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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 02.12.2020
Faserland
Kracht, Christian

Faserland


schlecht

Pop-Trash

Der 1995 erschienene Debütroman «Faserland» des Schweizer Schriftstellers Christian Kracht hat damals nicht nur ein kontroverses mediales Echo ausgelöst, er hat auch eine ausufernde Debatte um seine Interpretation angestoßen. Vordergründig eine Roadnovel, im Kern allerdings ein kultur-pessimistisches Werk der Pop-Literatur. Auch wenn sein Autor diesen Begriff für sein Buch ablehnt, wurde es euphorisch als vermeintliches Gründungs-Phänomen einer sich abzeichnenden Renaissance genau dieser Literaturgattung bezeichnet.

Die zentrale Thematik der Selbstzerstörung in diesem Roman lässt verschiedene Interpretationen zu, man kann sie als pathologisch deuten oder aber als zynisch entlarvend. Der namenlose Ich-Erzähler ist ein etwa dreißigjähriger, ebenso arroganter wie dümmlicher Schnösel mit scheinbar unerschöpflichen Geldmitteln, der von einer Party in die nächste taumelt. Er verkörpert eine Sonderform des nichtsnutzigen Flaneurs, dessen Dasein von Sex, Drugs and Rock `n` Roll geprägt ist. Seine Reise von Sylt nach Zürich ist ziellos und von spontanen Launen bestimmt. Bekannte und Freunde, die er dabei trifft, sind ebenso skurrile Figuren wie er selbst. Es vergeht kein Tag ohne Alkohol- und Drogenexzesse, und wenn er nicht selber kotzt, dann kotzt einer seiner Freunde, das Kotzen gehört nun einfach mal dazu in diesem Roman.

Die Rolle des Protagonisten beschränkt sich auf das Zuschauen, er wird hineingezogen in das obskure Geschehen, ohne je dessen Initiator zu sein. Eine erzählwürdige Handlung existiert nicht wirklich in diesem langweiligen Zeitgeist-Roman. Das Wenige, das geschieht, wird in einer einfältigen, fast kindlichen Sprache geschildert und hat in seiner Absurdität Ähnlichkeit mit der spätrömischen Dekadenz. Wie die antike Oberschicht, die sich auf ihren Fressgelagen per Gänsefeder zum Kotzen gebracht hat, um danach munter weiter völlern zu können, so dröhnt sich hier der Antiheld aus dem gleichem Grund mit Alkohol voll. Er verkörpert quasi eine Art ‹Lustkotzer›, dem genau das Spaß zu machen scheint, er legt es jedenfalls bewusst darauf an. Die Freundschaften, die er pflegt, sind brüchig, mit Mädchen kann er scheinbar gar nichts anfangen, er weicht ihnen aus, den Sex haben immer die anderen, wenn sie nicht zu besoffen dafür sind. «Faserland» ist zudem das Fanal eines Konsum-Fetischismus, bei dem besonders Kleidung im Vordergrund steht als ästhetische Trivialität. Unzählige Produkt- und Markennamen wie auch angesagte Bars, Hotels und andere Locations ‹bereichern› den Erzählfluss des jugendlichen Müßiggängers. Dieser Markenwahn ist ein beredter Hinweis auf die sich Anfang der 90er Jahre bereits abzeichnende Entwicklung Deutschlands hin zu einer wohlstands-verwahrlosten Spaßgesellschaft. Während all dieser geschilderten Nichtigkeiten sinniert der Protagonist immer wieder über banale Kindheits-Erlebnisse und äußert zu allem und jedem seine naiv-dümmliche Meinung fernab jedweder intellektueller Reflektion.

Als Leiden an einer zur Kommunikation unfähigen Welt versinkt der Antiheld in einem bedrohlichen Sinnvakuum. Die aus seiner Identitätskrise resultierende Verzweiflung kann er nur unzureichend durch sein betont lässiges Verhalten kaschieren. Schließlich eskaliert seine lethargische Teilnahmslosigkeit am Zürichsee in einem Strudel von Selbstmitleid, das in keiner Weise gerechtfertigt ist. Vom teuersten Hotel der Stadt, in dem er Logis genommen hat, lässt er sich im Taxi nach Kilchberg zum Friedhof fahren. Dort befindet sich bekanntlich das Grab von Thomas Mann, das er aus einer Laune heraus besuchen will. In der Dämmerung findet er es aber nicht und geht zu Fuß zurück an den See. Für zweihundert Franken bringt er dort jemanden dazu, ihn im Dunkeln mit dem Ruderboot auf die andere Seite des Sees zu rudern. «Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.» heißt es weihevoll am Schluss. Diesem Kultbuch soll nächstes Jahr eine Fortsetzung unter dem Titel «Eurotrash» folgen, allen Kracht-Fans sei es gegönnt!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.12.2020
Fabian
Kästner, Erich

Fabian


sehr gut

Symbiose von Moral und Wortwitz

Im vielseitigen Œuvre von Erich Kästner nimmt der Roman «Fabian» eine Sonderrolle ein, die schon durch den Untertitel «Roman eines Moralisten» verdeutlicht wird. Das 1931 erschienene, gesellschaftskritische Werk ist neben den überaus erfolgreichen Kinderbüchern des Autors sein bekanntester Roman mit intellektuellem Anspruch. Ein elegischer Großstadtroman, der literarisch der Neuen Sachlichkeit zugerechnet wird und sich auf Erfahrungen seines Verfassers stützt. Von den Nationalsozialisten als Asphaltliterat diffamiert, war er zwei Jahre später der einzige Schriftsteller, der auf dem Münchner Odeonsplatz bei der Verbrennung seiner Bücher persönlich zugegen war.

Dr. phil. Jakob Fabian ist ein Germanist, der mangels anspruchsvollerer Stellen notgedrungen als schlechtbezahlter Werbetexter arbeitet. Der aus Dresden stammende, lethargische 32Jährige wird in der Metropole Berlin mit einem wilden Nachtleben konfrontiert, dem er als skeptisch distanzierter Beobachter ironisch gegenübersteht. Sein alter Freund und Studienkollege Labude nimmt ihn mit in das Atelier einer lesbischen Künstlerin, wo er mit der Juristin Dr. Cornelia Battenberg eine junge Frau kennenlernt, die sich ebenfalls mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Die Beiden finden schnell zueinander, und in dem resignativen Fabian erwacht neuer Lebensmut, er will sich endlich ernsthaft um bessere Arbeit bemühen. Am nächsten Tag erzählt ihm Cornelia, dass sie zu einem Casting als Filmschauspielerin eingeladen ist. Sie wird auch tatsächlich angenommen, der Weg zur Filmkarriere führt aber über die Besetzungscouch, - Harvey Weinstein ist fürwahr kein Einzelfall. Der Karriere zuliebe ist sie jedoch wild entschlossen, dieses Angebot keineswegs auszuschlagen. Gleichzeitig verliert Fabian auch noch seinen Job. Bitter enttäuscht stürzt er sich in kurze Affären, moralische Bedenken beim One-Night-Stand haben die Frauen alle nicht, glaubt man dem Macho Erich Kästner. Anders als Fabians idealistischer Freund Labude, der die Hoffnung auf ethische Besserung der Menschheit nicht aufgibt, entwickelt er selbst sich in Folge immer mehr zum zynischen Realisten.

Der Optimist, so hat es Schopenhauer postuliert, habe mehr Unglück zu ertragen als der Pessimist. Gegen Ende der Geschichte wird diese These durch das Schicksal seines Freundes Labude auf grausame Art bestätigt, und inwieweit emotionales Handeln verhängnisvoll sein kann, erfahren wir dann im letzten Satz des Romans. Des Autors Glaube an die ethischen Prinzipien wird bei den Streifzügen des Flaneurs Fabian durch den Großstadt-Dschungel Berlins eindrucksvoll widerlegt. Er beobachtet den moralischen Verfall mit deutlicher Ironie, eine Besserung zu erwarten wäre wirklich utopisch. Kurz vor dem endgültigen Niedergang der Weimarer Republik weist Kästners politische und soziale Kritik prophetisch auf eine schlimme Zukunft hin, die sich für ihn schon abzuzeichnen scheint. Er selbst hat von einem Zerrspiegel gesprochen, den er als Moralist der Gesellschaft mit seiner Geschichte vorhalten wolle. Kein Wunder, dass die Nationalsozialisten diesen zutiefst skeptischen Autor mit einem Veröffentlichungs-Verbot belegt und seine Bücher als entartet verbrannt haben.

Fabian ist als Figur eher passiver Beobachter als aktiv Handelnder, er verblüfft zudem ständig mit seiner Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Etwas zu ändern jedoch, dazu fehlt ihm Mut und Entschlossenheit. Das Geschehen wird in einer journalistisch knappen, präzisen Sprache geschildert, wobei sich die Handlung in weiten Teilen aus geschliffenen Dialogen heraus entwickelt, die auszugsweise eine veritable philosophische Zitatensammlung ergeben würden. Neben dem üppigem Wortwitz, der da allenthalben aufblitzt, ist es besonders die verblüffende Schlagfertigkeit, mit der hier munter parliert wird, ans Kabarett erinnernd. Ob Satire wie diese zu neuen Einsichten führen kann, die öffentliche Moral betreffend, darf bezweifelt werden, damals wie heute!

Bewertung vom 28.11.2020
Der Halbbart
Lewinsky, Charles

Der Halbbart


weniger gut

Ein Mythos wird entlarvt

Mit seinem historischen Roman «Der Halbbart» kratzt der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky am Gründungs-Mythos seines Vaterlandes. In Folge der siegreichen ‹Schlacht bei Morgarten› gegen die Österreicher am 15. November 1315 schlossen sich die Kantone Schwyz, Uri und Unterwalden zu einem Bündnis zusammen. Im Roman unterläuft der Autor geschickt die mystische Überhöhung dieses historischen Ereignisses, indem er sie von einem fantasiebegabten Jungen aus dem Dorf erzählen lässt. Dessen maßlose Übertreibungen aber werden von den einfältigen Dörflern geglaubt, ein Mythos wird geboren. Kein Wunder also, dass man dem Autor seine durch diesen narrativen Trick geschickt kaschierte, ironische Sichtweise heute als historische Nestbeschmutzung ankreidet.

Eusebius, ein dreizehnjähriger Bub aus einem armseligen Schwyzer Dorf, den alle nur Sebi nennen, ist zart besaitet und nicht für harte, bäuerliche Arbeiten zu gebrauchen. Als ‹Finöggel› verspottet man ihn, weil er eher mädchenhaft wirkt. Eines Tages, so heißt es, wird er wohl ins Kloster von Einsiedel gehen. Der vaterlos aufwachsende Bub freundet sich mit einem Fremden an, der plötzlich ins Dorf kommt, keiner weiß woher. Er hat auf einer Körperhälfte schwere Verbrennungen, so dass auch sein Bart nur auf einer Seite wächst, weshalb er von allen nur «Halbbart» genannt wird. Der weise, auch als Medicus Rat wissende Mann erzählt dem Sebi viel von den Schrecken draußen in der Welt, aus der er kommt, verschweigt aber aus gutem Grund sein Judentum. Mit Onkel Alessi, einem Haudegen durch und durch, dem im Kampf die halbe Gesichtshälfte verloren ging, erscheint ein Unruhestifter im Dorf. Von dem sich der Halbbart aber nicht anstecken lässt, er erweist sich als äußerst besonnen. Und erfindet ganz nebenbei eine neue Waffe, die als Hieb- und Stichwaffe gleichermaßen verwendbar ist.

Die wird von Sebi dann, aus Halbbart abgeleitet, als Hellebarde bezeichnet. Womit diese aus der Ich-Perspektive von Säbi erzählte, auf historischen Geschehnissen basierende Geschichte endgültig ins Reich der Fabeln abgleitet. «Eine Geschichte hört man immer gern, wenn die Nächte lang sind», heißt es im Roman. Und so wurden sie denn auch damals von übers Land ziehenden, professionellen Geschichten-Erzählern wie der Teufels-Annelie überall verbreitet. Nach getaner Arbeit waren die Dörfler abends nur allzu gerne bereit, den Moritaten zu lauschen und den Gerüchten zu glauben, die mit der Zeit, phantasievoll angereichert, inhaltlich eher Märchen als wahre Nachrichten waren. Auch Säbi zeigt ein großes erzählerisches Talent. Er erzählt begeistert eine blutrünstige Geschichte nach der anderen und träumt davon, später ebenfalls mal damit umherzureisen. In dieser uralten Kultur mündlicher Überlieferungen erweisen sich sogar Geschichten als Waffe, denn sie können einen guten oder schlechten Einfluss ausüben, je nachdem, wie sie erzählt werden. Man kann mit ihnen Wahrheiten verdrehen und Bedeutungen umkehren, heute spricht man von Fake-News und, dümmer noch, auch von alternativen Fakten.

Unwillkürlich wird man beim Lesen dieses viel zu breit ausgewalzten Entwicklungs-Romans aus dem Mittelalter an Umberto Ecos «Der Name der Rose» erinnert wird, - und maßlos enttäuscht. Im Wesentlichen wird im Opus magnum von Charles Lewinsky die durch Sprache ermöglichte Manipulation thematisiert. Nachdenklich werden hier auch religiöse Dogmen in Zweifel gezogen, ohne jedoch ins Moralisieren zu verfallen. Mittelalterlich authentisch aber geht es nicht zu bei alldem, die Figuren scheinen mit ihrer Psyche eher der Jetztzeit zu entstammen. Auch das brutale historische Geschehen wird manchmal einfach passend zurechtgebogen für den langweiligen Plot. Die mit vielen Schweizer Begriffen angereicherte, ebenso naive wie nüchterne Erzählsprache des dicken Buches wirkt mit der Zeit dann nur noch nervig. Sie versucht in gestelztem Tonfall mittelalterliche Unbedarftheit mit modernem Denken zu verschmelzen und scheitert da

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2020
Vater und Sohn unterwegs
Bru, Hedin

Vater und Sohn unterwegs


gut

Eine literarische Nische

Als Jahrhundertroman wird «Vater und Sohn unterwegs» des Schriftstellers Heðin Brú im Heimatland seines Autors angesehen, dem politisch zu Dänemark gehörendem Archipel Färöer im Nordatlantik. Als einer der ersten in Landessprache geschrieben, war der 1940 im Original erschienene Roman identitätsstiftend für die Inselbevölkerung. Erst 1962 wurde er ins Dänische übersetzt, erschien später unter verschiedenen Titeln in den beiden Deutschlands und wurde als erster überhaupt auch ins Englische übersetzt. Wohl hauptsächlich dem ZDF ist es zu verdanken, dass wir ihn nun in neuer Übersetzung direkt aus dem färöischen Original lesen können. Denn Sebastian Guggolz nutzte die 250.000 Euro Preisgeld aus einer Quizshow als willkommenes Startkapital für seinen zu gründenden, ambitionierten Verlag, der sich dann auf Wiederentdeckungen wie diese spezialisiert hat. Bereits sein Titel verrät das Thema des Romans, über das schon Sokrates sagte: «Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern und ärgern ihre Lehrer».

Im Roman haben Ketil, ein archaischen Traditionen verhafteter, siebzigjähriger Fischer, und sein pubertärer, noch zuhause lebender Sohn Kálvur, jüngstes seiner elf Kinder, ihre Probleme miteinander. «Es liegt eine Schule von Grindwalen im Seyrvásfjord» beginnt es gleich furios, die Wale haben sich dorthin verirrt und befinden sich nun in der Falle. Denn die herbeieilenden Fischer versperren ihnen mit ihren Booten den Rückweg ins offene Meer und schlachten sie brutal ab. Ketil und Kálvur helfen kräftig mit bei dieser traditionellen Jagd aller Dorfbewohner, deren gemeinsame Beute danach zu Versteigerung kommt. Der Alte bietet, übermütig und angetrunken nach dem dörflichen Freudenfest, viel zu viel für ein deutlich zu großes Stück Walfleisch. Wieder nüchtern geworden stellt er entsetzt fest, dass er die einige Monate später fällige Rechnung nicht wird zahlen können. Die in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Eheleute versuchen nun alles, um bis dahin das benötigte Geld doch noch irgendwie aufzutreiben. So plagt Ketil sich mit Treibholzsammeln, fährt mit seinem längst stillgelegten, uralten Ruderboot nach langer Zeit erstmals wieder zum Fischfang hinaus, spinnt Wolle, aus der seine Frau Pullover strickt und verkauft. Der eher verweichlichte Kálvur hilft ihm aber nur widerwillig, viel lieber schmust er mit der Nachbarstochter. Als er von seinem ältesten Bruder mit ihr im Bett erwischt wird und die Alten fürchterlich schimpfen, lacht der großer Bruder sie nur aus und erinnert sie daran, dass es doch schon immer so war mit den jungen Leuten.

Nichts aber fürchtet Ketil mehr als die Blamage vor den Dorfbewohnern, wenn er nicht zahlen kann. Seine Ehrbegriffe lassen das einfach nicht zu, er betet und hofft auf ein Wunder. Ganz anders seine Söhne, die bis auf Kálvur alle schon verheiratet sind, in festen Häusern wohnen und sich nicht scheuen, Schulden zu haben, sie wollen einfach nur gut leben. Der in den 1930er Jahren angesiedelte Roman spielt sich vor der Kulisse des technischen Umbruchs in die Neuzeit ab. Während Ketil in seinem vermoderten, kaum noch seetüchtigen Ruderboot hinausfährt, brausen die andern längst mit dem Motorboot an ihm vorbei, und wo er mühsam zu Fuß hinläuft, fahren andere bequem mit dem Auto hin.

Heðin Brú spiegelt den Umbruch zur Moderne im Konflikt seiner Protagonisten und gewährt einen ungeschönten Einblick in die längst vergangene Welt auf der kargen, sturmumtosten Schafsinsel im Nordatlantik. In seinem liebevoll erzählten Roman schildert er in einer einfach strukturierten, an Märchen erinnernden Sprache anschaulich das archaische, entbehrungsreiche Leben seiner robusten Figuren. Mit einem hilfreichen Glossar und einem sachkundigen Nachwort liefert das Buch viele nützliche Informationen, die man verständnisfördernd schon vorab lesen sollte. Eine erfreuliche Wiederentdeckung aus einer extrem kleinen literarischen Nische wartet da auf wissbegierige Leser.

Bewertung vom 24.11.2020
Grimms Wörter
Grass, Günter

Grimms Wörter


weniger gut

Ambivalentes Spätwerk

Es war nicht sein letztes Buch, wie er befürchtet hatte, es folgten noch zwei weitere, mit «Grimms Wörter» hat Günter Grass seinem belletristischen Œuvre noch eine ambivalente «Liebeserklärung» hinzugefügt. Der überbordenden Liebe zum geschriebenen Wort, die hier wortmächtig und sprachverliebt zum Ausdruck kommt, steht erneut eine seiner peinlichen Selbstdarstellungen gegenüber. Eine unverhüllte Eitelkeit, die dem Literatur-Nobelpreisträger und künstlerischem Multitalent wahrlich nicht zur Ehre gereicht. Lange galt er als führender Intellektueller Deutschlands, seine Stimme hatte Gewicht, er hat sich politisch eingemischt wie kein zweiter und oft den Nagel auf den Kopf getroffen. Dieser Roman über die Gebrüder Grimm wäre ohne die selbstverliebten autobiografischen Einschübe ein amüsanter und lehrreicher linguistischer Parforceritt für sprachlich Interessierte. Wäre!

Die Geschichte um das Jahrhundertwerk der begnadeten Philologen Jakob und Wilhelm Grimm beginnt mit dem Rauswurf der «Göttinger Sieben» aus der berühmten niedersächsischen Universität, Jakob wurde sogar des Landes verwiesen. Nachdem Berufungen an andere deutsche Universitäten ausgeblieben waren, bietet sich mit dem Auftrag für ein Deutsches Wörterbuch ein Jahr später endlich für beide die Chance, ihrer inzwischen entstandenen finanziellen Misere zu entrinnen. Von Buchstabe zu Buchstabe und Wort zu Wort hangelt sich Günter Grass durch die deutsche Sprache, deren Ursprüngen und linguistischen Varietäten die gelehrten Brüder mit höchstem wissenschaftlichem Anspruch nachspürten. Eine Mammutaufgabe, wie sich schon bald erweist, es vergehen sechzehn Jahre, bis 1854 der erste Band erscheinen kann. Aus der Feder der beiden Grimms stammen dann noch die Bände bis zum Buchstaben F, den Jakob erarbeitet hat, bevor der Tod auch seinem Fleiß ein Ende setzte. Der große Rest wurde von vielen anderen Wissenschaftlern erstellt, der 32te und letzte Band erschien dann erst 1961. Die Taschenbuch-Ausgabe des dtv von 1999 enthält 320.000 Stichwörter auf 34.824 Seiten.

Mit erkennbarer Lust breitet Günter Grass linguistische Varianten ausgesuchter Wörter und diverse, von den Grimms als Belege angeführte Zitate aus der Literatur vor dem Leser aus. Er ergänzt sie um heutige, neu hinzu gekommene Worte und weist auf die Dynamik hin, der Sprache permanent unterworfen ist. Seine erkennbare Freude an barocken, altertümelnden Sprachformen findet sich auch in anderen Werken von ihm, «Das Treffen in Teltge» nennt er selbst als Beispiel. Aber er weist auch völlig unnötig auf viele andere seiner Werke hin, obwohl er solch plumpe Eigenwerbung als weitaus erfolgreichster deutscher Schriftsteller gar nicht mehr nötig hatte. Noch peinlicher aber sind die vielen einfließenden Reden, Begegnungen, politischen Aktivitäten und verbalen Scharmützel mit der Springer-Presse, durch die er sich in diesem Buch selbst inszeniert. So sehr man seinen Ansichten zu politischen und sozialen Problemen auch heute noch nur zustimmen kann, so sehr sind sie in diesem Roman fehl am Platze, es fehlt nämlich jedweder Zusammenhang mit dem Grimm-Thema. Und anders als bei den Gebrüdern hat seine Aufmüpfigkeit auch nie gravierende Folgen für ihn gehabt, sie hat ihn im Gegenteil auflagesteigernd nur bekannter gemacht.

Größte Stärke des Buches ist sicherlich der virtuose Umgang mit Sprache, hinzu kommt der interessante Einblick in die Entstehungsgeschichte des kolossalen Grimmschen Werkes. Aber auch der historische Kontext mit den vielen prominenten Zeitgenossen jener Epoche, über die da munter fabuliert wird, ist bereichernd. Es gelingt Grass aber nicht, kurzweilig zu plaudern, wie das der von ihm zitierte und bewunderte Theodor Fontane so perfekt konnte, insoweit hat der Roman auch wenig Unterhaltungswert aufzuweisen. Das posthume Herbeizitieren der Grimms zu fiktiven Gesprächen im Berliner Tiergarten, zur gemeinsamen Bootsfahrt gar am Ende, wirkt zudem eher deplatziert als mystisch bereichernd.

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Bewertung vom 20.11.2020
Utopia
Morus, Thomas

Utopia


ausgezeichnet

Triumph der Vernunft

Das unter dem Namen «Utopia» publizierte Buch von Thomas Morus weist bereits im Titel auf seinen satirischen Charakter hin, ein im Englischen homophones Sprachspiel um die griechischen Begriffe Outopia und Eutopia, deutsch ‹Nichtort› und ‹Glücksort›. Das im Original auf Latein verfasste Werk wurde auf Betreiben seines Freundes Erasmus von Rotterdam erstmals 1516 in den Niederlanden herausgegeben. Morus hatte bei ihm während einer diplomatischen Mission mehrere Wochen als Gast gewohnt und bei dieser Gelegenheit den entscheidenden Teil dieses Werkes geschrieben, das den thematisch zentralen Reisebericht umfasst, hin zu jener unbekannten, wundersamen Insel.

Mit dem später entstandenen ersten Teil fügte der Autor trickreich eine Rahmengeschichte hinzu, in der er in persona als Gesprächspartner eines Seefahrers namens Hythlodeus auftritt. Der erzählt von seinen weiten Reisen und schwärmt insbesondere von der unbekannten Insel Utopia, die südlich des Äquators liege. Morus nimmt dabei, aus gutem Grund, nur die Rolle eines kritischen Gesprächspartners ein, der aus reiner Höflichkeit dem euphorischen Lobgesang nicht widerspricht. Die staatskritische Thematik seines Buches nämlich war sehr gefährlich, er musste deswegen offenbar literarisch deutliche Merkmale einbauen, um das Fiktionale des Ganzen zu betonen. Denn wie sich später zeigte, wurde er als Lordkanzler unter Heinrich VIII wegen Aufmüpfigkeit ja kurzerhand zum Tode verurteilt, - Rübe ab, schon war er Märtyrer, so schnell ging das! Seine vorsorglich manifestierte, ironische Distanz drückt sich bereits im Namen des Seemannes aus, der übersetzt ‹Possenreiter› bedeutet. Andererseits ist Thomas Morus aber auch neugierig und bedeutet Hythlodeus, ihm die gesamte Geschichte von seinem fünfjährigen Aufenthalt in Utopia zu erzählen. Mit seinem ausführlichen Bericht, der den zweiten Teil dieses satirischen Romans bildet, kommt der ‹Possenreiter› diesem Wunsch erkennbar gerne nach.

Geschildert wird ein idealtypisches Staatsgebilde, das man als basisdemokratisch organisierten Kommunismus freier Bürger bezeichnen könnte. Der ganz ohne Geld auskommt, in dem alles allen gehört und jeder gerechterweise das zugeteilt bekommt, was er benötigt. Es gibt also kein Eigentum, aber auch keine Privilegien, alle herausgehobenen Ämter werden, nach einem Rotationsprinzip ständig wechselnd, nur auf Zeit verliehen. Alle arbeiten als Bauern oder Handwerker sechs Stunden am Tag, werden gemeinsam verpflegt und tragen einheitlich eine zweckmäßige Kleidung aus eigener Produktion. Da das viele Gold, das sie besitzen, als Material für sie keinerlei praktischen Nutzen hat, fertigen sie ihr Nachtgeschirr daraus. Es gibt noch viele weitere derart wunderliche Verhaltensweisen und soziale Regeln, dass seit Erscheinen des Buches immer wieder allerlei Deutungen und philosophische Dispute heraufbeschworen wurden über die faszinierende Ideenwelt von Utopia. Unwillkürlich stößt man beim Lesen dieses inzwischen fünfhundert Jahre alten Textes häufig auf Gedanken, die eigentlich naheliegend sind und viele Probleme mit einem Schlage lösen könnten, auch die unserer heutigen Welt. Wenn dem nicht jener aus dem Selbsterhaltungstrieb resultierende Eigennutz unausrottbar im Wege stände. Genau das hatte auch Karl Marx nicht berücksichtigt. Das Glück der Utopier nämlich liegt im Ideellen, nicht im Materiellen. Sie nutzen die reichlich vorhandene Zeit, um den Geist zu bereichern, für alles andere ist ja bestens gesorgt, alle sind gleichermaßen zufrieden mit dem, was sie haben.

Die liebevoll editierte Menasse-Ausgabe von 2004 lässt sich in der Übersetzung von Jacques Laager trotz der anspruchsvollen Thematik sehr flüssig lesen. Dabei hilft zum Verständnis der umfangreiche, erschöpfend Auskunft gebende Anmerkungsapparat. Als zeitloser Klassiker kann man diesen Roman, wie ich es getan habe, auch wiederholt lesen, man wird immer wieder erneut bereichert von diesem utopischen Triumph der Vernunft.

Bewertung vom 18.11.2020
Dorfroman
Peters, Christoph

Dorfroman


gut

Märkische Behaglichkeit am Niederrhein

Im Titel «Dorfroman» hat Christoph Peters die Genrebezeichnung seines neuen Buches bereits benannt, Handlungsort ist nämlich ein kleines Dorf am Niederrhein, nähe Kalkar. Und mit dem Ort wird auch gleich die Thematik deutlich, es geht um den Schnellen Brüter, jenen neuen Kernreaktortyp, der in den 70er Jahren an diesem Standort gebaut wurde. Und wie an den anderen Brennpunkten im Kampf gegen die Atomlobby, so entsteht auch in der kleinen Ortschaft ein improvisiertes Lager streitbarer Atomkraftgegner, direkt gegenüber dem Bauplatz des Atommeilers, auf der anderen Rheinseite.

Der in Berlin lebende Ich-Erzähler besucht seine Eltern in Hülkendonck, dem Ort seiner Kindheit, beide sind schon lange im Ruhestand. Bereits bei der Anfahrt mit dem Auto werden beim Anblick vieler vertrauter Plätze manche Erinnerungen wieder in ihm wach. Vieles hat sich zwar verändert, seit er vor dreißig Jahren dieses Kaff verlassen hat, aber manches ist ihm immer noch wohl vertraut. In seinem ehemaligen Kinderzimmer stößt er dann auf all die Dinge, die dort noch immer für ihn aufbewahrt werden, und mit jedem einzelnen verbinden sich irgendwelche Geschichten aus seinem Leben damals. Sein Vater war Meister in einem Betrieb für Landmaschinen, ist in dem bäuerlich geprägten Dorf geboren und kennt fast jeden. Die Mutter stammte aus der Stadt, als Lehrerin aber ist sie hier schon bald ebenfalls eng verwurzelt. Der geplante Bau des Reaktors spaltet die Dorfgemeinschaft nun in zwei Lager. Der Vater des Ich-Erzählers gehört als Kirchenvorstand, anders als seine Kollegen dort, entschieden zu den Reaktor-Befürwortern. Durch ihren Beschluss, das der Kirche gehörende Baugelände nicht zu verkaufen, blockiert eine deutliche Mehrheit im Kirchenvorstand aber den Verkauf, die Auseinandersetzungen im Dorf eskalieren. Die meisten versprechen sich neue Arbeitsplätze, und die Kirchenoberen freuen sich schon auf das viele Geld, mit dem dann auch die uralte Kirche saniert werden könnte.

Der Roman schildert sehr anschaulich das behütete Leben des Helden, das familiäre Zusammenleben, die Nachbarn, Freunde und all die Bauern, die das Dorfleben prägen. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders mit ihrer spießigen Nierentisch-Romantik. Eine geistige Ödnis, zu der vor allem auch ein naiver Katholizismus beiträgt, von dem er sich aber in der Pubertät allmählich immer mehr abwendet. Entscheidend ist dabei Juliane, eine sechs Jahre ältere Aktivistin aus dem benachbarten Protestcamp, in die er sich als fast Sechzehnjähriger unsterblich verliebt hat und mit der er schließlich auch seine Initiation erlebt. Als Schmetterlings-Sammler mit dem schwärmerischen Berufswunsch ‹Tierschützer› á la Grzimek oder Sielmann entwickelt er sich unter Julianes Einfluss zum Atomkraftgegner. Seinem drögen Leben in dörflicher Idylle wird im Roman mit dem ‹Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll› der skurrilen Typen des Protestcamps ziemlich brutal ein alternativer Lebensentwurf gegenüber gestellt. Der Roman lebt vor allem von diesem extremen Spannungsfeld.

Mit seiner ruhigen Erzählweise erinnert der Autor ein wenig an Fontane, anschaulich schildert er das ländliche Milieu einer wohlversorgten Familie aus dem Mittelstand und die Sitten und Gebräuche am Niederrhein. Die Sprache ist der kindlichen Perspektive seines jugendlichen Helden stimmig angepasst, wobei vor allem dessen naive Naturliebe, die ja in krassem Widerspruch steht zum ökologischen Wahnsinn des Atomreaktors, in wunderbaren Naturbeschreibungen zum Ausdruck kommt. Nicht ganz verständlich ist, warum im Roman von Calcar geredet wird, obwohl die kleine Stadt seit 1936 offiziell Kalkar heißt. Und dass der Heranwachsende mit seiner promiskuitiven Geliebten sich selbst unverändert als Kind bezeichnet ist ebenfalls fragwürdig. Von den Figuren wirkt besonders der Vater als ein stimmig beschriebener, kantiger Charakter fontanescher Prägung überaus sympathisch, märkische Behaglichkeit also auch am Niederrhein!

Bewertung vom 16.11.2020
Die Dame mit der bemalten Hand
Wunnicke, Christine

Die Dame mit der bemalten Hand


weniger gut

Esoterischer Kosmos

Forschungsreisen sind in der Literatur ein beliebtes Thema, auch Christine Wunnicke greift es auf in ihrem neuen Roman «Die Dame mit der bemalten Hand». Anders als bei Christoph Ransmayr oder Daniel Kehlmann jedoch geht es bei ihr um kulturelle Werte, steht das west-östliche Missverstehen im Vordergrund der pittoresken Geschichte einer gescheiterten Expedition. Schon das Titelbild deutet mit dem Kometen auf die Astronomie hin. Und wie man im Buch dann erfährt, erkannten europäische Wissenschaftler im Sternbild der Kassiopeia deutlich das Abbild jener ‹Dame› aus der griechischen Mythologie, während östliche darin allenfalls deren ‹bemalte Hand› zu erkennen vermochten.

Auf Anregung eines skurrilen Göttinger Professors und finanziert durch den dänischen König bricht 1764 eine sechsköpfige Expedition in den Orient auf, vornehmlich um Überlieferungen der Bibel durch Funde vor Ort zu verifizieren, aber auch um möglichst viele unbekannte Details über Land und Leute in den besuchten Gebieten zu sammeln. Erzählt wird mit dem Fokus auf Carsten Niebuhr, einem dreißigjährigen Mathematiker aus Bremen, der für die Kartografie und Vermessungen zuständig ist. Als einziger Teilnehmer übersteht er die Strapazen der Reise und bringt allein die nicht sehr ergiebigen wissenschaftlichen Aufzeichnungen der Expedition zurück, - soweit die Fakten. Die darüber hinaus fiktional üppig angereicherte Geschichte lässt den Romanhelden weit über das Ziel Arabien hinausschießen, er landet in Indien und besichtigt die berühmte Flussinsel Elephanta bei Bombay. Die gehört übrigens heute mit ihren in den Fels gehauenen, hinduistischen Tempeln zum UNESCO-Weltkulturerbe. Dort also trifft Niebuhr auf den schon etwas älteren, persischstämmigen Astrolabien-Produzenten Musa aus Jaipur, der eigentlich auch ganz woanders sein wollte und auf dem Weg nach Mekka einen Abstecher hierher gemacht hat. Beide haben das Schiff verpasst, das sie zurückbringen sollte, und sitzen nun fest auf der Insel. Das kleine astronomische Messinstrument, das Musa baut, weckt Niebuhrs Interesse und verbindet beide trotz aller sprachlichen Hürden. Während sie auf ein Schiff warten, das sie irgendwann aus ihrer misslichen Lage befreit, führen sie äußerst anregende Gespräche.

In zwölf Kapiteln wird abwechselnd von den beiden Männern und von ihrem unfreiwilligen Aufenthalt erzählt. Die öde Bettlerinsel wird von einigen armseligen Gestalten in primitiven Hütten bewohnt, es gibt viele Ziegen dort und eine große Affenpopulation. In den wenigen Tagen, die sie dort gemeinsam verbringen, dreht sich ihr Gespräch zunächst um Astronomie. Wobei sie den sprachlichen Hürden durch ein wenig Arabisch und viel Intuition begegnen, um sich einigermaßen verständlich machen zu können. Sie erzählen sich auch gegenseitig von ihrem Leben und den Umständen, die sie hier hergeführt haben, wo sie gar nicht sein sollten. Besonders Musa weiß nach orientalischer Tradition blumig zu erzählen, so manche seiner vielen Geschichten dürfte allerdings seiner lebhaften Phantasie entsprungen sein. Er kümmert sich auch besorgt um Niebuhr, als der, von Fieberschüben geplagt, zeitweise ins Delirium sinkt.

Die Autorin nutzt das babylonisch anmutende, sprachliche Wirrwarr für allerlei eingestreute, linguistische Vergleiche, vor allem aber für das Hinterfragen scheinbarer Gewissheiten auf beiden Seiten. Nicht nur werden da wissenschaftliche Thesen diskutiert, auch kulturelle und religiöse Unterschiede führen zu allerlei von Missverständnissen befeuerten Disputen. All das wird in einer spielerisch anmutenden Weise erzählt, die lebhaft fabulierend vieles in der Schwebe hält und eine schillernde, pittoreske Welt erschafft. Der so entstandene esoterische Kosmos, geradezu das Markenzeichen von Christine Wunnicke, dürfte auch hier wieder nur bestimmte Leser ansprechen, andere hingegen, durch die Platzierung auf der diesjährigen Shortlist des Frankfurter Buchpreises neugierig geworden, aber ziemlich enttäuschen.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.11.2020
Annette, ein Heldinnenepos
Weber, Anne

Annette, ein Heldinnenepos


ausgezeichnet

Leserherz, was willst du mehr?

Mit «Annette, ein Heldinnenepos» setzt Anne Weber der französischen Rebellin Anne Beaumanoir schon zu Lebzeiten ein Denkmal. Die 1923 geborene Ärztin engagiert sich bis heute auf Vorträgen gegen Unheil stiftenden Nationalismus ebenso wie gegen rassistischen und religiösen Fanatismus. Bei einem solchen Vortrag hat die Autorin sie persönlich kennengelernt, ihre Gespräche mit der betagten Dame sowie deren jüngst auf Deutsch erschienene Autobiografie dienten ihr als Vorlage. Für ihr Engagement während der Judenverfolgungen im besetzten Frankreich erhielt die Widerstandskämpferin den von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verliehenen Ehrentitel «Gerechte unter den Völkern». Dieses Sujet nun wird narrativ in der nicht gerade alltäglichen Form eines Prosagedichtes umgesetzt, was aber, anders als befürchtet, den Lesefluss in keiner Weise stört. Vielmehr wird dadurch ganz subtil das Heldische ihrer Geschichte betont.

Schon als Jugendliche engagiert sich Annette in der kommunistischen Gruppe der Résistance und wird mit allerlei Botendiensten betraut. Bei einer von ihr allein durchgeführten, spontanen Aktion kann sie zwei Juden in letzter Sekunde vor den Nazis retten. Von ihrer Organisation aber wird sie gerügt, weil sie bei ihrem unkoordinierten Alleingang gegen die strengen Sicherheitsregeln für die Untergrundarbeit verstoßen hat. Nach dem Krieg studiert sie, heiratet einen Arzt, mit dem sie drei Kinder hat, und arbeitet als Professorin für Neurologie. Bis sie schließlich Mitte der fünfziger Jahre während des Algerienkriegs Partei ergreift für die von Ben Bella gegründete FLN und erneut in den Untergrund geht. Die hehren Werte der ‹Grande Nation›, liberté-egalité-fraternité, werden damals geradezu mit Füßen getreten, sie unterstützt deshalb ohne Rücksicht auf private und familiäre Interessen den Freiheitskampf. Mutmaßlich durch Verrat fliegt sie irgendwann auf, wird verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, kann aber vor Haftantritt nach Tunesien fliehen. Von dort aus ist sie wieder eingebunden in die Befreiungs-Bewegung und nimmt nach Ausrufung der nationalen Unabhängigkeit einen hohen Posten ein im Gesundheitswesen des neuen Staates Algerien. Bis 1965 schließlich durch einen Militärputsch Boumedienne die Macht übernimmt und Annette erneut fliehen muss. Da sie in Frankreich per Haftbefehl gesucht wird, geht sie in die Schweiz, wo sie in Genf bis ins Rentenalter als Leiterin einer neurophysiologischen Klinik arbeitet. Nach der lang erwarteten Amnestie siedelt sie sich schließlich in Dieulefit an, einem kleinen Ort im Südosten Frankreichs, wo sie heute noch lebt.

Annette ist rückblickend im Zweifel, ob sich ihr Einsatz, all ihre Entbehrungen denn wirklich gelohnt haben. Was ihr Engagement für die Résistance anbelangt hat sie keine Zweifel, was aber aus Algerien geworden ist nach der Befreiung, das sieht sie mit Sorge. Und es gibt dort politisch ja auch bis heute keinen Lichtblick, ‹Arabischer Frühling› hin oder her! Am Ende wird Camus zitiert, der die Sache weise zurechtrückt: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen».

«Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt», schreibt die Jury des Deutschen Buchpreises 2020 in ihrer Begründung zur Preisverleihung. Und in der Tat stellt die Sprache die größte Überraschung dar in diesem untypischen Epos so ganz ohne strahlende Heldin. Ohne Verklärung, aber auch ohne Ironie wird hier locker erzählt, wobei die Erzählerstimme sogar den Klappentext mit einbezieht und amüsante Abschweifungen einstreut: «Kaum ist der Indochinakrieg zu Ende und Frankreich (ohne Annettes Zutun) um eine Kolonie kleiner…» Durch historische Einblicke bereichert, durch eine spannende Geschichte gut unterhalten, durch eine virtuose Sprache höchst erfreut, stellt sich hier die literarische Urfrage: Leserherz, was willst du mehr?

Bewertung vom 11.11.2020
Malé
Ehrlich, Roman

Malé


schlecht

Wenn ihr so weitermacht

Das neue Buch von Roman Ehrlich mit dem Titel «Malé» erinnert daran, dass der Menschheit neben dem weltweiten Corona-Desaster auch noch die Klimakatastrophe bevorsteht, ein weitaus schlimmeres Menetekel, dessen Auswirkungen unser Leben gründlich umkrempeln wird. In seinem Albtraum-Roman greift der Autor einen unübersehbaren Aspekt der vom Menschen verursachten Erderwärmung auf, das Ansteigen der Meeresspiegel. Und dessen verheerende Auswirkungen legt er am Beispiel von Malé, der Hauptstadt der Malediven, seinem dystopischen Roman als Szenario zugrunde. Darin ist der einstige touristische Sehnsuchtsort, als Staat längst untergegangen, von der Bevölkerung verlassen und dem Verfall preisgegeben, zum Zufluchtsort von allerlei Aussteigern geworden.

Der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelte Roman handelt von Abenteurern, Utopisten, Weltverbesserern, Zivilisations-Flüchtlingen und auch von Verfolgten, die sich aus vielerlei Gründen dort verstecken, ein Whistleblower ist auch dabei. Dabei ist die Insel als nach außen abgeschlossener Raum ein bevorzugter Platz für Aussteiger und Realitäts-Flüchtige, die in den verfallenen Gebäuden ein alternatives Leben führen wollen. Einige von ihnen hätten, wie sie bekennen, gerne auch im Berlin der Nachwendezeit gelebt, wo bauliche Leerstände zeitweilig zur illegalen ‹Zwischennutzung› dienten. Er könne diesen Eskapismus gut verstehen, hat der Autor im Interview erklärt. Und hinzugefügt: «Die eigentliche Sehnsucht ist die Einschließung. Man will eingekapselt sein und alles an einem Ort haben, um dann Herr über diesen Ort sein zu können. Viele erhoffen sich das auch von der Insel – und je kleiner sie ist, desto besser».

Die Regierung ist durch einen Putsch von bewaffneten Milizen hinweggefegt worden, die «Eigentlichen» haben ihr Hauptquartier auf einem stillgelegten Kreuzfahrtschiff eingerichtet und sind in der Stadt fast nie zu sehen. In dem breit angelegten Figuren-Ensemble gibt es einen Vater, der auf der Insel nach seiner angeblich tot aufgefundenen Tochter sucht, eine bekannte Schauspielerin. Die hatte dort mit einem deutschen Lyriker eine Affäre. Inzwischen ist der Poet aber verschwunden und wird von einer amerikanischen Literatur-Wissenschaftlerin für ihre Forschungen dringend gesucht. Zum skurrilen Personal gehört ferner ein Professor, der als von allen respektierter Führer der Aussteigerclique gilt und in der Wohnung über der Bar «Blauer Heinrich» wohnt. Der Grill «Hühnersultan» dient als beliebter Treffpunkt der auf Malé Gestrandeten. Es gibt ferner eine athletische schwedische Schwimmerin, die nach einem Suizidversuch von ihrem platonischen Verehrer rundum bewacht wird. Sie träumt davon, aus dem am Strand reichlich angeschwemmten Plastikmüll die Basis für schwimmende Inseln zu schaffen, die künftig als Ersatz für die versunkenen Inseln des Archipels dienen sollen.

So lobenswert die Thematik des Romans ist, so zweifelhaft ist dessen narrative Umsetzung. Durch ständige Wiederholungen nerven die Beschreibungen des unsäglichen Chaos auf der Insel schon bald. Müll, Dreck, Ungeziefer, Leichen, Verwesung, Überflutung, und keine der vielen Matratzen in dem Buch ist nicht ‹versifft›. Auch die abenteuerlich benannten Figuren sind grotesk überzeichnet, ihre pathetisch vorgetragenen Lebensgeschichten sind es nicht minder. Halbe Seiten lange Passagen werden zudem wortwörtlich wiederholt, man reibt sich verwundert die Augen, weil man merkt, dass man genau das doch schon mal gelesen hat! Ein Plot ist nicht vorhanden, die Szenen sind fragmentarisch aneinandergereiht. Und alles bleibt vage, nichts wird zu Ende erzählt. Mit seiner eigenwilligen Erzählweise bleibt Roman Ehrlich immer kühl distanziert, man könnte hinter seiner apokalyptischen Szenerie sogar eine versteckte Ironie vermuten, frei nach dem Motto: ‹So könnte es euch gehen, wenn ihr so weitermacht›. Für Ironie aber gibt es keine Anzeichen, er meint es so, wie er es schreibt!

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