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cosmea
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Witten
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Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 25.08.2018
Manhattan Beach
Egan, Jennifer

Manhattan Beach


sehr gut

Die See, die See
Jennifer Egans neuer Roman “Manhattan Beach“ ist zugleich historischer Roman und Krimi. Die Autorin zeichnet ein gut recherchiertes Porträt von New York zur Zeit der Wirtschaftskrise und während des Zweiten Weltkriegs. Eddie Kerrigan, der Vater der Protagonistin Anna, arbeitet zunächst als Laufbursche für einen Gewerkschaftsboss, später für Dexter Styles, einen reichen und mächtigen Gangster, der verschiedene Nachtclubs besitzt. Eines Tages begleitet die 11jährige Anna ihren Vater zum Anwesen der Styles und lernt dessen Familie kennen. 8 Jahre später ist der Vater seit 5 Jahren spurlos verschwunden. Anna kümmert sich mit Mutter Agnes um die schwerstbehinderte jüngere Schwester Lydia. Zunächst führt sie in der Werft Messungen durch, dann bewirbt sie sich als erste Frau um eine Ausbildung als Taucherin – anfangs vergeblich. In dieser reinen Männerdomäne will man keine Frauen. Doch eines Tages überwindet sie alle Widerstände und repariert von da an mit ihren Kollegen Kriegsschiffe in der Werft. Als sie eines Tages einen Nachtclub besucht, sieht sie Dexter wieder, der sie aber nicht erkennt. Sie bemüht sich um Kontakt zu ihm, weil sie glaubt, dass er etwas über den Verbleib ihres Vaters weiß. Anna hat nie aufgehört, nach ihm zu suchen, ihn zu vermissen. Sie ist überzeugt, dass er wegen seiner Tätigkeit für das Syndikat sterben musste. Dexter Styles hat tatsächlich Informationen für sie. Dexter und Anna fühlen sich zueinander hingezogen und bringen sich damit in Lebensgefahr.
Der vielschichtige Roman wird aus drei verschiedenen Erzählperspektiven mit mehreren Wechseln der Zeitebene erzählt. Der Leser blickt aus Annas, Eddies und Dexters Sicht auf die Ereignisse. Jeder der drei hat ein Geheimnis. Ihre Schicksale sind unauflöslich miteinander verknüpft, wie erst allmählich deutlich wird. Neben der Krimihandlung gewährt die Autorin Einblick in den zeitgenössischen Kontext: die Kriegsereignisse ebenso wie die Stellung der Frau in der damaligen Gesellschaft, die Rolle der Gewerkschaften und des organisierten Verbrechens. Sehr detaillierte Beschreibungen von Tauchgängen samt Ausrüstung und den mit der Arbeit in der Tiefe verbundenen Gefahren zeigen, dass Egan auch hier sehr gründlich recherchiert hat. Neben den genannten Figuren ist jedoch das Meer der heimliche Protagonist dieses Romans, denn nicht das städtische New York steht im Mittelpunkt, sondern Brooklyn und Manhattan Beach. Die Autorin teilt die Faszination ihrer Protagonisten für den Sehnsuchtsort Meer und seine symbolische Bedeutung, seine reinigende und erneuernde Kraft, aber auch seine sichtbare Oberfläche mit einem verborgenen Untergrund, die die Ereignisse auf der Handlungsebene spiegelt.
Mir hat der auch sprachlich anspruchsvolle Roman gut gefallen. Spannung bezieht er vor allem aus der Tatsache, dass die verschiedenen Erzählstränge erst gegen Ende zusammengeführt und erst dann alle zurückgehaltenen Antworten gegeben werden. Der Leser braucht etwas Geduld, aber es lohnt sich.

Bewertung vom 22.08.2018
Der Abgrund in dir
Lehane, Dennis

Der Abgrund in dir


sehr gut

Ein Blick in seelische Abgründe
In Dennis Lehanes neuestem Roman “Der Abgrund in dir“ (Originaltitel: “Since We Fell“) steht Rachel Childs, die im Prolog in einer Vorwegnahme späterer Ereignisse ihren Ehemann erschießt, den sie liebt und der sie ebenfalls liebt. Nicht nur wegen seiner weiblichen Protagonistin ist dieser Thriller anders als alle Romane von Dennis Lehane, die ich kenne. Bei Lehane erwarte ich eine spannende lineare Handlung, die bis zur Auflösung einen einzigartigen Sog entwickelt. Dieser Roman besteht aus mehreren unterschiedlichen Teilen und ist nicht durchweg spannend. Nach dem furiosen Auftakt wird in der ersten Hälfte Rachels Vorgeschichte nachgeholt. Sie ist eine beschädigte Persönlichkeit, und das hat ihre alleinerziehende Mutter Elizabeth Childs, eine Autorin von Selbsthilferatgebern, zu verantworten. Sie ist unglücklich und verbittert und gibt ihre negative Lebenseinstellung erfolgreich an ihre Tochter weiter, der sie mit sadistischem Vergnügen die Identität des Vaters vorenthält. Als sie bei einem Unfall stirbt, nimmt sie ihr Geheimnis mit ins Grab. Die 17jährige Waise Rachel wird viele Jahre lang versuchen, ihren unbekannten Vater zu finden. Dennoch wird aus ihr eine erfolgreiche Journalistin, bis sie eines Tages vor laufender Kamera einen Nervenzusammenbruch hat. Das ist das Ende ihrer Karriere und ihrer Ehe mit dem Produzenten Sebastian. Ihre psychischen Probleme verstärken sich. Sie leidet unter Panikattacken, diffusen Ängsten, Depressionen und einem grotesk geminderten Selbstwertgefühl. Ihr neuer Ehemann Brian Delacroix hilft ihr aus dem Tief heraus ins Leben zurück. Er ist ein sehr attraktiver, charmanter Geschäftsmann. Mit ihm ist sie glücklich, bis sie eines Tages eine Entdeckung macht, die alle Gewissheiten mit einem Schlag vernichtet. Als ihr journalistischer Spürsinn sie dazu bringt, Nachforschungen anzustellen, wird sie in eine tödliche Intrige verwickelt und mit Verrat und Mord konfrontiert. Plötzlich ist sie eine Frau auf der Flucht, die ihre Lähmung überwinden und all ihre verborgenen Reserven an Mut und innerer Starke mobilisieren muss, um zu überleben. Wird es ihr gelingen?
Die zwei Hälften des Romans fallen so deutlich auseinander, dass der Leser sich fragt, was Rachels ausführlich dargelegte Kindheit und Jugend mit der eigentlichen Thriller-Handlung zu tun haben. Zudem gibt es in der zweiten Hälfte zahlreiche überraschende Wendungen und nicht immer plausible Zufälle, die das Tempo forcieren und die Spannung erhöhen. Die Kombination von typischer Thriller-Handlung und Psychogramm einer gestörten Persönlichkeit ist zumindest ungewöhnlich, der Roman streckenweise so düster, dass der Titel eines Lehane-Romans aus dem Jahr 1996 gut passen würde: "Darkness, Take My Hand". Trotz unübersehbarer Längen habe ich den Roman gern und vor allem zügig gelesen.

Bewertung vom 13.08.2018
Uns gehört die Nacht
Libaire, Jardine

Uns gehört die Nacht


ausgezeichnet

Liebe mit Hindernissen
Jardine Libaires Roman “Uns gehört die Nacht“ ist die Geschichte einer großen Liebe. Dabei spielt der deutsche Titel auf die sexuelle Leidenschaft der ungleichen Partner an, während sich der Originaltitel “White Fur“ auf einen sehr vorteilhaften Tausch der jungen Elise mit einem zugedröhnten Mädchen bezieht. Dieser weiße Kaninchenfellmantel ist fortan ihr ständiger Begleiter. Elise Perez ist durch ihre Mutter halb Puerto-Ricanerin. Sie stammt aus einem sehr benachteiligten Milieu, wo Drogen, Alkohol, Kriminalität und Gewalt verbreitet sind. Elise ist ohne Vater aufgewachsen und hat keinen Schulabschluss. Eines Tages hält sie es zu Hause nicht mehr aus und geht nach New Haven. Robbie, ein junger Schwuler, findet sie eines Tages in seinem Auto und nimmt sie bei sich auf. Er ist ihr einziger Freund, bis sie eines Tages ihre Nachbarn, die jungen Yale-Studenten Jamey und Matt kennenlernt. Elise verliebt sich in Jamey, und nach einiger Zeit wird ihr Interesse erwidert. Der schüchterne, unerfahrene Jamey und Elise mit der Ghetto-Vergangenheit beginnen eine leidenschaftliche Affaire. Allmählich entwickelt sich die obsessive Beziehung zu einer tiefen Liebe. Als Jamey nach dem ersten Studienjahr ein Praktikum bei Sotheby´s in New York macht, lebt er mit Elise in einer geliehenen Wohnung. Es kommt zu immer neuen Konflikten mit der Familie, denn die unermesslich reichen Investmentbanker-Dynastie Hyde legt der Mesalliance zwischen ihrem Sprössling und der inakzeptablen Angehörigen der armen Unterschicht immer wieder Hindernisse in den Weg. So geht es in dem Roman nicht nur um eine Liebesgeschichte, sondern auch um gesellschaftliche Klassen, Geld und Macht. Jamey, dem immer alles zugefallen ist und dessen berufliche Zukunft auch jetzt schon gesichert ist, muss für sich entscheiden, was er zu opfern bereit ist und den Konflikt mit der Familie aushalten. Das ist ohne schwerwiegende persönliche Folgen nicht zu schaffen.
Mir hat der Roman gefallen, auch wenn das zugrundeliegende Muster der folgenschweren Begegnung von Aschenputtel und dem Prinzen nicht neu ist. Das vorangestellte Zitat aus Shakespeares “Romeo und Julia“ passt insofern nicht so gut, als diese Liebenden nicht verschiedenen Schichten, sondern verfeindeten Familien angehörten. Dennoch lohnt sich die Lektüre dieses ebenso zärtlich-poetischen wie brutal-realistischen Romans – nicht zuletzt, weil er die Atmosphäre im New York der 80er Jahre perfekt einfängt.

Bewertung vom 07.08.2018
Die Gesichter
Rachman, Tom

Die Gesichter


ausgezeichnet

Aus mir wurde, was ich verdient habe
In Tom Rachmans drittem Roman “Die Gesichter“ ((Originaltitel: “The Italian Teacher“ ) geht es um eine ganz besondere Vater-Sohn-Beziehung. Bear Bavinsky, der berühmte Maler, lebt nur wenige Jahre in Rom mit seiner dritten Ehefrau Natalie und seinem Sohn Charles , genannt Pinch, zusammen, bevor er sie für eine andere Frau verlässt, mit der er bereits Kinder hat. Natalie ist Töpferin und will sich ebenfalls als Künstlerin durchsetzen. Ihr Mann fördert diese Bestrebungen nicht, sondern hindert sie an ihrer künstlerischen Entfaltung. Charles liebt und bewundert seinen Vater. Ein Leben lang wird er versuchen, seine Liebe und Anerkennung zu erringen. Er ist der eigentliche Protagonist des Romans. Beginnend im Jahr 1950 bis zu seinem Tod im Jahr 2018 wird sein Leben im Schatten des großen Mannes erzählt. Für Bear Bavinsky ist nur er selbst wichtig. Seiner Kunst muss sich alles andere unterordnen. Birdie, eines seiner siebzehn Kinder, wird nach seinem Tod formulieren „Ach, Daddy. Die Kunst war so viel besser als der Mensch.“ (S. 364). Auch Charles will Maler werden, und seine Mutter hält ihn für sehr talentiert. Sein Vater Bear beendet jedoch nach einem flüchtigen Blick auf ein Bild seines Sohnes diese Ambitionen mit einem einzigen grausamen Satz: “…aber ich muss dir sagen, Kiddo, ein Maler bist du nicht, und du wirst auch nie einer werden.“ (S. 99). In Wirklichkeit duldet er lediglich keine Konkurrenz und schon gar nicht aus der eigenen Familie. Gegen Ende seines Lebens, als es für alles fast zu spät ist, macht er Charles zu seinem Nachlassverwalter und betont seine besondere Stellung in der Reihe seiner Nachkommen. Geprägt von einem egozentrischen Giganten mit zahlreichen Ehefrauen und unzähligen Geliebten bleibt für Charles bis dahin jedoch nur ein Leben in der Mittelmäßigkeit, ein immerwährendes Scheitern in privaten Beziehungen und in seinem beruflichen Werdegang. Er wird nicht Künstler, auch nicht Kunsthistoriker und Biograph seines Vaters, sondern Lehrer für Italienisch an einer unbedeutenden Londoner Sprachschule. Am Ende bleiben ihm Marsden McClintock, ein Freund aus der Studienzeit, und Kollegin Jing aus der Sprachschule. Sie sind die einzigen außer dem Leser, die wissen, dass Charles schließlich einen nicht ganz ungefährlichen Weg gefunden hat, sich selbst seinen Wert zu beweisen. Er sucht keinen Schuldigen für sein lebenslanges Versagen.
Der Roman zeichnet jedoch nicht nur exemplarisch das Leben eines Sohnes im Schatten eines übermächtigen Vaters nach. Es geht auch um eine Vielzahl anderer Themen. Steht der bedeutende Künstler über der Moral und kann rücksichtslos tun und lassen, was er will? Was ist Kunst, und wer bestimmt ihren Wert? Welche Rolle spielen dabei Galeristen und alle anderen, die mit der Kunst Geschäfte machen? Wie wichtig ist Authentizität?
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, und ich habe mich keinen Augenblick gelangweilt. Neben Einblicken in die Kunstwelt gibt es sehr traurige Episoden, aber auch Humor und Bonmots wie die Aussage, dass Leute mit Geld über Kunst reden, Künstler dagegen nur über Geld. Ein sehr empfehlenswerter Roman

Bewertung vom 30.07.2018
Weit weg von Verona
Gardam, Jane

Weit weg von Verona


sehr gut

Das Ende der Kindheit
Jane Gardams Coming-Of-Age Roman “Weit weg von Verona” erschien im Original bereits 1971 unter dem Titel “A Long Way From Verona.“ Er berichtet über eine Phase im Leben der 13jährigen Protagonistin Jessica Vye, die im Alter von 9 Jahren ein einschneidendes Erlebnis hatte. Ein berühmter Schriftsteller versucht durch Vortrag und Lesung, die Kinder für Literatur zu begeistern und Jessica bittet ihn, sich alles anzusehen, was sie bis dahin geschrieben hat. Er hält sie für die geborene Schriftstellerin, und von da an ist sie von diesem für sie vorgezeichneten Weg nicht mehr abzubringen.
Jessica ist ein sehr selbstbewusstes Mädchen, das Autorität nicht anerkennt und kompromisslos in jeder Situation sagt, was sie denkt, auch wenn sie sich dadurch immer wieder in Schwierigkeiten bringt und sich diverse Schulstrafen einhandelt. Sie ist ein wenig zur Außenseiterin geworden und hat in Florence nur eine einzige Freundin. Erstaunlicherweise bezieht sich ihre Auflehnung nicht auf ihre Eltern, denn ihren Vater, der erst spät zu seiner Berufung als Geistlicher gefunden hat, liebt sie sehr. Ein prägendes Erlebnis ist auch eine Einladung bei reichen Leuten, wo sie einen ganz anderen Lebensstil kennenlernt und in dem 14jährigen Christian einem jungen Revolutionär begegnet.
Sehr reizvoll ist an Gardams Debütroman die Einordnung in den historischen Kontext. Die Geschichte spielt mitten im Zweiten Weltkrieg und vermittelt treffend die damaligen Lebensumstände: nächtliche Bombenangriffe, Gasmasken, Lebensmittelmarken, verbreitete Armut und Knappheit von Ressourcen.
Mir hat dieser Roman gut gefallen, bin ich doch längst ein Fan der Old-Filth-Trilogie, die in Deutschland ihren schriftstellerischen Ruhm begründet.

Bewertung vom 29.07.2018
Opfer
Lemaître, Pierre

Opfer


sehr gut

Was uns zustößt, erzeugen wir selbst
“Opfer“ von Pierre Lemaitre ist der dritte Band einer Trilogie und erschien im Original bereits 2012 unter dem Titel “Sacrifices“. Im Mittelpunkt steht wieder der kleinwüchsige Kommissar Camille Verhoeven. In diesem Band geht es um einen ungeheuer brutalen Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft in der Passage Monier in Paris. Anne Forestier, eine etwa 40jährige sehr attraktive Kundin, kommt den drei Gangstern in die Quere und wird durch Schläge und Tritte so schwer verletzt, dass sie nur so eben überlebt. Sie wird für immer gezeichnet sein. Anne Forestier ist seit einigen Monaten die Freundin des Kommissars, der auf den Überwachungsvideos entsetzt mit ansehen muss, wie die Gangster die Zeugin malträtieren. Unter Verstoß gegen alle Dienstvorschriften reißt Verhoeven die Ermittlungen an sich. Er vertraut sich seinen Freunden nicht an und versucht, den Fall im Alleingang zu lösen. Für ihn gibt es schon bald kein Zurück mehr, und er setzt alles auf eine Karte. Er will Anne Forestier vor ihrem Verfolger retten, der sie immer wieder aufspürt. Hinzukommt, dass Verhoeven die Ermordung seiner Frau Irene vier Jahre zuvor nie überwunden hat.
Die eigentliche Romanhandlung umfasst nur drei Tage, wobei die Zeitangaben jeweils als Kapitelüberschriften fungieren. Die Erzählperspektive wechselt – von Camille zu Anne, und sogar der namenlose Gangster kommt immer wieder als Ich-Erzähler zu Wort. Der gebannte Leser ist sehr nah dran an der Geschichte, die in Echtzeit im Präsens erzählt wird. Die Handlung wird immer komplexer, und nichts ist, wie es scheint. Das betrifft auch die Identität von einigen handelnden Personen. Am Ende löst der Kommissar den Fall mit äußerst unkonventionellen Methoden und ohne Rücksicht auf Verluste. Den Schluss empfinde ich als halboffen. Eine Fortsetzung ist möglich.
Ich möchte noch eine Anmerkung zum Titel hinzufügen. Der deutsche Titel “Opfer“ ist doppeldeutig: Es könnten Opfer von Unfällen oder Verbrechen sein oder die Opfer, die wir für die Menschen bringen, die wir lieben. Beide Bedeutungen erscheinen passend, denn über weite Strecken ist nicht klar, wer hier Opfer, wer Täter ist. Der Originaltitel “Sacrifices“ bezieht sich eindeutig auf die zweite Bedeutung.
Ich fand den Roman sehr lesenswert und spannend und habe vor allem die zunehmende Komplexität der Handlung genossen.

Bewertung vom 08.07.2018
Häuser aus Sand
Alyan, Hala

Häuser aus Sand


ausgezeichnet

Man darf nicht vergessen
In ihrem Roman “Häuser aus Sand“ erzählt die palästinensisch-amerikanische Autorin Hala Alyan die Geschichte der Palästinenser-Familie Yacoub über vier Generationen, beginnend im Jahr 1963 mit der Großmutter Salma. Sie lebt seit fünfzehn Jahren in Nablus im Westjordanland, nachdem sie ihre geliebten Orangenhaine in Jaffa aufgeben musste. Sie hat drei Kinder. Der Sohn Mustafa stirbt 1967 im Sechstagekrieg. Die Tochter Alia heiratet Mustafas besten Freund Atef. Alia ist die zentrale Figur dieses Romans, zunächst als Tochter, dann als Mutter, schließlich als Großmutter der vierten Generation. Als die Familie in Nablus nicht mehr sicher ist, gehen Alia und Atef in das ungeliebte glühend heiße Kuweit. Dort lebt auch die älteste Schwester Riham mit ihrem Mann. Salma und zahlreiche Verwandte und Freunde von früher sind nach Amman in Jordanien gezogen, wo Alia sie öfter besucht. Als sie auch Kuweit verlassen müssen, ziehen sie in ihre Wohnungen in Beirut. Ihre Kinder leben in Paris, in den USA und schließlich auch im Libanon.
Erzählt wird diese Familiengeschichte chronologisch mit kapitelweise wechselnder Perspektive von 1963 bis 2014. Ein Stammbaum zu Beginn des Romans hilft dem Leser, nicht die Orientierung zu verlieren. Vertreibung und Entwurzelung sind die großen Themen des Buches. Die Yacoubs verlieren ihr Land und ein Haus nach dem anderen. Nichts ist von Dauer, es gibt keine Garantie, für nichts. Die Autorin durchbricht insofern den Erwartungshorizont des Lesers, als es hier nicht um halbverhungerte, ständig vom Tod bedrohte Lagerbewohner geht, sondern um eine gut situierte Familie der oberen Mittelschicht, die, auch wenn sie immer wieder ihr Haus und ihr Land verliert, über genügend finanzielle Reserven verfügt, um sich anderswo eine neue Existenz aufzubauen. Dennoch bleibt der Verlust der Heimat eine schmerzliche Erfahrung, die sie alle prägt. Sie versuchen, in der Erinnerung zu bewahren, was sie verloren haben. Dabei kann die Sehnsucht nach Vergangenem so zerstörerisch wirken wie eine Krankheit. Die alte Salma gibt ihren Kindern ihre Überzeugung “Man darf nie vergessen.“ (S. 181) mit auf den Weg. Das Leben kümmert sich nicht um das Schicksal des Einzelnen: “Es geht einfach weiter“ (S. 343).
Mir hat dieser auch sprachlich hervorragende Roman gut gefallen. Man kann ihn als Familiensaga lesen oder den Blick auf die traumatische Erfahrung der permanenten Entwurzelung richten. Alyans Roman ist ein beeindruckendes Beispiel von Migrantenliteratur und damit in jeder Hinsicht brandaktuell.

Bewertung vom 08.07.2018
Das weibliche Prinzip
Wolitzer, Meg

Das weibliche Prinzip


ausgezeichnet

Feministinnen
Im Mittelpunkt von Meg Wolitzers neuem Roman “Das Weibliche Prinzip“ steht Greer Kadetzky, die nach dem Schulabschluss ein Studium an der fiktiven Ryland Universität beginnt, während ihr langjähriger Freund Cory nach Princeton geht. Eigentlich war sie in Yale angenommen worden. Daraus wird jedoch nichts, weil ihre trinkenden und kiffenden Hippieeltern die Unterlagen für das Stipendium nicht korrekt bearbeiten. Bald findet die schüchterne Greer in der selbstbewussten Zee Eisenstat eine treue Freundin. Dann passieren zwei Dinge: Greer wird bei einer Party in einem Verbindungshaus Opfer eines sexuellen Übergriffs und trifft bei einem Vortrag die 63jährige Faith Frank, die Ikone der Frauenbewegung. Greer ist schwer beeindruckt von der charismatischen Frau. Nach Abschluss ihres Studiums wird sie sich erfolgreich bei der von Faith geleiteten Non Profit-Organisation bewerben. Greer macht dort einen guten Job, indem sie Frauen in Not eine Stimme verleiht und ihnen zusammen mit der Stiftung hilft. Sie ist glücklich mit ihrem Job und bewundert ihr Idol. Nach einem viel beachteten öffentlichen Auftritt erfährt Greer, dass sie manipuliert worden und genauso wie Faith unwissentlich in einen schändlichen Betrug verwickelt worden ist. Greer muss erkennen, dass niemand unfehlbar ist, auch sie selbst nicht, und orientiert sich neu.
Der Roman beschreibt die Wachablösung der älteren Frauenrechtlerinnen durch eine kämpferische junge Generation von Feministinnen, wie die aktuelle MeToo-Bewegung zeigt. Als Leser hat man den Eindruck, dass wie so oft die Realität die Fiktion bei weitem übertrifft, hat sich doch die Protagonistin als erfolgreiche Bestsellerautorin mit Anfang 30 ziemlich gemütlich in einem bürgerlichen Leben eingerichtet und wirkt so gar nicht militant.
Im Roman geht es jedoch nicht nur um Frauenrechte und den langen Weg zu ihrer Verwirklichung, sondern auch um eine Vielzahl anderer Themen. Es gibt eine Liebesgeschichte, und es geht um Freundschaft und Verrat, berufliche Ambitionen, Kritik an Kapitalismus und allgegenwärtigem Materialismus. Jede Frau – jeder Mensch – muss die Ideale finden, nach denen er oder sie leben will. Wir müssen selbst herausfinden, welche Art Mensch wir sein wollen.
Ich habe dieses gehaltvolle, sprachlich anspruchsvolle Buch gern gelesen – nicht zuletzt wegen seiner unübersehbaren Aktualität - und bin nach “The Wife“ und “Die Stellung“ noch mehr überzeugt, dass Meg Wolitzer eine wichtige Stimme in der amerikanischen Gegenwartsliteratur ist.

Bewertung vom 28.06.2018
Die Unruhigen
Ullmann, Linn

Die Unruhigen


sehr gut

Spurensuche
Die bekannte schwedische Autorin Linn Ullmann ist die Tochter berühmter Eltern: die Mutter ist die norwegische Schauspielerin Liv Ullmann, ihr Vater war der schwedische Regisseur Ingmar Bergman. Bergman hatte neun Kinder von sechs verschiedenen Frauen. Mit Liv Ullmann war er nicht verheiratet. Das Paar trennte sich drei Jahre nach Linns Geburt. Linn wuchs bei der Mutter auf, verbrachte aber die Sommer im Haus ihres Vaters auf der Insel Farö. Die Autorin nennt die drei Hauptpersonen „der Vater“, „die Mutter“, „das Mädchen“, will die Figuren absichtlich fiktionalisieren, obwohl das Buch schon stark autobiografisch geprägt ist. Es enthält viel Wahres, aber auch Erfundenes. “Die Unruhigen“ erzählt nicht chronologisch von schwierigen Familienbeziehungen, enthält Erinnerungen, Zitate und vor allem die Transkription von sechs Tonbandaufnahmen, in denen die erwachsene Linn ihren Vater interviewt. Ursprünglich wollte Bergman ein Buch über das Altern schreiben. Als das nicht mehr möglich war, entwarfen Vater und Tochter das Projekt mit den aufgezeichneten Interviews. Sie ließen sich so viel Zeit mit der Planung, dass es auch dafür fast zu spät war. Als sie wenige Monate vor Bergmans Tod mit den Interviews begannen, verlor der Vater sehr schnell seine Erinnerungen und seine Sprache und konnte sich nicht mehr zusammenhängend äußern. Herausgekommen ist dennoch ein berührendes Dokument einer liebevollen Vater-Tochter-Beziehung und das Porträt eines großen Regisseurs, dem Pünktlichkeit, die Befolgung fester Regeln und stets gleichbleibende geordnete Abläufe überaus wichtig waren. Die ehrgeizige alleinerziehende Mutter kommt weniger gut weg, weil sie nie ihre internationale Karriere aus den Augen verlor. Linn wurde entweder von einer Reihe von Kindermädchen betreut oder zog mit der Mutter um die ganze Welt, was ihr siebzehn Schulwechsel einbrachte. Dennoch hat sie auch die Mutter innig geliebt.
Ullmanns Roman liest sich nicht mühelos, weil es diese unendlich vielen Zeitsprünge und die enorme Themen- und Personenvielfalt gibt und keine stringente Handlung. Dennoch hat mir das Buch gut gefallen. Es ist ein gelungener Roman mehr über Erinnern und Vergessen und den Versuch, Vergangenes zu verstehen und festzuhalten. Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 10.06.2018
Miss Gladys und ihr Astronaut
Barnett, David M.

Miss Gladys und ihr Astronaut


ausgezeichnet

Hilfe aus dem All
In David M. Barnetts Debütroman “Miss Gladys und ihr Astronaut“ springt der 46jährige Chemiker Thomas Major für den plötzlich verstorbenen, eigentlich vorgesehen Astronauten ein und begibt sich auf den ersten bemannten Flug zum Mars – eine Reise ohne Wiederkehr. Er soll auf dem roten Planeten alles für eine spätere Besiedlung vorbereiten. Sein eigentliches Motiv für diese Aktion ist, dass er die Menschen nicht mehr erträgt. Aus dem All ruft er seine Exfrau Janet an und landet bei Gladys Ormerod, einer Großmutter Anfang 70, die unter fortschreitender Demenz leidet. Sie ist offiziell für ihre Enkel Ellie, 15 und James, 10 verantwortlich, seit ihr Sohn Darren eine Haftstrafe verbüßt. Leider hat Gladys versehentlich den Dauerauftrag für die Mietzahlungen gelöscht, das gesamte Geld der Familie einem Betrüger überwiesen und alle Mahnungen ignoriert, so dass die Zwangsräumung unmittelbar bevorsteht. Die einzige Rettung könnte die erfolgreiche Teilnahme des hochbegabten James beim Nationalen Wettbewerb für Junge Wissenschaftlicher sein, für die ein Preisgeld in Höhe der Mietschulden ausgesetzt ist. Bis zu diesem Augenblick hat die junge Ellie unter Vernachlässigung ihrer schulischen Pflichten die gesamte Verantwortung getragen, mit drei Jobs den Lebensunterhalt finanziert und das Auseinanderbrechen der Familie verhindert.
Der Astronaut, den alle nur Major Tom nennen, erfährt in mehreren Gesprächen mit den Ormerods von der Notlage der Familie und will sich zunächst nicht hineinziehen lassen. Seine Einstellung ändert sich jedoch allmählich, weil er sich wegen seines eigenen Verhaltens in der Vergangenheit schuldig fühlt und Wiedergutmachung leisten will. Im Laufe der Geschichte erfährt der Leser also nicht nur alles über die Lebensumstände der Ormerods, sondern auch, warum Thomas Major zum unausstehlichen Griesgram und Menschenfeind geworden ist.
Die Geschichte liest sich trotz einiger unwahrscheinlicher Zufälle sehr gut. Man merkt schnell, dass dies kein Science Fiction-Roman ist, auch kein Buch über David Bowie, dessen Musik jedoch eine große Rolle spielt. Es ist ein Roman über Freundschaft und Menschlichkeit. Der Autor vermittelt die Botschaft, dass man die Hoffnung nie aufgeben darf. Auch der griesgrämige Major Tom begreift, dass nicht alle Menschen schlecht sind und er dem irdischen Leben vielleicht etwas vorschnell den Rücken gekehrt hat. “Miss Gladys…“ ist ein Wohlfühlroman, der mich berührt hat.