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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 08.08.2016
Das Erbe von Winterfell / Das Lied von Eis und Feuer Bd.2
Martin, George R. R.

Das Erbe von Winterfell / Das Lied von Eis und Feuer Bd.2


ausgezeichnet

Hinweis: Ich habe dieses Buch letztes Jahr schon auf deutsch gelesen, mir aber jetzt noch einmal den englischen ersten Band vorgenommen: "A Game of Thrones", der im Deutschen aufgesplittet wurde in die beiden Bände "Die Herren von Winterfell" und "Das Erbe von Winterfell".

Im direkten Vergleich würde ich sagen, dass die Übersetzung an sich ohne Zweifel hochwertig und gut gelungen ist, aber dennoch nicht ganz an die sprachliche Urgewalt des Originals herankommt. In meinen Augen ist das aber auch kaum möglich, denn in einer Übersetzung geht immer etwas verloren! Außerdem wurden die Namen zum Teil ins Deutsche übersetzt (so wurde aus "Arys Oakheart" zum Beispiel "Arys Eichenherz"), und das spaltet ja immer die Gemüter... Ich kann diese Entscheidung allerdings nachvollziehen, denn ansonsten würden einem Leser, der des Englischen nicht mächtig ist, ja die Bedeutung der Namen komplett entgehen!

Da es schon eine gefühlte Million an Rezensionen gibt, von begeisterten 5 Sternen bis hinunter zum giftigen Verriss mit nur einem Stern, ist eigentlich schon alles gesagt. Deswegen gibt es von mir statt einer ausführlichen Rezension nur eine knappe Kurz-Bewertung:

Originalität: Liest sich einerseits realistisch wie ein Geschichtsbuch, anderseits so unglaublich einfallsreich, dass einem der Kopf schwirrt. Klassische Fantasy, und dennoch voller unverbrauchter Ideen!

Spannung: Warnung! Wenn man am nächsten Morgen früh raus muss, sollte man das Buch auf keinen Fall mit ins Bett nehmen mit dem Vorsatz: "Nur noch ein Kapitel..." Schlachten! Intrigen! Persönliche Tragödien! Superspannend und meines Erachtens unwiderstehlich.

Logik / Schlüssigkeit: George RR Martin hat nicht einfach Bücher geschrieben, er hat eine ganze Welt erfunden, und zwar durchdacht bis ins allerklitzekleinste Detail. Keine Ahnung, wie der Mann es hinbekommt, bei den ganzen Adelshäusern und der verwickelten Geschichte nicht den Überblick zu verlieren, aber er schafft es... Vielleicht ein Grund dafür, warum er inzwischen seit 1991 (!!) an der Reihe arbeitet?

Charaktere: Viele. Seeeeehr viele. Ein ganzes Heer an Charakteren, und trotzdem alle komplex und vielschichtig. Tipp: Häng dein Herz nicht an einen Charakter, sonst geht er mit Sicherheit drauf.

Schreibstil: Wie gesagt: sprachliche Urgewalt. Absolut umwerfend, mit Atmosphäre, die dicht genug ist zum Schneiden.

Humor: Überraschend viel, oft böse. Besonders Tyrion Lannister macht kaum mal den Mund auf, ohne dass ich grinsen muss.

Romantik: Eher wenig. Arrangierte Ehen überall, da ist Romantik eher ein Unfall, kommt aber vor.

Erotik: Der Sex ist oft ziemlich gewalttätig und/oder gefühllos. Dass die Sieger einer Schlacht die Frauen der Gegner vergewaltigen, ist gang und gäbe. Nicht schön, aber da die Buchreihe zum Teil auf Epochen unserer Geschichte basiert, in denen es mehr als genug Präzedenzfälle für diese Art von Verhalten gibt, leider realistisch.

Fazit:
Gibt es irgendwas, was noch nicht über diese Bücher gesagt wurde? Deswegen kurz und knapp: Ich finde sie originell und spannend, voller großartiger Charaktere, mit einem grandiosen Schreibstil und überraschend viel Humor, dafür aber mit eher wenig Romantik / Erotik. (Wobei letzteres für mich kein Grund für Punktabzug ist, denn es würde zu den Büchern in meinen Augen auch nicht passen.)

Bewertung vom 05.08.2016
Die Blütezeit der Miss Jean Brodie
Spark, Muriel

Die Blütezeit der Miss Jean Brodie


ausgezeichnet

Schon nach wenigen Sätzen war ich gefangen von der Geschichte rund um Miss Jean Brodie, diese so charismatische wie manipulative Lehrerin, und ihre Lieblingsschülerinnen. Muriel Spark spricht in diesem dünnen Bändchen eine erstaunliche Vielzahl an Themen an: Erziehung und die Rolle von Autoritätspersonen im Leben ihrer Schützlinge, Gruppendynamik und Individualität, Vorbestimmung und freier Wille, Instinkt und rationale Einsicht, Sexualität, Religion, Faschismus...

Das liest sich erstaunlich unterhaltsam, mit einem großartigen Humor, und dennoch ertappt man sich Stunden, nachdem man das Buch zugeklappt hat, noch dabei, wie man darüber nachgrübelt.

Miss Jean Brodie ist eine unkonventionelle Lehrerin, die sich mit selbstverständlicher Missachtung über die vorgeschriebenen Lehrpläne hinwegsetzt. Wenn eigentlich Geschichte oder Grammatik an der Reihe wären, erzählt sie stattdessen von ihrem glamourösem Leben - ihren Reisen, ihrer tragischen großen Liebe und immer wieder von der Bedeutung ihrer persönlichen "Blütezeit", die sie für ihre Schülerinnen opfert. Ich habe schon erwähnt, dass sie eine charismatische Frau ist, die das aber auch einsetzt, um Menschen zu manipulieren: Sie wählt sich ganz bewusst Schülerinnen heraus, die ihr würdig erscheinen, und beginnt damit, sie nach ihrem Vorbild zu formen. Einerseits erweitert sie mit ihren außergewöhnlichen, manchmal sogar radikalen Ideen sicher den Horizont ihrer Mädchen, anderseits erwartet sie von ihnen, diesen dann direkt wieder einzuschränken - denn Miss Brodies' grundlegendste Eigenschaft ist vielleicht ihre Ich-Bezogenheit. Ob bewusst oder unbewusst, in ihrer kleinen Welt ist sie selbst das Maß und Zentrum aller Dinge, und sie erwartet ständige Bewunderung und Bestätigung, sowie bedingungslose Loyalität. Der Verdacht drängt sich auf, dass Miss Brodies' angeblich so schillerndes Leben in Wirklichkeit doch nur ein ganz gewöhnliches, vielleicht sogar armseliges ist... Ihr Verhalten ist oft extrem übergriffig und für das Alter ihrer Schülerinnen vollkommen unangemessen.

Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, würde ich auf jedes Brodie-Mädchen einzeln eingehen, deswegen möchte ich nur Sandy und Mary erwähnen:

Es wird immer wieder erwähnt, dass Sandy außergewöhnlich kleine Augen hat, und dennoch ist sie wahrscheinlich diejenige mit der klarsten Einsicht in die Gruppendynamik der Auserwählten von Miss Brodie - was allerdings nicht heißt, dass es ihr leichtfällt, sich dem zu widersetzen! Sie versteht instinktiv, dass Miss Brodie die einfältige, ungeschickte Mary ganz bewusst zum Sündenbock macht, um der Gruppe sozusagen ein Ventil für ihre Frustrationen und Zweifel zu geben, das sie beliebig steuern kann. An einer Stelle setzt sie Miss Brodies' Instrumentalisierung von Gruppenzwang und Feindbildern gleich mit der Art von Dynamik, mit der charismatische Despoten wie Mussolini ihre Anhänger an sich binden.

Traurigerweise kann sich sogar die immer wieder erniedrigte und gescholtene Mary nicht von Miss Brodies Einfluss lösen sondern denkt Jahre später noch darüber nach, dass die Zeit mit Miss Brodie die schönste ihres Lebens war. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen alle auf irgendeine Art in ihrer emotionalen Entwicklung verkrüppelt wurden durch Miss Brodies' Einfluss.

Den Schreibstil fand ich ganz wunderbar, mit zarten Formulierungen und genau der richtigen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor. Jedem, dem es möglich ist, würde ich unbedingt das englische Original empfehlen, denn in der deutschen Übersetzung geht ein klein wenig des sprachlichen Zaubers verloren. Womit ich nicht sagen will, dass es eine schlechte Übersetzung ist! Peter Naujack ist sicher ein großartiger Übersetzer klassischer Werke, aber ich stimme dem Autor Miguel de Cervantes zu: »Das Lesen einer Übersetzung entspricht der Untersuchung der Rückseite eines Gobelins«.

Bewertung vom 03.08.2016
Das Geheimnis von Six
Vaughan, Monica M.

Das Geheimnis von Six


sehr gut

"Das Geheimnis von Six" ist ein rasantes Abenteuer für junge Leser und Leserinnen ab etwa 8 Jahren. Die bunte, einfallsreiche Mischung aus Action, Science Fiction und verschiedenen Alltagsthemen (wie Mobbing, Freundschaft oder Familie) kann bestimmt Jungen und Mädchen gleichermaßen ansprechen, und in Parker, Emma und Michael finden sie dabei interessante Hauptfiguren, mit denen sie sich gut identifizieren können.

Parker ist ein hochintelligenter Junge, der gerne Sachen repariert und schon als kleines Kind einen Computer auseinanderbauen und wieder zusammensetzen konnte. Er ist manchmal unsicher und leidet darunter, wenn die anderen Kinder über seinen englischen Akzent lachen, lässt sich aber auch nicht einfach alles gefallen. Wenn es um seine kleine Schwester geht, wird er schnell zum Beschützer. Überhaupt fand ich rührend, wie die beiden Geschwister miteinander umgehen. Klar gibt es die ganz normalen Zankereien, aber im Ernstfall gehen die zwei zusammen durch dick und dünn!

Emma ist zwei Jahre jünger als Parker und seit ihrer Geburt taub, was sie selber aber gar nicht wirklich als Behinderung sieht. Sie beherrscht nicht nur die Zeichensprache, sondern kann auch von den Lippen lesen und kommt so im Alltag gut klar. Was ich an ihr besonders sympathisch fand: obwohl sie noch so jung ist, hat sie schon ein stark ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit.

Gerade über Emma werden im Buch auch ernste Themen angesprochen: Warum machen wir Menschen unseren Planeten kaputt? Ist das gerecht, wenn wenige Menschen reich und mächtig sind und dafür viele Menschen arm? Allerdings bleibt das eher oberflächlich, denn die Geschichte ist doch vor allem eine spannende Abenteuergeschichte.

Michael ist der Sohn reicher Eltern und musste sich über Geld noch nie Gedanken machen. Sein Zimmer ist riesig, er besitzt mehrere Computer und Unmengen von Spielzeug, dafür ist er aber auch oft einsam. Seine Eltern sind immer unterwegs und überlassen ihren Sohn der Haushälterin und dem Butler. Parker und Michael sind ein großartiges Team, denn Parker kennt sich gut mit Hardware aus, Michael ist dagegen ein begabter Hacker und Programmierer. Er ist ein lieber Kerl, der für seine Freunde alles tut, aber auch ein bisschen ängstlich ist.

In meinen Augen hat die Geschichte für eher ungeübte kleine Leser womöglich zu viele Nebenhandlungen, die für die Hauptgeschichte eigentlich nicht so wichtig sind und deswegen verwirrend sein könnten. Andererseits sind gerade die oft sehr witzig (wie das Schwein Polly) oder bieten Berührungspunkte mit dem eigenen Leben (wie der gemeine Aaron, der Parker und Michael drangsaliert).

Oft kommen Parker und seine Freunde nur durch unglaubliche Zufälle weiter (zum Beispiel können sie in ein bewachtes Gebäude eindringen, weil gerade niemand an der Rezeption sitzt und anscheinend auch niemand auf die Überwachungskameras achtet), und es ist schon unheimlich praktisch, dass sie durch Michael quasi unbegrenzt viel Geld und einen verschwiegenen sowie hilfreichen Butler zur Verfügung haben! Aber das fand ich gar nicht so tragisch für die Altersgruppe, denn das vereinfacht die Geschichte auch und macht sie dadurch leichter verständlich. Außerdem, mal ganz ehrlich: als Kind liest man doch gerne Geschichten, in denen andere Kinder im eigenen Alter wahnsinnig coole Sachen erleben, oder? Da muss nicht immer alles realistisch sein.

Die Geschichte liest sich für ältere Leser vielleicht manchmal ein bisschen zu gradlinig oder einfach. Die Rollen sind klar verteilt: die Guten sind gut, die Bösen sind böse. Aber für die Altergruppe, für die das Buch gedacht ist, finde ich das Buch sehr spannend - mit vielen tollen Ideen, wie zum Beispiel das "Effie", ein von Parkers Vater erfundenes Gerät, das Gehirnwellen und damit Gedanken per Funk versenden und empfangen kann.

Der Schreibstil ist locker und einfach zu lesen, dabei aber nicht platt oder einfallslos.

Bewertung vom 24.07.2016
Sharj und das Wasser des Lebens
Harings, Audrey

Sharj und das Wasser des Lebens


gut

(Meine Wertung: 3,5 von 5 Sternen)

Das bunte, fantasievolle Titelbild ist ein echter Hingucker! Auf der Vorderseite sieht man die Heldin der Geschichte, Sharj, in ihrer Menschen- und ihrer Elfengestalt. Die Rückseite zeigt ihren besten Freund José, links als Mensch und rechts als Drache.

Beim Durchblättern kann man dann noch viele farbenfrohe, ganzseitige Illustrationen entdecken. Gerade kleinen Lesern wird es bestimmt Spaß machen, sie sich anzuschauen, und beim Vorlesen bieten sie außerdem garantiert viel Anreiz zum gemeinsam darüber Sprechen. Das Buch ist wirklich ganz liebevoll gestaltet!

Empfohlen wird die Geschichte für ein Alter von 8 bis 12 Jahren, was mich beim Lesen allerdings mehr als einmal nachdenklich gestimmt hat. Warum? Zum einen, weil die Hauptfigur eines Kinderbuchs meist etwa im gleichen Alter ist wie die angestrebte Zielgruppe, um den Kindern eine Identifikationsfigur zu bieten - Sharj ist aber schon 15 und damit ein Teenager, genau wie José! Andererseits verhalten sie sich oft wesentlich kindlicher, insofern sollte sich ein mögliches "Fremdeln" eigentlich schnell geben. (Es gibt zwar eine Liebesgeschichte, die spielt aber erst am Schluss eine kleine Rolle und es bleibt bei einem Küsschen.)

Die Handlung ist so fantasievoll wie die Illustrationen: die beiden Jugendlichen begegnen den verschiedensten Wesen und müssen eine große Aufgabe erfüllen, nämlich den guten König Sloma retten, indem sie das Wasser des Lebens finden, und damit dem bösen König Maloc einen Strich durch die Rechnung machen. Dabei ist die Handlung sehr gradlinig und auch für Grundschüler gut verständlich: klar umrissene Probleme, einfache Lösungen. Die Charaktere sind wie im Märchen ganz eindeutig entweder als "gut" oder "böse" einzuordnen. Für Kinder erfüllen solche drastischen Gegensätze eine wichtige Funktion: sie dienen der Orientierung und helfen dabei, eventuell erschreckende, gruselige Szenen nicht so nah an sich ran zu lassen - der kleine Leser weiß schließlich, dass das Gute am Ende IMMER siegt.

Hier ist es dann eben auch so, dass der böse Pflegevater Otto nicht nur böse ist, sondern auch hässlich, dick und ungepflegt, mit fauligen gelben Zähnen und strengem Körpergeruch. Ich denke, Jugendliche und ältere LeserInnen werden sich damit eher unterfordert fühlen, aber für kleiner Kinder bietet das Buch spannende Unterhaltung.

Aber auch hier war ich mir nicht immer sicher, was die Altersempfehlung betrifft:

Die Handlung spielt zum Teil in der realen Welt, und zum Teil in einer magischen Welt. In der magischen Welt haben es Sharj und José mit Gegnern zu tun, wie sie kleine Leser schon aus Märchen kennen, und ich denke, deswegen können sie auch damit umgehen, wenn zum Beispiel böse Stumps José ganz fies mit ihren Speeren verletzen.

Ein paar Szenen in der realen Welt könnten kleinere Kinder aber überfordern, weil sie nicht in das bekannte Schema vom unbesiegbaren Guten passen. Zum Beispiel kommt ein Mädchen namens Tina vor, und deren Vater ist Pathologe. In einer Szene erzählt sie ihrer Freundin von einer Frauenleiche, die im Wald gefunden wurde, und wie man den Todeszeitpunkt bestimmen konnte, weil Insekten ihre Eier in die Leiche abgelegt hatten... Außerdem wollen Sharjs Pflegeeltern sie umbringen, um an ihr Erbe zu kommen, und sprechen da mehrmals ausführlich drüber! Ganz ehrlich, ich würde manche Szenen beim Vorlesen klammheimlich überspringen...

Den Schreibstil finde ich passend für Leser ab acht Jahre: er ist sehr einfach und bis auf gelegentliche schwierige Wörter auch kindgerecht.

Gestört hat mich allerdings, dass das Buch in meinen Augen ein gründlicheres Korrektorat hätte vertragen können: es gibt immer mal wieder Rechtschreibfehler, wie zum Beispiel fälschlich auseinander geschriebene Worte ("Schmatz Geräusche"), unpassende Zeitformen oder Kommafehler. Es häufen sich auch öfter dieselben Wörter ganz extrem - so kommt auf Seite 109 zum Beispiel 5 Mal das Wort "Funkeln" vor, plus einmal "funkelte".

Bewertung vom 23.07.2016
Blame (eBook, ePUB)
Mayo, Simon

Blame (eBook, ePUB)


gut

"Heritage crime", übersetzt etwa "Erbverbrechen":

Für ein Verbrechen haftet nicht mehr nur der Täter selber, sondern in Sippenhaft auch seine Erben bis in die zweite Generation. Dafür gibt es spezielle "Familiengefängnisse", in denen durchaus auch kleine Kinder gefangen gehalten werden, denn die Öffentlichkeit will Sündenböcke sehen für die schlechte Wirtschaftslage. Die Begründung ist, dass die Nachfahren von Verbrechern indirekt auch von den Verbrechen profitiert haben und daher auch dafür zahlen müssen.

Simon Mayo bietet in "Blame" großartige Ideen und brisante Themen, die interessante moralische und ethische Fragen aufwerfen: Die Tendenz des Menschen, stets nach einem Sündenbock für die eigene Schwierigkeiten zu suchen, die Tendenz der Politik, das wiederum für Wahlkampfzwecke auszunutzen, die Macht der Medien und vieles mehr.

Leider geht das Buch bei den meisten dieser Themen nicht in die Tiefe, denn ab einem gewissen Punkt der Geschichte muss die Handlung immer mehr hinter schierer, explosiver Action zurückstecken - Gefängnisrevolten, Kämpfe, wilde Fluchten, gefolgt von mehr Kämpfen...

Dadurch war das Buch in meinen Augen zwar ein kurzweiliges Vergnügen und las sich durchweg spannend - ich hätte es aber lieber gesehen, wenn der Autor das Tempo auch mal runter gefahren und dem Leser stattdessen diese dystopische Zukunft mit ihren politischen und gesellschaftlichen Strukturen näher gebracht hätte, mit wesentlich mehr Details.

Außerdem gibt es in meinen Augen ein paar gravierende Lücken und logische Fehler! Zum Beispiel ist es für Insassen anscheinend überhaupt gar kein Problem, frei auf ihre Bankkonten zuzugreifen, um die Wachen großzügig zu bestechen. (Wobei die Wachen bei dem Ausmaß, wie es hier beschrieben wird, inzwischen alle stinkreich sein müssten.) Oder ein Wachmann des Gefängnisses, in dem die Protagonistin sitzt, kennt einfach so das enorm wichtige Geheimnis eines enorm wichtigen Mannes - aber woher? Keine Ahnung, denn das wird nicht näher erklärt!

Die Charaktere fand ich überwiegend ganz gut geschrieben, auch wenn ein paar durch das schiere Tempo der Geschichte etwas blass bleiben.

Ant ist eine zornige junge Frau, die auf fast alles mit kämpferischem Eigensinn reagiert - was ich in ihrer Situation gut nachvollziehen konnte!

Ihre Beziehung zu ihrem kleinen Bruder Mattie ist unglaublich rührend. Die beiden sind in schwierigen Verhältnissen großgeworden, mit einem kriminellen, prügelnden, drogensüchtigen Vater (dem sie es auch zu verdanken haben, dass sie im Gefängnis sitzen) und einer Mutter, die jede Gegenwehr aufgegeben hat. Deswegen haben sie immer nur einander gehabt, und Ant hat für Mattie fast schon eine Mutterrolle eingenommen.

Interessant fand ich auch, dass wir mit Ant und Mattie zwei Protagonisten begegnen, die einmal nicht aus der weißen Mittelschicht kommen, sondern deren Wurzeln in der haitianischen Kultur liegen.

Was mich enorm gestört hat: Ant ist immer wieder wahnsinnig wichtig, auf eine Art und Weise, die ich oft maßlos überzogen fand. Die Begründung dafür kam mir meist etwas fadenscheinig vor. Ein Beispiel:

Inhaftierte Mitglieder einer Gang sind nach einer blutigen Revolte in der Position, Forderungen stellen zu können, da sie auch wichtige Geißeln in ihrer Gewalt haben. Statt besserer Haftbedingungen oder Freilassung ist ihre einzige (!!) Forderung, dass man ihnen Ant ausliefert - nur weil die sich mit einem Mitglied angelegt hat, das dabei noch nicht mal wirklich zu Schaden gekommen ist. Wirklich? Todesopfer auf beiden Seiten, ein enormes Polizeiaufgebot, und sie sagen: gebt uns Ant, dann vergessen wir das alles und gehen brav zurück in unsere Zellen?!

Der Schreibstil hat mir im Großen und Ganzen gut gefallen, nur die Dialoge lasen sich für mich gelegentlich etwas holprig. Meiner Meinung nach schreibt Simon Mayo großartige Actionszenen, aber in den ruhigeren Szenen erreicht er nicht ganz die gleiche Qualität.

Bewertung vom 18.07.2016
Skin
Etzold, Veit

Skin


gut

Dieses Buch gehört nicht zur "Clara Vidalis"-Reihe des Autors! "Skin" dreht sich hauptsächlich um Hauptkommissar Frank Deckhard und sein Team, sowie den jungen Unternehmensberater Christian König.

Die beiden konnten mich leider nicht ganz überzeugen.

Frank Deckhard wirkte auf mich so, als könne er eigentlich nicht mehr - als hätten sein Beruf und die Grausamkeiten, mit denen er dadurch konfrontiert wird, ihn schon ausgebrannt. Er wirkt oft erschöpft und depressiv, entspricht aber erfreulicherweise dennoch nicht dem Klischee des alkoholabhängigen Cops mit Beziehungsproblemen. Eigentlich fand ich ihn interessant, hatte jedoch bis zur letzten Seite das Gefühl, ihn noch nicht so richtig zu kennen, obwohl der Autor auch Informationen über Deckhards Familie einfließen lässt.

Christian dagegen kam mir oft unglaublich naiv vor. Als er zum Beispiel einmal völlig übermüdet an einem Projekt sitzt, bietet ihm ein Kollege ein weißes Pülverchen an, dass angeblich total wach und geistig fit macht... Weißes Pülverchen? Christians erster Gedanke ist: Kaffeeweißer. Dann nimmt er das Pulver ein, ohne dies groß zu hinterfragen, und das bleibt nicht das einzige Mal im Buch, dass er so offensichtlich wie ahnungslos Drogen einschmeißt. Er hakt zwar einmal nach, aber nur halbherzig. Sind das Drogen? Nö? Na dann...

Überhaupt stolpert er manchmal durch die Welt der Unternehmensberatung wie Alice durchs Wunderland - die hat ja auch einfach alles eingenommen, wo "Trink mich" oder "Iss mich" draufstand...

Einerseits mochte ich Christian gerade deswegen, weil er ganz und gar nicht in diese knallharte Karrierewelt passt, andererseits fand ich seine Naivität irgendwann nicht mehr glaubhaft. Ihm passieren Dinge, wo der erste Impuls sein sollte, zum Telefon zu greifen und die 110 zu wählen - aber stattdessen schweigt er und reitet sich dabei immer tiefer rein in die Sache... Sein irrsinniges Beharren darauf, alles abzustreiten, niemanden einzuweihen und einfach darauf zu hoffen, dass er nicht auffliegt, macht ihn immer verdächtiger und behindert damit auch die Polizeiarbeit.

Der eigentliche Fall ist an sich interessant - eine Leiche nach der anderen, die irgendwas mit Christian zu tun haben scheinen, wobei der völlig im Dunkeln tappt, warum das alles passiert... Aber bei mir wollte einfach keine Spannung aufkommen. Ich hatte oft das Gefühl, die Ermittler haben gar keinen richtigen Plan, sondern reagieren einfach nur - und das meist einen Tacken zu spät. Ihre Schlussfolgerungen machten in meinen Augen manchmal nur wenig Sinn, und ich hatte den Eindruck, dass sie offensichtliche Indizien übersehen.

Die karrieregeile Welt der Unternehmensberatung wird ausführlich und detailliert beschrieben, und das fand ich zunehmend ermüdend und hatte dadurch immer weniger Motivation, am Ball zu bleiben.

Vom Schreibstil war ich durchaus angetan, denn der liest sich vielfältig und leitet den Leser angenehm flüssig durch die Geschichte. Die Beschreibungen der diversen Leichen sind dabei zwar plastisch und detailliert, in meinen Augen aber nicht zu bemüht schockierend.

Allerdings verwendet der Autor oft etwas, was ich als mein persönliches Hass-Stilmittel bezeichnen würde: wenn zwei Charaktere sich gegenseitig Sachen erzählen, die sie beide schon wissen - damit es auch der Leser mitbekommt. Das kommt mir immer gestellt und unnatürlich vor, und hier wird es doch ziemlich oft eingesetzt.

Die Auflösung des Ganzen hat mich überrascht, und an sich gefiel sie mir ganz gut. Für mich blieben jedoch noch einige Fragen offen, und ich fand manches auch nicht ganz glaubhaft - aber darauf kann ich hier nicht näher eingehen, sonst verrate ich schon zuviel...

Auch vorher gab es im Verlauf der Handlung schon ein paar Dinge, die mir unrealistisch vorkamen. Würde ein Ermittler zum Beispiel wirklich einen Tatverdächtigen an einen möglichen Tatort mitnehmen, wenn der noch nicht mal gesichert ist?

Bewertung vom 17.07.2016
Im Haus der Feinde / Red Rising Bd.2
Brown, Pierce

Im Haus der Feinde / Red Rising Bd.2


ausgezeichnet

Da es eine Weile her ist, dass ich den ersten Band der Trilogie gelesen habe, tat ich mich anfänglich etwas schwer damit, wieder in die Geschichte hinein zu finden - schließlich ist diese Welt irrsinnig vielschichtig und auch die Charaktere sind selten das, was sie oberflächlich zu sein scheinen... Manchmal kann einem da schon der Kopf schwirren!

Aber es dauerte nicht lange, bis mich Darrows Geschichte wieder gefangen nahm, und dann war ich sehr beeindruckt von der enormen dramatischen Wucht, mit der sie sich entfaltet. Brutal, dreckig, gnadenlos, rasant... Unerbittlich und unaufhaltsam wie ein Erdrutsch reißen die Geschehnisse den Leser mit. und dennoch gibt es immer mal wieder Momente, wo sie sich entfalten wie ein eleganter Tanz aus Allianzen und Intrigen, Familien und Hauszugehörigkeiten, Verrat und Loyalität.

Immer, wenn man glaubt, man hätte jetzt alles durchschaut, überrascht Pierce Brown einen wieder mit einer unerwarteten Wendung. Immer, wenn man sozusagen eine Schale der Geschichte abgeschält hat, stellt man fest, dass man noch lange nicht am Kern angekommen ist. Dabei folgt das Buch in meinem Augen niemals einem bekannten Schema, sondern liest sich immer originell und überraschend.

Ich habe mich öfter bei dem Gedanken ertappt, dass Pierce Brown und George RR Martin sich die Hand reichen könnten. Zum einen, weil die Welt von "Red Rising" genauso komplex und dabei bis ins Kleinste durchdacht ist wie die Welt von "Das Lied von Eis und Feuer", und zum anderen, weil beide Autoren großartige Charaktere schreiben, denen sie nichts, aber auch wirklich nichts ersparen.

Nicht nur, dass man sich niemals zu sicher sein sollte, dass ein wichtiger Charakter schon nicht sterben wird - man kann sich auch nicht darauf verlassen, dass die Hauptcharaktere moralisch immer über jeden Zweifel erhaben sind. Die Welt, in der sie leben, hat sie hart und grausam gemacht.

Um das System zu unterwandern und zu zerstören, lässt sich Darrow auf das gnadenlose Spiel ein, das die Goldenen spielen, und dabei lädt er enorme Schuld auf sich. Unschuldige Menschen sterben, damit er seine Ziele erreichen kann, in großer Zahl. Ja, er leidet darunter, der Gedanke an die Opfer verfolgt ihn - aber er macht weiter, denn mit friedlichen Mitteln kann er das korrupte Regime der Goldenen nicht stürzen. Nicht immer konnte ich seine Entscheidungen verstehen oder gutheißen, aber im Grunde ist er ein guter Mann, der seine Welt zum Besseren verändern will.

Gerade weil die Charaktere alle ihre Schattenseiten haben, fand ich sie interessant und glaubhaft geschrieben.

Es gibt Liebesgeschichten, diese stehen aber nicht so sehr im Mittelpunkt, dazu sind die Charaktere viel zu beschäftigt mit Kriegen und Intrigen...

Ich muss leider sagen, dass der Schreibstil in der deutschen Übersetzung viel an Sogkraft verliert - im Original ist er schlichtwegs atemberaubend, geradezu hypnotisch, und ich hatte durch die Sprache noch mehr den Eindruck, wirklich in einer ganz anderen Welt zu sein. Aber auch im Deutschen ist der Stil immer noch bildgewaltig und ungewöhnlich!

Zitat:
"Dann stehe ich allein da und horche auf den Ruf der tiefen Minen. Wind heult durch den Untergrund und singt sein trauriges Lied. Ich habe die Augen in der Dunkelheit geschlossen, stehe mit den Füßen im lockeren Boden. Mein Gesicht ist dem schwarzen Schlund zugewandt, der tief in die Eingeweide meiner Welt hineinreicht."

Fazit:
"Red Rising - Im Haus der Feinde" ist ein gelungener zweiter Band, mit wahnsinniger Sogkraft und jeder Menge Action. In meinen Augen war schon der erste Band großartig, aber Pierce Brown setzt hier noch einmal eine Schippe drauf!

Originelle Ideen, vielschichtige Charaktere, ein straffer Spannungsbogen und ein bildgewaltiger Schreibstil voller Atmosphäre - für mich ein absolutes Erfolgsrezept.