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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 03.09.2018
Königskinder
Capus, Alex

Königskinder


ausgezeichnet

Was kann eine Geschichte mit dem für heutige Zeit ungewöhnlichen Titel „Königskinder“ anderes sein als ein Märchen? Tatsächlich mutet dieser im August beim Hanser-Verlag erschienene und unbedingt lesenswerte Kurzroman des Schweizer Schriftstellers Alex Capus (57) wie eine der vielen Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“ an, wenn auch in moderner Erzählweise.
Im Roman ist es eine lange Winternacht, in der Max und Tina mit ihrem Auto im dichten Schneetreiben auf einem verschneiten Gebirgspass von der Straße gerutscht sind und nun auf den nächsten Morgen und die Schneefräse warten müssen. Um sich die Stunden, vielleicht aber auch die Angst vor Einsamkeit und Hilflosigkeit in bitterer Kälte zu vertreiben, erzählt Max seiner Tina eine berührende Liebesgeschichte, die 1779 im Greyzerland beginnt und während der Französischen Revolution am Versailler Hof des Königs Ludwig XVI. endet. Es ist die Geschichte des 22-jährigen Waisen und bettelarmen Hirtenjungen Jacob und seiner Liebsten, der 19-jährigen Marie-Françoise, Tochter des reichsten Bauern im Ort.
Wie schon in der klassischen Ballade „Es waren zwei Königskinder“ dürfen auch in dieser Geschichte die beiden Liebenden nicht zusammenkommen. Es sei eine wahre, historisch belegte Geschichte, versichert Max seiner Tina mehrmals, die bei allzu märchenhaften Szenen diese kritisch hinterfragt. „Entscheidend ist nicht, ob die Geschichte wahr ist. Wichtig ist, dass sie stimmt“, wehrt Max dann ab und erzählt weiter: Jacob verdingt sich für acht Jahre beim französischen Militär, später wird er von Prinzessin Elisabeth, der jüngeren Schwester Ludwigs XVI., in Versailles als Kuhhirte verpflichtet. Um ihm sein „Hemvé“ zu vertreiben, will die Prinzessin die sich liebenden „Königskinder“ nach Jahren der Trennung endlich vereinen: Sie lässt Marie aus der Schweiz holen, beide heiraten, bekommen eine Tochter und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Alex Capus verbindet beide Handlungsstränge, den heutigen und den historischen, so elegant, dass kaum Brüche zwischen den Jahrhunderten spürbar sind. Er nutzt die Nachfragen Tinas vielmehr, um historische Fakten zu erläutern. Capus lässt in warmherzigem, angenehm zu lesendem Sprachstil das Leben des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Schweiz und am Versailler Hof lebendig werden, wenn auch ohne Anspruch auf Korrektheit. Wichtiger scheinen dem Autor seine Figuren zu sein, deren Charaktere und Handeln er liebevoll und mitfühlend zeichnet.
Gewiss, „Königskinder“ mag modernen Lesern an manchen Stellen allzu märchenhaft erscheinen, wenn Jacob und Marie inmitten der Revolutionswirren auf ihrem Bauernhof wie auf einem paradiesischen Eiland glücklich sind. Aber ist es nicht Liebe und Zuneigung, die uns Menschen [und unserer Familie] in schwierigen und schweren Zeiten, während die Gesellschaft um uns herum sich aufzulösen beginnt, den nötigen Zusammenhalt und Trost gibt? „Königskinder“ ist ein Buch voller Liebe, das gerade in unserer so politisch unruhigen und unsicheren Zeit von vielen Menschen gelesen werden sollte als Anregung zum gegenseitigen Zuhören - wie Tina ihrem Max zuhört, auch wenn sie dabei kritisch bleibt. Das Ehepaar kabbelt sich nur bei Kleinigkeiten, schreibt Capus gleich zu Beginn seines beachtenswerten Kurzromans. „Aber in den großen Dingen des Lebens – den Dingen, auf die es wirklich ankam – waren sie sich schon immer einig gewesen.“

Bewertung vom 02.09.2018
In den Gassen von London / Arrowood Bd.1
Finlay, Mick

In den Gassen von London / Arrowood Bd.1


sehr gut

Historische Kriminalromane liegen im Trend. So überrascht es nicht, dass auch der schottische Autor Mick Finlay sein Krimidebüt „Arrowood – In den Gassen von London“, auf Deutsch im August beim Verlag Harper Collins als Taschenbuch erschienen, ins Jahr 1895 verlegt. Doch Finlay hat eine nette literarische Überraschung: Seine Hauptfigur, der Privatermittler William Arrowood ist gewissermaßen der „Antiheld“ einer Epoche, in der ganz London vom berühmten Meisterdetektiv Sherlock Holmes begeistert ist, jener von Arthur Canon Doyle geschaffenen Kunstfigur.
In Finlays Krimi erzählt uns Arrowoods Assistent Norman Barnett von den Ermittlungen seines Arbeitgebers. Deutliche Parallelen zu Holmes' Freund und Mitarbeiter Dr. Watson, der dessen Erfolge in der Zeitung rühmt, sind unverkennbar. Doch während Holmes von der Öffentlichkeit gefeiert wird und von der Polizei zu schwierigsten Kriminalfällen hinzugezogen wird, muss sich William Arrowood, ein arbeitslos gewordener Zeitungsreporter, mit eher zweitklassigen Fällen abmühen und für jene Auftraggeber arbeiten, die sich einen Holmes finanziell nicht leisten können.
Zu seinem großen Ärger ist Arrowood immer wieder gezwungen, sich mit Holmes vergleichen lassen zu müssen, spricht er diesem doch jegliche Genialität ab. Im Gegenteil: Er beschuldigt Holmes sogar, oberflächlich zu arbeiten und nur zufällig zu richtigen Ergebnissen zu kommen, während er, Arrowood, der doch die Theorien Darwins verinnerlicht hat, die Psyche aller am Fall Beteiligten durchleuchtet und Indizien sorgsam abwägt. Dies wisse niemand ausreichend zu würdigen, ist Arrowood betrübt.
Auch sein aktueller Fall scheint nicht geeignet zu sein, Arrowood berühmt zu machen, obwohl der anfangs noch einfach erscheinende Auftrag, einen vermissten jungen Franzosen zu finden, im weiteren Verlauf viele Geheimnisse birgt und die Zahl der Ermordeten wächst. Die Merkwürdigkeiten häufen sich und Arrowood entfernt sich immer mehr vom eigentlichen Auftrag, dass ihn sogar sein ergebener Assistent Barnett mahnt, darauf zurückzukommen. Doch es ist zu spät: Arrowood steckt mit seinen Ermittlungen längst in den Tiefen der Londoner Unterwelt, deren Verbindungen bis in höchste Regierungskreise reichen.
Mick Finlays schriftstellerisches Debüt ist eine unterhaltsame, locker geschriebene Lektüre in klassisch-britischem Stil, voller Zeitkolorit und Humor - mit interessanten Charakteren, die gerade wegen ihrer Makel so sympathisch sind. Auch sein William Arrowood ist nicht perfekt, also genau das Gegenstück zu Sherlock Holmes: Arrowood ist keine elegante Erscheinung, sondern recht korpulent, ist nicht wie sein in der Baker Street lebender Kollege wohlhabend, sondern bewohnt, in ärmlichen Verhältnissen in schlechter Wohngegend lebend, gemeinsam mit seiner Schwester Ettie einige Zimmer hinter einem Ladengeschäft.
Natürlich löst auch Finlays „Antiheld“ schließlich seinen stellenweise unübersichtlich wirkenden Fall durch Kombinationsgabe, wenn ihm auch gelegentlich zur eigenen Überraschung Zufall oder Schicksal zu Hilfe kommen. „Nobody is perfect“ gilt eben auch für William Arrowood und seinen Assistenten, der sich sogar manchmal verprügeln lassen muss. Aber genau dies macht sie beide uns Lesern so sympathisch. Wir dürfen uns wohl schon jetzt auf einen zweiten Band freuen, denn in Großbritannien erschien dieser bereits im Februar mit dem Titel „The murder pit“.

Bewertung vom 26.08.2018
Was bin ich? Wie bin ich? Wozu bin ich?
Rühle, Hermann

Was bin ich? Wie bin ich? Wozu bin ich?


sehr gut

"Wer bin ich – und wenn ja, wie viele“ betitelte vor gut zehn Jahren der Philosoph und Autor Richard David Precht seinen damaligen Bestseller. Genau dieser Frage, die Philosophen von jeher und uns Normalbürger spätestens seit der Aufklärung immer wieder beschäftigt, geht auch der Augsburger Psychologe und Führungskräfte-Coach Hermann Rühle (74) in seinem Buch „Was bin ich? Wie bin ich? Wozu bin ich?“ nach, das Mitte August bei dielus edition erschien, einem jungen Leipziger Verlag für Ratgeberliteratur. Nach der Lektüre dieses 240 Seiten starken Buches sollte eine Antwort auf die Frage gefunden sein: „Bin ich, wer ich bin?“
Man könne Menschen nicht durchschauen, erklärt der Autor gleich zu Beginn, aber beobachten und sich mit Hilfe theoretischen Wissens erklären, warum sich Menschen so und nicht anders verhalten. Rühle hat also seine Mitmenschen aus verschiedenen Blickwinkeln beim beruflichen wie privaten Rollenspiel und beim bunten Treiben auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten beobachtet. „Warum hauen Männer auf den Putz und machen sich zum Affen und Frauen eher nicht?“ fragt er in lockerem, flapsigem Ton beispielsweise, lässt allerdings auch das weibliche Geschlecht als „Trophäenfrau“ und „Boxenluder“ nicht ungeschoren davonkommen. Wenn geltungshungrige Hähne mit geschwollenem Kamm auf dem Misthaufen spazieren, schauen die Hennen genau hin, denn „ist der Hahnenkamm kräftig rot gefärbt, kann sie davon ausgehen, dass der dazugehörige Kerl gesund ist“. Mit dem einfachen Satz „Der Mensch ist aus dem Urwald, aber der Urwald nicht aus dem Menschen“ bringt Rühle unser menschliches Problem auf den Punkt. Er betrachtet uns Menschen als „nackte Affen“, wie es schon vor 50 Jahren der britische Verhaltensforscher Desmond Morris in seinem gleichnamigen Bestseller eindrucksvoll tat.
Doch Hermann Rühle macht es nicht auf eine belehrende, sondern auf so humorige, leicht und locker lesbare Art, dass sein populärwissenschaftliches Buch zu lesen ein Vergnügen ist. Man spürt, dass der Autor nicht nur fachkundiger Psychiater, sondern durch seine vorangegangene Tätigkeit als Industrie-Kaufmann und seinen jetzt schon langjährigen Beruf als Coach von Führungskräften aus Industrie und Wirtschaft ein Lebenspraktiker mit breit gefächertem Erfahrungssprektrum ist.
Rühle will uns deshalb mit seinem Sachbuch auch gar nicht belehren, sondern er verhilft uns schleichend und unmerklich zur Selbsterkenntnis. Fast scheint er sich für sein Buch entschuldigen zu wollen. „In Wahrheit schreibe ich vor allem für mich selbst“, zitiert er den Schriftsteller Haruki Murakami aus dessen Buch „Von Beruf Schriftsteller“ (2016) und gibt selbst schon in seinem Vorwort vor, sein Buch eher für sich selbst geschrieben zu haben. Sollten wir uns also bei unserer Lektüre hin- und wieder ertappt fühlen, scheint dies vom Autor gar nicht gewollt. Oder etwa doch? Spricht er uns doch in den Überschriften zu den neun Kapiteln direkt an und fragt uns abschließend: „Haben Sie Ihre Identität gefunden?“
Jedem Abschnitt folgen eine Liste mit den wichtigsten Kernfragen sowie einige freie Zeilen für eigene Notizen zum jeweiligen Thema. Rühles Buch ist also nicht nur eine interessante, zudem noch recht unterhaltsame Lektüre, sondern zugleich ein Instrument zur Selbsterkundung. Durch diese Selbsterkenntnis soll der Leser an Selbstsicherheit und Durchsetzungsvermögen gewinnen (verspricht zumindest der Klappentext). Ob dies am Ende gelingt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber auch unabhängig davon ist Rühles Buch gute Unterhaltung, bei der man - die Fähigkeit zur kritischen Selbsterkenntnis vorausgesetzt - gelegentlich sogar über sich selbst schmunzeln darf.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.08.2018
Der Stammhalter
Münninghoff, Alexander

Der Stammhalter


sehr gut

Eine solche Familiengeschichte kann sich ein Autor fiktiver Romane kaum ausdenken; das muss man einfach erlebt haben: Auf eine Zeitspanne von hundert Jahren oder drei Generationen blickt der niederländische, 1944 noch in Posen geborene Journalist und Autor Alexander Münninghoff (74) in seiner Autobiografie „Der Stammhalter“ zurück, deren holländisches Original (2015) zweifach prämiert wurde, in den Niederlanden gerade als zehnteilige TV-Serie verfilmt wird und im Juli beim C.H. Beck-Verlag in deutscher Übersetzung erschien. Es ist eine abenteuerliche Familiensaga über den teils historisch bedingten, größtenteils aber selbst verschuldeten Niedergang seiner einst wohlhabenden Industriellenfamilie.
Mitten im Ersten Weltkrieg baut sich Großvater Joannes Münninghoff als Niederländer im lettischen Riga ein mächtiges Industrie-Imperium, wozu vermutlich auch der Waffenhandel gehört, sowie ein weit verzweigtes Netzwerk in den deutsch-baltischen Adel auf. Mit Ehefrau Erica, einer russischen Gräfin, führt er in den Jahren zwischen den Kriegen ein entsprechend mondänes Leben auf eigenem Gutshof. Erst durch die sowjetische Okkupation verliert die Familie alles und muss in die Niederlande zurückkehren. Joan ist es in diesen Jahren nicht gelungen, seinen Erstgeborenen Frans zu einem echten Niederländer zu machen, um ihn zum Stammhalter seines in den Niederlanden neu geschaffenen Imperiums zu machen, das er sich dank seiner alten Verbindungen in höchste katholische und politische Gesellschaftskreise sowie nicht immer mit legalen Mitteln aufbauen konnte.
Denn Frans Münninghoff fühlt sich trotz niederländischer Staatsangehörigkeit als echter Deutscher, bedingt durch seine Jugend im deutsch-baltischen Adel. Er tritt als der Waffen-SS bei, kämpft an der Ostfront und heiratet gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters eine Deutsche. Da Frans demnach nicht zum Erben taugt, sieht Joan bald seinen Enkel Alexander als Stammhalter. Doch seine Mutter, inzwischen von Frans geschieden, flieht mit ihrem kleinen Sohn nach Deutschland zu ihrer Mutter. Allerdings lässt ihn sein Großvater in die Niederlande entführen, wo der „Stammhalter“ zunächst beim Vater Frans aufwächst.
Alexander Münninghoff beschreibt einerseits spannend, andererseits sachlich den Niedergang seiner Familie, die durch familiäre Verbindungen nach Dänemark, Russland und in den deutsch-baltischen Adels und nach Wohlstandsleben in Lettland nun in den wirren Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erfolglos versucht, in den Niederlanden neue Wurzeln zu schlagen. Aber gerade diese Wurzellosigkeit des Autors, der zudem fern der leiblichen Mutter und ungeliebt vom Vater von Kindesbeinen an auf sich allein gestellt ist, macht es ihm wohl möglich, mit erstaunlichem Abstand und völlig unaufgeregt, gelegentlich sogar mit humoristischem oder satirischem Unterton, den Lebensweg seiner beiden Vorfahren und ihres familiären Umfeldes wie fremde Personen in den geschichtlichen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Vieles ist von ihm selbst beobachtet, vieles aus Briefen angelesen, manches von Angehörigen zugetragen. Münninghoff lässt die Leser seiner Autobiographie nachempfinden, wie sich seine Familie spätestens nach dem Tod ihres Patriarchen, seines Großvaters, allmählich auflöst und die in einst besseren Zeiten noch eingeschworene Gemeinschaft zerfällt.
Nicht immer ist es als unbeteiligter Leser einfach, dem Geschehen in jeder Konsequenz zu folgen und alle Ereignisse in ihren chronologischen oder causalen Zusammenhang zu stellen, aber alles in allem ist dieses Buch auch für deutsche Leser empfehlenswert.

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Bewertung vom 16.08.2018
Das Verschwinden des Josef Mengele
Guez, Olivier

Das Verschwinden des Josef Mengele


sehr gut

„Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen“, schreibt der französische Journalist und Schriftsteller Olivier Guez (44) im Quellennachweis seines 2017 in Frankreich mit dem Prix Renaudot prämierten Romans „Das Verschwinden des Josef Mengele“, der jetzt im August beim Aufbau-Verlag erschien. Nur so gelingt es Guez, der sich als Co-Autor des Drehbuches zum Spielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) schon Jahre zuvor intensiv mit der strafrechtlichen Verfolgung der nach dem Krieg außer Landes geflohenen Nazi-Kriegsverbrecher und Auschwitz-Mörder beschäftigt hatte, in diesem Buch nicht nur die abstrakte Figur deutscher Geschichte und den „Todesengel von Auschwitz“ zu beschreiben, sondern Josef Mengele (1911-1979) auch als Menschen zwischen Todesangst und Arroganz während seines 35 Jahre dauernden erbärmlichen Lebens in lateinamerikanischen Verstecken zu zeigen.
Anhand unzähliger Quellen schildert Guez sehr anschaulich die ersten Jahre Mengeles in Argentinien unter dem Schutz eines Zirkels ebenfalls geflohener Nazi-Größen, die sich bereits dem autokratischen Perón-Regime angedient haben. Mengele führt ein sorgenfreies Leben, ist doch die Bundesrepublik mehr mit dem Neuaufbau als mit internationaler Kriegsverbrecherjagd befasst. Dies ändert sich erst, als der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Anfang der Sechziger zur Jagd auf die Kriegsverbrecher bläst und die Auschwitz-Prozesse stattfinden.
Im Roman begleiten wir Mengele in den nun folgenden Jahren des Versteckens, seines totalen Angewiesenseins auf Helfer. Wir erleben fast in der Art eines Tagebuchs seine ständige Angst vor Verrat, sein Heimweh nach Günzburg, gleichzeitig aber auch sein reueloses geistiges Verharren in der Nazi-Ideologie. Während um Mengele herum eine neue Welt entsteht, seine Nazi-Kameraden sich nach und nach den veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen und ein bürgerliches Leben führen, preist Mengele unverbrüchlich die Rassenideologie Adolf Hitlers, den er noch immer als „größten Deutschen“ verehrt.
Guez ist mit seinem Roman etwas Neues gelungen: Während wir Nachgeborenen Josef Mengele als abstrakte Person aus historisch-wissenschaftlicher Literatur kennen, präsentiert uns der Autor den „Todesengel von Auschwitz“ als Menschen mit Eigenschaften und Gefühlen, einen Menschen zwischen Ehrgeiz und krankhaftem Wahn, von dem sich zuletzt auch die eigene Familie lossagt. Seine 1985 entdeckten Gebeine überlässt sie der brasilianischen Forensik zur Forschung – ausgerechnet die Gebeine jenes skrupellosen und ehrgeizigen Mediziners, der mehr als 70 Jahre zuvor an lebenden und ermordeten Opfern eigenhändig wissenschaftliche Experimente vorgenommen hatte.
So spannend sich der Roman auf seinen 224 Seiten auch liest, so interessant die auf unzähligen Fakten aufgebaute Handlung auch geschrieben ist, dürfen wir beim Lesen trotzdem nicht vergessen: Das Buch ist nur ein Roman! Genau darin aber steckt die Gefahr: Der Autor überlässt allein uns, zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden zu müssen. Aber wer von uns Lesern, wenn nicht ausdrücklich fachlich gebildet, ist dazu wirklich in der Lage?

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Bewertung vom 12.08.2018
Der Bote / Fredrik Beier Bd.2
Johnsrud, Ingar

Der Bote / Fredrik Beier Bd.2


gut

Nach Erscheinen des ersten Bandes („Der Hirte“, Verlag Blanvalet, 2017) seiner Thriller-Trilogie um den Osloer Hauptkommissar Fredrik Beier und dessen Kollegin Kafa Iqbal wurde der norwegische Autor Ingar Johnsrud (44) in Deutschland von Kritikern prompt als neuer Stern am skandinavischen Thriller-Himmel und sogar als Nachfolger von Stieg Larsson oder Henning Mankell gerühmt. Ich mochte damals diesem Urteil nicht folgen, zu verwirrend war mir die Handlung, zu klischeehaft die Charaktere. Im Mai erschien nun „Der Bote“ als zweiter Band, der eineinhalb Jahre nach dem „Hirten“ in Oslo spielt, sich aber trotz vereinzelter Rückblicke durchaus ohne Vorkenntnisse als in sich abgeschlossener Thriller lesen lässt. Diesen „Boten“ fand ich etwas besser, zumal er gleich zwei Genres in einem Band vereint – das des Psychothrillers und des Politthrillers.
In einer Osloer Villa wird die Leiche eines kürzlich verstorbenen Mannes gefunden. Der Tote wird identifiziert, sollte allerdings nach amtlichen Angaben schon vor 20 Jahren bei einem Militäreinsatz umgekommen sein. Kurz darauf wird in einem Abwasserschacht am anderen Ende der Stadt die Leiche eines Mannes entdeckt, die schwere Folterspuren aufweist. Die Ermittlungsarbeit von Hauptkommissar Fredrik Beier wird aus unerklärlichen Gründen behindert, Akten werden gesperrt, Beweismittel verschwinden. Natürlich mischt der Geheimdienst heimlich im Hintergrund mit.
Wie schon im „Hirten“ verbindet Ingar Johnsrud auch im „Boten“ wieder die aktuellen Geschehnisse mit Ereignissen aus der Vergangenheit. Diesmal ist die geheime Militäraktion der Norweger im Jahr 1992 auf der russischen Halbinsel Kola Anlass für die aktuelle Mordserie. Immer im Wechsel zwischen heute und damals bringt uns Johnsrud kapitelweise die einzelnen Charaktere näher und hilft uns, deren Handeln mehr und mehr zu verstehen.
Schien mir der „Hirte“ noch allzu verwirrend, ist die Geschichte im „Boten“ übersichtlicher strukturiert und lässt sich leichter nachvollziehen. Allerdings ist auch dieser Thriller kein Buch, das sich beiläufig lesen lässt. Nur bei intensiver Lektüre kann man die Atmosphäre besser in sich aufnehmen, lassen sich die Handlung, die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie die Charaktere und deren Handeln besser verstehen.
„Der Bote“ ist zweifellos ein spannender Thriller, die in sich verschachtelte Handlung konsequent und logisch aufgebaut. Aber Ingar Johnsrud gleich als neuen Stern am skandinavischen Thriller-Himmel zu bezeichnen, erscheint mir dann doch zu gewagt, denn seine Trilogie ist nach allzu bekanntem Muster „gestrickt“: Die Stimmung ist wie bei anderen nordischen Autoren natürlich düster und eisig wie das skandinavische Winterwetter. Nicht nur die Verdächtigen sind Psychopathen, sondern auch sein Hauptkommissar Fredrik Beier und dessen Kollegin Kafa Iqbar. Überall kaputte Typen und kaputte Familien, wo man hinschaut. Gibt es keine normalen Menschen mehr auf unserer Welt? Diese und andere wiederkehrende Klischees machen Johnsruds Thriller leider austauschbar. Man muss schon ein ausgesprochener Thriller-Fan sein, um vom „Boten“ über die Maßen begeistert zu sein. Solche Fans dürfen sich dann auf den dritten Band der Trilogie freuen, der in Norwegen kürzlich erschienen und auf Deutsch wohl im Frühsommer 2019 bei Blanvalet zu erwarten ist.

Bewertung vom 05.08.2018
Der rote Stier / Nero Wolfe Bd.7
Stout, Rex

Der rote Stier / Nero Wolfe Bd.7


sehr gut

Vielleicht nicht unbedingt auf gleichem Niveau wie „Es klingelte an der Tür“ (März 2017) oder „Zu viele Köche“ (November 2017), aber voller Geist und Witz immer noch um Längen besser als die bluttriefenden Psychothriller heutiger Zeit ist der schon vor 80 Jahren erstmals erschienene, im April bei Klett-Cotta nun als dritter Band der Neuausgabe veröffentlichte Krimi „Der rote Stier“ des amerikanischen Bestseller-Autors Rex Stout (1886-1975). Obwohl Stout eher als politischer Schriftsteller bekannt ist, der seine vielschichtige Kritik an Staat und Gesellschaft in spannende Kriminalfälle um den Orchideen züchtenden Meisterdetektiv Nero Wolfe verpackte, geht es diesmal eher um gutes, vielleicht auch nicht so gutes Essen. Aber auch darin ist übergewichtige Nero Wolfe, der üblicherweise sein Haus nicht verlässt, dafür seinen „Laufburschen“ Archie Goodwin hat, ein Meister auch dieses Faches.
Diesmal hat Nero Wolfe ganz gegen seine Gewohnheit sein Apartement verlassen, um einige seiner seltenen und selbst gezüchteten Orchideen auf einer landwirtschaftlichen Ausstellung zu präsentieren. Auf der Hinfahrt baut sein junger Assistent und Chauffeur Archie einen Unfall, was beide zu unfreiwilligem Aufenthalt im Landhaus von Thomas Pratt zwingt, dem Eigentümer einer ersten US-Fast-Food-Kette. Pratt hat gerade den berühmtesten Zuchtbullen der USA überteuert gekauft, um ihn auf einer Galaparty seinen VIP-Gästen werbewirksam als Beefsteak zu servieren. Doch in derselben Nacht findet man eine Leiche in der Koppel, angeblich das Opfer des Bullen, doch Wolfe ahnt schon einen Mordfall. Während Wolfe's Ermittlungen, mit denen er vom Vater des Opfers beauftragt wird, verendet der Bulle überraschend an Milzbrand und sein Kadaver wird sofort verbrannt. Am anderen Tag findet man auf dem Ausstellungsgelände eine weitere Leiche unter Stroh versteckt.
Die Aufklärungsarbeit gestaltet sich schwierig für den Meisterdetektiv: Immer, wenn er ein Indiz für die von ihm geheim gehaltene Theorie gefunden zu haben glaubt, kommt ihm das Beweismittel abhanden. Aber wie soll er den Täter ohne Beweismittel entlarven? Schließlich greift Nero Wolfe zu einem überraschenden Bluff – natürlich mit erhofftem Erfolg.
Sein Assistent Archie Goodwin erzählt uns diese Geschichte wieder auf die ihm eigene humorvolle, oft witzige Art. Obwohl er absolut loyal zu seinem Chef steht, nimmt er sogar Wolfe nicht immer ganz ernst, mokiert sich über dessen Marotten, lästert aber auch über die anderen Personen wie über sich selbst und springt nicht einmal mit seiner neuen Freundin allzu charmant um, wie es sich heute kein Mann mehr erlauben dürfte.
Diese Erzählweise lässt den Krimi locker erscheinen, obwohl doch eine Menge Politik- und Sozialkritik in ihm steckt. Da ist zunächst der Spott über die für Außenstehende albern erscheinenden Übertreibungen der [amerikanischen] Viehzüchter mit ihrem kultigen Verhalten, das dem einer Sekte fast ähnelt. Zudem kritisiert der Autor vehement die in den USA aufkommende Fast-Food-Versorgung, wenige Jahre bevor die erste McDonald-Filiale eröffnet wird, wobei Stout schon 1938 den damaligen Hamburger-Produzenten zutraut, alles Mögliche in ihre Frikadellen reinzupacken, nur nicht gutes Fleisch. Etwas politisch wird Stout dann doch noch, wenn er die unprofessionelle Arbeit der Polizei karikiert oder Archie Goodwin bei dessen Kurzaufenthalt in der Gefängniszelle spontan eine Gefangenen-Gewerkschaft zur Verbesserung der Verhältnisse in amerikanischen Gefängnissen gründen lässt.
Zwar sind alle Krimis von Rex Stout natürlich Fiktion, aber in allen Romanen zeigt er auf bestimmte Missstände, so auch im „roten Stier“. Allerdings: Diesem Krimi merkt man sein Alter an. Denn in den nachfolgenden 80 Jahren hat sich dann doch einiges in Staat und Gesellschaft verändert – auch in den USA. Sogar zum Guten. Aber besser als viele heutige Krimis ist Rex Stouts lesenswerter Roman von 1938 in zeitgemäßer Neuübersetzung allemal.

Bewertung vom 30.07.2018
Commissaire Le Floch und der Brunnen der Toten / Commissaire Le Floch Bd.2
Parot, Jean-François

Commissaire Le Floch und der Brunnen der Toten / Commissaire Le Floch Bd.2


ausgezeichnet

Die französische, 13-bändige Krimireihe um den jungen Commissaire Nicolas Le Floch, der im Paris des Jahres 1761 zur Zeit Ludwigs XV. und der beginnenden Aufklärung geheimnisvolle Morde aufzudecken hat, sei „ein literarischer Genuss“, schrieb ich im Herbst 2017 über den mit 20-jähriger Verzögerung erstmals auf Deutsch veröffentlichten Band „Commissaire Le Floch & und das Geheimnis der Weißmäntel“ des im Mai verstorbenen französischen Schriftstellers Jean-François Parot (1946–2018). Mein Fazit damals: „Le Floch macht süchtig!“ Nach Lektüre dieses zweiten Bandes „Commissaire Le Floch & der Brunnen der Toten“, im März wieder im Blessing-Verlag erschienen, kann ich mein damaliges Urteil mit bestem Gewissen bestätigen.
Wieder soll der junge Commissaire Nicolas Le Floch im Auftrag des Pariser Polizeipräfekten Sartine einen überaus heiklen Fall klären: Der Sohn des Grafen de Ruissec wurde in seinem Zimmer tot aufgefunden. Offensichtlich war es Selbstmord. Doch Le Floch kommen anhand einiger Indizien erste Zweifel. Während der Graf dennoch vom Selbstmord seines Sohnes ausgeht, scheint die Mutter anderer Meinung zu sein. Sie bittet den Commissaire um ein heimliches Treffen in einem Pariser Kloster. Doch dazu kommt es nicht mehr: Le Floch findet die Gräfin in der Kirche ermordet im „Brunnen der Toten“.
Wie schon im ersten Fall „stolpert“ Le Floch geradezu während seiner Ermittlungsarbeit über weitere Leichen. Was wie einem vermeintlichen Selbstmord begonnen hatte, der sich bald tatsächlich als Mord erwies, weitet sich im Laufe der Ermittlungen zu einem komplizierten, mehrmals verwobenen politischen Komplott und Intrigenspiel aus - bis hinein ins Schloss Versailles, wo der bei einigen politischen Gruppen verhasste König Ludwig XV. residiert. Auch des Königs bislang favorisierte Mätresse, die Madame de Pompadour, mischt dabei mit, da sie ihre Position am Hof gefährdet sieht.
Das Faszinierende an Jean-François Parots wirklich lesenswerter Krimireihe ist die fast dokumentarische Beschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Paris: Nicht nur einige seiner handelnden Personen - vom Polizeichef Antoine de Sartine über den Henker Charles Henri Sanson bis zu Madame de Pompadour und König Ludwig XV. - lebten damals wirklich. Auch die Örtlichkeiten im historischen Paris, das Alltagsleben der verschiedenen Gesellschaftsschichten ist dokumentarisch bis in Einzelheiten genau, aber dennoch unaufdringlich, fast beiläufig geschildert. Jean-François Parots Detailkenntnis verwundert nicht, war er doch nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein auf das 18. Jahrhundert spezialisierter Historiker.
Nicht nur das gesellschaftliche und politische Umfeld ist auch in diesem zweiten Band wieder so überaus lebendig erzählt, dass man beim Lesen sogar Historisches lernen kann. Auch des Parots Formulierungskunst, wie man sie in modernen Romanen kaum noch findet, und die den unterschiedlichen Charakteren vom adligen Höfling bis zur Bordellchefin angepasste Ausdrucksform (ein erneutes Lob dem Übersetzer Michael von Killisch-Horn!) geben uns Lesern das richtige Empfinden für eine längst vergangene Zeit. Nichts in diesen Romanen wirkt ausgedacht, alles scheint so wirklichkeitsecht. Wem diese ersten zwei Bände gefallen haben, darf sich schon bis Ende Oktober auf den dritten Band „Commissaire Le Floch & das Phantom der Rue Royale“ freuen. Allen anderen empfehle ich, bis Oktober diese ersten zwei Bände unbedingt gelesen zu haben.

Bewertung vom 26.07.2018
Der Sprengmeister
Mankell, Henning

Der Sprengmeister


sehr gut

Wer von Bestseller-Autor Henning Mankell (1948-2015) nur die Wallander-Krimis kennt, durch die der schwedische Schriftsteller in den Neunziger Jahren international bekannt wurde, wird bei Lektüre seines 1973 veröffentlichten Debütromans „Der Sprengmeister“, der vor wenigen Tagen im Paul Zsolnay Verlag erstmals auf Deutsch erschienen ist, sicherlich seine Probleme haben. Sogar erfahrene Mankell-Leser, die noch andere Romane von ihm kennen, dürften staunen: „Der Sprengmeister“ ist ganz anders!
Es ist auf 192 Seiten die Lebensgeschichte eines fiktiven schwedischen Sprengmeisters Oskar Johannes Johansson (1888-1969), die Geschichte eines einfachen Mannes, „der in die Luft flog, aber irgendwie davonkam“. Wie durch ein Wunder hatte Oskar eine Sprengung in unmittelbarer Nähe schwerstverletzt überlebt. Ein ganzes Jahr brauchte er zur Genesung, dann arbeitete er als Sprengmeister weiter.
Wir lernen Oskar erst in seinen Jahren als Rentner kennen, im Winter allein in der Stadt lebend, im Sommerhalbjahr einsam in einer winzigen Hütte auf einer kleinen Insel, wo ihn der Erzähler gelegentlich besucht. Durch wortkarge Dialoge und kurze Erinnerungssplitter erfahren wir aus Oskars ärmlichem Arbeiterleben, ahnen seine unerfüllten Träume. Die Weltgeschichte schreitet fort, er kann sie nicht ändern. Als junger Arbeiter wartete er noch auf die Revolution, um die Rechte des Proletariats zu stärken. Die Revolution blieb aus. Oskars politische Einstellung schwankt zwischen Kommunismus und Sozialismus. Er ist ein ungebildet, aber interessiert. Selbst als 80-Jähriger hört er im Radio noch den Schulfunk.
Oskar war Arbeiter. „Wie sein Vater. Wie sein Großvater. Sie waren Kanalbauer, Schleusenwärter, Latrinenarbeiter und Sprengmeister. [Großvater] Johannes, der Vater und Oskar.“ Geliebt hatte er Elly. Doch sie verließ ihn, von einem anderen geschwängert, während Oskar nach dem Unfall im Krankenhaus lag. Von ihr träumt er noch immer. Geheiratet hat er ihre Schwester. Mit Elvira wurde er glücklich. Der Sohn betreibt einen Waschsalon, nennt sich Direktor. Das gefällt Oskar nicht.
„Der Sprengmeister“ ist keine chronologisch erzählte Geschichte, sondern eine Sammlung kurzer, in der Zeit ihrer Handlung wechselnder Absätze, die sich der Leser wie bunte Puzzle-Steine selbst zu einem Lebensmosaik zusammensetzen muss. „Die Erzählung wird anekdotisch, besteht aus Fragmenten“, heißt es im Text. „Aber in der Wirklichkeit hängen die Dinge zusammen.“ Der Leser muss sich konzentrieren – und seiner Phantasie Raum geben, denn „unter der Oberfläche liegt die Geschichte“, ähnlich einem Eisberg, wie ein Kapitel überschrieben ist. „Die Erzählung bildet Oskars Einsilbigkeit ab, mit Rissen und Lücken.“
Seinen „Sprengmeister“ schrieb Mankell 1972 als 24-Jähriger. Damals war er in der 68er-Bewegung aktiv und protestierte gegen den Vietnam-Krieg, den portugiesischen Kolonialkrieg in Afrika und das Apartheid-Regime in Südafrika. Er wollte die Welt verbessern und begann als politischer Schriftsteller, der er bis ins Alter blieb. Auch 25 Jahre nach Erscheinen seines Romans habe er nichts ändern müssen, schrieb Mankell 1997 im Nachwort. „Der Sprengmeister“ ist gewiss kein leicht lesbarer Roman. Aber dank der deutschen Ausgabe erst drei Jahre nach Mankells Tod, wirkt ausgerechnet dieses Debüt wie sein politisches Testament oder Manifest.

Bewertung vom 25.07.2018
Die Stimmlosen
Metzenthin, Melanie

Die Stimmlosen


sehr gut

„Historisch interessant, packend und berührend, zugleich trotz der Dramatik der beschriebenen Jahre immer wieder erfrischend und hoffnungsfroh stimmend“, schrieb ich über das mit über 40.000 verkauften Exemplaren erfolgreiche Buch „Im Lautlosen“ (2017) von Melanie Metzenthin (49), bekannt als Autorin einiger im Mittelalter spielender Romane und Ärztin in Hamburg. Diesen Satz wiederhole ich auch gern für den jetzt im Juli ebenfalls im Amazon-Verlag Tinte & Feder erschienenen zweiten Band „Die Stimmlosen“.
Hatte Metzenthin im ersten Band das Leben des jungen Arztehepaares Richard und Paula Hellmer in Hamburg während der Nazi-Diktatur lebensnah und anschaulich geschildert, beschreibt sie nun deren Alltagsleben in den ersten Nachkriegsjahren. Der Krieg ist vorbei, die Hansestadt liegt in Trümmern. Leben andere mangels Wohnraum auf der Straße, geht es Richard und Paula noch gut: Mit der Großfamilie und Freund Fritz bewohnen sie zu elft die sechs Zimmer des unzerstört gebliebenen Elternhauses. Lebensmittel gibt es nur auf Bezugsschein, doch die Läden bleiben oft leer. Im Kältewinter 1946/1947 fehlt es an warmer Kleidung, so dass viele Menschen in ihren Notunterkünften oder direkt auf der Straße erfrieren. Aber es fallen keine Bomben mehr und die Nazi-Herrschaft ist vorbei. So kann es eigentlich nur besser werden – hoffen Richard und Paula.
Doch Richard, der im Dritten Reich als Psychiater immer wieder gegen das Regime gearbeitet und damit sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um behinderte Menschen vor dem angeordneten Vernichtungstod zu retten, muss erschreckend feststellen, dass die alten Nazi-Seilschaften unter Juristen und Ärzten sich trotz britischer Besetzung nahtlos in die neuen Machtstrukturen eingegliedert haben. In einem Prozess gegen seinen früheren Chefarzt Krüger, der während des Nazi-Regimes leicht behinderte Kinder hat sterilisieren und 22 stark behinderte als „unwertes Leben“ bewusst in den Tod geschickt hatte, sagt Richard, der solche Kinder durch gefälschte Atteste hatte retten wollen, jetzt als Zeuge der Anklage aus, sieht sich aber unerwartet zur eigenen Rechtfertigung gezwungen.
Wie schon im ersten Band zeichnet Metzenthin auch in „Die Stimmlosen“ – gemeint sind die Rechtschaffenen und unter den Nazis Entrechteten, die auch in der Nachkriegszeit kein Stimmrecht haben – ein anhand historischer Ereignisse, Dokumentationen und Augenzeugenberichten sachlich korrekt recherchiertes, dennoch locker geschriebenes, dadurch auch für Nachgeborene leicht verständliches Nachkriegsporträt über Menschlichkeit, Versöhnung und Nächstenliebe, über das alltägliche Leben in Trümmern, über die Alltagssorgen unserer Eltern und Großeltern – bis zum Einsetzen des Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren. In Sprache und lebendigen Dialogen trifft Metzenthin den richtigen Ton, der ihre Geschichte so authentisch erscheinen lässt.
Etwas zu langatmig und melodramatisch wirken nur die langen Passagen um die tot geglaubte, dann doch nach 30 Jahren unerwartet wieder auftretenden britischen Mutter von Richards Freund Fritz. Diese Mutter scheint eher als dramaturgisches Mittel eingefügt zu sein, lässt deshalb die sonst durch Wirklichkeitsnähe überzeugende Handlung in diesem Punkt etwas märchenhaft erscheinen. Die Autorin hätte besser getan, darauf zu verzichten.
Dennoch ist der Roman „Die Stimmlosen“ absolut lesenswert und für die heutige Generation der Enkel zu empfehlen: Es wird der normale Alltag der Nachkriegsjahre in seinen oft scheinbar unwichtigen, zu jener Zeit aber lebensbestimmenden Kleinigkeiten beschrieben, wie es kein Schulunterricht zu vermitteln vermag. Auch die Schilderung alter Nazi-Seilschaften in der Nachkriegszeit vor 70 Jahren ist beachtenswert, hat sich doch Vergleichbares nur 40 Jahre später, also zu unserer Zeit, nach Zusammenbruch der DDR im Fall der Stasi-Seilschaften wiederholt.