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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 01.03.2021
Just Like You
Hornby, Nick

Just Like You


sehr gut

Über 20 Jahre nach „About a boy“ war es für mich mal wieder an der Zeit für ein Buch von Nick Hornby. Und da ich die Brexit-Verhandlungen gespannt verfolgt habe, fand ich sein neuestes Werk „Just like you“ interessant, verspricht es doch laut Klappentext „Liebe in Zeiten des Brexit“. Und tatsächlich schafft das Buch es auf sehr spannende Weise, beides zu verknüpfen. Und eines ist schon von Anfang an klar: kompliziert wird beides.
Die 42-jährige Lucy Fairfax, Mutter von zwei Söhnen, lebt von ihrem alkoholkranken Ehemann getrennt und die beiden stehen kurz vor der Scheidung. Großbritannien und die EU sind noch nicht getrennt, 2016 steht das Land aber kurz vor dem Referendum, das über die Scheidung entscheiden soll. Joseph ist 22, lebt noch bei seiner Mutter, bestreitet seinen Lebensunterhalt als Aushilfsmetzger, Fußballtrainer und Babysitter. Lucy und Joseph, so verschieden die beiden sind (denn zusätzlich zum Altersunterschied ist Lucy weiß und Joseph nicht), verlieben sich ineinander und ihre Beziehung ist analog zu den Diskussionen um den Brexit: voller Missverständnisse, Zweifel, Höhen und Tiefen und, um es mit einem Wort zu sagen: kompliziert. Wie die Liebesgeschichte im Buch endet, möchte ich nicht spoilern. Und wie die Sache mit dem Brexit ausging, das ist Geschichte.
Tatsächlich hat mich das Buch positiv überrascht. Die unterschiedlichen Charaktere (Altersunterschied, verschiedene Herkunft und Hautfarbe, sie ist Englischlehrerin und er hat seinen Weg im Leben noch nicht gefunden, und so weiter) waren hervorragend ausgearbeitet und sehr plastisch beschrieben. Auch fand ich die Protagonisten sympathisch dargestellt. Die Brexit-Diskussionen fand ich ebenfalls gut geschildert, das Hin und Her zur Entscheidungsfindung für oder gegen den EU-Austritt Großbritanniens, die Für- und Wider-Argumente, die Lügen und Halbwahrheiten – da trifft der Autor den Nagel ordentlich auf den Kopf.
Ähnlich wie die On-Off-Ja-Nein-Vielleicht-Beziehung zwischen Joseph und Lucy ändert sich auch die Haltung ihres Umfelds (und die Haltung vieler Briten) zum Brexit. Ein gutes Beispiel ist Josephs Mutter, die als Krankenschwester erst die ausländischen Kolleg:innen aus Polen, Ungarn und Spanien unverzichtbar findet, später aber für den Brexit stimmt, weil sie daran glaubt, dass danach 161 Millionen Pfund wöchentlich ins Gesundheitssystem fließen werden. (Stand 2020/21 wissen wir, dass das auch nicht stimmt).
Hornby deckt also in seinem Buch jede Menge Themen ab: Brexit, Liebe mit Altersunterschied und Rassismus im Allgemeinen und im Speziellen (Joseph macht eine unerfreuliche Erfahrung mit einem von Lucys Nachbarn und der Polizei), aber insgesamt zeigt er auch, wie unterschwellig xenophob viele Briten sind (»Ich stimme für den Austritt. Zu viele Auflagen, zu viele Albaner.« oder „»Ganz ehrlich, ich habe kein Problem mit Einwanderung. Ohne Einwanderung wären wir nicht hier. Aber die kommen nicht her, um ein Teil von England zu werden, oder? Die ganzen Osteuropäer und so weiter. Die kommen hier so überfallartig an, unterbieten die örtlichen Arbeiter, verdienen sich was und hauen wieder ab“).
Hornbys Stil ist ein bisschen holprig und ich hatte anfangs Mühe in das Buch zu finden, das gab sich aber nach ein paar Dutzend Seiten. Außerdem ist es sehr dialog-lastig, was ich ebenfalls gewöhnungsbedürftig fand. Dennoch, wie die Liebe der beiden Protagonisten und der Brexit hat auch das Buch für mich zwei Seiten. Man kann es als leichten Unterhaltungsroman lesen, ein bisschen über die lustigen Szenen und den manchmal aufblitzenden Wortwitz schmunzeln; oder man kann es als einen durchaus tiefgründigen gesellschaftskritischen Roman lesen und sich seine eigenen Gedanken machen und Meinung bilden. Manche Gedankengänge muten fast philosophisch an.
So oder so - insgesamt finde ich das Buch absolut lesenswert. Eventuell werde ich mir mal das englische Original besorgen, denn manchmal finde ich die Übersetzung nicht ganz gelungen. Von mir aber 4 Sterne.

Bewertung vom 01.03.2021
Vegan Backen
Schober, Corinna

Vegan Backen


ausgezeichnet

Zuerst einmal vorneweg: ich lebe weder vegetarisch noch vegan, sondern bestenfalls flexitarisch. Aber ich habe zweierlei: selten Eier im Haus und einen Mann, der gerne Kuchen isst. Also habe ich ein großes Faible für Backen ohne Eier entwickelt, und da bin ich mit veganen Rezepten immer sehr gut bedient. „Vegan Backen“ von Corinna Schober bietet für jeden, der ohne tierische Produkte backen möchte, ob Veganer oder nicht, ganz tolle Rezepte, Anregungen und Tipps.
Denn Backen ohne tierische Produkte heißt nicht Backen ohne Geschmack und Genuss. Weit gefehlt. Auch ohne das gewohnte Ei, Milch, Jogurt oder die „gute Butter“ im Teig kann man leckere Backwerke zaubern. Das zeigen die ansprechenden Bilder im Buch ganz deutlich. Schön finde ich an den Rezepten für die Muffins, Kuchen und Torten auch, dass die Autorin komplett ohne Ei-Ersatz auskommt, so brauchen ihre Backwerke weder Sojamehl, geschroteten Leinsamen oder sonstiges „Ersatz-Ei“, sondern meistens Grundzutaten, die man immer im Haus hat. Spontanem Backen steht also nichts im Weg. Auch Zuckeralternativen haben in den Rezepten ihren Platz, können aber meistens gegen „normalen“ Haushaltszucker ausgetauscht werden, wenn man sie nicht verwenden möchte oder nicht im Haus hat.
Das Buch beinhaltet mehr als 35 Rezepte aus den Kategorien „Kleine Leckereien“, „Schnelle & Einfache Kuchen“ und „Besondere Kuchen & Torten“. Den krönenden Abschluss des Rezept-Teils bildet eine Zusammenstellung zu Themen wie „Das Prinzip: Vegan Backen“, „Vegane Alternativen und Zucker-Alternativen“, dazu Grundrezepte für veganen Mürbe- und veganen Rührteig, die den Leser:innen die Scheu vor dem Ausprobieren nehmen wollen, denn schon aus diesen beiden Grund-Teigen kann man viele verschiedene Kuchen zaubern.
Einzig die Tatsache, dass das Buch kein Inhaltsverzeichnis hat, finde ich eher schade. Aber die vielen ansprechenden Bilder, die umsetzbaren Rezepte, die dazu noch mit Kalorienangaben und Angaben zu Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgehalt geben, konnten mich schnell trösten. Das Buch ist so simpel geschrieben, wie die Rezepte augenscheinlich sind, auch Aussagen zur Größe der Backform, wie viele Stücke das Rezept ergibt und wie lange Zubereitung und Backen brauchen, sind vorhanden. Klare Angaben, gute Tipps und Bilder, die Lust aufs Ausprobieren machen. Mehr braucht’s nicht. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 01.03.2021
»Frau Doktor, wo ich Sie gerade treffe...«
Koock, Ulrike

»Frau Doktor, wo ich Sie gerade treffe...«


ausgezeichnet

Dr. Ulrike Koock „kenne“ ich als Schwesterfraudoktor aus den sozialen Medien, wie man sich aus den sozialen Medien halt so „kennt“. Aber ich habe mich sehr auf und über ihr Buch „Frau Doktor,
wo ich Sie gerade treffe.... Warum ich mit Leib und Seele Landärztin bin“ gefreut. Und ich wurde nicht enttäuscht. Einige der im Buch veröffentlichten Geschichten kannte ich zwar schon von ihrem Blog, aber das macht sie nicht schlechter oder uninteressanter, denn, wie auf ihrer Website steht, schreibt sie vor allem deshalb, „um all die schönen und traurigen und lustigen Geschichten nicht zu vergessen.“
Und an ihrem Berufsalltag als angestellte Ärztin in einer hessischen Landarztpraxis lässt sie ihre Leser:innen teilhaben. Fiktiv gliedert die Autorin ihre Arbeitswoche unter kreativen Überschriften wie „Marathonmontag“, „Diagnosendienstag“, bis „Fisimatentenfreitag“, „Supersamstag“ und „sentimentaler Sonntag“. Und die Woche hat es in sich. Riesiger Patientenansturm trifft da auf Reanimation im Flur und in dem Zusammenhang unter der Überschrift „Ja, ihr reanimiert. Aber kann ich meine Spritze haben?“ trifft Egoismus auf lebensrettende Maßnahmen. Als Landärztin behandelt sie die verschiedensten Krankheiten, von Psychosen, Würmern und Grippe bis Herzinfarkt und wieder zurück, da ist ihr nichts Menschliches fremd. Fremd ist sie in dem Ort, in dem sie lebt ebenfalls, was dazu führen kann, Arztgespräche an der Kühltheke im Supermarkt zu führen – oder die Flucht zu ergreifen. Zwischen Joghurt und Gemüsetheke Hämorrhoiden oder die Ergebnisse der Darmspiegelung zu diskutieren kann selbst für die engagierteste Frau Doktor zu viel des Guten sein.
Ulrike Koock traf in ihrer Laufbahn schon auf vieles: schamlose (und sinnlose) Charmeoffensiven („Sie sind schon so ein saftiger, reifer Pfirsich“), Diskriminierung („Ich gehe nur zum Herrn Doktor“) und muss immer wieder zwischen „Ich hab doch nichts! Ich bin nur alt“, „Ich bin net so de Aazdgänger“ aus „Die kleine weiße Tablette und die aus der rot-weißen Schachtel“ korrekte Medikamentenpläne zusammenpuzzeln. Und auch aufklärende Gespräche mit Impfgegnern und Anhängern von Pseudomedizin sind immer wieder an der Tagesordnung.
„Landarztromantik in gestärktem Weiß“ – Fehlanzeige. Große Heldin im Alltag? Unverzichtbarerer Bestandteil des (Land-)Lebens? Absolut. Ulrike Koock errichtet für die Angehörigen ihres Berufsstands ein kleines aber feines Denkmal und lässt die Leserschaft an ihrem Alltag teilhaben. Vermutlich werden einige Leser:innen ihre Hausärzt:innen künftig anders sehen. Vielleicht nicht als Helden, aber vielleicht auch nicht mehr als bloßen Dienstleister. Man muss seinem Hausarzt, respektive seiner Hausärztin, keine Mirabellen vorbeibringen, aber den nötigen Respekt und Anstand entgegenbringen, damit wären vermutlich einige schon glücklich.
Das Buch ist meist flapsig und flott geschrieben, meistens aber mit einem ernsten Unter- oder Zwischenton, manchmal sogar lehrreich und informativ, aber immer gut und flüssig zu lesen. Für mich war die Freude der Autorin an ihrem Beruf, dem Umgang mit Menschen (den sie ursprünglich eigentlich gar nicht wollte, denn „nach dem Studium entschied ich mich – trotz kindlicher Landarztträume – dafür, dass ich zukünftig keinen Kontakt zu Patienten haben möchte…“) , aber auch den Spaß am Schreiben in jeder Zeile spürbar. Nicht umsonst wurde Ulrike Koock für ihren Blog „Schwesterfraudoktor“ mit dem Goldenen Blogger Award 2019 ausgezeichnet. Von mir von ganzem Herzen fünf Sterne.

Bewertung vom 23.02.2021
Madame Curie und die Kraft zu träumen / Ikonen ihrer Zeit Bd.1
Leonard, Susanna

Madame Curie und die Kraft zu träumen / Ikonen ihrer Zeit Bd.1


sehr gut

Der Name Marie Curie ist sicher fast jedem geläufig, auch wenn man sich weder in Physik noch in Chemie übermäßig gut auskennt. Wer sich aber genauer hinter dem Namen verbirgt und welche Geschichte mit dem Namen verknüpft ist, wissen vermutlich nur wenige. Diese Wissenslücke will Susanna Leonard mit dem biografischen Roman „Madame Curie und die Kraft zu träumen“ füllen. Und das gelingt ihr meiner Meinung nach ganz hervorragend.
Eingeteilt in drei große Zeitebenen, nimmt die 59-jährige Marie Curie im „Jetzt“ 1926, kurz vor der Hochzeit ihrer Tochter Irène, ihre Zuhörer:innen (Bekannte, Bewunderer und ihre beiden Töchter) durch Erzählungen mit auf eine Reise durch ihr Leben. Diese Erzählungen handeln von ihrer Kindheit und Jugend in Polen und ihrer Studien- und Forschungszeit in Paris.
Geboren als Maria Salomea Skłodowska im russisch besetzten Polen, kämpfte sie schon früh gegen Vorurteile und Benachteiligungen. Einerseits hatte sie als Polin schlechtere Chancen in der Gesellschaft, und als Mädchen gleich gar. Trotzdem schaffte sie es, ihre Schulzeit mit Bestnoten zu beenden, sich privat mithilfe der „Fliegenden Universität“ weiterzubilden und mit dem Geld, das sie als Hauslehrerin verdiente, ihrer Schwester Bronia ein Studium an der Pariser Sorbonne zu ermöglichen. Sich selbst erfüllte sie den Traum vom Studium (in vielen Ländern durften Frauen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts nicht studieren, oft nicht einmal Abitur machen) erst ab 1891, nachdem sich auch die Heirat mit dem Sohn ihrer Arbeitgeber zerschlagen hatte. In Paris zeigte sich, wie ehrgeizig, wissbegierig, neugierig und schlicht begabt Sklodowska war. Sie lernte den Lehrer und Physiker Pierre Curie kennen und lieben – der Rest ist vermutlich hinlänglich bekannt. Gemeinsam gewannen sie 1903 zusammen mit Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik, sie bekam 1911 den Nobelpreis für Chemie und widmete ihn ihrem 1905 an den Folgen eines Verkehrsunfalls verstorbenen Mann.
Marie Curie war ihrer Zeit in vielem voraus: sie studierte, als noch wenige Frauen studierten; sie forschte als eine der ersten (auf sehr hohem wissenschaftlichen Niveau); sie gewann als erste Frau den Nobelpreis und als einzige zweimal, noch dazu in zwei verschiedenen Fächern. Eine zu ihrer Zeit eher unbesungene Heldin und Vorreiterin, Wegbereiterin, Koryphäe und ein großes Vorbild vor allem für Studentinnen. Heute sieht das anders aus: sie ist bekannt, berühmt und eventuell auch berüchtigt. Im Buch wird sie als ehrgeizige Forscherin dargestellt, der die Wissenschaft über alles geht. Sie weiß schon früh, wie gefährlich die radioaktive Strahlung der von ihr und ihrem Mann entdeckten Elemente Radium und Polonium ist (den Begriff Radioaktivität verwendeten die beiden als erste), nimmt aber die Risiken in Kauf. Sie selbst stirbt an den Folgen der Strahlung, was aus den Mitarbeitern wird, die sich dem Risiko ebenso ausgesetzt haben, wird nicht erwähnt. Aber Marie Curie hatte wohl noch eine andere, eine herzliche und menschliche Seite, ein solides Gegengewicht zu ihrem Ehrgeiz und ihrem Forschungsdrang. Die große Liebe zu ihrem Mann und ihren Töchtern und die enge Verbundenheit mit ihrem Vater und den Geschwistern, gingen mir beim Lesen ans Herz.
Für mich war das Buch eine Bereicherung und eine Freude, es zu lesen. Leider enthält es mehrere Fehler, sowohl orthografische, als auch logische. Dennoch finde ich, dass die Autorin eine gute Möglichkeit gefunden hat, ihrem Publikum den Menschen Marie Curie näherzubringen. Das Buch ist flüssig geschrieben und leicht zu lesen. Die wissenschaftlichen Aspekte überwiegen nie, sie sind gerade so wenig vertreten, wie der Lesefluss verträgt, aber so viel, dass der interessierte Leser Anregung zur weiteren Recherche erhält. Für mich eine runde Sache, ein Stern Abzug wegen der zahlreichen Fehler, daher vergebe ich 4 Sterne.

Bewertung vom 23.02.2021
Wenn es dunkel wird
Stamm, Peter

Wenn es dunkel wird


ausgezeichnet

Peter Stamm war mir vor der Lektüre seiner Anthologie „Wenn es dunkel wird“ kein Begriff. Und da mich die 11 Kurzgeschichten der Sammlung sehr zwiegespalten zurücklassen, wird er mir wohl auch nicht wirklich im Gedächtnis bleiben. Schlecht ist das Buch nicht, aber von den Geschichten treffen nur sehr wenige meinen Geschmack.
Peter Stamms Geschichten handeln von augenscheinlich „normalen“ Menschen, Menschen wie du und ich. Die Lebensläufe aller Protagonist:innen weisen Brüche auf, alle stehen an irgendeinem Wendepunkt in ihren Leben. Die Wendungen, die ihre Lebenswege danach nehmen, sind oft banal und vorhersehbar, manche aber durchaus skurril, manche fast surreal, und überraschend. So schafft es der Autor auch, eher einfache Geschichten über einfache Menschen zu Spiegeln der Gesellschaft zu machen.
Peter Stamm lässt jede seiner Geschichten von einem Ich-Erzähler erzählen, seine Protagonist:innen könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist ein junger Auszubildender, der monatelang bis ins kleinste Detail einen Banküberfall plant. Der Arzt im Ruhestand kurz vor seiner eigenen Operation, der sich an Mirjam erinnert, eine Frau, die ihn gestalkt hat, als er in der Notaufnahme arbeitete. Oder der Angestellte, der seine Arbeitszeit damit verbringt, eine einzige Liste zu führen, und kurz vor der Rente beginnt, ganz langsam aus der Welt zu verschwinden.
Da es sich um Kurzgeschichten handelt, sind alle Erzählungen lediglich kurze Einblicke in das Geschehen, ohne wirklichen Anfang und fast alle mit einem offenen Schluss. Jede Geschichte könnte so oder so enden, was wirklich real ist und überhaupt realistisch, kann man beim Lesen nicht wirklich erkennen, für mich war das Buch wie ein warmes Schaumbad – wohlig und entspannend, aber nach dem Ablassen des Wassers vorbei und schnell vergessen. Wenige Geschichten werden mir im Gedächtnis bleiben, am ehesten vermutlich die der Arzt-Stalkerin und die des verschwindenden Angestellten, denn sie brachten mich zum tieferen Nachdenken über die menschliche Psyche und die Gesellschaft als solche. Die Dunkelheit aus dem Titel ist in der Hauptsache eher metaphorisch gemeint, als tatsächlich. Wenn auch im Buch für mich eine konstant eher dunkle Grundstimmung spürbar war.
Themen wie Einsamkeit, das Gefühl, überflüssig oder gar unsichtbar zu sein, Egoismus, Egozentrik und Dissoziation nutzt der Autor für seine manchmal versteckte, manchmal ganz offene Gesellschaftskritik. Er legt Finger in Wunden und seziert die Gesellschaft unter dem Mikroskop und trotzdem konnte mich das Buch in seiner Gänze nicht begeistern. Der Autor schreibt klar, schnörkellos und ruhig, seine Erzählungen augenscheinlich einfach, aber mit lauten und heftigen Zwischentönen in den Zwischenzeilen. Dennoch ist mir das alles zu surreal und abstrakt. Das macht das Buch aber nicht zu einem schlechten, es traf nur einfach nicht meinen Geschmack. Daher von mir 3 Sterne.

Bewertung vom 19.02.2021
Kein Entkommen / Katja Sand Trilogie Bd.1
Wortberg, Christoph

Kein Entkommen / Katja Sand Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Ich gebe es zu: ich kannte Christoph Wortberg vorher nur aus der Lindenstraße. Deshalb habe ich mich auf sein Buch „Trauma – Kein Entkommen“ sehr gefreut und meine Erwartungen wurden auch vollständig erfüllt. Zwar war es für mich nicht wie angekündigt ein Thriller, aber ein solider, spannender und gut ausgearbeiteter Krimi, in dem auch die psychologische Komponente gut recherchiert und gekonnt aufgearbeitet ist, denn der Autor nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise in die tiefen Abgründe der menschlichen Psyche.
Schon mit dem Prolog hatte der Autor mich gepackt. Die kurze Sequenz beschreibt ein traumatisches Erlebnis für ein dreijähriges Kind. Lange bleibt das Kind neutral, der Leser erfährt keinen Namen und selbst das Geschlecht wird erst später verraten. Aber eines ist klar: diesem Kind wird man im Lauf des Buchs noch mehrfach begegnen, denn irgendwie muss es mit der eigentlichen Handlung verknüpft sein.
Traumata spielen nämlich auch im Haupt-Handlungsstrang eine große Rolle. Ermittlerin Katja Sand von der Münchner Mordkommission ermittelt zusammen mit ihrem Assistenten Rudi Dorfmüller in zwei verdächtigen Todesfällen. Einer der Toten ertrinkt in einem See, der andere erstickt in einem Kühlschrank. Die Ermittlungen ergeben, dass bei beiden Toten ihre schlimmsten Alpträume wahr wurden und sie ein früheres Trauma noch einmal durchlebten. Der erste Verdacht lautet Selbstmord. Aber den Ermittlern kommen schnell Zweifel.
Ich fand das Buch von der ersten Seite an atemberaubend spannend, vor allem, da ich mich in der Vergangenheit selbst mit Traumata und ihren Folgen befasst habe. Dieses Thema hat der Autor meiner Meinung nach sehr gründlich recherchiert und bringt es gut auf den Punkt und dem Leser gekonnt näher. Verknüpft mit zwei sympathischen Ermittlern, von denen jeder seine Eigenheiten und Eigenarten hat, ein bisschen Privatleben und den Ermittlungen hat Christoph Wortberg einen fesselnden Krimi geschaffen, den ich nur schwer aus der Hand legen konnte. Die in den eigentlichen Handlungsstrang eingeflochtenen Sequenzen um das „kleine Kind“ schufen eine bedrückende Atmosphäre, in der ich dessen Angst fast körperlich spüren konnte.
Und natürlich konnte der Autor mich damit bei der Stange halten, ich wollte unbedingt wissen, wie alles zusammenhängt, denn eines ist von Anfang an klar: alles hängt mit allem zusammen und ein Trauma lässt einen in den meisten Fällen ein Leben lang nicht mehr los. Der Schluss hat mich dann nicht wirklich überrascht, aber er ist stimmig und logisch. Der Schreibstil passt für mich auch, das Buch ist sehr flüssig zu lesen. Der Autor schafft den Spagat zwischen den tatsächlichen Ermittlungen und dem Drumherum (hauptsächlich Katjas Privatleben und ihre Probleme mit ihrer Teenager-Tochter, beziehungsweise deren Freund) sehr gut und die Gewichtung innerhalb des Plots ist gelungen. Die Charaktere finde ich sehr gut beschrieben und insgesamt ist das Buch für mich eine runde Sache. Ich freue mich auf den nächsten Band, denn „Kein Entkommen“ ist der Auftakt zu einer Trilogie. Denn eines wird im Lauf der Geschichte klar: auch Katja trägt ein Trauma in sich. Von mir eine absolute Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

Bewertung vom 19.02.2021
Flüsterwald - Der verschollene Professor (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 2)
Suchanek, Andreas

Flüsterwald - Der verschollene Professor (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 2)


ausgezeichnet

Neues aus dem Flüsterwald. Die Abenteuer von Lukas und seinen Freunden gehen weiter.

„Der verschollene Professor“ ist Andreas Suchaneks zweiter Teil der Flüsterwald-Reihe und war für mich wie schon der erste Teil ein wirklich gelungenes Buch, das ich gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Es ist sicher möglich, das Buch ohne die Kenntnisse aus dem ersten Teil zu lesen, ich finde es aber nicht empfehlenswert, vor allem natürlich auch, weil Band 1 ebenso lesenswert ist. Allerdings fand ich den zweiten Teil noch ein wenig besser, konzeptionell und auch stilistisch ausgereifter.
Neben Lukas, der Elfe Felicitas, dem Menok Rani und der Katze Punchy ist Ella die Neue im Kreis der „Flüsterwald-Gruppe“. Sie ist die durchaus manipulative Enkeltochter des Professors, dem das Haus, in dem Lukas und seine Familie wohnen, ursprünglich gehörte. Und da sie ihren Opa als verschollen gilt, macht sie sich mit den anderen auf in den Flüsterwald, um ihn zu suchen.
Im Flüsterwald wartet auf die bunt gemischte Truppe eine Menge Abenteuer. Mehr kann und möchte ich gar nicht darüber schreiben, denn das Buch ist in seiner Abenteuerlichkeit sehr umfangreich und ich möchte nicht spoilern. Nur eines ist klar: das Buch steht in Puncto Spannung, Fantasie und oft auch Komik in nichts nach. Es hat also durchaus einen Fingernägel-abkau-Haare-rauf-unter-der-Bettdecke-versteck-Faktor. Da gibt es unter anderem „lebende“ Skelette von Seefahrern und U-Boot-Kommandanten in Uniformen unterschiedlicher Epochen und Nationalitäten, ein fliegendes U-Boot, verlassene Stollen, die „Quelle der Magie“. Und natürlich bleibt der Schluss mehr oder weniger offen und lässt den Leser mit Vorfreude auf den dritten Band zurück.
Es ist ein spannendes, flott und flüssig (kindgerecht, aber nie seicht oder langweilig) geschriebenes Buch voller toller Illustrationen von Timo Grubing, Magie und Fantasie. Man merkt bei jeder Zeile den Spaß, den der Autor selbst damit hat. Ein paar Fehler seien ihm daher verziehen, vermutlich war er so im Schreibfluss, dass sie ihm nicht aufgefallen sind. Es ist zwar als Kinderbuch deklariert, aber empfehlenswert ist es für alle, die Spaß an fantastischen Geschichten haben, egal, wie alt sie sind, schließlich ist Alter nur eine Zahl, denn vermutlich kann sich kaum einer dem sehr speziellen Charme von Rani (vor allem in dessen „Buch der Heldentaten“) entziehen, wobei auch die anderen Charaktere in ihren Eigenheiten und ihrem Wesen sehr gut beschrieben und ausgearbeitet sind.
In freudiger Erwartung auf den dritten Teil vergebe ich 5 Sterne und empfehle das Buch gerne weiter.

Bewertung vom 18.02.2021
Schublade auf, Schublade zu
Förster, Jens

Schublade auf, Schublade zu


ausgezeichnet

„Wie gelingt der Blick hinter unsere Vorurteile?“, was sind Vorurteile überhaupt und wie entstehen sie? – das sind nur ein paar der Themen, die Dr. Jens Förster in seinem Buch „Schublade auf, Schublade zu. Die verheerende Macht der Vorurteile“, erörtert. Herausgekommen ist bei dieser Mammut-Aufgabe ein Buch, das den Spagat zwischen Unterhaltung und Sachbuch hervorragend meistert.
Als roter Faden durch das Buch ziehen sich Gespräche mit einer Außerirdischen, die er WRX nennt, ihr erklärt er das schwierige Thema fast kindgerecht, fundiert und anschaulich, manchmal sogar lustig. So kann eigentlich jeder Begrifflichkeiten wie Vorurteile, Diskriminierung und Stereotype verstehen. Zwar hatte ich manchmal angesichts der Komplexität des Themas das Gefühl, der Autor verzettele sich etwas, aber dank WRX schafft er es immer wieder, zurück zum Thema zu finden.
Er streift Grundlagen der Sozialpsychologie, schreibt über Schubladendenken und Fettnäpfchen, Gruppen und Blasen, die Rolle von Comedians beim Gebrauch von Stereotypen, klassischen und modernen Rassismus, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und Frauenquoten in der Berufswelt, und natürlich darf auch Homo- und Transphobie nicht fehlen. Und er erklärt immer wieder, wie es dazu kommen kann, dass diese Denkweisen entstehen und wieso sie sich so hartnäckig am Leben halten.
„Wir alle teilen Vorurteile, schützen kann sich davor niemand“ – mit dieser Aussage hat Förster sicher Recht. Leider. Denn vermutlich hat jeder, wenn auch unbewusst, gewisse Vorurteile. Und ein Buch wie dieses kann sicherlich aufrütteln und dabei helfen, das eigene Denken und Handeln zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern. Heute, in Zeiten von Corona, #blacklivesmatter und dem widerkehrenden Faschismus in allen möglichen Ländern weltweit, ist ein Umdenken und eine Abkehr von reinem „schwarz-weiß-Denken“ wichtiger denn je. Denn, so wie wir nicht in Schubladen gesteckt werden möchten, sollten wir auch keine anderen in ebensolche packen, denn aus diesen wieder herauszukommen ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich..
Stilistisch fand ich das Buch unterhaltsam und dennoch lehrreich und informativ geschrieben, oft ernst und sachlich, sehr oft aber auch launig und mit Augenzwinkern. Vieles vom Inhalt kannte ich schon, einiges war mir aber in dieser Form nicht bewusst. Die vielen anschaulichen Beispiele, die der Autor zu jedem Thema anführt, machen das Buch sehr lebendig und es ist niemals trocken zu lesen, auch beschreibt er meistens eher, als dass er den mahnenden Zeigefinger erhebt. Ob bei Quoten in der Wirtschaft oder der Homophobie der Kirchen – er ist immer nur aufklärend, nie belehrend oder gar verurteilend.
WRX hat am Schluss des Buchs viel dazu gelernt und ich auch. Eine ganz klare Lese-Empfehlung und von mir 5 Sterne.
P. S. Eines ist mir allerdings bei der Lektüre aufgefallen, zum einen schreibt er „Antidiskriminierungsverbote sind damit keine willkürlichen Spinnereien irgendwelcher Gutmenschen“ – das ist vermutlich ein Fehler, warum sollte ANTIdiskriminierung denn verboten werden?

Bewertung vom 18.02.2021
Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3
Ditlevsen, Tove

Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3


ausgezeichnet

„Abhängigkeit” ist der deutsche Titel des dritten und letzten Teils von Tove Ditlevsens autobiografischer „Kopenhagen-Trilogie“. Im Original hieß das Buch „Gift“, also „verheiratet“ – beide Titel passen exakt zum Inhalt des Buchs. Denn es dreht sich um Toves Ehen und ihre Abhängigkeit, sowohl die Abhängigkeit von Männern, als auch von Drogen. Insgesamt war sie viermal verheiratet. Dieses Buch ist in zwei Teile gegliedert, der erste umfasst ihre ersten beiden Ehen, der zweite ihre Sucht und ihr Verhältnis mit und zu ihrem dritten Mann.
Tove wähnte sich am Ziel ihrer Träume, als der 30 Jahre ältere Verleger Viggo F. Møller sie heiratet. Aber die Ehe ist für sie mehr ein Gefängnis, denn ihr Mann ist geizig und ihr gegenüber eher gleichgültig. Sie ist oft froh, wenn er die gemeinsame Wohnung verlässt und sie flüchtet sich schnell in die Arme von Piet, einem Mitglied ihres Schreibzirkels „Klub der jungen Künstler“, dem sie vorsteht. („Dann ist »Der Club der jungen Künstler« Realität geworden, und das Leben hat wieder an Farbe und Fülle gewonnen.“). Piet hilft ihr, sich aus der unglücklichen Ehe zu befreien und nach zwei Jahren lässt Tove sich scheiden.
Ihre Tochter Helle bekommt Tove dann aber nicht mit Piet, sondern mit dem gleichaltrigen Studenten Ebbe Munk, doch auch die beiden lassen sich nach kurzer Zeit wieder scheiden. Und auch ihre dritte Ehe, mit dem Arzt Carl T. Ryberg, ist nicht glücklich und kostet sie beinahe das Leben, denn durch ihn kommt sie erstmals an Drogen. Den Grundstein für ihre Drogensucht legte Ryberg schon kurz nach ihrem Kennenlernen, als er beginnt, ihr nach ihrem zweiten Schwangerschaftsabbruch regelmäßig Pethidin zu spritzen. (»Wenn ich wiederkomme«, sage ich langsam, »bekomme ich dann noch so eine Spritze?« Er lacht laut und reibt sich das vorstehende Kinn. »Tja«, sagt er, »wenn es dir so gut gefallen hat? Du hast ja nun wirklich nicht das Zeug zur Drogensüchtigen.«) Tove heiratet ihn und bekommt ein Kind von ihm, um ihn an sich zu binden. So hat sie jederzeit Zugang zu den Drogen, nach denen sie inzwischen süchtig ist (»Jederzeit«, sagte ich, weil ich dachte, wenn ich erst mit ihm verheiratet wäre, würde ich ihn viel leichter dazu bringen, mir meine Spritzen zu geben. »Könntest du dir vorstellen, noch ein Kind zu bekommen?«, fragte er, als er mich die Treppe hinunterbegleitete. »Ja«, antwortete ich umgehend, denn durch ein Kind würde ich mich enger an ihn binden…“) Ihre Gedanken kreisen nur noch um Pethidin und Methadon (für das sie Rezepte fälscht), Schreiben ist ihr zum ersten Mal im Leben völlig gleichgültig („Ich hatte gerade meinen Erzählband abgegeben und überhaupt keine Lust zum Schreiben. Ständig dachte ich nur daran, wie ich Carl dazu bewegen könnte, mir wieder Pethidin zu geben.“) und auch ihre Kinder interessieren sie zeitweise überhaupt nicht mehr („Als ich wieder allein in meinem Bett lag, fiel mir auf, wie lange ich meine Kinder schon nicht mehr gesehen hatte.“)
Es ist ein bedrückendes Buch über eine Frau, die ihrem Glück hinterherjagt, es scheinbar findet und kurz vor dem Ziel in der Drogensucht endet. Tove Ditlevsen schildert ihre Sucht und auch die illegalen und zweifelhaften Methoden, an ihre Drogen zu kommen ebenso schonungslos wie die Tatsache, dass sie ihre Kinder vernachlässigt. Man möchte sie bei der Lektüre abwechselnd schütteln und in den Arm nehmen, mit ihr schimpfen und sie trösten und fühlt sich manchmal ebenso hin- und hergerissen, wie sie selbst. Als sie zum Ende des Buchs Victor trifft, hatte ich Tränen in den Augen. Einerseits, weil ich ihr von Herzen gewünscht hätte, dass sie endlich glücklich wird und ihre Erfüllung findet – aber da ich ihre Biografie kenne, wusste ich es schon beim Lesen besser. Ein ehrliches Buch, wie auch die beiden anderen Teile ihrer Kopenhagen-Trilogie und von mir eine ganz klare Lese-Empfehlung für alle drei. 5 Sterne.

Bewertung vom 15.02.2021
Jugend / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.2
Ditlevsen, Tove

Jugend / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

„Jugend” ist der zweite Teil der „Kopenhagen Trilogie“ von Tove Ditlevsen. Ursprünglich waren die ersten beiden Teile „Kindheit“ und „Jugend“ 1969 in dem Band „Den tidlig forår“ veröffentlich worden, auf Deutsch erscheint die Trilogie über 40 Jahre nach Tove Ditlevsens Tod zum ersten Mal. Das Buch schließt nahtlos an den ersten Band an, die Autorin beschreibt die Zeit nach ihrer Konfirmation, also ab dem Alter von etwa 14 Jahren.
Tove versucht, sich mehr und mehr von der Familie zu emanzipieren, die sie zwar nicht unterstützt, gerne aber ihr Kostgeld zum Lebensunterhalt annimmt. („Wir sind nur deinetwegen umgezogen“, klagt meine Mutter verbittert, „damit du dein eigenes Zimmer zum Dichten bekommst. Aber das kümmert dich nicht. Und jetzt ist dein Vater wieder arbeitslos. Wir können nicht auf deinen Beitrag zur Miete verzichten.“) Ihr Bruder Edvin hat die elterliche Wohnung bereits verlassen, später heiratet er sogar heimlich. Und auch Tove träumt von einem eigenständigen Leben und von einem Leben als Schriftstellerin.
Aber erst einmal muss sie eine Arbeit finden, die ihr ein Auskommen ermöglicht, denn dass sie Dichterin werden könnte, ist vor allem für den Vater undenkbar. Und so landet sie erst als Haushälterin in einer Familie, dort hält sie es genau einen Tag aus. Nach einer Episode als Hilfskraft in einem Hotel bekommt sie verschiedene Anstellungen als Schreib- und Bürokraft, nebenher dichtet sie ab und zu für Kollegen Lieder. Und sie zieht aus der elterlichen Wohnung aus und bezieht ein möbliertes Zimmer in Østerbro, aus dem unangepassten Mädchen aus „Kindheit“ wird eine ebenso unangepasste junge Frau. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Arbeit, wenig Freizeitvergnügen (viel ist nicht möglich, da sie kaum Geld hat, aber auch weil der 2. Weltkrieg vor der Tür steht) und dem Schreiben.
Sie trifft den 30 Jahre älteren Verleger Viggo Fr. Møller, der in seiner Zeitschrift „Wilder Weizen“ (Vild Hvede) ihr erstes Gedicht veröffentlicht und sie 1939 bei der Veröffentlichung ihrer ersten Gedichtsammlung „Mädchenseele“ (Pigesind) unterstützt. („Könnten Sie sich vorstellen“, fragt Viggo F. Møller, „einen Gedichtband zu veröffentlichen?“ Er sagt das, als wäre es nichts Außergewöhnliches. Er sagt es, als wäre es etwas ganz Alltägliches für mich, Gedichtbände zu veröffentlichen; als wäre es nicht, solange ich denken kann, mein heißester Wunsch. Und ich antworte mit einer dünnen, alltäglichen Stimme, das könne ich mir durchaus vorstellen, ich hätte nur noch nie darüber nachgedacht.)
Wer Tove Ditlevsens Biografie kennt, weiß, dass sie ihn heiraten wird (über ihre Ehen schreibt sie in „Abhängigkeit“, dem dritten Teil der Trilogie). Tove Ditlevsen schreibt, wie man es von ihr gewohnt ist: schonungslos deskriptiv und dennoch bildhaft und poetisch. Ihr Hunger ist spürbar: aufs Schreiben, Liebe und vor allem aufs Leben. Es ist ein Coming-of Age Roman, der Bericht über eine, die es geschafft hat: raus aus der armen Arbeiterfamilie, rein in die „feinere Gesellschaft“ („Ich habe viele Berühmtheiten getroffen. Ich habe sie gesehen, mit ihnen gesprochen, neben ihnen gesessen, mit ihnen getanzt. Sowie ich den Saal betreten hatte, bewegte ich mich in einer ganz anderen Sphäre als gewöhnlich.“) Dazu zeichnet sie ein kritisches Bild der dänischen Gesellschaft vor dem 2. Weltkrieg, denn auch in Dänemark gab es überzeugte Nazis. Das Buch thematisiert darüber hinaus Emanzipation und den Wunsch nach einem anderen Leben. Toves Wunsch geht scheinbar in Erfüllung (wer ihre Biografie kennt, der weiß, dass es nicht wirklich so ist).
Ein trotz der in der Hauptsache düsteren Grundstimmung eher positiver und schonungslos realistischer Roman – von mir eine klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

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