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YukBook
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München

Bewertungen

Insgesamt 289 Bewertungen
Bewertung vom 07.11.2018
Die Liebenden vom Ende der Welt
Raymond, Midge

Die Liebenden vom Ende der Welt


ausgezeichnet

Der Roman erzählt die Geschichte einer Biologin, die zwei Berufe unter einen Hut bringen muss: Sie ist Reiseführerin auf einem Kreuzfahrtschiff, das den südlichen Polarkreis überquert und zugleich Naturforscherin, die den Lebensraum von Pinguinen erforscht.

Die Überschrift des ersten Kapitels „Eine Woche vor Schiffsuntergang“ lässt bereits Dunkles erahnen und baut so einen Spannungsbogen auf. In mehreren Rückblenden lässt uns die Ich-Erzählerin Deborah an verschiedenen Phasen ihres Lebens teilhaben: wie nach dem Studium ihr Interesse für Pinguine geweckt wurde, wie sie auf der Forschungsstation in der Antarktis ihre große Liebe Keller Sullivan kennenlernte bis hin zur Gegenwart.

Obwohl ich mich mehr für Geistes- als für Naturwissenschaften interessiere, konnte ich mich sofort mit der Hauptfigur identifizieren. Ihre Begeisterung für die Schönheit der Antarktis und ihr Zwiespalt sind allgegenwärtig und gut nachvollziehbar: Einerseits möchte sie die Touristen für den Naturschutz sensibilisieren, andererseits ist ihr bewusst, dass trotz größter Vorsicht auch diese Schiffsreisen die Tier- und Naturwelt gefährden.

Mit viel Sachkenntnis stellt uns die Autorin die Eigenheiten verschiedener Pinguinkolonien und die ökologischen Veränderungen des Lebensraums vor. Zwischenmenschliche Krisen unter den Passagieren, die sich zuspitzen, und Deborahs Bemühen, ihre Beziehung und ihren Beruf in Einklang zu bringen, sowie die unbarmherzige Härte der Natur, die sich gegen den Eroberungsdrang der Menschen rächt, haben mich bis zum Schluss in Bann gehalten und zutiefst berührt.

Bewertung vom 01.11.2018
Das Vogelhaus
Meijer, Eva

Das Vogelhaus


ausgezeichnet

Drops, Putzi, Sternchen – so lauten die niedlichen Namen der Nebenfiguren dieses Romans. Beschrieben werden sie wie Menschen, doch es handelt sich um Vögel, die die Protagonistin Gwendolen („Len“) Howard in ihrem Cottage in Sussex erforscht. Wie es dazu kam, erzählt diese fiktionalisierte Lebensgeschichte über eine ungewöhnliche Aussteigerin und Ornithologin.

Lens Interesse für Vögel wurde schon als Kind durch ihren Vater geweckt, der verletzte Vögel zu Hause gesund pflegte. Sie wächst in einer wohlhabenden Familie auf, die sich mit Literatur- und Musikabenden die Zeit vertreibt, spielt mit großer Leidenschaft Geige und bekommt die Chance, in London in einem Orchester zu spielen. Das städtische Leben und die Konflikte und Machtkämpfe im Orchester nerven sie jedoch zunehmend. Auch in der Beziehung zu ihrem Freund Thomas findet sie keine Erfüllung.

Das einzige, was ihr am Herzen liegt, sind die heimischen Vögel, deren Gesang und Verhalten sie studiert. 1939 macht sie den entscheidenden Schritt, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen: Sie kauft ein Cottage im ländlichen Ort Ditchling und erforscht die wilden Vögel der Gegend, ihre Sprache, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften.

Lens Lebensgeschichte wird immer wieder unterbrochen durch die Studie über ihre Lieblingskohlmeise „Sternchen“. Durch den Wechsel zwischen den zwei Erzählsträngen vergleicht man ganz unwillkürlich das Verhalten von Lens Familie und Freunden mit denen der Vögel. Eva Meijer ist sehr talentiert darin, sowohl den individuellen Charakter der Menschen als auch der Tiere sehr treffend zu beschreiben. Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie Kohlmeisen und Spatzen, Rotkehlchen und Drosseln in ihrem Haus ein- und ausfliegen und sich in Kartonverpackungen einnisten.

Ich war vor allem fasziniert von Lens Geduld, mit der sie das Vertrauen der Vögel gewinnt und ihrer Entschlossenheit, das Terrain vor unerwünschten Besuchern und Baumaßnahmen zu schützen. Von der Kritik, ihre Arbeit sei nicht wissenschaftlich fundiert, ließ sie sich nicht beirren und schrieb zahlreiche Artikel und Bücher über ihre Beobachtungen. Eva Meijers rhythmischer Erzählstil, der sich stellenweise wie ein Gedicht liest, passt wunderbar zu dieser Hommage an die bemerkenswerte Naturforscherin und an die Vogel- und Musikwelt.

Bewertung vom 24.10.2018
Sofia trägt immer Schwarz
Cognetti, Paolo

Sofia trägt immer Schwarz


gut

Ich war sehr gespannt darauf, Sofia kennenzulernen, die immer schwarz trägt. Gemeint ist die Protagonistin dieses Romans, die in Mailand aufwächst, nach Rom zieht, um Schauspielerin zu werden und schließlich in Brooklyn landet. Hinzu kommt, dass mich der Roman „Acht Berge“ so begeistert und meine Erwartungen an den italienischen Autor entsprechend hochgeschraubt hatte. Nun habe ich das Buch ausgelesen und weiß nicht so recht, was ich von den Erzählungen halten soll.

Der Anfang las sich sehr vielversprechend. Mir gefiel, wie Sofia ihre Erinnerungen an die Kindheit in Mailand und in der Neubausiedlung Lagobello beschrieb. Schöne Erlebnisse wie wilde, fantasievolle Piratenspiele mit Freunden zählten ebenso dazu wie leidvolle Phasen, bedingt durch den ständigen Ehestreit der Eltern, den Depressionen der Mutter und Verlustängste. Doch dann verliert sich zunehmend der rote Faden – nicht nur durch die vielen Zeitsprünge, sondern auch inhaltlich.

Der Autor beleuchtet beispielsweise die Ehe der Eltern, die Arbeitsbedingungen des Vaters bei Fiat oder das Verhältnis zu Sofias Tante, die sich politisch engagiert. Ich hatte gehofft, dass durch die fast eigenständigen Erzählungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Sofias Persönlichkeit allmählich Gestalt annimmt, doch sie spielt meist nur am Rande eine Rolle. So blieben für mich viele interessante Charaktere wie die fürsorgliche Caterina in ihrer WG in Rom oder die Geliebte ihres Vaters nur an der Oberfläche, und auch zu der Hauptfigur konnte ich bis zum Schluss keinen richtigen Zugang finden.

Interessant fand ich dagegen, wie Paolo Cognetti durch seinen ungewöhnlichen Erzählstil Schlaglichter auf die italienische Gesellschaft der 80er Jahre und die typischen Konflikte in einer bürgerlichen Familie wirft. Auch sprachlich versteht er sein Handwerk und schafft es, mit scharfer Präzision die Dinge auf den Punkt zu bringen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.10.2018
Walking in the Rain

Walking in the Rain


sehr gut

Ich komme gerade von einem Spaziergang und habe einmal versucht, einige Anregungen aus diesem Buch umzusetzen. Ganz bewusst einen Schritt nach dem anderen setzen, sich mit allen Sinnen auf die Umgebung einlassen, Geräusche, Stimmen und Gerüche wahrnehmen… dies und vieles mehr empfehlen die Autoren in dem kleinen, aber feinen Büchlein.

Dass Gehen an der frischen Luft den Körper in Schwung bringt, den Kopf freimacht und die Gesundheit fördert, ist allgemein bekannt. An diesem Buch gefiel mir vor allem, wie vielseitig die Erfahrungen der Autorinnen und Autoren zu diesem Thema sind. Kate Peers zum Beispiel lässt sich beim Gehen am liebsten von der Natur ermutigen, die ihr den ewigen Kreislauf des Lebens vor Augen führt und ihre alltäglichen Probleme nichtig erscheinen lässt. Für die Künstlerin Antonia Thompson ist das regelmäßige Gehen wie Tagebuch führen und ein Weg zur kreativen Freiheit. Eine sehr extreme Form des Gehens ist das Pilgern, das auch Blinden ermöglicht wird. Gert-Jan de Horn berichtet, wie er den „Camino Walking Blind“ ins Leben rief und lässt einzelne Teilnehmer von ihren persönlichen Eindrücken berichten.

Als Stadtmensch konnte ich mich am meisten mit der Geschichte von Clare Barry identifizieren. „Switched on but disconnected“ – so beschreibt sie den Zustand vieler Großstadtmenschen, die bestens vernetzt und erreichbar, aber nicht mehr empfänglich sind für sinnliche Eindrücke in unmittelbarer Nähe. Tatsächlich laufen einem in der Stadt ständig Leute über den Weg, die auf ihr Handy starren. Barry möchte Abhilfe schaffen und bietet in London „Urban Curiosity Walkshops“ an, bei denen man mit Gleichgesinnten eine Stadttour zu Fuß unternimmt.

Ob in der Stadt oder Natur – das Buch macht Lust, von der Couch aufzuspringen, in bequeme Schuhe zu schlüpfen und sich auf den Weg zu machen.

Bewertung vom 17.10.2018
Mit kleinem Gepäck
Kallert, Tamina

Mit kleinem Gepäck


ausgezeichnet

Die Reihe „Wunderschön“ im WDR zählt zu den Reisesendungen, die ich mir besonders gern ansehe. Das liegt auch an der sympathischen Moderatorin Tamina Kallert, die so eine natürliche und herzliche Ausstrahlung hat. Ich hätte nicht gedacht, dass sich mein Eindruck durch ihr Buch „Mit kleinem Gepäck“ derart bestätigt.

Als Zuschauer fragt man sich ja, wieviel in der Sendung gespielt und wieviel „echt“ ist. Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Reisejournalistin ständig in den Genuss leckerer Süßwaren und regionaler Spezialitäten kommt und werde ganz neidisch. Da ahne ich natürlich nicht, wieviel mühsame Arbeit dahinter steckt, bis ein gedeckter Tisch in einer heimeligen Teestube perfekt in Szene gesetzt und ein kurzes Gespräch mit der Gastgeberin im Kasten ist.

Tamina Kallert berichtet von berührenden Begegnungen mit Einheimischen, abenteuerlichen Dreharbeiten, von typischen Konflikten im Filmteam und dem anstrengenden Wechsel zwischen ständiger Präsenz und Stand-By-Modus. Die Autorin gewährt dabei nicht nur einen vielfältigen Blick hinter die Kulissen, sondern auch in ihr persönliches Leben und ihre berufliche Entwicklung. Besonders gut gefiel mir, dass sie immer wieder selbstkritisch ihre Einstellung und ihr Verhalten reflektiert, sich mit ihren Schwächen auseinandersetzt und versucht, aus ihren Erfahrungen dazuzulernen.

Ihre Gedanken und Einsichten dürften nicht nur für ihre Berufssparte, sondern für jeden eine Bereicherung sein, der sich mit der Frage beschäftigt, wie er seinen Berufs- und Lebenstraum verwirklichen kann. Ich fühlte während der Lektüre eine immer stärkere Verbundenheit mit Tamina Kallert, nicht nur, weil sie so lebendig, sprachlich einnehmend und leidenschaftlich aus ihrem aufregendem Alltag erzählt, sondern dem Leser auch eine sehr wichtige Empfehlung mit auf den Weg gibt: mit Neugier, Offenheit und unvoreingenommen, also „kleinem Gepäck“, durchs Leben zu gehen.

Bewertung vom 11.10.2018
Wunder warten gleich ums Eck
Pachl-Eberhart, Barbara

Wunder warten gleich ums Eck


sehr gut

Wer in der heutigen Zeit an Wunder glaubt, wird schnell für verrückt erklärt oder naiv gehalten. Und wer sich aktiv auf die Suche nach Wundern begibt wahrscheinlich erst recht. Trotzdem wagte Barbara Pachl-Eberhart vor fünf Jahren ein Experiment: Statt auf ein Wunder zu warten, ging sie auf Entdeckungstour und schrieb ein Buch darüber. „Man findet jederzeit ein Wunder, wenn man mit offenen Augen spazieren geht“, so ihre Überzeugung.

Dabei ist alles eine Frage der Definition, wie der Leser bald feststellen wird. Dass sie es sich bei dem Experiment nicht zu einfach machen will und nicht jede Kleinigkeit als Wunder durchgehen lässt, macht sie sympathisch. Sie zeigt aber auch, dass Eigenschaften wie Offenheit, Neugier und Achtsamkeit das Unterfangen wesentlich erleichtern.

Das Spektrum an Wundern, von denen uns die Autorin erzählt, reicht von herzerwärmenden Beobachtungen in der U-Bahn über Staunenswertes in der deutschen Sprache bis hin zu Phänomenen in der Natur. Manches ist nur schwer nachvollziehbar wie ihr spirituelles Erlebnis beim Tod ihrer Tochter – manch anderes Beispiel schien mir etwas weit hergeholt. ‚Wunder‘ hat einen magischen Klang, ist aber auch ein dehnbarer Begriff, der schnell schwammig werden kann.

Staunend durch die Welt zu gehen, ist eine Haltung, die ich sehr schätze und gern viel öfters einnehmen würde, doch der auf Effizienz getrimmte Alltag macht es einem nicht leicht. Das Büchlein hat mich wieder daran erinnert, im Alltag den Blick für die Kostbarkeiten im Leben zu schärfen und nicht alles als selbstverständlich anzusehen.

Bewertung vom 08.10.2018
Sommer in Super 8
Müller, Anne

Sommer in Super 8


ausgezeichnet

Der Roman hat mich stark an meine Kindheit erinnert. Klavierunterricht, Pyjamaparties, Tanzstunden und ein humorvoller, aber launischer Vater, nach dem man seine Antennen ausrichten muss – das alles kam mir sehr bekannt vor. Ob man nun in Schallerup nahe der Ostsee oder in Düsseldorf aufwächst – als Teenager macht man eben ganz ähnliche Dinge durch.

Die Ich-Erzählerin Clara König, mittleres Kind von fünf Geschwistern, beschreibt anfangs viele Szenen, die das Bild einer perfekten Familienidylle vermitteln. Man musiziert gemeinsam, verbringt unbeschwerte Tage an der Ostsee, sieht sich abends die vom Vater aufgenommenen Super-8-Filme an und feiert sich als glückliche Familie. Jedes Kind spielt die ihm zugeschriebene Rolle und buhlt um die Anerkennung der Eltern. Die titelgebenden Filme hatten für mich einen Symbolcharakter, denn schon da stellte sich die Frage, was in der Familie real und was gespielt ist.

Anne Müller weiß genau, was im Kopf einer Vierzehnjährigen vorgeht. Unbefangen und charmant erzählt ihre Hauptfigur von Mädchenträumen und dem ersten Schwarm, von großen Erwartungen und Enttäuschungen. Nebenbei entsteht ein lebendiges Bild der Dorfgemeinschaft mit ihren wenigen Höhepunkten wie der jährliche Markt oder der Klatsch und Tratsch im Friseursalon, der sich bald um Claras eigene Familie drehen wird.

Das Besondere an dieser Erzählung ist, dass sich mit zunehmendem Alter Claras Blick für die Welt hinter der bröckelnden Fassade schärft. Der heitere und beschwingte Ton schlägt allmählich in eine ernste und wehmütige Stimmung um und markiert das Ende einer unbeschwerten Kindheit. Ich habe den feinsinnigen Roman, der den Zeitgeist der 70er Jahre aufleben lässt, mit Empathie und Begeisterung gelesen.

Bewertung vom 03.10.2018
Calypso
Sedaris, David

Calypso


sehr gut

Diese Essay-Sammlung von David Sedaris hätte ich gern als Stand-up-Comedy erlebt. An einer Stelle heißt es, dass er auf einer Lesereise 45 Städte in 47 Tagen abgeklappert hat. Die Reise inspirierte ihn sicher zu der Geschichte „Ihr Englisch ist so gut“, bei der ich mich schlapp gelacht habe. Die Frage "Wie war Ihr Flug?", die er zu den überflüssigsten hält, bekam er wohl oft zu hören. Zu gern würde ich wissen, was er von der hierzulande überstrapazierten Floskel „Alles gut“ hält.

Das zentrale Thema des Buches ist das Reisen und seine Familie, die sich regelmäßig in einem Strandhaus auf Emerald Isle in North Carolina trifft. Zu seiner Schwester Amy scheint er ein besonders inniges Verhältnis zu haben. Doch auch alle anderen Familienmitglieder kommen zum Zuge und werden in seinen Anekdoten karikaturhaft gezeichnet: zum Beispiel sein eigenwilliger Vater, der eine Taschenlampe benutzte, um Strom zu sparen, oder seine Mutter, die sich stets stilvoll kleidete und mit ihren Geschichten alle zum Lachen brachte.

Manchmal blieb mir jedoch das Lachen im Hals stecken, denn mit Galgenhumor seziert Sedaris sehr ernstzunehmende Themen wie die Alkoholsucht seiner Mutter oder den Selbstmord seiner Schwester Theresa. Ihn beschäftigt nicht nur das Altern im Allgemeinen, sondern auch wie schräg oder fanatisch einige Menschen in seinem Umkreis mit zunehmendem Alter werden. Abgesehen von ein paar unappetitlichen Geschichten habe ich Sedaris’ sehr persönliche Erinnerungen und Gedanken mit Vergnügen gelesen.

Bewertung vom 18.09.2018
Heimat
Krug, Nora

Heimat


ausgezeichnet

Der Begriff Heimat löst bei einigen nicht nur positive Gefühle aus. Die Schriftstellerin und Illustratorin Nora Krug zum Beispiel ist nach Brooklyn ausgewandert und tut sich noch heute schwer mit ihrer deutschen Herkunft. Was genau bedeutet Heimat für sie? Wie hat ihre Familie im Zweiten Weltkrieg gelebt und welche Verantwortung trägt sie für ihre familiären Wurzeln? Das wollte die Autorin genau wissen, begab sich auf Spurensuche und verarbeitete ihre Fundstücke, Erkenntnisse und Gedanken zu einem illustrierten Tagebuch.

Der ungewöhnlich gestaltete Text- und Bildband enthält sowohl persönliche Erinnerungsstücke wie Fotos und Briefe als auch zeitgeschichtliches Material aus Archiven. Immer wieder ist ihr Gefühl von deutscher Schuld zu spüren, das in ihrer Jugend durch Erlebnisse im Ausland ausgelöst und sich mit den Jahren verstärkt hat. Dann wieder gibt es heitere Abschnitte wie einen Katalog deutscher Dinge, an die sich die „heimwehkranke Auswanderin“ gern erinnert, zum Beispiel Hansaplast, die Gallseife oder Wärmflasche.

Parallel erfahren wir Details, die Nora Krug nach und nach über ihre Familiengeschichte herausfindet. Hier interessiert sie vor allem die Frage nach Schuld und Unschuld von Mitläufern. Anhand der Erzählungen ihrer Mutter versucht sie, den Lebensweg ihres Großvaters zu rekonstruieren, der in Karlsruhe als Chauffeur eines jüdischen Textilhändlers arbeitete und später eine Fahrschule eröffnete. Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin bei ihren Recherchen von der Hoffnung getrieben wurde, „entlastendes“ Material zu finden, das die Schuld der eigenen Familie mindert.

Am meisten bewegt haben mich ihre illustrierten und handgeschriebenen Geschichten im Comic-Stil. In den gezeichneten Gesichtern und Kommentaren spiegelt sich mal das Grauen der Verbrechen, mal das Gefühl von Befangenheit oder Wehmut wider. Ich bewundere die Autorin, die sich in dieser Form der Vergangenheit ihrer Familie gestellt hat, keinen Fragen ausgewichen ist und ein kleines Kunstwerk geschaffen hat.

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Bewertung vom 15.09.2018
Weit weg von Verona
Gardam, Jane

Weit weg von Verona


sehr gut

"Nicht verrückt, aber auch nicht ganz normal." So beschreibt sich die Ich-Erzählerin Jessica Vye in diesem Debütroman von Jane Gardam. In der Tat fügt sich die 12-Jährige, die in dem kleinen englischen Küstenort Cleveland Sands aufwächst, so gar nicht in das Bild einer braven Pfarrerstochter. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und eckt sowohl bei den Schulkameradinnen als auch Lehrerinnen an. Das macht ihr aber herzlich wenig aus – viel wichtiger ist für sie, dass ein Schriftsteller, der vor einigen Jahren zu einer Lesung in die Schule kam, ihr schriftstellerisches Talent bezeugte. Nach diesem einschneidenden Erlebnis ist sie versessen darauf, Geschichten zu erzählen und verschlingt einen englischen Klassiker nach dem anderen.

Ihre Kindheit ist überschattet vom Zweiten Weltkrieg und den Luftangriffen der Deutschen, doch sie trotzt den Nöten und Ängsten durch ihre eigenwillige, mutige und zielstrebige Art. Jane Gardam schreibt so frech, erfrischend und authentisch, dass ich mich fast an meine eigene Teenagerzeit erinnert fühlte. Ich bin gespannt, wieviel sich von diesem Stil in ihren aktuellen Romanen wiederfindet.