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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 19.10.2021
Im Bann der Bilder / Der Traumpalast Bd.1
Prange, Peter

Im Bann der Bilder / Der Traumpalast Bd.1


gut

Seit der Ausstrahlung von „Babylon Berlin“, der Fernsehserie, für die die Gereon-Rath-Romane Volker Kutschers die Vorlage lieferten, haben die zwanziger Jahre Hochkonjunktur in der Belletristik. Es gibt mittlerweile unzählige Romane, deren Handlung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt ist. Und auch Peter Prange hat sich in seinem neuen Roman „Der Traumpalast“ diesen Zeitraum vorgenommen und richtet im Detail seinen Blick auf die Entstehung der deutschen Filmindustrie. Das ist zwar der wichtigste Aspekt, aber wie gewohnt belässt es Prange nicht nur bei der Schilderung der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen dieser Zeit, sondern betrachtet in diesem Zusammenhang auch individuelle Schicksale, hier insbesondere die Beziehung zwischen Konstantin Reichenbach, dem Sohn einer vermögenden Bankiersfamilie, und Rahel Rosenberg, einer jungen Frau jüdischen Glaubens, die aus den vorbestimmten Rollenbildern ausbrechen und ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben verwirklichen will.

Zur Veranschaulichung tauchen im Verlauf der Handlung unzählige Namen auf. Dies führt zwar gerade bei Leser*innen der älteren Generation zu zahlreichen Aha-Erlebnissen, ermüdet aber auch auf Dauer all diejenigen, die neben der Lektüre die Suchmaschinen nutzen, um die Korrektheit der dargestellten Ereignisse zu überprüfen.

So bleibt letztlich der Eindruck, dass dieser Roman ein ambitioniertes Unterfangen ist, wie immer durchaus bestens recherchiert, sich aber durch die Überfrachtung mit Themen und Personen selbst Cineasten und interessierten Leser*innen trocken und anstrengend zu lesen präsentiert. Konnte mich leider nicht überzeugen.

Bewertung vom 17.10.2021
Der letzte Tod / August Emmerich Bd.5
Beer, Alex

Der letzte Tod / August Emmerich Bd.5


sehr gut

Wer dachte, dass es vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs für die Menschen in Wien so langsam aufwärts gehen würde, hat sich getäuscht. Die Lebensbedingungen, die wir bereits aus den vier Vorgängerbänden der Emmerich-Reihe kennen, haben sich durch die galoppierende Inflation noch weiter verschärft. Die Preise steigen ins Astronomische, die Beschaffung von Lebensmitteln wird immer schwieriger, der eh schon knappe Wohnraum – wenn man die heruntergekommenen Quartiere als solchen bezeichnen möchte – reicht hinten und vorne nicht für all diejenigen, die ein Dach über dem Kopf brauchen. Hunger, Unterernährung und hygienische Verhältnisse, die im wahrsten Sinn des Wortes zum Himmel stinken, sorgen dafür, dass sich tödliche Krankheiten rasant ausbreiten. Aber noch immer gibt es Bevölkerungsschichten, die von alldem nicht tangiert werden, die rauschende Feste mit Champagner und Kaviar in ihren Stadtpalais feiern. Kriegsgewinnler und skrupellose Geschäftemacher, die von dem Elend ihrer Mitmenschen profitieren. Die Ungleichheit ist nicht länger hinzunehmen. Wut keimt auf, bricht sich aber nur in vereinzelten Aktionen Bahn.

Und auch das Verbrechen schläft nicht. In „Der letzte Tod“ müssen sich Kriminalinspektor Emmerich und Assistent Winter von der Abteilung „Leib und Leben“ mit einer mumifizierten Leiche herumschlagen, deren Fundort in einem Tresor doch eher ungewöhnlich ist. Und wenn diese Ermittlung nicht schon genug Probleme verursachen würde, hat ihnen ihr Vorgesetzter auch noch den Analytiker Adler zur Seite gestellt, der der ihnen bei der Untersuchung des Mordfalls beratend zur Seite stehen soll. Mit dessen Einführung trägt die Autorin der Tatsache Rechnung, dass in dieser Zeit die Psychoanalyse allmählich an Bedeutung gewinnt, aber für den vorliegenden Fall ist Adlers Beteiligung eher vernachlässigbar. Zum Fortgang der Handlung trägt er wenig bei, was natürlich auch an der Skepsis und der ablehnenden Haltung des Kriminalinspektors liegt.

Verbunden werden die Einzelbände durch Emmerichs Privatleben. Wie ein roter Faden ziehen sich zwei Handlungsstränge durch die Story. Zum einen ist da die ungeklärte Frage nach seiner Herkunft, zum anderen aber auch der Rachefeldzug von Xaver Koch, Ex-Mann und Mörder von Emmerichs großer Liebe Luise. Eigentlich hätte man ja davon ausgehen können, dass dieses Thema nach dessen Verurteilung und Inhaftierung abgeschlossen ist, aber dem ist leider nicht so. Und auch wenn die Emmerich/Koch-Rivalität in der Vergangenheit gut für den einen oder anderen Cliffhanger war, so hatte/hat er doch nur noch die Funktion, einen Funken Drama in die Handlung zu bringen, ist aber mittlerweile ausgeschrieben und überflüssig

Wie bereits die Vorgänger zeichnet sich dieser historische Kriminalroman durch die Faktentreue aus. Alex Beer hat gründlich recherchiert und ihre Ergebnisse in eine Krimihandlung gepackt, die neben den gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen auch der politischen Situation in Österreich Rechnung trägt und eine anschauliche Vorstellung über die Lebensbedingungen in dieser schweren Zeit vermittelt.

Bewertung vom 14.10.2021
Das Haus der Düfte
Lambert, Pauline

Das Haus der Düfte


gut

Wenn die Temperaturen sinken, steigt die Bereitschaft, sich mit einem Schmöker in den Lesesessel zurückzuziehen und in andere Welten einzutauchen. Wer dieses Bedürfnis verspürt, kann getrost zu dem „Das Haus der Düfte“ greifen, der die Leserin sowohl in die französische Metropole als auch in die Hauptstad des Parfüms, nämlich nach Grasse, entführt. Pauline Lambert ist eines der Pseudonyme einer deutschen Autorin, die bereits zahlreiche, meist historische Romane veröffentlicht hat, die in diversen europäischen Regionen verortet sind (zuletzt Russland).

Der Roman arbeitet mit den beliebten Versatzstücken aus Historie, Familienfehde- und geheimnissen und – natürlich – einer nicht ganz konfliktfreien Liebesgeschichte. Soweit konventionell und bekannt. Aber es gibt auch einen Aspekt, der diese Melange aufwertet, und das ist der detaillierte Blick der Autorin auf den Prozess der Parfümherstellung, der Kreation der Düfte und der besonderen Eigenschaften, die ein/e erfolgreiche/r Parfümeur/in mitbringen muss. Letzteres war interessant zu lesen, ebenso die Rückblicke in die Vergangenheit einer alteingesessenen Duftdynastie in Grasse. Die Familienfehde hingegen trägt nichts Wesentliches zum Handlungsfortgang bei, und auch auf die Lovestory hätte ich gerne verzichtet.

Leichte Unterhaltung. Kann man lesen, muss man aber nicht.

Bewertung vom 13.10.2021
Spook Street / Jackson Lamb Bd.4
Herron, Mick

Spook Street / Jackson Lamb Bd.4


ausgezeichnet

Romane, die im Spionage-Milieu angesiedelt sind, haben manchmal die Tendenz knochentrocken daherzukommen. Aber nicht so Mick Herrons Reihe um die „Slow Horses“. Auch in „Spook Street“, Band 4 der Reihe, brilliert der Autor mit einer fesselnden Story, schrägen Charakteren, ironisch-bissigem Humor und deutlichen Seitenhieben auf das Verhalten der politischen Strippenzieher, denen es weniger um die Sicherheit des Landes als vielmehr um die Sicherung der Pfründe und die Zementierung ihrer Posten geht.

Falls jemand die Reihe (noch) nicht kennt, hier ein kurzer Überblick. Die Slow Horses sind „gefallene“ Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes, die entweder wegen eines gravierenden Fehlers bei einer Operation und/oder persönlichem Fehlverhalten ausgemustert wurden und nun ihre Zeit bis zum gewollten oder ungewollten Ausscheiden unter der Leitung von Jackson Lamb - keine Manieren, aber messerscharfer Verstand – in dem heruntergekommenen Slough House absitzen. Wer nun aber glaubt, dieser Umstand würde die Truppe zusammenschweißen, ist auf dem falschen Dampfer. Jeder für sich und der MI5 gegen alle. Es sei denn, jemand aus ihrer Mitte ist in unmittelbarer Gefahr, dann sind sie gemäß ihren Fähigkeiten zur Stelle.

Alles beginnt mit einer Bombenexplosion in einem Einkaufszentrum, die auf den ersten Blick keinen Bezug zu der eigentlichen Storyline zu haben scheint.

River Cartwright (einer der Kaltgestellten) fährt aufs Land, möchte seinen Großvater Dave, besuchen, ehemals die Nummer 2 im MI5 und derjenige, von dem er alles gelernt hat, was ein Spion können und wissen muss. Mittlerweile ist er alt, tüttelig und vergesslich, aber ist er so durcheinander, dass er den Besucher, der an seiner Tür klingelt und sich als seinen Enkel ausgibt, tötet? Auf den ersten Blick weisen alle Indizien darauf hin, dass der Tote River ist, denn die Leiche vor dem Cottage ähnelt ihm verblüffend. Von Dave fehlt seither jede Spur.

Doch der Schein trügt, River lebt und setzt alles daran, die Identität des Toten zu klären, herauszufinden, was dieser von seinem Großvater wollte. Er taucht ab, benutzt die Fahrkarte nach Frankreich, die der Tote bei sich hatte und findet in einem abgelegenen Dorf Informationen zu einem schmutzigen Geheimdienst-Projekt aus der Vergangenheit, die nicht nur ihm Übelkeit verursachen…

Wie immer ein mehr als kritischer und entlarvender Blick des Autors auf die Arbeit der Geheimdienste. Nachdrücklich empfohlen!

Bewertung vom 11.10.2021
Der Sucher
French, Tana

Der Sucher


ausgezeichnet

In „Der Sucher“ betritt Tana French gleich zweifach Neuland. Während alle ihre bisherigen Romane im städtischen Umfeld angesiedelt sind, verortet sie hier die Handlung im ländlichen Westen Irlands. Nix los, für die jungen Menschen gibt es hier nichts zu holen. Keine Arbeit, keine Perspektive. Also träumen sie von einem aufregenden Leben in der Stadt, von dem einen großen Coup, der sie dort rausholt.

Und auch die Hauptfigur Cal Hooper schert aus dem bekannten Muster aus. Kein Ire, sondern Amerikaner. Ein Ex-Cop, der sein Leben neu sortieren muss. Die Ehe gescheitert, die Tochter erwachsen, den Job beim Chicago PD, der sich nicht mehr mit seiner persönlichen Moral vereinbaren lässt, hingeschmissen. Ein Neuanfang, das heruntergekommen Häuschen, dessen Renovierung ihn tagtäglich auf Trab hält. Ein Leben in und mit der Natur in Ardnakelty. Eine abgeschottete, überschaubare und eingeschworene Dorfgemeinschaft, die den Fremden aufnimmt, sein Tun interessiert beäugt. Ihm das Gefühl vermittelt, er könne irgendwann dazugehören, wenn er die Herausforderungen besteht.

Doch dann wird seine Alltagsroutine von Trey unterbrochen, einem verwahrlosten Kind, das mit Mutter und Geschwistern außerhalb des Dorfes lebt. Zuerst beobachtet es lediglich misstrauisch Cals Tun, nähert sich ihm dann aber vorsichtig. Nach und nach rückt das scheue Kind damit heraus, weshalb es den Kontakt sucht. Brendan, der große Bruder, ist ohne Abschied spurlos verschwunden. Und offenbar hat es im Dorf schon die Runde gemacht, dass Cal früher Polizist war. In Treys Augen dafür prädestiniert, Antworten zu finden. Widerstrebend lässt Cal sich darauf ein und muss im Verlauf seiner Nachforschungen feststellen, dass unter der idyllischen Oberfläche des Dorfes Gefahren lauern, die identisch mit denen seines alten Wirkungsortes sind. Die ihn aber viel stärker anfassen, weil er zu den Beteiligten persönliche Beziehungen aufgebaut hat und sich für Trey verantwortlich fühlt.

Wer nun glaubt, er/sie hielte einen Thriller in Händen, liegt falsch. Man kennt es bereits aus den anderen Romanen der irischen Autorin, sie lässt sich Zeit, entwickelt ihre komplexen Charaktere sorgfältig, gibt Hinweise, die mit dem Fortschreiten der Handlung die ungute Erwartung wecken, dass sich eine Katastrophe anbahnen könnte. Und das stellt zu keinem Zeitpunkt die Geduld der Leser/in auf die Probe, großartig und kurzweilig ihre Beschreibungen des dörflichen Lebens. French beherrscht ihr Handwerk meisterhaft, geizt auch nicht mit unerwarteten Wendungen, lässt aber die großen Themen wie Menschlichkeit, Moral und persönliche Integrität nicht außen vor. Dabei verweigert sie aber die einfachen Antworten auf die Frage nach dem Bösen, das sich so einfach nicht abgrenzen lässt. Und auch die „Helden“ kommen am Ende nicht unbeschadet davon. Keine strahlenden Sieger, sondern alle angezählt, in ihren Grundfesten erschüttert und beschädigt in ihrem persönlichen Leben.

Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.10.2021
Liebe deine Nachbarn wie dich selbst
Candlish, Louise

Liebe deine Nachbarn wie dich selbst


sehr gut

2019 gewinnt Louise Candlish den British Book Award Crime & Thriller für „Our House“ und verweist so namhafte Kollegen wie Ian Rankin und Jo Nesbø auf die Plätze. Ein Grund, sich ihre Romane einmal genauer anzuschauen. Vierzehn mehr oder weniger erfolgreiche Bücher hat die Autorin seit 2004 veröffentlicht, die auch teilweise in deutscher Übersetzung vorliegen. Das wiederkehrende Thema ist die Variation der Toxizität zwischenmenschlicher Beziehungen, die Dynamik, die entsteht und außer Kontrolle gerät, wenn Außenstehende in ein geschlossenes System eindringen.

In „Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst“ ist das der Lowland Way im fiktiven Londoner Vorort Lowland Gardens, eine propere Enklave der gehobenen Mittelschicht. Häuser und Gärten sind gepflegt, das Miteinander rücksichtsvoll. Eine harmonische Idylle. Bis, ja bis Darren und Jodie ihre geerbte Doppelhaushälfte beziehen. Und „diese Leute“ (der Originaltitel „Those People“ hätte viel besser gepasst) scheren sich nicht um die unausgesprochenen Regeln und Erwartungen der Nachbarn, die die Verwandlung des Grundstücks in ein Katastrophengebiet (O-Ton) mit Besorgnis beobachten. Rücksichtnahme auf die Alteingesessenen? Fehlanzeige. Toleranz gegenüber den Neuankömmlingen? Keine Spur. Die anfängliche Verärgerung weicht bald unverhohlener Aggressivität. Es kommt zu Drohungen, verbalen Übergriffen, der Umgangston wird rauer. Auf beiden Seiten. Bis die Situation schließlich eskaliert und jemand stirbt.

Diese Eskalationsstufen schildert Candlish minutiös, indem sie uns die Innenansichten der jeweiligen Beteiligten im Detail präsentiert. Und so fragt man sich mit zunehmendem Verlauf, ob mit „diesen Leuten“ tatsächlich die beiden Neuen in der Straße gemeint sind. Oder möchte sie uns vielmehr die Bruchlinien innerhalb dieses sozialen Mikrokosmos aufzeigen? Den Snobismus und die Heuchelei der angepassten, zivilisierten Bewohner demaskieren?

Ein Thriller? Nein, eher eine psychologische Fallstudie zum Thema Gruppendynamik und menschliches Verhalten in Ausnahmesituationen. Und gerade deshalb sehr interessant.

Bewertung vom 24.09.2021
Drei Sommer
Liberaki, Margarita

Drei Sommer


ausgezeichnet

„Drei Sommer“ ist der zweite Roman der Autorin Margarita Liberaki, erstmals 1946 (d.h. unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs) im Original veröffentlicht, und mittlerweile ein moderner Klassiker in Griechenland. Interessanterweise werden die Kriegsjahre, die Entbehrungen, unter denen die Menschen litten, mit keinem Wort erwähnt. Nein, es ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden in einer vordergründigen Idylle, in der es an nichts fehlt.

Drei Sommer, drei Schwestern. Maria, die Älteste, ist pragmatisch, verkörpert die Traditionen, die nicht hinterfragt werden. Ihr Lebensweg gleicht dem klassischen Frauenleben, ist mit Heirat und Mutterschaft vorgezeichnet. In Frage stellt sie das nicht, Selbstverwirklichung und die große Liebe haben darin wenig Platz.

Infanta, die Mittlere, ist die Widersprüchige. Weiß noch nicht, was sie vom Leben will und erwartet. Auf der einen Seite sucht sie die Freiheit bei ihren täglichen Ausritten, andererseits widmet sie sich ausdauernd ihren Handarbeiten. Sie orientiert sich an ihrer Tante Teresa, die nach einer traumatischen Erfahrung die Gesellschaft von Männern meidet und nie geheiratet hat, ein erfülltes Leben ohne Männder führt.

Katerina hingegen, die jüngste der drei Schwestern, hat klare Vorstellungen davon, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte. Sie nimmt sich die abwesende und geschmähte Großmutter zum Vorbild, für sie das Ideal einer Frau, die ihren eigenen Weg gegangen ist, Mann und Kinder verlassen hat, um ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen.

Drei Jahre, drei griechische Sommer, in denen die Wege der Schwestern sich verändern, in verschiedene Richtungen auseinanderdriften.

Ein zeitloser, unaufgeregter Roman über elementare Themen. Über die Liebe und das Leben, über Identitätsfindung und Erwartungshaltungen, über familiäre Prägungen und individuelle Träume. Mit wunderschönen Naturbeschreibungen und intensiven Charakterstudien äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzt.

Bewertung vom 23.09.2021
Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau
Brown, Karma

Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau


sehr gut

Titel und Cover von „Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau“. lassen einen Blick zurück in eine Zeit vermuten, in der das Leben der Frauen im Wesentlichen von den drei K - Küche, Kinder, Kirche – bestimmt wurde. In Ansätzen mag das zumindest bei einer der beiden Protagonistinnen stimmen, aber dennoch hat das Buch mehr zu bieten. Mit den beiden Handlungssträngen zeigt uns die Autorin zwei Paarbeziehungen, zwei Frauenleben, gefangen in den gesellschaftlichen Konventionen der jeweiligen Zeit.

2018 kehrt Alice, ehemals in einer New Yorker PR-Agentur angestellt, dem hektischen Großstadtleben den Rücken und bezieht mit ihrem Mann Nate eine renovierungsbedürftige Villa in einen Vorort der Metropole. Sie träumt von einem Leben als Schriftstellerin, aber die Umgewöhnung fällt ihr schwer, sie stirbt fast vor Langeweile. Und auch mit ihrem Buchprojekt geht es nicht voran. Eine Schreibblockade und keine Ideen, eine Katastophe für jede angehende Autorin. Für Nate hingegen markiert der Umzug einen Wendepunkt in der Beziehung, wünscht er sich doch nichts sehnlicher, als die Familie mit ein Kind zu komplettieren. Ein Gedanke, mit dem sich Alice nicht wirklich anfreunden kann.

Als sie eines Tages den Keller durchstöbert, findet sie nicht nur alte Frauenzeitschriften sondern auch ein handgeschriebenes und mit persönlichen Bemerkungen versehenes Kochbuch der Vorbesitzerin Nellie und taucht allmählich in deren Leben ein, bekommt eine Vorstellung von deren Leben an der Seite eines übergriffigen Mannes in den fünfziger Jahren.

In alternierenden Kapiteln stellt Karma Brown die beiden Leben gegenüber. Die jeweiligen Abschnitte sind mit Zitaten aus real existierenden Druckwerken überschrieben, entlarvende Ratschläge und gleichzeitig Zeitzeugnisse, die Ehefrauen unmißverständlich dazu auffordern, ihre Identität zugunsten der Bedürfnisse ihrer Männer hinten anzustellen. Das mag auf den ersten Blick amüsant wirken, aber setzt man es in Beziehung zum Verhalten von Alice, ist es eher ernüchternd. Die Sprachlosigkeit in der Beziehung, die Unfähigkeit, die eigenen Wünsche zu artikulieren, sich über die Erwartungshaltung des Umfelds hinwegzusetzen, dem Druck standzuhalten. Der Kompromiss am Ende, nun ja, da war Nellie dann doch konsequenter.

Dennoch ist dieser Roman ist ein interessanter und spannender Blick zurück, denn er zeigt an den beiden Hauptfiguren die Auswirkungen, die die Erwartungshaltung einer patriarchalischen Gesellschaft auf die Realisierung weiblicher Lebensentwürfe hat. Und ja, es gibt noch immer viel zu tun!

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2021
The Stranger Times Bd.1
McDonnell, C. K.

The Stranger Times Bd.1


sehr gut

„The Stranger Times“ füllt eine Marktlücke auf dem Zeitungsmarkt, denn sie beschäftigt sich mit bizarren und übernatürlichen Ereignissen in Manchester. Sonderlich erfolgreich ist sie nicht, und deshalb befinden sich die Redaktionsbüros auch in einer schäbigen Kirche, in der die Fenster mit Brettern vernagelt sind.

Geleitet wird sie von Banecroft, dem Redakteur und zynischen Alkoholiker ohne Manieren, aber auch die anderen Redaktionsmitglieder sind etwas speziell. Die Empfangsdame Grace, die die Flüche ihres Chefs zählt, Reginald, der sich jeden Montag vom Dach der Kirche in den Tod stürzen will, Ox, der sich immer wieder bemüht, ihn davon abzubringen, Stella, mit ihren unentdeckten Talenten, Simon, der Teenager, der unbedingt zum Team gehören möchte, und natürlich Hannah, die sich nach ihrer überstürzten Flucht aus London unerwartet in der Position der stellvertretenden Redakteurin, der „neuen Tina“, wiederfindet.

Üblicherweise wird die Berichterstattung der „Stranger Times“ von der Öffentlichkeit nicht weiter beachtet, aber als sich in Manchester seltsame Vorkommnisse und merkwürdige Todesfälle häufen, steckt das Team seine gebündelte Energie in die Recherche und kann so zeigen, wozu es wirklich fähig ist.

Das Buch ist eine unterhaltsame Mischung aus Urban Fantasy, Thriller, Mystery und schwarzem Humor. Getragen wird die Story aber von dem schrägen Personal, das mich sehr an Mick Herrons „Slow Horses“ erinnert, was nicht unbedingt die schlechteste Referenz ist. Ein Nachfolgeband (im Original) ist für Januar 2022 angekündigt, und offenbar gibt es auch bereits Pläne für eine TV-Produktion. Wir dürfen gespannt sein.

Bewertung vom 14.09.2021
Die Tränen der Welt
Falcones, Ildefonso

Die Tränen der Welt


ausgezeichnet

Barcelona zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite die dunklen Elendsquartiere der Arbeiter, auf der anderen Seite die opulente, strahlende Pracht der Ramblas. Zeit für Veränderungen. Frauen und Kinder gehen voran. Sie fordern „Mehr Arbeit und bessere Löhne. Kürzung der Arbeitszeiten. Abschaffung der Kinderarbeit. Schluss mit der Macht der Kirche. Mehr Sicherheit. Angemessene Wohnverhältnisse. Vertreibung der Geistlichen. Gesundheitsfürsorge. Weltliche Schulbildung. Bezahlbare Lebensmittel.“ (Zitat, Seite 11)

Dalmau Sala, ein talentierter Künstler, dessen Broterwerb das Entwerfen von Motiven für Keramikfliesen ist, führt ein Leben zwischen zwei Welten. Hier seine Familie und seine Freundin Emma, überzeugte und aktive Unterstützer der Rebellion, dort sein Förderer und Arbeitgeber Don Bello, frömmelnder Besitzer einer Keramikwerkstatt, der ihn mit den Vorzügen des bourgeoisen Lebens lockt. Er muss Position beziehen, sich entscheiden, welchen Weg er gehen will. Seine Kunst verraten und weiter japanischen Blütenmotive entwerfen oder sich treu bleiben und die Seelen der Menschen in seinen Bildern einfangen, die durch die Straßen ziehen?

Falcones‘ Romane werden oft mit denen von Ken Follett verglichen. Nicht zu unrecht, wie ich meine. Die Ausgangssituation ist bei beiden ähnlich. Ein mittelloser, aber begabter junger Mann muss sich im Laufe seines Lebens zahlreichen Herausforderungen stellen und Schicksalsschläge erleiden, um seinen Weg zu finden. Aber da, wo Follett Historisches mit Zwischenmenschlichem übertüncht und so dessen Relevanz eher klein hält, konzentriert sich der gebürtige Katalane auf die Geschichte seines Heimatlandes, greift bedeutende Ereignisse, auch aus der Kulturhistorie, heraus. Wer sich dafür interessiert und schon einmal in Andalusien oder Barcelona unterwegs war, wird auf alle Fälle sehr viele Informationen erhalten, denn Falcones bleibt nah an den verbrieften Fakten. Das macht die Lektüre gerade zu Beginn bisweilen etwas sperrig, aber, wenn man sich eingelesen hat, umso fesselnder und befriedigender, weil informativer. Lesen!