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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2018
Ein notwendiges Übel / Captain Sam Wyndham Bd.2
Mukherjee, Abir

Ein notwendiges Übel / Captain Sam Wyndham Bd.2


sehr gut

Wie schon sein Debütroman „Ein angesehener Mann“ (2017), der in Großbritannien zum Bestseller wurde, bestätigt auch der kürzlich als Heyne-Taschenbuch veröffentlichte zweite Band „Ein notwendiges Übel“ des indisch-stämmigen Briten Abir Mukherjee (44) seiner Krimireihe um den britischen Kriminalbeamten Sam Wyndham etwas Besonderes. Zwar geht es wieder um Mord, doch ist die Ermittlungsarbeit eher Mittel zum Zweck. Einen klassischen Krimi oder gar Thriller darf man nicht erwarten. Denn „Ein notwendiges Übel“ ist viel mehr! Es ist ein wirklich lesenswerter, höchst interessanter Kultur- und Reisebericht über Land und Leute in Britisch-Indien um das Jahr 1920, wo modernes europäisches Denken und Handeln auf Jahrtausende alte indische Kultur und Tradition prallt.
Nach einjährigem Aufenthalt in Kalkutta hat sich Sam Wyndham allmählich in der britischen Kolonie eingelebt, und doch lernt er – und mit ihm wir Leser – nun eine neue Facette des auch unter den Briten noch von superreichen Maharadschas beherrschten Indiens kennen. Prinz Adhir, Thronfolger des an Diamantenvorkommen reichen Fürstentums Sambalpur, wird in Kalkutta am Rande einer vom britischen Vizekönig einberufenen Versammlung ermordet. Bei der Festnahme des als Mönch gekleideten Mörders begeht dieser vor Sams Augen unerwartet Selbstmord. Damit wäre der Mordfall eigentlich abgeschlossen. Doch Sam will die Hintergründe dieser Tat aufklären. Waren es religiöse oder politische Motive? Da die Kolonialregierung in dem unabhängigen Fürstenstaat über keine polizeilichen Befugnisse verfügt, reisen er und sein indischer Sergeant Surendranath Banerjee, von seinen britischen Polizeikollegen Surrender-not genannt, als verdeckte Ermittler ins kleine Fürstentum.
Auch im zweiten Band schildert Autor Abir Mukherjee, dessen indische Eltern in den 1960er Jahren nach England einwanderten und der selbst erst als Erwachsener das Land seiner Vorfahren kennenlernte, auf höchst unterhaltsame und ironische Art die politisch und gesellschaftlich schwierige Situation des einst von den britischen Kolonialherren besetzten Teils Indiens. Die Ermittlungen um die drei Mordfälle nur als roten Faden nutzend, beschreibt Mukherjee eindrücklich und in schillernden Einzelheiten das Land in seiner für uns so exotischen Kulisse sowie dessen Einwohner, lässt sowohl das Leben am Hof des fünftreichsten Maharadschas mit seinen Palästen und dem ansatzweise europäisch beeinflussten Leben am Fürstenhof als auch das ärmliche Alltagsleben der indischen Bevölkerung mit ihren uns fremden Sitten und Gebräuchen lebendig werden.
Das Bemerkenswerte dieser Romanreihe ist die Tatsache, dass der indisch-stämmige Autor uns europäische Leser nicht etwa aus indischer Sicht, sondern durch die Augen des jungen Briten Sam Wyndham als Erzähler in Indiens Kolonialgeschichte blicken lässt. Dadurch erreicht Mukherjee den Eindruck einer scheinbaren Objektivität.
Wieder geht es um die Unterschiede der Kulturen: Während es den Indern völlig ausreicht, die Wahrheit zu kennen, fordert der Brite Wyndham die Einhaltung britischen Rechts - für den Europäer eine Notwendigkeit, für die Inder ein zu vernachlässigendes Übel. Sie regeln solche Fälle lieber intern nach alter Tradition und Sitte.
Auch wenn dies bereits der zweite Band der lesenswerten Sam-Wyndham-Reihe ist, hat er eine in sich abgeschlossene Handlung. Vorher den ersten Band „Ein angesehener Mann“ gelesen zu haben, ist deshalb nicht zwingend erforderlich. Besser sollte man sich schon auf den dritten Band „Eine Handvoll Asche“ im Mai 2019 freuen.

Bewertung vom 01.11.2018
Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21
Ani, Friedrich

Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21


sehr gut

Zwei sich in unserer Welt verlierende oder schon verlorene Männer gesetzteren Alters begegnen uns im Roman „Der Narr und seine Maschine“ von Bestseller-Autor Friedrich Ani, im Oktober bei Suhrkamp erschienen. In seinem 21. Krimi um Tabor Süden schickt Ani seinen Ex-Polizeibeamten, Privatdetektiv und Eigenbrötler Süden auf die Spur des seit Tagen vermissten Cornelius Hallig, einen früher erfolgreichen Kriminalschriftsteller. Beide Männer vereint die innere Einsamkeit inmitten der brodelnden Großstadt München.
Gerade wollte Tabor Süden, der erfahrene Spezialist für Vermisstenfälle, unsere Welt ohne Abschied perspektivlos und ziellos nach seinem 20. Fall mit der Bahn verlassen, da holt ihn die Chefin der Privatdetektei aus der Bahnhofshalle in unsere, in seine Welt zurück. Er soll den seit 30 Jahren in einem Hotel lebenden Cornelius Hallig finden, der wie Süden ebenso grußlos und unerwartet verschwunden ist. Hat sich Hallig das Leben genommen? Oder hat er sich versteckt? Seine wenigen Freunde, die Mitarbeiter des Hotels, sorgen sich um ihn.
An den nun folgenden Tagen begleiten wir die beiden Männer auf ihren Wegen, beobachten wir die Einzelgänger bei ihrem einsamen Tun, folgen ihren wenigen Gesprächen. Tabor Süden versucht, Halligs Spur aufzunehmen, neugierig auf jenen Mann, dem er sich mental verwandt fühlt. Hallig folgt einer vertrauten Spur in seine Vergangenheit, besucht die inzwischen verfallene Wohnung seiner Kindertage. Er scheint sich geistig schon aus der realen Welt entfernt und einer anderen genähert zu haben.
Auf nur 140 Seiten zeigt uns Friedrich Ani zwei vom Leben gezeichnete und gebrochene Männer, vereinsamt, ohne Hoffnung, ohne Ziel, ohne Zukunft. Nur eines vereint beide: Sie wollen, jeder auf seine Weise, der Finsternis ihres Lebens, ja, ihrem bisherigen Leben entfliehen. Mit seinem Cornelius Hallig setzt Autor Friedrich Ani dem von ihm geschätzten Amerikaner Cornell Woolrich (1903-1968; „Das Fenster zum Hof“), bekannt für seine düsteren Kriminalromane, ein literarisches Denkmal. Wie Woolrich lebte auch Cornelius Hallig in Anis Kurzroman die meiste Zeit seines Lebens im Hotelzimmer, die ersten Jahre mit seiner Mutter nebenan. Und wie Woolrich lässt auch Ani seinen Hallig am Schlaganfall sterben, genau 50 Jahre nach Woolrich.
Düster und hoffnungslos wie das wahre Leben Woolrichs und dessen „schwarze“ Krimis ist auch Friedrich Anis Roman „Der Narr und seine Maschine“. Trotz der Kürze des Romans, den man schnell durchlesen könnte, wirkte die durchgängige Düsternis der Geschichte auf mich gelegentlich ermüdend, zumal die Handlung überschaubar ist und es dem Roman an Spannung, an wachsender Dramatik fehlt. Wer Friedrich Anis Bücher kennt, weiß natürlich, dass er kein Autor typischer Krimis ist, weshalb seine „Krimis“ vom Verlag richtigerweise auch nicht als solche herausgegeben werden. Es sind psychologisch ausgezeichnet aufgebaute, mit überaus interessanten, vom Leben tief gezeichneten Charakteren besetzte Romane höchsten Niveaus. Bei Ani muss man eben wissen, worauf man sich einlässt. Ich wusste es. Trotzdem war ich von diesem 21. Tabor-Süden-Roman etwas enttäuscht, zumal ich nach Anis vorangegangenem Roman „Die Ermordung des Glücks“ mehr an Handlung, mehr an Dramatik, mehr an Spannung erwartet hatte. Der 21. war mein erster Roman mit Tabor Süden – und vielleicht auch der letzte: Denn am Schluss entschwindet Süden wieder im Bahnhofsgewirr, diesmal mit Halligs alter Reiseschreibmaschine an der Hand – der Narr und seine Maschine.

Bewertung vom 29.10.2018
Stern des Nordens
John, D. B.

Stern des Nordens


sehr gut

Nordkorea ist in der Weltpolitik isoliert und für die Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt. Entsprechend spielt der Herrschaftsbereich der Kim-Dynastie auch in unserer Unterhaltungsliteratur keine Rolle. Umso bemerkenswerter und faszinierender ist der authentische, bereits in mehrere Sprachen übersetzte Politthriller „Stern des Nordens“ des Briten D. B. John, der im September beim Verlag Wunderlich/Rowohlt erschien und unbedingt lesenswert ist. In drei verschiedenen Handlungssträngen, die John am Ende geschickt verbindet, lernen wir das wohlsituierte Leben der nordkoreanischen Funktionärskaste in Pjöngjang kennen, das erbärmliche Vegetieren der Landbevölkerung nahe dem Hungertod sowie die Angst der USA vor nordkoreanischer Raketenbedrohung und das klägliche Ringen der CIA um Informationen.
Als Leser begleiten wir in der Hauptstadt den Parteifunktionär Cho und dessen Familie, die in treuer Ergebenheit zum „Geliebten Führer“ Kim Jong-il ein gutes Leben führt. Cho macht Karriere, wird sogar Unterhändler in den USA. Erst seine Abstammung, die bei weiterer Beförderung des einstigen Waisenkindes aufgedeckt wird, macht ihn trotz höchster Verdienste urplötzlich zum Staatsfeind. Parallel dazu lernen wir in der Provinz die Bäuerin Moon kennen, die wie als Markthändlerin ums Überleben kämpft. Als eine der Marktfrauen verhaftet wird, entwickelt sich Moon, die trotz aller Indoktrination durch die Partei in einer verborgenen Ecke ihres Herzens sich noch etwas Selbstbewusstsein bewahren konnte, zur furchtlosen Stimme des Widerstands. Beim Bankett in den USA trifft Funktionär Cho die Halbkoreanerin Jenna, offiziell Wissenschaftlerin und Korea-Expertin, neuerdings Undercover-Agentin des CIA. Sie will nicht nur ihre vor zwölf Jahren von den Nordkoreanern entführte Zwillingsschwester aus den Fängen Kim Jong-ils befreien, sondern soll in Nordkorea zwecks Informationsbeschaffung hochrangige Überläufer anwerben.
Der Politthriller „Stern des Nordens“ ist auf den ersten Blick ein spannender Agentenkrimi. Doch nicht nur der Handlungsort Nordkorea macht ihn zum ungewöhnlichen und lesenswerten Buch, sondern die vom Autor D. B. John geschaffene Authentizität der Handlung, über die wir einen tiefen Einblick in das uns unbekannte Land bekommen. Unzählige Details zeigen die besondere Sachkenntnis des Autors: John hatte 2012 als einer der Wenigen die seltene Gelegenheit, Nordkorea zu besuchen. Seitdem beschäftigte er sich mit der auch im Buch-Anhang gelisteten Fachliteratur. Zudem lebte er viele Jahre in Südkorea. Schließlich wurde er als Korea-Kenner zum Co-Autor des 2015 erschienenen New-York-Times-Bestseller "Schwarze Magnolie: Wie ich aus Nordkorea entkam" der Nordkoreanerin Hyeon-seo Lee, die 1997 während der großen Hungersnot über die chinesische Grenze geflohen war.
„Stern des Nordens“ ist unbestritten ein spannender Politthriller, als Drehbuchvorlage für einen Hollywood-Blockbuster bestens geeignet. Vor allem aber ist dieser Roman eine Wissenssammlung, aus der wir unwissenden Leser viele Details über dieses Land erfahren, die im Anhang durch entsprechende Fachliteratur verifiziert werden. In diesem Wissen verzeiht man dem Autor auch gern stellenweise Längen zugunsten der Sachinformation. Auch sieht man klaglos über das etwas allzu filmreife Finale hinweg, wenn Agentin Jenna im Sonderzug des Diktators wie eine Lara Croft mit der ‎Kalaschnikow AK-47 um sich schießt, dessen Leibgarde niedermetzelt und mit dieser Aktion schließlich den Herztod des „Geliebten Führers“ herbeiführt.

Bewertung vom 21.10.2018
Die Hungrigen und die Satten
Vermes, Timur

Die Hungrigen und die Satten


sehr gut

Vor sechs Jahren hatte sich der Journalist und Schriftsteller Timur Vermes (51) mit seiner inzwischen verfilmten Gesellschaftssatire „Er ist wieder da“ (2012) über den auferstandenen Nazi-Führer Adolf Hitler und den heute in Deutschland gegenwärtig erwachenden Rechtsradikalismus in die Bestsellerlisten geschrieben. Mit seinem zweiten Roman „Die Hungrigen und die Satten“, im August beim Eichborn-Verlag erschienen, versetzt er uns nun in eine nicht allzu ferne Zukunft.
Der Begriff „Kanzler“ ist inzwischen durch „Merkel“ ersetzt, allerdings ist der jetzige Merkel ein Mann. Das Flüchtlingsproblem scheint gelöst: Die europäischen Grenzen sind abgeschottet, südlich der Sahara wurden mit europäischem Geld riesige Lager eingerichtet, in denen sich Millionen Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen eingerichtet haben. Die Flüchtlinge warten und warten, wissen allerdings nicht worauf. Da erscheint ihnen in Nadeche Hackenbusch, einer deutschen Trashshow-Moderatorin, ebenso dumm wie clever, ein wahrer „Engel im Elend“, wie auch ihre Doku-Soap im Privatfernsehen heißt. Hackenbusch nutzt den Einsatz im Flüchtlingslager und das Mitleid der Zuschauermillionen, ihren eigenen Marktwert zu steigern und ihre Show zum Quotenhit mit rapide steigenden Werbeeinnahmen zu machen. Im Lager verliebt sie sich in den smarten, aber ebenso cleveren Flüchtling Lionel, der es seinerseits versteht, Hackenbuschs Profilierungssucht zum eigenen Vorteil zu nutzen. In einem Zug von 150 000 Lagerbewohnern machen sich „die Schöne und der Flüchtling“, gut organisiert und mit Wasser und Nahrung von einer mafiösen Schlepperbande bestens versorgt, auf den Fußmarsch nach Deutschland. Wieder einmal viel zu spät steht die deutsche Regierung vor einem gewaltigen Flüchtlingsproblem. Niemand ist auf diesen biblisch anmutenden „Zug durch die Wüste ins gelobte Land“ vorbereitet.
Die Handlung des Romans spielt in der Zukunft , doch sind die von Timur Vermes aufgezeigten Fragen und Probleme keineswegs fiktiv, sondern vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise 2015 immer noch höchst real. Schon damals hatte die deutsche Regierung das drohende Problem jahrelang verschlafen, die EU-Grenzländer Italien und Griechenland allein gelassen – mit den bekannten Folgen.
Bissig und rücksichtslos beschreibt Timur Vermes in seinem trotz mancher Längen lesenswerten Roman die Trägheit der „Satten“, die sich, ohne sorgsam vorbereitet zu sein, hektisch und verzweifelt der „Hungrigen“ zu erwehren suchen. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man – und man kann es tatsächlich! – beim Lesen herzlich lachen oder doch zumindest schmunzeln. Vermes zieht nicht nur über die Regierenden her, sondern macht auch uns Bürger verantwortlich. Politiker denken statt an die Menschen nur an den eigenen Machterhalt und den ihrer Partei. Sogar der Einsatz militärischer Gewalt ist eine Option. Und unsere träge und sonst sorglose Gesellschaft spaltet sich in Plüschtiere verteilende Gutmenschen, in militante Organisatoren von Bürgerwehren und rechtsradikale Polit-Profiteure einer in der Bevölkerung wachsenden Unsicherheit und Panik.
Der Autor kritisiert nicht „die anderen“, sondern hält uns allen den Spiegel vor, niemand bleibt ungeschoren. Lacht man gerade über eine Szene, vergeht einem das Lachen gleich wieder: Was im ersten Moment witzig erscheint, erweist sich beim zweiten Blick doch als Realität. Der Roman „Die Satten und die Hungrigen“ ist wirklich gut, lässt sich gut lesen, unterhält und stimmt gleichzeitig nachdenklich. Doch um 100 bis 200 Seiten straffer, hätte er mehr Tempo und noch mehr Biss.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.10.2018
Ein Winter in Sokcho
Dusapin, Elisa Shua

Ein Winter in Sokcho


ausgezeichnet

Ihr Debütroman „Ein Winter in Sokcho“ sei „ein kleines Meisterwerk“ urteilte schon vor zwei Jahren die Jury bei Vergabe des Robert-Walser-Preises an die Autorin Elisa Shua Dusapin. Die französische Zeitung „Le Figaro Littéraire“ nannte das nur 144 Seiten starke Buch, das in deutscher Übersetzung im September beim Verlag Blumenbar, einem Imprint des Aufbau-Verlages erschien, einen „Roman von einzigartiger Schönheit“. Tatsächlich ist dieser Kurzroman, der in seiner Erstfassung vor wenigen Jahren von der Autorin nur als Studienarbeit am Literaturinstitut Biel (Schweiz) gedacht war, in seiner nun publizierten Fassung so ungewöhnlich, so zartfühlend und liebevoll von der heute 26-Jährigen geschrieben, dass er seine Preise verdient hat und er unbedingt zu empfehlen ist.
Wie Elisa Shua Dusapin ist auch ihre Protagonistin, eine junge Mitarbeiterin einer kleinen Pension im südkoreanischen Küstenort Sokcho, die Tochter eines französischen Vaters und einer südkoreanischen Mutter. Die vermutung dürfte deshalb berechtigt sein, dass autobiographische Elemente, persönlicher Erfahrungen und Gefühle Dusapins in ihrem Kurzroman eingearbeitet sind. Das Studium in Seoul war der einzige Ausflug der Ich-Erzählerin in die schillernde weite Welt. Doch nun ist die junge Frau zur Unterstützung ihrer allein lebenden Mutter nach Sokcho zurückgekehrt. In diesem eiskalten Winter hat sich nun ein junger Mann, Comic-Zeichner Yan Kerrand aus der Normandie, in der Pension eingemietet. Während die junge Frau, mit einem recht oberflächlichen Koreaner befreundet, sich nach der weiten Welt sehnt, sucht der junge Zeichner die Stille und Einsamkeit an der Grenze zu Nordkorea. Doch mit jedem Gespräch, jedem Spaziergang kommen sich die beiden jungen Menschen aus so unterschiedlichen Welten tastend näher. Beide suchen einen Neuanfang, jeder auf seine Weise.
Es macht beim Lesen einfach Freude, die beiden im Lauf der wenigen Wintermonate zu begleiten, zu beobachten. Feinfühlig schildert die Autorin die zögerlichen Annäherungsversuche der asiatisch-zurückhaltenden jungen Frau und des mit Frauen und der Liebe anscheinend noch unerfahrenen Mannes. In seinen Comics zeichnet er fast nur Männer, an Frauenbildnissen scheitert er. Solche Skizzen landen im Papierkorb. Erst als die Ich-Erzählerin ihre eigene Scheu überwindet, gelingt es ihr, Kerrand aus seinem Pensionszimmer zu locken. Bezaubernd beschreibt Dusapin in kleinen Gesten und Szenen das vorsichtige Herantasten der beiden.
Nebenbei wird auch das Leid der jungen Halbkoreanerin offenbar, die als unehelich geborene Tochter eines Franzosen auch nach über 20 Jahren noch immer der Nachbarschaft Gesprächsstoff bietet und nicht einmal in ihrer Heimatstadt Sokcho als Koreanerin anerkannt wird. In Begleitung ihres französischen Gastes spricht man sie sogar auf Englisch an wie jede beliebige Touristin. Auch dies ist wohl ein Grund, weshalb die junge Frau ihre Heimat gern verlassen und nach Frankreich gehen würde.
Diese liebenswerte, zartfühlend geschriebene Romanze von Elisa Shua Dusapin gleicht einer kunstvollen Miniatur - so schön, so leicht, so zerbrechlich. Die Lektüre dieses Kurzromans wirkt noch lange nach, wie es heute nur wenigen Büchern noch gelingt. Dem Roman geht es nicht um Handlung, sondern um Gefühle, um das zumeist Unausgesprochene. „Ein Winter in Sokcho“ wärmt einem beim Lesen das Herz. In ihrem schon 2017 geführten Interview mit ZEIT Online meinte Dusapin: „Die vielen Preise und die Anerkennung [für den Roman] könnten mir das Gefühl geben, dass ich es geschafft habe. Dass ich Schriftstellerin bin.“ Die Zukunft wird es zeigen, doch dieses Debüt ist vielversprechend.

Bewertung vom 13.10.2018
Deutsches Haus
Hess, Annette

Deutsches Haus


sehr gut

Nach ihren erfolgreichen TV-Serien „Weissensee“ und „Kuhdamm 56/59“ hat es Grimme-Preisträgerin Annette Hess (51) nun auch mit ihrem ersten Roman „Deutsches Haus“, erschienen im September beim Ullstein-Verlag, dank meisterhafter Erzählkunst wieder geschafft, nicht nur die Stimmung der Sechziger Jahre in der noch jungen Bundesrepublik anschaulich wiederzugeben, sondern vor allem den Nachgeborenen die besondere Problematik jener Dekade sowie die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Generationen verständlich zu machen.
In Frankfurt wird 1963 der erste Auschwitz-Prozess unter Leitung des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968) vorbereitet. Unerwartet wird die junge Dolmetscherin Eva, Tochter der Wirtsleute Bruhns, von der Staatsanwaltschaft zur Übersetzung der Aussagen polnischer Zeugen angefordert. Sowohl ihre im Nazi-Regime verstrickten Eltern, heute Inhaber der gutgehenden Wirtschaft „Deutsches Haus“, als auch ihr streng konservativer Verlobter, künftiger Erbe eines großen Versandhandels, sind strikt dagegen. Doch Eva widersetzt sich und nimmt den Auftrag an. Im Laufe des Prozesses erfährt die junge Frau, die als unschuldiges Kleinkind die Kriegsjahre erlebt hat, zum ersten Mal vom KZ Auschwitz und vom Holocaust. Sie ahnt nicht die Folgen dieses und nachfolgender Prozesse für die westdeutsche Bevölkerung und ihr eigenes Leben. Am Ende bricht sie mit ihrem Elternhaus und löst die Verlobung.
Im Roman geht es um die Auseinandersetzung zwischen der damals über die Kriegsgräuel schweigende Elterngeneration und die kritisch nachfragende Generation ihrer Kinder. Auch im „Deutschen Haus“ haben Evas Eltern die Kriegsjahre verdrängt, wollen vom Auschwitz-Prozess nichts wissen, sondern widmen sich ausschließlich ihrer vielversprechenden Zukunft im deutschen Wirtschaftswunder. Annette Hess beschreibt dies treffend in einem Satz: „Nicht sprechen. Nicht bewegen. Die Luft anhalten, bis es vorübergeht. Und niemand wird zu Schaden kommen.“
Überhaupt ist es der Autorin hervorragend gelungen, die Stimmung in der industriell und wirtschaftlich wieder aus Trümmern erstarkenden Bundesrepublik in jener Zeit zu beschreiben: Die Öffentlichkeit hält den Prozess mehrheitlich für Verschwendung von Steuergeld; Mitläufer des Nazi-Regimes wie Evas Eltern beschwören, nichts von Gräueltaten gewusst zu haben und sogar die Angeklagten streiten alles ab. Statt in Untersuchungshaft zu sitzen, gehen sie an verhandlungsfreien Tagen ihrem Beruf nach. Bei deren Ankunft im Gerichtsgebäude nehmen die Saaldiener zur Begrüßung militärische Haltung ein. Fast scheint es außerhalb des Gerichtsaals, als hätten nicht die Angeklagten sich vor Gericht zu verantworten, sondern die dem Holocaust entkommenen Zeugen.
Annette Hess lässt in ihrem Roman alle Seiten zu Wort kommen. So verteidigt sich Evas Mutter vor ihrer Tochter: „Wir sind keine Helden. Man hat früher nicht aufbegehrt, das kann man mit der heutigen Zeit nicht vergleichen.“ Und Eva hält dem damals beliebten Argument, „die anderen“ seien doch für alles verantwortlich, verzweifelt entgegen: „Ihr wart ein Tel des Ganzen. Ihr wart auch die! Ihr habt nicht gemordet, aber ihr habt es zugelassen.“
Der Roman „Deutsches Haus“ ist locker geschrieben, mag vordergründig als leicht lesbarer historischer Roman erscheinen. Doch in heutiger Zeit des wieder erstarkenden Rechtsradikalismus' ist er eine deutliche Warnung. Auf die ängstliche Frage ihres kleinen Bruders, was Vati und Mutti denn gemacht hätten, antwortet Eva nur: „Nichts.“

Bewertung vom 01.10.2018
Das innere Ausland
Bayer, Thommie

Das innere Ausland


ausgezeichnet

Wenn draußen der Herbststurm tobt, das Wetter ungemütlich ist und die Temperaturen gegen Null gehen, machen Sie es doch wie Andreas und Malin in Thommie Bayers (65) aktuellem Roman „Das innere Ausland“, erschienen im August beim Piper-Verlag. Feuern Sie abends den Kamin an, setzen Sie sich in Ihre Bücherecke und lesen Sie diesen so wunderbar unaufgeregten, berührenden, geradezu Herz erwärmenden Roman. Obwohl man nicht von einer spannungsreichen Handlung sprechen kann, fesselt dieser Roman durch seinen Sprachstil, seine Dialoge und oft mehr durch das beredte Schweigen seiner Protagonisten.
Die aufregendsten Kapitel ihres Lebens scheinen der 64-jährige Andreas und die über 40-jährige Malin schon hinter sich zu haben. Andreas Vollmann, der sowohl beruflich als Schlafwagenschaffner als auch in seinem Privatleben meistens mit sich allein war, bewohnt jetzt als Pensionär mit seiner ebenfalls unverheirateten jüngeren Schwester Nina ein Haus in Südfrankreich. Beide haben sich nicht nur ins wirkliche, sondern – wie der Titel des Romans es sagt – ins „innere Ausland“ zurückgezogen, mit ihrem bisherigen Leben abgeschlossen. Beide haben nur noch sich – Bruder und Schwester. Er wohnt im Vorder-, sie im Hinterhaus, die Küche nutzen beide gemeinsam. Beide leben in völliger Harmonie, nehmen auf einander Rücksicht, scheinen zufrieden, alles Notwendige scheint längst gesagt. Oder doch nicht? Denn für Andreas unerwartet stirbt Nina an Krebs. Sie hatte es ihrem Bruder verschwiegen. Wenig später platzt eine fremde Frau in Andreas' Einsamkeit. Es ist Malin, Ninas Tochter. Auch von ihr hatte Andreas nie zuvor gehört. Selbst Malin hatte erst nach dem Tod ihrer Mutter von deren Existenz erfahren. Malin zieht in Ninas Haushälfte ein, wo sie auf unbestimmte Zeit bleiben will. Mit der Zeit erkennt Andreas an seiner Nichte viele Charakterzüge und Eigenarten seiner verstorbenen Schwester. Malin offenbart ihm nach Tagen wachsenden Vertrauens die unbekannte Seite seiner Schwester, die sie selbst nur aus einem hinterlassenen Brief ihrer Mutter erfahren hat. Andreas, dessen Leben ohne seine Schwester sinnlos erscheint, und Malin, die sich gerade von ihrem Verlobten getrennt und ihre Pflegeeltern verlassen hat, erkennen eine zweite Chance, die das Schicksal ihnen beiden gewährt. Und sie ergreifen diese Chance.
Wir Leser begleiten Andreas zunächst in seiner Einsamkeit allein im Haus, sehen ihn kochen, Kaffee aufbrühen oder den Tisch decken. Selbst die Schilderung des Alltäglichen liest sich bei Thommie Bayern angenehm. Dann erscheint Malin, die zunächst Unruhe in diese Einsamkeit bringt, selbst aber Ruhe sucht. Auch hier werden wir Zeuge, wie sich beide erst auf Abstand beobachten, sich schließlich näherkommen und zuletzt erkennen müssen, dass sie die letzten Hinterbliebenen ihrer Familie sind. Sie lernen sich zu schätzen und ihre Eigenarten zu akzeptieren.
Thommie Bayer versteht es, mit einer der jeweiligen Stimmung angepassten Wortwahl uns an den Empfindungen seiner Protagonisten teilhaben, sogar mitfühlen zu lassen. „Das innere Ausland“ ist ein bewegender, nachdenklich stimmender, angenehm leiser Roman, der von vielen gelesen werden sollte. In der heutigen, oft übermäßig aufgeregten und von politischen Wirren überladenen Zeit, hat dieser ruhige und doch tiefgehende Roman eine fast therapeutische Wirkung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.09.2018
Das KALA-Experiment
Olsberg, Karl

Das KALA-Experiment


weniger gut

Spannend ist der im August beim Piper-Verlag als Taschenbuch erschienene Roman „Das Kala-Experiment“ von Karl Olsberg durchaus. Allerdings darf man den geschilderten Sachverhalt nicht kritisch hinterfragen, um die künstlich aufgeblasene Illusion nicht zum Platzen zu bringen. Wenn man die ellenlange Werksliste des unter dem Pseudonym Karl Olsberg schreibenden Unternehmensberaters Karl Freiherr von Wendt (58) seit seinem Romandebüt im Jahr 2007 durchzählt, darf man, ohne die Bücher selbst gelesen zu haben, allein aus der Vielzahl der Werke folgern, dass es dem Autor wohl nicht bei jedem Werk auf literarischen Anspruch ankommen dürfte. Das „Das Kala-Experiment“ ist jedenfalls nur ein auf Action zielender, im Kern aber recht oberflächlicher Roman, der das vom Verlag verliehene Prädikat „Thriller“ wirklich nicht verdient.
Worum geht es? Wenige Tage nach seinem Video-Interview mit einer Bloggerin begeht der weltbekannte deutsche Physiker Ichting plötzlich Selbstmord. Die Bloggerin Nina geht aber von Mord aus und betätigt sich nun als investigative Journalistin. Bald kommt sie, wenn auch anfangs unwissentlich, einem physikalischen Projekt in den USA, dem Kala-Experiment, auf die Spur. Durch dieses Experiment zur Energiegewinnung versucht der steinreiche und skrupellose Inhaber von Allied Industries, aktuell Wissenschaftsberater eines im Buch ungenannten Präsidenten Trump, noch reicher zu werden. Auch als Leser kommt man der Sache kapitelweise näher: Die am Projekt beteiligten Fachleute haben – einige Tage unserer Zeit voraus – ein Wurmloch durch Raum und Zeit in die Vergangenheit erzeugt, was zu unerklärlichen Erscheinungen in unserer Gegenwart führt: Da ist ein unerwartet auf der Kasseler Autobahn erscheinendes Auto Verursacher eines tödlichen Unfalls, Fahrerin und Kind sind tot, doch dieselben zwei werden immer noch gesund daheim angetroffen. Da kommt eine alte Frau in den USA quicklebendig zu einer Trauerfeier in die Kirche und sieht sich selbst als betrauerte Leiche. So reiht sich weltweit ein unerklärliches Phänomen an das andere.
Der Autor versucht, uns mit seinem Roman vor der Gefahr zu warnen, wenn Forscher und skrupellose Unternehmer zusammenarbeiten und bisherige Grenzen der Forschung überwinden, ohne sich über mögliche Risiken für die Menschheit Gedanken zu machen. Man denke nur an die friedliche Nutzung der Kernenergie und den Bau der Atombombe.
So weit, so gut. Hinterfragt man allerdings die Handlung kritisch, dann scheitert der Roman an fehlender Logik. Denn wenn das Kala-Experiment tatsächlich schon in der Zukunft – nämlich am kommenden Donnerstag um 11:45 Uhr – stattgefunden hat und wir jetzt schon dessen Auswirkungen erlebt haben, warum haben unsere Protagonisten dann Angst vor dem Weltuntergang? Mehr als jetzt geschehen ist, kann doch nicht mehr geschehen. Weshalb sollte unsere Welt also am Donnerstag untergehen?
Ich gebe offen zu, diesen Roman von Karl Olsberg zügig durchgelesen zu haben, da ein gewisser Spannungsfaktor leicht verführt. Ist dieser Roman also empfehlenswert? Nein, ist er nicht. Aber er ist trotz gewisser Spannung eine entspannende Feierabendlektüre. Man darf den Roman gern lesen - solange man kein besseres Buch zur Hand hat. Die Kernidee des Romans jedoch, vor unkontrollierbaren Gefahren wissenschaftlicher Experimente zu warnen, ist nachvollziehbar und richtig. Diese Idee lohnt weiteres Nachdenken.

Bewertung vom 22.09.2018
Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste
Schwenke, Philipp

Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste


ausgezeichnet

Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sind Namen literarischer Helden, die selbst heutigen Harry-Potter-Fans noch bekannt sind, selbst wenn sie diese populären Abenteuerromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts nie gelesen haben. Doch kaum bekannt ist heutigen Lesern das wechselvolle Leben ihres Erfinders, des sächsischen Schriftstellers Karl May (1842-1912). Dies dürfte sich nun ändern. Mit seinem beeindruckenden Debütroman „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“, im September bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, hat Journalist Philipp Schwenke (40) diesem mit über 200 Millionen Auflage meistgelesenen und in fast 50 Sprachen häufigsten übersetzten deutschsprachigen Schriftsteller mehr als hundert Jahre nach dem Tod ein zeitgemäßes Denkmal gesetzt. Dieser Roman über Mays tragischste Lebensphase zwischen 1899 und 1902 ist eine durchaus kritische, zugleich aber liebe- und humorvolle Betrachtung der aus der Not damaliger Umstände sich ergebenden Wandlung Mays von einem sich selbst überschätzenden, schizophrenen Phantasten zum selbst ernannten Friedensapostel. War schon Mays früheres Leben eine einzige Lüge, so nutzt er auch diese ihm aufgezwungene Läuterung nur zur Wahrung seines eigenen Rufs und Ruhms.
In Schwenkes Roman begleiten wir Karl May um die Jahrhundertwende auf seiner ersten Überseereise in den Orient. Über Jahrzehnte hatte er in seinen Romanen den begeisterten Lesern vorgegaukelt, alle geschilderten Abenteuer auf unzähligen Reisen durch Amerika und den Orient selbst erlebt zu haben. Tatsächlich hatte er nie seine sächsische Heimat verlassen. Seine Leser aber sahen in May den bärenstarken Fährtenleser, Winnetous Blutsbruder Old Shatterhand und den unbesiegbaren Abenteurer Kara Ben Nemsi (Karl, Sohn der Deutschen), der von sich behauptete, 800 Sprachen und Dialekte zu beherrschen. Doch Ende der 1890er Jahre erscheinen in ersten Zeitungsartikeln Zweifel an Mays Glaubwürdigkeit, aus der während Mays Orientreise zu einer bis dahin beispiellosen Kampagne der Sensationspresse ausweitet.
Um sich rechtfertigen zu können, tatsächlich im Orient gewesen zu sein, reist May nun mit dem Reiseführer in der Hand durch die arabische Welt, Sumatra und Ceylon und verschickt an die Zeitungen in Deutschland ständig Postkarten. Doch die reale Welt ist eine ganz andere, von den Kolonialmächten England und Frankreich längst europäisch beeinflusst, als jene abenteuerliche, in seinen Romanen erdachte. Als May auch noch erkennen muss, dass er selbst rein gar nichts mit seinen Figuren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi gemein hat, er aber sogar bis Sumatra vom Journalisten georg Scharffenstein verfolgt wird, verfällt der Gejagte in Wahnvorstellungen und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Durch dieses „Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ wird der Phantast geläutert: Im Fieberwahn verlässt Old Shatterhand den Körper des Schriftstellers. Aber: „Was bleibt von ihm, wenn man Old Shatterhand abzieht? Nur noch Karl May, Sträf- und Schreiberling“. Zur Wahrung seines Images gibt sich May nach seiner Rückkehr in Sachsen als Menschenfreund, der niemals seine Leser belügen, sondern sie mit seinen Romanen im Kampf des Guten gegen das Böse nur zu „Edelmenschen“ erziehen wollte.
Der Autor und bekennende May-Fan Philipp Schwenke hat in unzähligen Dokumenten der Karl-May-Gesellschaft, in Fachliteratur, Briefen und Tagebüchern recherchiert. Ihm ist eine authentische, glaubwürdige, trotz allem locker lesbare und augenzwinkernde Biografie gelungen, die „auf Tatsachen und auf alternativen Tatsachen beruht - auf Tatsachen, die auf jeden Fall wahrer sind als alles, was Karl May selbst je behauptet hat.“ So traurig Karl Mays Leben auch geendet haben mag: Mancher ältere Fan wird nach Lektüre von Schwenkes Debüt sicher seine längst vergilbten May-Ausgaben zur Hand nehmen.

Bewertung vom 08.09.2018
Vier Tage in Kabul / Amanda Lund Bd.1
Tell, Anna

Vier Tage in Kabul / Amanda Lund Bd.1


sehr gut

Ein erstaunlicher und wirklich packender Politkrimi ist der schwedischen Autorin Anna Tell mit ihrem Romandebüt „Vier Tage in Kabul“ gelungen, der im August bei Rowohlt als erster Band der Reihe „Die Unterhändlerin“ erschien. Die Handlung mag ja fiktiv sein, aber sie wirkt ungemein real. Anna Tell weiß ja auch, worüber sie schreibt: Als hauptberufliche Politologin und Kriminalkommissarin war sie selbst 20 Jahre lang als Polizei- und Militärberaterin sowie Unterhändlerin im In- und Ausland im Einsatz.
Um einen solchen Einsatz als ISAF-Ausbilderin und Unterhändlerin bei der militärisch ausgerüsteten Polizei Afghanistans geht es in Anna Tells Krimidebüt: Zwei schwedische Diplomaten wurden in Kabul entführt, eine Lösegeldforderung liegt vor. Verhandlungsspezialistin Amanda Lund, gerade in Afghanistan zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte stationiert, erhält aus Stockholm den Auftrag, in diesem Fall mit den Entführern zu verhandeln und die Geiseln frei zu bekommen. Wegen des heiklen politischen Verhältnisses zwischen Schweden und Afghanistan darf dieser Fall nicht öffentlich werden. Bei der Stockholmer Reichskriminalpolizei leitet Bill Ekman diesen Einsatz, der gleichzeitig den Mord an einem jungen Diplomaten untersucht, der erst kürzlich aus Kabul zurückkam. Hinweise deuten auf einen Zusammenhang beider Fälle. Das schwedische Außenministerium ist in höchster Aufregung, da der Staatsbesuch des afghanischen Präsidenten kurz bevorsteht, weshalb sich der Staatssekretär in die Ermittlungsarbeit einmischt.
Wer in „Vier Tage in Kabul“ einen aktionsreichen Kriegsroman mit einer „schießwütigen“ Superheldin à la Lara Croft erwartet, liegt falsch: Amanda Lund gibt auf knapp 390 Seiten keinen einzigen Schuss ab! Autorin Anna Tell kennt die Gefahr solcher Einsätze in Kriegsgebieten, aber auch die Nüchternheit ihres Berufes, eingebunden in hierarchische Abhängigkeiten. Ihr Roman ist vielleicht deshalb recht realistisch und in der Sprache auffallend nüchtern. Ihre Figuren sind keineswegs Superhelden, sondern normale Menschen mit ganz normalen Problemen: Amanda spürt während ihres Einsatzes die ersten Anzeigen einer Schwangerschaft, geschwängert von einem verheirateten Mann. Ihr Chef Bill Ekman gefährdet seine Ehe, da er, wie seine Frau es ihm vorwirft, mit seinem Beruf verheiratet ist. Der schwedische Botschafter in Kabul muss seine Homosexualität verheimlichen.
„Vier Tage in Kabul“ ist sicher kein literarisches Meisterwerk, das einen Buchpreis verdient hätte, aber im besten Sinn gute und spannende Unterhaltung, dazu noch interessant, ist doch Afghanistan nicht gerade ein typischer Schauplatz für europäische Thriller. Wir lernen – zumindest ansatzweise – dieses Land in seiner desaströsen politischen Zerrissenheit kennen, wir begegnen dem täglichen Terror auf der Straße. Europäer halten sich bevorzugt in sicheren Häusern und Hotels auf, fahren in gepanzerten Limousinen – wie auch der schwedische Botschafter, der bald in einem dieser Hotels ermordet wird.
Natürlich gelingt es der kampferprobten Polizistin Amanda Lund am vierten Tag, die beiden Geiseln lebend zu befreien. Dies zu schreiben, ist kein Geheimnisverrat. Auch die Identität des Mörders ist keine Überraschung. Doch beides zu wissen oder zu vermuten macht den Krimi nicht weniger spannend. Denn im Kern geht es um andere Themen: Da ist der Gegensatz zwischen der modernen und gleichberechtigten schwedischen Frau und den afghanischen Polizisten, deren Kommandanten sie Befehle erteilen darf. Oder die politisch gewollte Zusammenarbeit zwischen afghanischen und schwedischen Einheiten, die von afghanischer Seite auch gern sabotiert wird. Oder die Widersprüche zwischen aufklärender Polizeiarbeit und der politisch begründeten Verschleierungstaktik von Regierungsstellen. „Man muss der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verhelfen“, lässt sich die Unterhändlerin und Polizistin Amanda Lund allerdings in ihrer Arbeit nicht ablenken. Im März 2019 erscheint der zweite Band "Fünf Tage im Kosovo".