Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
miss.mesmerized
Wohnort: 
Deutschland
Über mich: 
https://missmesmerized.wordpress.com/

Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 20.04.2021
Girl, 11
Clarke, Amy Suiter

Girl, 11


ausgezeichnet

Elle Castillo’s podcast on unsolved murder cases has gone through the ceiling since she started talking about Minnesota’s famous The Countdown Killer, short TCK. Two decades before, a series of missing and then found murdered girls shock the area of Twin Cities, obviously, they were chosen for their age thus forming a countdown. Only one girl could escape and in this way, the place where she had been hold captive was detected just as two dead bodies. The police believed that the killer was one of them even though both persons have never been identified but the fact that no more kidnapping happened seemed to prove it. However, the new popularity seems to have triggered him to restart - or is it just a very good copycat? No matter who, when Elle’s best friend’s daughter is abducted, Elle knows that she is responsible and in charge of finding the girl.

I really liked the perspective of the podcaster who goes through old materials and builds her own theories on what could have happened. A big fan of true crime podcasts myself, I enjoy listening to podcasts - no matter if the case has been solved or not - and I find it interesting how at times a new perspective of somebody without formal training in investigation can lead to new clues. Amy Suiter Clarke’s protagonist Elle in “Girl, 11” is therefore quite some sympathetic character whom I liked to follow from the start in her quest to find TCK.

All cases of young persons being abducted and killed are followed by the public impatiently, if it happens to be a whole series, people are even more into it. The character of TCK was interestingly created since he did not chose random victims but acted meticulously, even obsessively, to a strict programme. Elle’s investigation is led by her gut feeling, but from the start, you know that there is much more behind it, the author thus creates double suspense, on the one hand, the hunt for the killer, ln the other the question why Elle herself is that obsessed with especially this case.

A suspenseful thriller which accelerates its pace increasingly and also has some fascinating psychological aspects on both sides - the killer and the investigator - to offer.

Bewertung vom 18.04.2021
Der Junge, der das Universum verschlang
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


gut

Trent Dalton - Der Junge, der das Universum verschlang
Was für andere hochgradig seltsam erscheinen mag, ist für den 12-jährigen Eli Bell Anfang der 1980er Jahre im australischen Brisbane einfach das normale Leben. Sein Bruder Gus spricht nicht, seine Mutter und ihr Freund dealen mit Heroin und der berühmteste Verbrecher des Landes ist sein Babysitter. Eli träumt davon, eines Tages Reporter bei der Zeitung zu sein und unablässig hinterfragt er alles, was ihm in seinem Leben begegnet. Als sich jedoch sein Stiefvater Lyle mit dem Drogenkartell anlegt und versucht, lukrative Nebenschäfte an diesen vorbei zu organisieren, bricht für die ungewöhnliche Familie alles zusammen. Aber das hält den Jungen nicht davon ab, tapfer weiter seinen Weg zu gehen. Er weiß, dass die Wahrheit über das, was mit Lyle geschehen ist, irgendwann ans Licht kommen wird und auch wenn die Jahre vergehen, bleibt er an seiner ganz eigenen Story.

Der Autor Trent Dalton berichtete in einem Interview, dass es hinter dem Wandschrank seines Kinderzimmers eines geheimen Raum mit einem roten Telefon gab. Der Escape Room seiner Familie ist der Ausgangspunkt für sein Erstlingswerk, das noch mehr Parallelen zu seiner Vita aufweist und von Dalton selbst als halb Fiktion, halb Realität bezeichnet wird. Es ist eine coming-of-age Geschichte, ein Kriminalroman und eine Milieustudie, die ein Leben am unteren Ende der Gesellschaft nicht beschönigt. In seiner Heimat wurde Dalton mit allen vier großen literarischen Preisen ausgezeichnet und wurde auch beim Publikum zu einem Verkaufsschlager.

Es gibt quasi keine Facette des Lebens, die in dem Roman nicht eher oder später aufgegriffen wird. Drogen und Gewalt bilden den Hintergrund, vor dem die Geschichte erzählt wird. So drastisch das Milieu, in dem Eli und Gus aufwachsen, auch geschildert wird, so vielschichtiges ist dieses jedoch auch. Gerade an der Figur Arthur „Slim“ Halliday zeigt sich, dass ein notorischer Verbrecher nicht zwingend nur böse ist, von ihm lernt Eli die wichtigsten Lektionen in seinem Leben. Seine geradezu philosophischen Fragen nach dem Guten und Bösen durchziehen den Roman wie ein roter Faden. Auch Gus ist alles andere als gewöhnlich, sein Mutismus gekoppelt mit einer Savant-gleichen Vorsehungsgabe passt sich jedoch völlig natürlich in die Geschichte ein.

Ungläubig folgt man der Handlung, die in rasantem Tempo die Jugendjahre Elis durchläuft und unglaubliche Episoden schildert, die so fern jedes Durchschnittslebens sind, dass es mir bisweilen nicht ganz leicht fiel, sie nicht für gänzlich übertrieben und fragwürdig zu halten. Der Erzählton passte zwar hervorragend zu dem jungen Protagonisten, ist in seiner lakonischen Art auch unterhaltsam, aber so wirklich konnte mich der Roman nicht erreichen.

Bewertung vom 17.04.2021
Mado
Franßen, Wolfgang

Mado


ausgezeichnet

Mado ist die rebellische Tochter einer rebellischen Tochter einer selbstbewussten, unabhängigen Frau. Sturheit und Eigensinn ziehen sich durch die Familie und werden von einer an die nächste Generation weitergegeben. Nichtsdestotrotz gilt jedoch im Notfall: Blut ist dicker als Wasser und wenn eine Hilfe braucht, sind die anderen da, ohne Wenn und Aber. Mado ist in so einer Situation. Nachdem sie ihren Freund erschlagen hat, ist sie aus Paris zurück in die bretonische Heimat geflüchtet, wo sie Zuflucht bei der Oma sucht. Diese verspricht, sich um das Malheur zu kümmern. Schnell merkt Mado jedoch, dass sie sogleich wieder von all dem eingeholt wird, das sie schon hinter sich gelassen glaubte: die Kneipe der Mutter, die Streitigkeiten mit ihrer Schwester Verelle, die Langeweile, die sie in die Arme von Thierry treibt, und die Geldnot, die ein besseres Leben verhindert. Für die 25-Jährige steht jedoch fest: sie lässt sich nicht mehr unterkriegen und wird sich gegen die Widrigkeiten des Lebens wehren.

„Ihre Großmutter hatte im Gefängnis gesessen. Ihre Mutter war eine Hure. Ihre Schwester eine Nonne. Sie eine Mörderin. Eine perfekte Familie.“

Der Verleger Wolfgang Franßen schreibt in seinem gleichnamigen Roman die Geschichte einer jungen Frau, der wenig im Leben geschenkt wurde. Die Mutter betreibt eine Kneipe auf dem Land, schon der Ruf der Großmutter war zweifelhaft und so hält die Zukunft auch für Mado wenig Hoffnung bereit. Bleibt also nur die Flucht nach vorne in die schillernde Hauptstadt, in der Provinz nichts zu haben, ist genauso gut wie in Paris nichts haben, also bleibt nichts zu verlieren.

„Ihr stand eine Nacht voller Selbstmitleid, Prahlerei und hartem Sex bevor, in der es nur darauf ankam, wie lange er durchhielt. Am besten, sie schloss sich gleich im Bad ein.“

Häufig verlaufen die Erfahrungen zyklisch und so erlebt auch Mado das, was sie schon kennt: Gewalt, insbesondere gegen Frauen. Das haben ihre Mutter und Großmutter auch schon hinter sich gebracht und es folgt einer gewissen Logik, dass auch Mado – wie später auch ihre Schwester Verelle - auf misogyne Männer trifft, die in ihr keine gleichberechtigte Partnerin, sondern eine nützliche Freizeitbeschäftigung sehen.

„Mado was fünfundzwanzig und von ihrer Großmutter nicht dazu erzogen worden, einen Herd zu bewachen.“

Mado versucht dies zu durchbrechen, zumindest ausreichend Willensstärke wurde ihr mitgegeben, die Lösung, die sie dafür wählt, ist jedoch mehr so semioptimal, weshalb sie genau dahin zurückkehrt, woher sie kam. Damit geht sie auch zurück auf Start, denn nichts hat sich für sie verändert.

Der Roman hinterlässt zwiespältige Gefühle. Einerseits sieht man, wie die Frauen der Familie Kaaris ihren Kopf haben und sich nicht unterkriegen lassen, zusammenhalten und pragmatisch tun, was getan werden muss. Andererseits kommen sie aus der Gewaltspirale und dem Leben am Rand der Gesellschaft nicht heraus. Mado hat Träume und ein verdammtes Recht auf ein bisschen Glück – nur irgendwie hat das noch keiner dem Schicksal erklärt.

Ein Milieuroman, der nah an seiner Protagonistin ist, die mir mit all ihrer Störrigkeit und Wut – und bisweilen auch der derben Sprache und dem durchaus grenzwertigen Verhalten – dennoch gut gefallen hat, gerade weil sie so ist, wie sie ist.

Bewertung vom 12.04.2021
Die vierte Schwester
Atkinson, Kate

Die vierte Schwester


ausgezeichnet

Der frühere Police Inspector und nun Privatdetektiv Jackson Brodie hat gleich mehrere knifflige Fälle auf einmal zu lösen. Drei Familientragödien, die ihre Spuren hinterlassen haben. Die Schwestern Julia und Amelia müssen ihren Vater beerdigen, in seinem Büro, das ihnen zu Lebzeiten immer verboten war, finden sie eine blaue Maus. Jenes Plüschtier, das ihrer Schwester Olivia gehörte, die als 3-Jährige spurlos verschwand und in all den Jahrzehnten seither gab es nie eine heiße Spur – hatte etwa ihr eigener Vater etwas damit zu tun? Shirley sucht ebenfalls jemanden: ihre Nichte Tanya. Sie hatte versprochen sich um das Baby zu kümmern als ihre Schwester Michelle nach dem Mord an ihrem Mann verhaftet wurde, aber die Schwiegereltern hatte das Kind an sich genommen. Sein dritter Fall dreht sich ebenfalls um eine junge Frau: Theo Wyre sucht immer noch nach dem Mörder seiner damals 18-jährigen Tochter Laura, die zehn Jahre zuvor brutal getötet wurde. Drei komplizierte Fälle, zu denen sich Jacksons Streit mit seiner Ex-Frau gesellt, die droht mit der Tochter nach Neuseeland zu ziehen, ebenso wie die Tatsache, dass die Suche nach jungen Frauen Jackson auch ganz persönlich trifft.

Der erste Band von Kate Atkinsons Serie um den Privatermittler Jackson Brodie war bereits 2005 erschienen, wurde nun bei Dumont als Taschenbuchausgabe neu aufgelegt. Der Autorin gelingt hier ein faszinierender Genremix. Einerseits klassischer Detektivroman mit Ermittlungen in gleich mehreren ungelösten Fällen, andererseits bietet sie eine Ansammlung so kurioser Figuren, die sich in ihrem Handeln jeder Schublade verweigern und einen lakonisch-trockenen Humor, der die britischen Gepflogenheiten in Cambridge messerscharf kommentiert, so dass man bisweilen gerne laut auflachen möchte. Die ganze Bandbreite menschlicher Tragödie breitet die Autorin vor dem Leser aus und wird langsam zu einem Gesamtbild verflochten.

„Die Aufträge, die er übernahm, waren größtenteils entweder lästig oder langweilig – für Prozesse ermitteln, jemandes Vergangenheit ausleuchten (...). Nicht zu vergessen die verschwundenen Katzen.“

Die Geschichte startet mit scheinbar unzusammenhängenden Mordfällen – hier ist auch der Originaltitel „Case Histories“ m.E. deutlich treffender als der deutsche, der nur einen der Handlungsstränge aufgreift – die nacheinander lose nebeneinanderstehend vorgestellt werden. Ein irritierender Einstieg, der sich jedoch rasch danach auflöst und die Verbindung zu Jackson Brodie schafft. Der gutherzige, wenn auch etwas zynisch gewordene Ermittler übernimmt die hoffnungslosen Fälle, wie soll er nach so langer Zeit noch etwas aufklären können? Aber wer sonst sollte sich darum kümmern?

Man ist versucht immer wieder hin und her zu blättern, um all die Daten und Figuren im Blick zu halten und mit jenen, die plötzlich am Rande auftauchen, scheinbar nebensächlich sind und dann doch das fehlende Puzzlestück darstellen, nachdem gesucht wurde. Die vielfältig die Charaktere sind – allesamt liebevoll in ihrer Schrulligkeit gezeichnet – findet jeder Leser genau jene Geschichte, die ihn besonders anspricht. Die Struktur schlichtweg genial, gepaart mit einem Feuerwerk an Emotionen entsteht so ein bemerkenswerter Roman, der sich von der Masse abhebt. Atkinson hat schlicht das ganze Leben eingefangen und kondensiert zwischen die beiden Buchdeckel gepackt.

Bewertung vom 12.04.2021
Nie, nie, nie
Strømsborg, Linn

Nie, nie, nie


ausgezeichnet

Schon seit acht Jahren ist sie mit Philip in einer glücklichen Beziehung, kein Wunder, dass ihre Familien und Freunde die unausweichliche Frage nach Hochzeit und Kindern Mantra artig wiederholen. Doch sie will keine Kinder, sie ist glücklich mit ihrem Leben und ihrer Beziehung, es fehlt nichts. Der Freundeskreis wird mit Anfang 30 langsam kleiner, immer mehr beginnen ein Nest zu bauen, draußen, auf dem Land und in den Vorstädten, um dem Lärm der Großstadt zu entfliehen, um es sich mit der Kleinfamilie im neuen Kokon einzurichten. Da geht man abends nicht mehr spontan weg, alles muss nun gut geplant sein. Als ihre beste Freundin Anneken und deren Mann Alex dann plötzlich auch die Schwangerschaft verkünden, ist auch die letzte Verbündete schwach geworden. Sie wollten doch zusammen alt werden, ohne Kinder.

Linn Strømsborgs Erzählerin erzählt genau jene Geschichte, die ziemlich allen Frauen ab Mitte/Ende 20 bekannt vorkommen dürfte. Sobald sich eine feste Partnerschaft abzeichnet, wartet das Umfeld nur noch darauf, endlich die Ankunft eines neuen Erdenbürgers feiern zu dürfen. Als gäbe es kein anderes Konzept, keinen gegensätzlichen Lebensentwurf, wird bei aller Modernität und erreichten Bildungsabschlüssen von Frauen immer noch erwartet, dass sie irgendwann zurückkehren zu Kind und Küche. „Nie, nie, nie“ wollte die Erzählerin genau das und sieht sich mit einer Welt konfrontiert, in der ihre Vorstellung scheinbar keinen Platz hat.

Sie mag Kinder, beschäftigt sich auch mit ihnen, trägt und beruhigt sie – aber deshalb will sie noch lange keine eigenen haben. Auch ihre Partnerschaft ist ihr genug, sie ist glücklich mit Philip und kann ihr Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen gestalten. Ihr ist völlig bewusst, dass dies eine hedonistische Sichtweise ist – aber im Ernst: welche Frau bekommt Kinder für die Rentenkasse? Sie kann sich dem Thema nicht entziehen: in der Familie, am Arbeitsplatz, mit Freunden, immer wieder kommt es auf und seit Jahren schon hat sie ausweichende Sätze parat, um das Gespräch rasch auf etwas anderes zu lenken. Von Beginn ihrer Beziehung an hat sie keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Meinung nicht ändern wird, doch bei Philip ändert sich die Lage und so wird auch das gemeinsame Fundament brüchig, auf dem sie stehen.

Soll man sich dem Druck irgendwann einfach beugen? Nur damit es aufhört? Auch das zieht sie in Betracht, als sie jedoch auch sieht, was die Elternschaft mit ihren besten Freunden macht, ist diese Option schnell wieder vom Tisch. Ein Baby zu haben ist nicht immer eitel Sonnenschein, es strengt an, zermürbt, raubt die letzten Kräfte und Anneken erkennt sich selbst bald nicht mehr wieder – und doch ist ihre Tochter für sie das Beste, was in ihrem Leben jemals geschehen ist.

„Kannst du glücklich sein, wenn dich alle für unglücklich halten? Wenn ich mich gegen Kinder entscheide, wird man mir dann immer mit Mitleid und Bedauern begegnen, von der Häme und den Egoismus-Vorwürfen mal ganz abgesehen?“

Linn Strømsborg beschönigt weder die eine noch die andere Sicht, sondern lässt authentisch miterleben, wie sich Freundschaften, Beziehungen und auch das eigene Leben im Laufe der Zeit verändert. Es ist weder ein feministisches Manifest der selbstbestimmten Frau, noch ein Urteil über den einen oder den anderen Weg. Im Gegenteil, an den Frauenfiguren werden ganz unterschiedliche Haltungen zum Thema Mutterschaft deutlich und auch was dies mit jenen Frauen tut, die sich dem gesellschaftlichen Diktat beugen und nicht ihrem Bauchgefühl folgen. Wunderbar unaufgeregt erzählt, ein heikles Thema mal nicht vom Extrem her betrachtet, sondern mit all seinen Facetten und widersprüchlichen Emotionen mitten aus dem Leben heraus.

Bewertung vom 11.04.2021
Leute wie wir
Yedlin, Noa

Leute wie wir


ausgezeichnet

In Tel Aviv eine bezahlbare Wohnung zu finden, gleicht inzwischen einem Sechser im Lotto, ein ganzes Haus zu vertretbarem Preis kaufen zu können, einem Wunder. Osnat und Dror entscheiden sich daher für ein nicht ganz so tolles Viertel, die Erfahrung der letzten Jahre zeigte, dass der Wohnungsmarkt sehr aktiv ist und auch vormals unattraktive Quartiere plötzlich zu trendigen Hotspots werden können. Schon vor dem Kauf hatten sie sich vergewissert, dass es dort normale Familie gibt, wie ihre mit den beiden Töchtern Hamutal und Hannah, und nicht nur seltsame Figuren wie ihr Nachbar, mit dem die erste Begegnung schon zu Streit führte. Doch auch nach dem Einzug bleibt immer ein seltsames Gefühl: sind sie wirklich sicher dort in der Gegend, war die Entscheidung richtig oder haben sie sich und die Mädchen direkt in die Katastrophe geführt?

Noa Yedlin ist in ihrem Heimatland eine erfolgreiche und bekannte Schriftstellerin, deren Romane auch regelmäßig verfilmt werden. In „Leute wie wir“ greift sie ein seit vielen Jahres hochaktuelles Thema der israelischen Hauptstadt auf: die Preise auf dem Immobilienmarkt sind explodiert und drängen gerade Familien immer mehr an den Rand der Stadt. Die Situation zehrt unweigerlich an den Nerven und selbst nachdem die Osnat und Dror ein passendes Haus gefunden haben, sind sie noch lange nicht wieder in ruhigen Gewässern, ganz im Gegenteil, das Drei-Fünf-Viertel mit seinen Bewohnern bringt auch ihre Beziehung an ihre Grenzen.

My home is my castle – was aber, wenn der ältere Nachbar von nebenan immer im Garten sitzt und alles Tun kritisch beäugt und kommentiert? Es dauert nicht lange, bis er zum roten Tuch wird und Osnat und Dror in ihm den Hauptverdächtigen bei allerlei seltsamen Vorkommnissen (Kakerlaken, der zerstörte Briefkasten, ein möglicher Einbruch) sehen. Doch er ist nicht der einzige, der bei ihnen gemischte Gefühle hervorruft. Michal und Jorge machten eigentlich einen sympathischen Eindruck, als sie sie bei ihrer Stadtteilerkundung kennenlernten. Doch ihre Ansichten und Vorurteile sind zweifelhaft, vor allen Dingen passt ihr Handeln und das, was sie sagen, so gar nicht zueinander. Auch Shani und Lior sind nicht die Freunde, die sie sich ausgesucht hätten, aber irgendwie werden sie sie nicht mehr los, vor allem, da die Töchter Freundschaft geschlossen haben. Ihre Kampfhunde und die zweifelhafte Einstellung gegenüber Behörden lassen bei Osnat immer wieder alle Alarmglocken läuten.

Sie wollen eigentlich mit ihrer kleinen Familie nur in Ruhe auf ausreichend Raum leben, aber nicht unbedingt mit Menschen aus dem falschen Milieu oder da, wo die Schulen nicht den besten Ruf haben. Als sie zum ersten Mal mit Gewalt konfrontiert werden, müssen sie akzeptieren, dass sich nicht alle Wünsche vereinbaren lassen. Aber die Alternative, ein kleines Appartement in einer besseren Gegend, ist auch nur bedingt attraktiv. Sie wollen sich abgrenzen von den Menschen, die in ihrem neuen Viertel leben und doch müssen sie immer wieder erkennen, dass sie eigentlich gar nicht so anders sind. Das, was ihnen an ihrem Nachbar und den beiden befreundeten Paaren missfällt, ist oft genau das, was sie sich selbst auch zuschreiben müssen.

Bei allen sozio-politischen Facetten, die angesprochen werden, ist für mich jedoch ganz klar die Beziehung zwischen Osnat und Dror und das, was der Dauerstress mit ihnen macht, der stärkste Aspekt des Romans. Sie raufen sich zusammen, prallen voneinander ab, bewegen sich wieder auf einander zu, kollidieren und finden keine wirkliche gemeinsame Richtung. Sie leben einen Alltag, wie viele, der sie gefangen hält und nur manchmal ein klein wenig eine Tür zu einem anderen Leben aufstößt.

Ein außergewöhnlicher Roman, der einerseits humorvoll bis absurd, zugleich aber auch verstörend wirkt.

Bewertung vom 07.04.2021
Schwester
Krügel, Mareike

Schwester


ausgezeichnet

Es braucht einen solchen Unfall, wie jenen ihrer Schwester Lone, bei dem nicht klar ist, ob die Hebamme ihn überleben wird, um die Bankkauffrau Iulia aus dem Alltagstrott zu reißen. Alles hat seine Ordnung in ihrem Leben, daher auch die Entscheidung für den Job in der Bank, Zahlen sind eindeutig, sie lügen nicht, und Chaos hatte sie schon genug als Kind, als ihre Mutter sie einfach alleingelassen hat. Aber dann war Lone für sie da, hat die Rolle der Schwester übernommen und ihr jene Sicherheit gegeben, die sie brauchte. Wie konnten sie sich nur so weit voneinander entfernen? Als sie die schwangeren Frauen, die Lone zuletzt betreute, über den Unfall informiert, lernt sie eine ganz andere Lone kennen als die Frau, die sie für ihre Schwester hielt. Je mehr sie über sie hört, desto mehr hinterfragt Iulia auch sich und die Entscheidungen, die sie getroffen hat.

Es ist ein recht konventionelles Thema und auch in der Struktur nicht wirklich neu erzählt und dennoch hat Mareike Krügel mit „Schwester“ einen intensiven und nachdenklich stimmenden Roman geschaffen, der auch nach der letzten Seite noch nachwirkt. Ein dramatisches Ereignis, das das Leben anhält und die Figuren zum Nachdenken bringt. Die Erkenntnis schleicht sich langsam und unbemerkt an, dass die Sicherheiten und Wahrheiten gar nicht auf so festen Füßen stehen, wie zuvor geglaubt und dass sich daraus plötzlich auch ein Riss ergibt, der das Tor zu einer neuen Welt und einem anderen Leben werden kann.

Die Beziehung zwischen Iulia und Lone ist schwierig, aber die Familie, aus der sie stammen, ist von schwierigen Verhältnissen geprägt. Die Vorbilder, die bedingungslos zu ihnen gestanden hätten, fehlten schlichtweg, auch wenn sie in dem Patchwork-Arrangement nicht ungeliebt waren. Der Verlust, den sie beide früh erlebt haben, hat sie nachhaltig geprägt und unfähig gemacht, sich selbst bedingungslos der Liebe hinzugeben. Nur die Schwester blieb immer eine verlässliche Größe, bis sie es nicht mehr war.

Maren, Kristin, Nana, Vera – es sind die Frauen, die Lone vertrauten und in ihr jene strahlende Figur gesehen haben, die ihre Körper versteht und ihnen das Ur-Vertrauen zu sich selbst zurückgegeben hat, das ihnen abhandengekommen war. Durch ihre Augen gewinnt Iulia einen neuen Blick nicht nur auf Lone, sondern auch auf ihr eigenes Leben als Bankangestellte und Pastorenfrau. Je näher sie Lone wieder kommt, desto mehr entfernt sie sich von ihrem gewählten Dasein.

Es ist keine Überhöhung der aufopferungsvollen Hebamme, es ist ein anderer Blick auf das Dasein, den Mareike Krügel ihrer Protagonistin und dem Leser schenkt. Trotz des tragischen Unfalls, der die Geschehnisse in Gang setzt, findet sich auch viel Humor in dem Roman, die Wortspiele und ironischen Verweise auf den institutionalisierten Glauben laden durchaus auch zum Schmunzeln ein. Aber es ist der Gegenentwurf des Vertrauens in die Natur und die eigenen Stärken, der siegt und Iulia Mut schenkt, um das zu tun, was sie sich so einfach nie getraut hätte.

Ein Roman, der direkt aus dem Leben kommt, der keine Superhelden braucht, um zu zeigen, wer diejenigen sind, die Mut schenken und so Großes bewirken können.

Bewertung vom 04.04.2021
Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz
MacDonald, Andrew David

Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz


gut

Zelda ist anders als andere junge Frauen. Sie interessiert sich nicht für ihr Aussehen oder Instagram Profile, sondern für Wikinger. Sie weiß alles über die längst versunkene Kultur und transformiert ihren Alltag nach den Gesetzen der Nordmänner. So gibt es klare Regeln in der Wohnung von Zelda und ihrem Bruder Gert und die Sippe steht immer an oberster Stelle. Gert würde alles für seine kleine Schwester tun, er weiß auch, dass er der einzige ist, der sie nach dem Tod der Eltern vor der bösen Welt draußen beschützen kann, alleine kann sie das nämlich nicht. Mit einem festen Netz an Unterstützern gelingt das meist auch – bis es Komplikationen gibt.

In seinem Debütroman hat Andrew David MacDonald ein außergewöhnliches Thema zum zentralen Aspekt der Handlung gemacht. Die Protagonistin Zelda leidet an einer ausgeprägten Form des fetalen Alkoholsyndroms und hat daher eine Entwicklung als gesunde Menschen genommen. Sie ist sich dessen bewusst, dass ihr Leben anders ist als jenes von Gleichaltrigen, aber sie ist nicht alleine, sondern hat Freunde in ähnlichen Situationen und mit ihrem Bruder auch jemanden, der für sie durchs Feuer gehen würde.

Diversität in der Literatur ist schon lange ein drängendes Thema und es ist ohne Frage eine begrüßenswerte Entwicklung, dass zunehmend Figuren geschaffen werden, die sich gesellschaftlich eher am Rand oder sogar von diesem verdrängt finden. Autismus-Spektrumsstörungen sind ja inzwischen gar nicht mehr so selten, auch psychische Erkrankungen wie Depressionen findet man recht häufig, das fetale Alkoholsyndrom erscheint mir jedoch ein echtes Novum. Dass der Autor seine Protagonistin zur Erzählerin macht, unterstreicht, dass er nicht über Menschen mit FAS schreiben möchte, sondern ihnen eine Stimme verleiht. Ob er ihr und anderen Betroffenen jedoch damit einen Gefallen tut, möchte ich mit einem großen Fragezeichen versehen.

Das Lesen war bisweilen ein Kraftakt, Zeldas Perspektive und Ausdrucksweise ist herausfordernd, um es positiv zu beschreiben. Ihre naive eingeschränkte Sichtweise und die extreme Fokussierung auf Wikinger sind womöglich recht realistisch dargestellt, was auch durchaus einen Blick in ihre Welt erlaubt. Auch ihr Vorhaben mit ihrem Freund das erste Mal zu begehen hat durchaus amüsante Seiten, die kritischen Fragen werden dabei jedoch ganz dezent nur leicht gestreift, um nicht wirklich zu problematisieren. Sie gerät dann doch noch in eine gefährliche Situation, aus der sie jedoch unbeschadet herauskommt und am Ende ist vieles Friede, Freude, Eierkuchen, weil sie einen Job hat und in ihrer eigenen Wohnung lebt.

Welcher Eindruck bleibt also? Ein liebenswertes Mädchen, dem dann doch alles gelingt, was es möchte. Leider stellt sich die Realität oftmals ganz anders dar und genau jene unterstützenden Strukturen, die Zelda retten, sind bei den FAS Betroffenen genau nicht vorhanden. Jede Ausprägung ist individuell, aber große Lesebegeisterung und Aneignung von neuem Wissen gehört nicht so wirklich typisch zu dem Syndrom. Wie bei vielen Retardierungen, die sich auf die Kognition auswirken, sind die Menschen hochgradig gefährdet und statistisch signifikant häufiger Opfer von Gewalt. Ob es da hilft, ein rosarotes Bild zu malen und vor allem auch die Alltagsschwierigkeiten so herunterzuspielen?

Das Urteil fällt daher gemischt aus: ein wichtiges Thema, durchaus oft auch amüsant zu lesen ist, aber die kritische Frage, ob hier nicht ein ziemliches beschönigtes Bild gezeichnet wird, das im schlimmsten Fall einen völlig falschen Eindruck der Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft vermittelt, muss auch gestellt werden.

Bewertung vom 02.04.2021
Windstill
Vasella, Ilia

Windstill


sehr gut

Das heruntergekommene Schloss in Südfrankreich beherbergt auch in diesem heißen Sommer wieder eine bunte Schar von Gästen. Franz und Marie kommen schon seit Jahren in die Herberge des Künstlers Pierre, dessen Malerei sie schätzen. Dorothea und Mauro sind mit ihren Kindern Rosa und Emil zum ersten Mal Gast. Auch Stephan und seine Tochter Lara bewohnen eines der Zimmer, ebenso wie Nick, der schon fast zu den Erwachsenen zählt, aber seiner schlechten Französischkenntnisse dort den Sommer verbringen soll. Odile geht im Winter mit ihrer Band auf Tour, den Rest des Jahres bewohnt sie hintere Zimmer des Anwesens. An einem Morgen wie jedem anderen auch ist ein Teil der Urlauber schon wach und auf der Terrasse beim Frühstück als das völlig Unerwartete geschieht: Marie will nur die getrocknete Wäsche holen, rutsch aus, schlägt mit Kopf auf und ist sofort tot. Alles gerät aus dem Ruder, nichts geht mehr seinen normalen Gang.

Ilia Vasella ist visuelle Gestalterin und lehrt an der Kunsthochschule Zürich, „Windstill“ ist ihr erster Roman, der wie ein Gemälde auch, einen Moment im Leben festhält und mit allen Details ausgestaltet. Der Blick der Künstlerin zeigt sich auch in der Geschichte, jede Ecke wird ausgelotet, kein noch so kleiner Fleck ist unbedeutend. Sie beschreibt nur einen einzigen Tag, an dem scheinbar die Zeit für die Figuren stehenbleibt. Im Allgemeinen messe ich Buchcovern keine große Bedeutung bei, in diesem Fall jedoch ist auffällig, wie stimmig es zum Text passt, dass es genau jene unheilvolle Ausgangsszene malerisch darstellt: die Terrasse, der Wäschekorb, die intensiven Farben Südfrankreichs.

Was macht so ein Ereignis mit den Menschen? Wie reagieren sie? In Zeitlupe hält die Autorin dies fest. Die Schreckstarre, in die Franz verfällt, der es nicht fassen kann, immer wieder eingeholt wird von Erinnerungen an all jene Momente mit seiner Frau und der froh ist, dass andere das Handeln für ihn übernehmen. Odile gehört zu diesen pragmatischen Menschen, sie scheint zu wissen, was zu tun ist, wie man mit dem Tod umgeht, wie man den Leichnam immer noch menschlich behandelt. Die Kinder sollen von der Tragik des Lebens ferngehalten werden, merken jedoch, dass etwas geschieht, sind neugierig, haben noch nie einen toten Menschen gesehen. Und die Erwachsenen werden mit dem konfrontiert, was sie verdrängen wollen, der Endlichkeit des eigenen Seins, dem Wissen, dass von einer auf die nächste Sekunde alles vorbei sein kann.

Ein intensives Leseereignis, das unheimlich dicht ist und förmlich in einen hineinkriecht. Eine oberflächliche Lektüre ist gar nicht möglich, man verlangsamt automatisch und erfasst so jede Sekunde des folgenschweren Tages und fragt sich auch selbst, wie man wohl agiert hätte, ob man vorbereitet ist, auf das Undenkbare.