stürzt im Drogenrausch vom Balkon und stirbt. Emma Klar soll die Polizei als private Ermittlerin unterstützen, denn die Theorie eines Unfalls wirft Fragen auf. Noch dazu ist auch die Mutter der Verstorbenen vor Jahren ermordet worden, ihr Tod wurde nie aufgeklärt. Emma, ihr Partner Christoph und der Journalist Jörg Padorn ermitteln im Umfeld der Toten, graben immer tiefer, fischen manchmal im Trüben und gewinnen nach und nach interessante Erkenntnisse, die letztendlich zu einem für mich dann doch überraschenden (aber schlüssigen) Ende führen. Irgendwie hängt alles mit allem und jeder mit jedem zusammen, und im Zentrum von allem steht immer wieder Rache und „Poena“, also Strafe. Wofür bestraft aber wer wen?
Ich fand das Buch sprachlich sehr gut, den Stil der Autorin kannte ich ja schon vorher. Ihre Bücher sind flüssig zu lesen und unkompliziert geschrieben, sie verzichtet fast gänzlich auf Kraftausdrücke und schafft es, dem Leser auch mit unblutigen Schilderungen Gänsehaut zu bereiten. Kompliziert hingegen fand ich die Geschichte an sich, clever konstruiert, aber man muss sich als Leser erst einmal darauf einlassen. Das dauerte bei mir einige Zeit, vor allem, da der Prolog erst nach mehr als der Hälfte es Buchs etwas mit der eigentlichen Handlung zu tun hat.
Die Charaktere fand ich mit vielen menschlichen Eigenheiten sehr gut ausgearbeitet und hervorragend beschrieben, was bei der Vielzahl der Personen tatsächlich eine Kunst ist. Auch die falschen Fährten, die die Autorin legt, fand ich sehr gut, der Spannungsbogen ist durch zahlreiche Verdächtige und Nebenschauplätze fast konstant hoch, es gibt wenige Verschnaufpausen für den Leser. Spannend fand ich auch, dass die Autorin gekonnt die Grenzen und Gefahren der Computerisierung (gehackte oder gefälschte Online-Profile, falsche Identitäten usw.) aufgreift.
So war der Thriller für mich wie aus dem Lehrbuch: gut ausgearbeitete Charaktere, reichlich Verdächtige und falsche Fährten und spannend fast von Anfang bis Schluss. Machte für mich Lust auf mehr und ich werde mich jetzt mal durch den Rest der Serie lesen. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 08.12.2020
Bonnie Propeller
Maron, Monika

Bonnie Propeller


schlecht

„Bonnie Propeller“ ist, anders, als der Name eventuell vermuten lassen könnte, kein Flugzeug, sondern ein Hund und der Name einer Erzählung. Bonnie ist ein ungarischer Adoptivhund, der den verstorbenen Rüden der Autorin Monika Maron ersetzen soll. Und da liegt auch schon der Hund begraben und des Pudels Kern, jetzt aber genug mit schlechten Wortspielen. Die Autorin möchte mit einem neuen Hund den verstorbenen Gefährten ersetzen, wie sie es vorher schon einmal gemacht hat. Auf Bruno folgte Momo und auf Momo nun Propeller. Der Name missfiel ihr von Anfang an und mit Bonnie war schnell ein neuer gefunden.
Allerdings missfällt ihr der Hund eigentlich auch. Sehr oberflächlich kritisiert sie anfangs ständig, im Verlauf des Buchs dann seltener das Aussehen des Vierbeiners und sie vergleicht Bonnie ständig mit ihren Vorgängern, die einer anderen Rasse angehörten und noch dazu Rüden waren – man kann sie also nicht wirklich miteinander vergleichen. Tatsächlich weint sie sogar mehrfach, weil der Hund so gar nicht ihren Vorstellungen entspricht („Die Fahrerin des Hundetaxis übergab mir dieses kleine struppige Etwas, das in meinen Augen die Bezeichnung Hund nicht verdiente“). Und damit übersieht sie lange, was für ein toller und intelligenter Hund sich hinter dem „unschönen Tier“ mit den krummen Beinen, dem fehlenden Hals und den ausladenden Hüften verbirgt. Erst nach und nach kann das Tier ihr Herz erobern und die beiden rücken zusammen.
Obwohl die Autorin von Anfang an sicherlich gut zu Bonnie war, tat die Hündin mir leid. Sie war wegen ihres Äußeren ungeliebt und ungewollt, weil die Autorin sich einen anderen Hund gewünscht hatte. Die Oberflächlichkeit, mit der sie Bonnie betrachtete, tat mir beim Lesen weh, ebenfalls die Prioritäten, die gesetzt wurden („Drei Tage saß ich neben Bonnie und streichelte sie, während meine Enttäuschung sich allmählich zur Verzweiflung steigerte“.). Zwar betont die Autorin, „Zwischen dem Hund und mir geht es nur um das Elementare, um die Nahrung, die Gemeinsamkeit und um Liebe. Es ist das Bündnis von zwei Kreaturen mit dem einzigen Zweck, einander Freude und Beistand zu sein.“, aber irgendwie scheint der Hund für sie doch eher eine Art Einrichtungsgegenstand oder Teil einer Zweckgemeinschaft zu sein („Und abgesehen von diesem ideellen Aspekt des Zusammenlebens gab es auch noch den ganz profanen, die vom Hund bestimmte Ordnung eines Tages.“)
So war die Erzählung für mich nicht mehr und nicht weniger als eine ganz nette kleine Geschichte über einen kleinen Hund, deren Sinn und Zweck sich mir nicht ganz erschließt. Ein bisschen Corona-Maßnahmen-Kritik, ein bisschen Einsamkeit im Alter und der Rest ist ein Lamenti darauf, wie hässlich der Hund ist. Obwohl die beiden schlussendlich zueinander finden und die Autorin ihre Tierliebe beweist, konnte ich dem Buch wenig Positives abgewinnen. Wer eine rührende Tiergeschichte (eventuell auch zu Weihnachten) sucht, ist meiner Meinung nach mit dem Buch nicht wirklich gut bedient. Von mir 1 Stern.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.12.2020
Mutter
Breznik, Melitta

Mutter


ausgezeichnet

Chronik des Sterbens. Melitta Breznik hat als Ärztin eine eher professionelle Einstellung zum Tod. Aber als es um das Sterben ihrer eigenen Mutter geht, kommt sie psychisch und physisch an ihre Grenzen. Ihre Erfahrungen mit dem Leiden und Sterben hat sie in ihrem Buch „Mutter. Chronik eines Abschieds“ aufgeschrieben und damit ein unglaublich emotionales und zutiefst berührendes Werk geschaffen.
Schon Jahre zuvor hatte sie in einem Gespräch mit ihrer Mutter klargemacht, dass sie Sterbehilfe ablehnt. Daher weiß die 90-Jährige, als sie die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium erhält, dass sie ihren Weg bis zum Ende gehen muss. Allerdings hatte sie sich den Weg leichter vorgestellt, als er dann im Endeffekt wird. Mit ihrer Tochter an ihrer Seite und dem Sohn in der Nähe kämpft die alte Dame sich mit bewundernswerter Kraft durch die ihr verbliebene Zeit. Sie kann keine Nahrung mehr bei sich behalten, nur noch wenig Flüssigkeit aufnehmen und nach und nach nehmen auch die Schmerzen zu. Melitta Breznik übernimmt zunehmend die Mutter-Rolle für ihre Mutter, wäscht, pflegt und versorgt sie liebevoll.
Und auch für sie beginnt ein Weg. Sie muss sich mit sich selbst und ihrem Leben auseinandersetzen, nicht zuletzt stellt sie fest, dass sie nach dem Tod der Mutter nicht mehr „Kind“ von jemandem ist, und muss sich (nach dem Tod des Vaters erneut) der Tatsache stellen, dass auch ihr Leben endlich ist. Und es beginnt eine Zeit, in der sie sich intensiv um ihre Mutter kümmert und sich mit ihr und deren Leben auseinandersetzt, eine Zeit des Annäherns, des Verstehens und Verzeihens.
So erfährt der Leser, dass die Mutter den Nachzügler eigentlich nicht wollte, schließlich war sie bei der Geburt ihrer Tochter schon 41, ergraute kurz danach und wurde oft für die Großmutter gehalten. Der älteste Sohn der Familie verstarb mit 18 Jahren, die Ehe der Eltern zerbrach unter anderem am Alkoholismus des Vaters (Quartalstrinker), die beiden versöhnten sich aber kurz vor seinem Tod. Und auch das vermutlich dunkelste Kapitel der Mutter-Tochter-Beziehung kommt zur Sprache: die Mutter zwang die damals 17jährige Melitta zu einer Abtreibung. Sie bedauerte das wohl später, weil sie es ja doch vermutlich irgendwie geschafft hätten mit dem Kind, aber die Entschuldigung, die Melitta Breznik so dringend von ihrer Mutter hätte hören wollen, bleibt aus, dennoch kann sie sich mit ihr aussöhnen.
Sprachlich fand ich das Buch trotz des eher nüchternen und distanzierten Schreibstils, sehr sensibel geschrieben. Die Autorin schafft einen Spagat zwischen Melancholie und Traurigkeit und der Beschreibung eines gewissen inneren Friedens, was mich zutiefst berührte, ebenso wie der persönliche Zwiespalt, in dem sie sich als Tochter und Ärztin befand. Nur zu gern hätte sie ihrer Mutter vermutlich alle Schmerzen genommen, entschied sich aber dagegen, weil sie sonst auch ihr Wesen „wegsediert“ hätte.
Der Abschied und seine Endgültigkeit schweben über allem, sind aber nie zu bedrückend. Dafür teilen die beiden Frauen bis kurz vor dem Ende schöne Erlebnisse und gemeinsame Erinnerungen an solche. So traurig das Thema an sich ist, so schön fand ich, dass die beiden Frauen die ihnen verbleibende gemeinsame Zeit zur Aussöhnung nutzen konnten, dass es der Mutter möglich war, bis zuletzt zu Hause zu bleiben und dass zwischen ihnen zum Schluss wohl alles Wichtige gesagt war. Trotz der Krankheit und der Schmerzen war der Tod von Melitta Brezniks Mutter menschenwürdig und das würde ich jedem Menschen, nicht zuletzt mir selbst wünschen. Für mich eines der bewegendsten Bücher des Jahres und eine klare Lese-Empfehlung. 5 Sterne.

Bewertung vom 04.12.2020
Wenn das Licht gefriert
Klementovic, Roman

Wenn das Licht gefriert


sehr gut

Im September 1997 verschwindet die 17 jährige Anna Venz am Tag vor ihrem 18. Geburtstag. Zwei Tage später wird ihre Leiche nackt im Moor gefunden. 22 Jahre später greift eine Fernsehsendung diesen Cold Case auf und reißt alte, bei weitem nicht verheilte Wunden wieder auf. Mittendrin ist Elisabeth, die Mutter von Valerie, die vor 22 Jahren die beste Freundin des Opfers war. Sie beschleicht ein schrecklicher Verdacht: könnte ihr an Alzheimer erkrankter Ehemann Friedrich der „Moormörder“ sein? Aus ihrer Sicht wird die Geschichte erzählt, sie versucht selbst, den Mörder zu finden, um für sich selbst die Gewissheit zu haben. Mehr möchte ich zum Inhalt von Roman Klementovics Krimi „Wenn das Licht gefriert“ gar nicht sagen. Denn die Geschichte ist so voller Misstrauen, (falschem) Verdacht, Angst, Trauer und Wut, dass man nicht viel mehr darüber sagen kann, ohne zu spoilern.
Verdächtig sind im Laufe des Buchs fast alle Charaktere irgendwann mal, jeder hat irgendwie eine Leiche im Keller, die Stimmung wird zunehmend gedrückter und unheimlicher, und das Misstrauen wächst. Elisabeth, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, weiß in etwa so viel wie der Leser. Für mich war das Buch wie ein Puzzle, das sich selbst zusammenbaut. Mit jeder Seite bekommt der Leser Informationen zu Gegenwart und Vergangenheit. Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger und die Geschichte fliegt wie eine Flipperkugel zwischen Charakteren und Schauplätzen hin und her, was ihr zusätzliches Tempo verleiht.
Neben der Krimi-Handlung fand ich den Einblick in die fortschreitende Alzheimer-Erkrankung von Elisabeths Ehemann Friedrich sehr interessant. Der Krimi ist gut konstruiert und das Ende kam für mich nach den vielen Verdächtigen und falschen Fährten völlig überraschend. Alles in allem ist in dem Buch nur sehr wenig so, wie es auf den ersten Blick scheint. Sprachlich fand ich das Buch gut und flüssig zu lesen, die Spannungskurve ist nicht konstant aber in der Hauptsache fand ich den Krimi spannend, teilweise sogar sehr packend, ab und zu hat er aber eher langweilige Passagen, die man getrost überblättern kann. Die Charaktere fand ich allerdings eher blass und belanglos, da wäre mehr Ausarbeitung schön gewesen. Für mich war es ein solider Krimi, aber kein Thriller. Für die spannende Unterhaltung von mir aber solide 4 Sterne.

Bewertung vom 04.12.2020
»Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten« und »Einladung zum Klassentreffen« (eBook, ePUB)
Schörle, Martin

»Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten« und »Einladung zum Klassentreffen« (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten“ ist der Titel des ersten Theaterstücks von Martin Schörle aus dem gleichnamigen Buch
Hans Fredenbek ist Beamter, einer „wie er überall vorkommen kann“. Ende 40, verheiratet (hauptsächlich mit seinem Beruf, aber auch mit Mary), Hektiker, Chaot und alles in allem schlicht ein sehr anstrengender Zeitgenosse. Und etwas anstrengend fand ich auch den Einstieg in das Theaterstück, das dann aber sehr schnell sehr packend wird. Über den Inhalt möchte ich mich gar nicht auslassen, denn der ist – wie Fredenbek selbst – chaotisch, durcheinander und kommt von Hölzchen auf Stöckchen und rauscht mehrfach mit der Kirche ums Dorf.
Fredenbek bespielt das Stück fast vollständig allein, andere Charaktere kommen höchstens am Rand vor, manche werden auch nur erwähnt. Sein innerer Monolog samt Regieanweisungen machen das Stück praktisch aus. Er kommt mir wie eine wilde Mischung aus Monk, Forest Gump und der Hauptfigur aus Stefan Zweigs „Schachnovelle“ vor – pedantisch, aber nicht so genial. Sympathisch ist mir Fredenbek nicht
So dröge das Thema auf den ersten Blick scheinen mag, so fesselnd wird das Stück nach und nach. Kompositorisch erinnerte es mich ein bisschen an ein Musikstück. Es fängt ganz gemächlich (adagio) an, nimmt dann „andantemäßig“ Fahrt auf, gipfelt in einem Presto, das so schnell ist, dass man fast nicht hinterherkommt und endet mit einem kräftigen Paukenschlag und 5 Sternen von mir.

In „Einladung zum Klassentreffen“ spielen, anders als im ersten Stück mehrere Personen mit, die „Handlung“ passiert in dialogischer Form. Carsten (er) möchte Marina (sie) zum Klassentreffen anlässlich ihres 20jährigen Abiturjubiläums einladen. Man schwelgt am Telefon in Erinnerungen, es kochen alte Freund- und Feindschaften hoch und Klassenkameraden werden auch nach all der Zeit noch mit den alten, abwertenden Klischees wie „Der Komische“, „Diese menstruell überreizte Krawallnudel“ beschrieben. Solche Mitschüler hatte vermutlich jeder der Leser/Zuschauer zu Schulzeiten.
Carsten sieht die gemeinsame Vergangenheit allerdings deutlich verklärter als Marina. „Wir waren authentisch“ – mit diesen Worten beschreibt er eine duchrzechte und durchkiffte Nacht, an die Marina ganz andere Erinnerungen hat. „Erinnerungen müssen Erinnerungen bleiben“, damit zeigt Marina deutlich, dass sie mit dem Thema abgeschlossen hat. Allerdings breitet sie nach und nach ihr komplettes Leben vor Carsten aus. Und vor den Mitreisenden im Zug. Ein Hoch auf die Dame im Nebenabteil, die sich ab und zu ins Gespräch einmischt.
Wie auch im ersten Stück sind die Charaktere speziell. Natürlich legen sie Eigenheiten an den Tag, die man verwerflich nennen kann. Marinas ex-Mann Holger nennt sie „Kleines“, was durchaus als Sexismus zu betrachten ist. Auch die Beschreibungen der ehemaligen Klassenkameraden sind nicht nett. Allerdings ist das leider Alltag für viele und daher ist der Autor keineswegs zu verurteilen, weil er es beschreibt. Toxische Männlichkeit und Mobbing verschwinden nicht, wenn sie in keinem Buch/Theaterstück vorkommen. Da beweist der Autor eine feine Antenne, indem er dies klar herausgearbeitet beschreibt, für mich ist das schlicht authentisch. Mord, Totschlag und andere Verbrechen würde es auch weiterhin geben, auch wenn es keine Krimis und Thriller mehr gäbe und die Autoren sind auch keine heimlichen (Massen)Mörder.
Im zweiten Stück ist die Sprache alltagsnah. Ein gewisser Witz ist vorhanden, aber auch einige Dinge, über die ich den Kopf geschüttelt habe, zum Beispiel, wie Carsten an Marinas Telefonnummer gekommen ist (über die Schulsekretärin und einen Klassenkameraden beim Meldeamt), da haben sich mir angesichts der DSGVO die Nackenhaare gesträubt. Ein paar Stellen sind witzig-skurril im Ausdruck, und auch das zweite Stück hat mich sehr gut unterhalten. Daher auch dafür von mir beide Daumen hoch.
Für mich sind auf jeden Fall beide Stücke etwas, das das Leben schreiben könnte. und ich würde sie gerne auf der Bühn