Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Ingrid von buchsichten.de
Wohnort: 
Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 324 Bewertungen
Bewertung vom 06.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


ausgezeichnet

Der titelgebende Protagonist des Romans „Kalmann“ von Joachim B. Schmidt ist 33 Jahre alt und lebt im Norden Islands in dem nur 173 Einwohner zählenden Raufarhövn. Er ist bei seiner Mutter und seinem Großvater Odin in dessen Haus großgeworden. Von anderen hat Kalmann erfahren, dass er über keine besondere Intelligenz verfügt. Odin hat ihm beigebracht den Alltag zu meistern, aber inzwischen lebt sein dementer Großvater in einem Pflegeheim.

Polarfuchsjäger und Haifischfänger ist Kalmanns Berufung. Sein amerikanischer Vater hat ihm einige Sachen aus Familienbesitz geschenkt und mit Würde trägt er den Cowboyhut und den Sheriffstern, die ihm dabei helfen seine Courage und seinen Anspruch, sein Dorf zu beschützen, nach außen zu tragen. Eines Tages findet er bei einem Streifzug durch die Gegend eine Blutlache, die sich langsam mit dem fallenden Schnee vermischt. Blut an seinen Händen wirft im Dorf Fragen auf und setzt eine Serie von Ereignissen in Gang, die der Ort noch nie erlebt hat.

Kalmann erzählt in der Ich-Form, so dass ich an seiner ständigen Selbstreflektion teilhaben konnte. Er ist ein ungewöhnlicher Romancharakter. Sein Großvater hat ihm wertvolle Kenntnisse vermittelt und seine Sinne geschärft. Er ist ein guter Beobachter und ebenso guter Zuhörer. Obwohl seine sozialen Kontakte aufgrund der abgeschiedenen Ortslage beschränkt sind, schöpft er aus den Begegnungen und Interaktionen mit den Bewohnern seine Erkenntnisse. Odin hat ihm viele Regeln für das Zusammenleben und den Alltag gegeben, an denen er sein Leben ausrichtet, an denen er aber neue Erfahrungen prüft und einordnet. Seine Ansichten über Frauen sind einseitig und richten sich nur danach aus, Liebe zu empfangen und Kinder zu bekommen, eventuell hängt das mit dem Wunsch zusammen, mit einer Partnerin so glücklich wie seine Großeltern zu werden. Seine Mutter dient dabei eher als negatives Beispiel, denn sie hat als Alleinerziehende wenig Zeit für ihn als Kind gehabt. Er ist fleißig und eifert in vielem Odin nach. Seine unberechenbare Wut hielt jedoch meine Sympathie für ihn in Grenzen.

Joachim B. Schmidt ließ mich tief eintauchen in die verschneite Landschaft der Insel. Er versteht es sehr gut, die Atmosphäre eines abgelegenen Orts mit wenigen Einwohnern zu vermitteln. Im Laufe der Erzählung wurden die Sorgen und Probleme der Bewohner immer deutlicher. Lebten sie früher vom Fischfang, so ist die Branche heute aufgrund einer Fangquotenregelung kaum noch von Bedeutung. Gleichzeitig wirkt sich der Umstand ebenfalls auf die damit in Zusammenhang stehende Verarbeitung der Fische aus. Jedoch zeigt der Autor auch, dass aktuelle weltpolitische Themen nicht an Island und nicht an einem kleinen Ort im Norden der Insel vorbeigehen. Der Autor erzählt einiges über die Kultur der Isländer. Ich war darüber verwundert, dass es den beschriebenen arktischen Steinkreis tatsächlich auf Island gibt, um damit Touristen anzuziehen.

„Kalmann“ von Joachim B. Schmidt ist ein Roman mit kriminalistischen Elementen, der von einem gutmütigen, besonderen Alltagshelden handelt. Seine Arglosigkeit, die verbunden ist mit gelebten Regeln, die immer wieder auf den Prüfstand geraten, regt zum Nachdenken über viele Details an, die uns sonst bei unseren täglichen Verrichtungen verborgen bleiben. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.08.2020
Sieben Richtige
Jarck, Volker

Sieben Richtige


ausgezeichnet

In seinem Roman „Sieben Richtige“ zeigt Volker Jarck, wie nah Glück und Pech zusammenliegen und weist im Prolog darauf hin, das kleinste Momente über das Schicksal des Einzelnen entscheiden. Sechs mit Zusatzzahl oder alle Ziffern, nämlich sieben Richtige bei einer bestimmten Reihenfolge einer Zahl im Spiel bedeuten für uns einen hohen Gewinn mit meist minimalem Einsatz. Dementsprechend streben auch die agierenden Figuren in der Geschichte nach einem zufriedenen Leben mit vielen Höhen und wenig Tiefen. Es ist die Geschichte der vierjährigen Greta und ihrer Eltern Kathy und Roland, aber auch die ihres Nachbarn Viktor und der zwei von ihm geliebten Frauen, es ist die seines Sohnes Nick und seiner Schüler Linda und Tim und noch einiger anderer sowie eines kleinen Insekts. Sie alle sind verhängnisvoll verbunden, meist ohne, dass ihnen das bewusst ist.

Manchmal ist es unglaublich, welche Zusammenhänge sich durch Handlungen ergeben. Genau diesem Tatbestand widmet sich der Autor in seinem Buch. Sicher erfährt jeder täglich viel Gutes, doch das, was alles übertönt sich oft die Dinge, die uns traurig stimmen und die uns berühren, selbst wenn sie uns nicht selbst beschäftigen. Vielleicht auch weil sie uns dazu bringen, darüber nachzudenken, wie solche leidvollen Situationen, die wir gerade selbst erfahren oder von denen wir gehört haben, zu vermeiden sind. Volker Jarcks zeigt in seinem Roman wie Wünsche in Erfüllung gehen und Träume verwehen. Die mit unserem Streben nach Selbstverwirklichung verbundenen Entscheidungen verändern auch das Leben anderer. Fast alle Figuren zeichnet der Autor mit Lebenswillen und Beherztheit aus und damit, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Immer wieder ist es in der Erzählung verblüffend welche Verbindungen der Autor zieht. Er zieht Rückschlüsse bis in die Vergangenheit seiner Protagonisten und scheut sich nicht davor, eine mögliche Zukunft zu entwerfen. So fiktiv und unwahrscheinlich die Geschichte mit ihren Zufällen und Verknüpfungen ist, so ist es genauso wahrscheinlich, zumindest Ausschnitte in ähnlicher Form selbst oder doch in der eigenen Realität wieder zu finden, wodurch die Erzählung mir sehr nahe rückte.

Volker Jarck schreibt eloquent und treibt den Leser durch eine Geschichte voller Sorgen und Kummer, die kaum trennbar verbunden sind mit Freude und Wohlbefinden, berührend und amüsant mit guten und schlechten Zeiten. Den Roman „Sieben Richtige“ empfehle ich daher gerne uneingeschränkt weiter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.08.2020
Und auf einmal diese Stille
Graff, Garrett M.

Und auf einmal diese Stille


ausgezeichnet

Fast jeder, der am Dienstag, den 11.09.2001 über ein gefestigtes Erinnerungsvermögen verfügte, weiß wo und wann er an diesem Tag von den Terroranschlägen in den U.S.A. erfahren hat, so wie ich. Ich hörte die Nachrichten im Autoradio und konnte es nicht glauben, ich sah die Türme im Fernsehen wie Butter zerfließen und konnte es nicht glauben und erfuhr noch von einem Anschlag auf das Pentagon und einem weiteren abgestürzten Flugzeug und konnte es ebenfalls nicht glauben. Es war unvorstellbar und doch war es geschehen. Es gab Fakten, aber die direkt an den Anschlägen beteiligten Menschen blieben zum großen Teil unsichtbar und ungehört. Das hat der Garret M. Graff mit seinem Buch „Und auf einmal diese Stille – Die Oral History des 11. September“ geändert.

Der Autor hat etwa drei Jahre lang die Erzählungen von Zeitzeugen gesammelt, die darüber berichteten, wie sie den Tag erlebt haben. Es sind unter anderem Arbeitnehmer aus den beiden Türmen des World Trade Centers und dem Pentagon, Politiker, Feuerwehrleute, Polizisten und Angehörige der Opfer. Einige der Interviews hat Garret M. Graff selbst geführt. Er hat die Aussagen in eine zeitliche Reihenfolge gebracht und thematisch aufgearbeitet. Beginnend mit dem 10.09.2020 entstand auf diese Weise bei mir beim Lesen ein Stimmungsbild von den späteren Schauplätzen der Geschehen bei dem nichts auf das folgende Chaos, die Konfusion und die Wucht der Eindrücke hindeutete. Für viele waren gerade die Ferien vorbei und der Arbeitsalltag hatte wieder begonnen, dienstags morgens zeigte sich der Himmel in einem wolkenlosen blau. Wenig später versank New York in eine graue Wolke, die sogar vom All aus zu sehen war.

„Und auf einmal diese Stille“ wird der Captain eines Einsatzfahrzeuges der Berufsfeuerweht im Buch zitiert. Ihm fiel auf, dass nach den Einschlägen der beiden Flugzeuge in die Türme, viele Einsatzkräfte mit großer Geräuschkulisse eintrafen. Während er aber in der Lobby im Erdgeschoss des Nordturms steht und viele zu diesem Zeitpunkt schon zur Hilfe ausgeschwärmt sind, hängt die plötzliche Ruhe wie eine Bedrohung in der Luft. Stille herrscht auch in der riesigen grauen Staubwolke, die sich nach dem Einsturz der Türme bildet und alles bedeckte. Die Luft ist zum Schneiden dick und gibt Laute nicht weiter. Auch hierzu finden sich Augenzeugenberichte im Buch.

Aber Garrett M. Graff fängt nicht nur die Stimmen rund um das Geschehen am Vormittag ein, sondern beschäftigt sich auch mit den weiteren Rettungsaktionen, die sich über Stunden, Tage und Wochen hinzogen. Am Rande versucht er auch die politischen Hintergründe einzubinden und seine gesammelten Stimmen beschreiben die Mechanismen, die in einer solchen Bedrohungslage einsetzen, um bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie beispielsweise den Präsidenten zu schützen.

Meine Erinnerungen an diesen verheerenden Tag kehrten beim Lesen wieder, allerdings rückten die bewegten Bilder, die man aus dem Fernsehen kannte durch die Berichte näher als je zuvor. Ich empfehle das Buch jedem zum Erinnern, Erfahren und niemals vergessen, was Terror bewirken kann.

Bewertung vom 06.08.2020
Alles, was das Herz begehrt / Wunderfrauen-Trilogie Bd.1
Schuster, Stephanie

Alles, was das Herz begehrt / Wunderfrauen-Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Im Roman „Die Wunderfrauen“ führt Stephanie Schuster den Leser mittenrein in eine Turnstunde, die erstaunlicherweise im Gemischtwarenladen von Luise Dahlmann in Starnberg stattfindet. „Alles, was das Herz begehrt“ ist der Untertitel des ersten Band der Trilogie über vier junge Frauen, die nach den harten Jahren des Zweiten Weltkriegs nun neben anderen Wünschen der gemeinsame Traum eint, wieder glücklich zu sein.

Es ist Herbst 1953 und Luise ist eine der Protagonistinnen. Zur Turngruppe gehört auch Marie Wagner, die aus Niederschlesien vertrieben wurde und jetzt in der Landwirtschaft von Luises Bruder im nahen Leutstetten mithilft sowie Helga Knaup, die aus betuchtem Hause kommt, sich aber gegen eine arrangierte Hochzeit auflehnt und das Erlernen eines eigenen Berufs anstrebt. Annabel von Thaler, die Ehefrau des Chefarztes der nahen Geburtsklinik und die vierte der Wunderfrauen des Romans, ist in dieser ersten Szene allerdings eine stille Beobachterin bis sie den anderen durch ein ungeschicktes Manöver auffällt, das noch lange für Gesprächsstoff sorgt. Schon im Prolog fällt auf, dass die vier Frauen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen kommen und verschiedene Meinungen und Auffassungen haben.

Es ist eine neue Generation von Frauen, die da heranwächst. Anders als ihre Mütter noch sich nach dem Willen ihrer Eltern und Ehemänner zu richten hatten, regt sch bei ihnen der eigene Wille und sie hinterfragen die bisher üblichen Konventionen. Statt zu resignieren setzen sie ihre Worte in Taten um mit allen Konsequenzen. Das Glück, das sie zu finden hoffen, besteht darin, so zu leben, wie sie es für sich selbst als gut befinden. Wenn dabei der ein oder andere Traum in Erfüllung geht ist das umso besser.

Der Roman ist vollgepackt mit Geschichten, nicht nur aus Mitte der 1950er, sondern auch im Rückblick auf die Vergangenheit der Protagonistinnen, auf ihre Kinder- und Jugendzeit zu Hause bei ihren Eltern. Manches wird dabei nur angerissen, denn der Fokus liegt auf den aktuellen Entwicklungen im Leben der Frauen. Jeder hat sein Päckchen an Not und Leid zu tragen, ohne dass sie je die Hoffnung an eine schöne Zukunft verloren hätten. Auf ihrem Weg in die Selbstbestimmtheit erfahren sie Missgunst und Neid, gewinnen aber auch Vertrauen und manchmal unerwartete Unterstützung und erfahren so wie nah Liebe und Hass, Freude und Leid beieinander liegen.

Die Autorin ließ mich die 1950er Jahre auch in Film, Literatur und Musik erleben. Viele Themen der damaligen Zeit baut sie in den Roman ein wie beispielsweise Flucht und Vertreibung, Vormundgestellung bei ledigen Müttern, das Ansehen von Ärzten gegenüber dem von GIs, Traumata von Kriegsteilnehmern und vieles mehr.

In ersten Teil ihrer Trilogie der Wunderfrauen setzt Stephanie Schuster für jede ihrer Protagonistinnen den Grundstein für ein erfülltes Leben. Ich warte schon ungeduldig auf die Fortsetzung, um zu erfahren, ob Luise, Helga, Marie und Annabel ihrem Traum vom Glücklichsein näherkommen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 01.08.2020
Wo die Sterne tanzen
Herzog, Katharina

Wo die Sterne tanzen


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Wo die Sterne tanzen“ räumt Katharina Herzog aka Katrin Koppold Tänzern einen breiteren Raum ein, denn einerseits ist ihre Protagonistin Nele Musicaldarstellerin und andererseits ist eine Tanzschule ein Teil des Geschehens. Die Haupthandlung spielt auf Juist, wo die Autorin auch die fiktive Schule zum Tanzenlernen ansiedelt. Sterne zieren das Cover des Romans und versinnbildlichen das oft für uns Unerreichbare von dem wir träumen.

Nele und der gleichaltrige Henry lernen sich im Sommer 1991 im Alter von sieben Jahren kennen. Neles Eltern haben sich gerade getrennt. Gemeinsam mit ihrer Mutter ist sie zu Gast bei ihrer Oma Lotte, die auf Juist im sogenannten Deichschlösschen lebt. Auch Henry wohnt auf Juist. Seine Großmutter betreibt die Tanzschule und ist eine Freundin von Lotte. Seitdem verbringen Henry und Nele ihre Ferien zusammen, wenn Nele zu Besuch bei ihrer Oma ist.

18 Jahre nach ihrer ersten Begegnung trifft Nele gemeinsam mit ihrer achtjährigen Tochter Annika wieder einmal auf Juist ein. Der Anlass ist traurig, denn Lotte ist verstorben und Nele, die gemeinsam mit ihrer Mutter das Haus ihrer Oma geerbt hat, sucht einen Käufer für das Deichschlösschen.

Vieles hat sich im Laufe der Jahre im Leben von Nele und Henry ereignet, Katharina Herzog ließ mich als Leserin daran teilhaben. In der Gegenwart war ich an Neles Seite und verfolgte ungeduldig die Geschehnisse, bei denen allerdings weniger der Verkauf des Hauses im Mittelpunkt steht, sondern dass sich Henry ebenfalls auf Juist aufhält. Während dieser Umstand eher banal klingt, erfuhr ich mit und mit, warum Nele wegen dieser Tatsache mit ihren Gefühlen kämpft. Die Autorin schiebt immer wieder Kapitel ein, in denen sie zurückblickt auf Ereignisse der vergangenen Jahre, die für Nele von Bedeutung waren. Diese Einschübe erklärten manche Zusammenhänge, die sich in der Jetztzeit als Rätsel darstellten. Weil ich neugierig war und sie schnell aufdecken wollte, stellte sich bald ein Lesesog ein.

Auch wenn Katharina Herzog ihre Geschichte auf einer Insel spielen lässt, die bis heute hauptsächlich vom Tourismus lebt, so finden dort dennoch genügend Aktivitäten statt, die attraktiv für Gäste und Einheimische sind und ihren Figuren genügend Möglichkeiten geben, sich zu entfalten. Nele träumt schon als Kind davon, eines Tages Musicaldarstellerin zu werden. Aus ihrer Umgebung erhält sie viel Zuspruch und Unterstützung, aber ihr Weg fordert auch ihr ganzes Engagement und sie ist bereit für ihren Traum viele Dinge ihres bisherigen Lebens aufzugeben.

Katharina Herzog schreibt realistisch und nachvollziehbar. Ihre Charaktere sind interessant gestaltet und es macht Freude, ihre Entwicklung zu verfolgen. Die Insel Juist wandelt sich ebenfalls im Zeitablauf mit ihren Gästen. Die Autorin macht in einer Nebenhandlung berührend auf die Sorgen von Flüchtlingen aufmerksam.

Wieder einmal ist es Katharina Herzog gelungen, mit ihrem Roman „Wo die Sterne tanzen“ eine Geschichte voller Liebe, mit kleinen Geheimnissen, Humor, aber auch Trauer zu schreiben, der dazu aufmuntert, niemals mit dem Träumen aufzuhören, seine Angst zu überwinden und zu versuchen, seine Wünsche zu verwirklichen. Das Buch bietet beste Unterhaltung und daher vergebe ich gerne ein uneingeschränkte Leseempfehlung.

Bewertung vom 31.07.2020
Die sardische Hochzeit
Landau, Grit

Die sardische Hochzeit


ausgezeichnet

Mit „Die sardische Hochzeit“ legt die in Nordrhein-Westfalen lebende Autorin Grit Landau, die unter Pseudonym schreibt, ihren zweiten belletristischen Roman vor. Wie in ihrem ersten Buch „Marina, Marina“ hat ihre Liebe zu Italien sie dazu inspiriert, die Erzählung auf Sardinien spielen zu lassen. Verbunden ist der Roman auch mit ihrem historischen Interesse, so dass mich die Handlung in die 1920er Jahre zurückführte. Umspielt wird die Geschichte von einer Spur Mystik, die sich auch in Einschüben vor jedem Kapitel wiederfindet, denn Grit Landau beschreibt dort sagenumwobene sardische Gestalten und heidnische Bräuche, die auf Sardinien ausgeübt werden. Das führt zu einem besseren Verständnis des Lesers für die handelnden Figuren und ihrer Handlungen.
Der Ligurier Leo Lanteri, wird von seinem Vater, dem Besitzer einer Olivenplantage, nach Sardinien geschickt um dort nach einer speziellen Olivensorte zu suchen. Er hat im Ersten Weltkrieg an vorderster Front gekämpft und dabei ein Trauma erlitten, dass ihm immer noch Alpträume beschert. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass der Grund nur vorgeschoben ist und Leo die Reise eigentlich nur Antritt, damit tödlich verlaufene mit einem Faschisten vertuscht werden kann.
Unterdessen bereitet sich Gioia Soria, die Tochter des Besitzers eines Landguts bei Sassari, auf ihre Hochzeit mit Gavino vor, dem Sohn einer alteingesessenen sardischen Familie, die Pferde züchtet. In Sardinien formieren sich die Faschisten und auch Gioia Vater hängt dieser politischen Richtung an. Schon sehr bald verbindet Gioia mit Leo mehr als nur die Liebe zur Jazz-Musik.
Die Familie Lanteri verbindet die beiden Romane von Grit Landau. Leo ist der Großvater einer der Protagonisten im Buch „Marina, Marina“, doch beide Erzählungen sind unabhängig voneinander. Die Ankunft von Leo auf Sardinien und die Vorbereitungen der Hochzeit laufen in parallelen Erzählsträngen. Als Leser entstand für mich ein Bild von Sardinien in einer bewegten Zeit, kurz vor der Machtübernahme durch Mussolini. Die Faschisten gewannen auch auf Sardinien immer mehr Anhänger. Ohne, dass sich die Politik zu sehr in den Vordergrund drängt, versteht die Autorin es bestens, die Stimmung einzufangen und die Spannungen, die sich auf verschiedene Weise offen kundtun, wiederzugeben. Sie verdeutlicht, dass Gioia auch als selbstbewusste Frau mit Sinn für das Moderne entsprechend der Konventionen ihrer Zeit zu handeln hat.
Grit Landau hat für ihren Roman zwei Familien kreiert, die typischen Beschäftigungen nachgehen, die bis heute auf Sardinien zu finden sind: dem Olivenanbau und -verarbeitung und der Pferdezucht. Immer wieder lässt sie italienische Wörter einfließen, die für ein besonderes Flair beim Lesen sorgen. Ihre Liebe zur Musik findet sich in den Schwärmereien für Lieder von Gioia und Leo wieder, die am Ende des Buchs gelistet sind. Dort gibt es auch Anmerkungen zu Essen und Trinken, ein Glossar zu sardischen und italienischen Begriffen und eine Literaturliste, deren Bücher es ermöglichen, sich weiter mit Land und Leuten zu beschäftigen.
Der Roman „Die sardische Hochzeit“ von Grit Landau lässt dank der sehr guten Recherche der Autorin die Zeit im Herbst 1922 auf Sardinien, während Mussolini nach der Macht in ganz Italien griff, lebendig werden. Ihre Charaktere agieren realistisch und vorstellbar. Eine unerwartete Wendung zum Ende hin sorgt dafür, dass sich im Leben der Protagonisten vieles verändert und mich überraschte. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 24.07.2020
Das Gartenzimmer
Schäfer, Andreas

Das Gartenzimmer


ausgezeichnet

Das Gartenzimmer“ im gleichnamigen Roman von Andreas Schäfer liegt in der fiktiven Villa Rosen am Rande des Grunewalds. Es ist das erste Gebäude, das die in der Erzählung fiktive Figur des noch jungen, ländlich aufgewachsenen und später weltbekannten Architekten Max Taubert im Jahr 1909 entworfen hat. Das Ehepaar Rosen wünscht sich ein Landhaus zur dauerhaften Bewohnung, doch der Idee von Max folgend entsteht ein gegen den Trend der Zeit schnörkelloses Gebäude, das von der Hangseite aus gesehen an die Form eines Schiffs erinnert.

Max hat bereits als Junge in der Werkstatt des Vaters an Klötzen geschreinert, die er gerne vor seinem Auge in die Umgebung eingegliedert hat. Fast hundert Jahre nach seinen Bemühungen steht Luis Lekebusch, der Sohn der aktuellen Besitzer, als stiller unbemerkter Zuhörer vor dem Haus und lauscht auf die eindeutigen Geräusche seines Vaters mit einem anwesenden weiblichen Gast im Zimmer über ihm. Für die Familie Lekebusch wird der Tag von besonderer Bedeutung sein, weil er vieles im Leben der Familienmitglieder verändert. Doch im Innern des Hauses haben sich im Laufe der Zeit seit seiner Erbauung viele bemerkenswerte Geschehnisse mit weitreichenden Folgen ereignet. Und auch wenn es über einige Jahre leer gestanden hat und erst durch die Lekebuschs wiederentdeckt wurde, streckt sich mit unheimlicher Macht seine frühere Bedeutung bis in die Gegenwart. Das Gartenzimmer wird dabei zwischenzeitlich sogar zum Politikum.

Der Aufbau des Romans lässt sich ein wenig mit dem des Hauses vergleichen: Andreas Schäfer schreibt ruhig und klar auf zwei Zeitebenen, die er gegeneinander versetzt wie die beiden Ebenen des Gebäudes. Wie an Bord eines Schiffes lauern auf die Hauptfiguren so manche Gefahren. Seine Charaktere beschreibt der Autor detailliert, mit unterschiedlichen Ansichten über das Haus, die manchmal konträr zueinanderstehen und zu Konflikten führen. Durch die Nebenfiguren bindet der Autor die zur jeweiligen Zeit passenden aktuellen Themen mit ein und zeigt dadurch einen Wandel in Kunst, Politik und Konventionen. Er hat von Anfang verstanden, mich mit der Begeisterung des Architekten für sein Werk und der Bewunderung des Ehepaars Rosen für ihr Heim zu umgarnen, mich weiter mit der Zweckentfremdung des Gartenzimmers im Zweiten Weltkrieg zu verstören und mich schließlich mit der Renovierung durch das Ehepaar Lekebusch zu versöhnen.

Der Roman „Das Gartenzimmer“ von Andreas Schäfer ist thematisch ungewöhnlich und bietet bewegende und berührende Unterhaltung. Die geschilderten Ereignisse im und um das Haus und seiner Nutzer bleiben in Erinnerung. Gerne vergebe ich hierzu eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.07.2020
Abschiedsfarben
Schlink, Bernhard

Abschiedsfarben


ausgezeichnet

Im Buch „Abschiedsfarben“ von Bernhard Schlink vereinen sich neun Kurzgeschichten mit ganz unterschiedlichen Aspekten und dennoch bergen sie jede für sich eine Art des Abschiednehmens. Für mich ist der Begriff mit Traurigkeit verbunden, aber schon bald nach Beginn des Lesens bemerkte ich, wie geschickt der Autor seine Geschichten sprachlich führt und dabei Höhen und Tiefen erreicht. Er vermag es, jede Stimmungslage in Worte zu fassen und dem Leser zu vermitteln.

So schaut denn beispielsweise in der ersten Erzählung der Protagonist zurück auf die Beerdigung von ihm lieb gewesenen Verstorbenen bis seine Gedanken abschweifen zu einer Rechtfertigung vor sich selbst mit seinem schlechten Gewissen, hin zum Verrat des besten Freunds. Der Wandel ist überaus interessant und überraschend. Auch die zweite Story erstaunt mit einem Dreh, der schließlich eine Liebe offenbart, die nicht sein konnte. In den Geschichten geht es um Kränkung, ums Hinhalten in der Liebe, um das Ringen für Vergebung, um Raffinesse, Erwartungen und Enttäuschungen.

Den Erzählungen ist neben dem Abschied nehmen gemein, dass sie sich alle um die Liebe drehen, zum Partner, zum Bruder, zur Mutter oder auch zu jemandem, der einem unerreichbar erscheint. Bernhard Schlink ist ein guter Beobachter, der Menschen in den verschiedensten Lebenslagen und jeden Alters in seine Geschichten einbindet. Mit sehr viel Feingefühl findet er sich in seine Figuren ein und schildert deren Gedankengänge und Beweggründe. Die Erzählungen sind realistisch, abwechslungsreich und in einer klaren Sprache geschrieben. Mir hat das Lesen sehr viel Freude gemacht und gerne bin ich den Charakteren durch gute und schlechte Zeiten gefolgt. Ich fühlte mich bestens unterhalten und darum empfehle ich das Buch sehr gerne weiter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.07.2020
City of Girls
Gilbert, Elizabeth

City of Girls


sehr gut

Die Geschichte in ihrem Roman „City of Girls“ lässt die US-Amerikanerin Elizabeth Gilbert von der 79-jährigen Protagonistin Vivian Morris erzählen. Im Frühjahr 2010 erhält diese einen Brief, der sie dazu bringt, auf ihr langes Leben zurückzublicken. Vor allem eine Zeit, die sie als junge Frau Anfang der 1940er Jahre im Theater Lily Playhouse in Manhattan verbringt, hat sie geprägt. Das Theater gehört ihrer Tante Peg, die dort für ein örtliches Publikum ein wenig gewinnbringendes Unterhaltungsprogramm mit Gesang, Schauspiel und Tanz anbietet. Die Produktion „City of Girls“, die dem Buch seinen Titel gibt, erlangt dabei besondere Aufmerksamkeit. Die Idee, die Geschichte als Antwort von Vivian an die Absenderin zu gestalten ist gut, aber die Ausgestaltung des Briefs mit über hunderte von Seiten ist eher unrealistisch.

Vivian ist in einer Unternehmerfamilie in einer Kleinstadt im Süden aufgewachsen. Unentschlossen darüber, welchen Beruf sie ergreifen soll, wird sie schließlich von ihren Eltern zu ihrer Tante geschickt. Mit im Gepäck ist ihre Nähmaschine, denn von ihrer Großmutter hat sie Schneidern gelernt. Ihr Hobby wird ihr später sehr nützlich sein. Doch zuerst genießt sie das unabhängige Leben in der Metropole und an der Seite ihrer neuen Freundin, der Revuetänzerin Celia, stürzt sie sich ins Nachtleben.

Es ist kurzweilig, die Entwicklung von Vivian zu verfolgen. Sie ist in gutsituierten Familienverhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern sind von ihr oft enttäuscht, denn sie nimmt die gebotenen Möglichkeiten, ihre Zukunft zu gestalten, nicht an. In New York genießt sie ihre Freiheit und lotet ihre Grenzen aus. Schritt für Schritt lässt sie sich immer tiefer in die Verführungen des Nachtlebens hineinziehen, bis es zu einem jähen Erwachen kommt, das aber letztlich wegweisend für sie ist. Bis in die Nebenfiguren hinein gestaltet die Autorin ihre Figuren abwechslungsreich und lebensnah.

Es glitzert und prickelt in diesem Roman und fasst könnte man dabei vergessen, dass der Zweite Weltkrieg gerade begonnen hat. Elizabeth Gilbert schildert Liebeständeleien voller Genuss und Sinnlichkeit, stellt dem aber auch eine dunkle Seite der Lustsuchenden gegenüber. Sie zeigt ebenfalls Liebe ohne Grenzen, die damals im Geheimen ausgeübt wurde.

Gespannt wartete ich darauf, dass Vivian das Geheimnis lüftet, das die Absenderin in der Anfangsszene zum Schreiben des Briefs veranlasste. Die sehr detaillierten Schilderungen der Inszenierungen des Theaters zu Beginn der 1940er Jahre führten zu einiger Länge im Mittelteil. Es fordert die Geduld des Lesers bis sich in Vivians Leben eine Richtungsänderung ergibt.

Der Roman „City of Girls“ von Elizabeth Gilbert ist trotz einiger Längen und bedrückender Szenenelemente eine amüsante und unterhaltsame Lektüre, die den Leser mitnimmt in das Theater- und Nachtleben New Yorks in den ersten Jahren der 1940er.

Bewertung vom 24.06.2020
Schatten und Licht / Fräulein Gold Bd.1
Stern, Anne

Schatten und Licht / Fräulein Gold Bd.1


ausgezeichnet

Der Roman „Fräulein Gold“ der Berlinerin Anne Stern ist der erste Teil einer Serie bei der die Hebamme Hulda Gold im Mittelpunkt steht. Die Geschichte ist ein Genremix: Sie spielt im historischen Berlin des Jahrs 1922, ein tragischer Unfall ist aufzuklären und neben der Beschreibung der Tätigkeiten rund um die Geburtshilfe schildert die Autorin auch eine beginnende Romanze ihrer Protagonistin.

Entsprechend des Untertitels „Schatten und Licht“ erzählt die Autorin von der bewegenden Zeit kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Berliner sind voller Hoffnung auf anhaltenden Frieden, doch politisch kommt Deutschland nicht zur Ruhe. Die Armenfürsorge in Berlin ist überfordert und in den Clubs der Stadt frönen die Besucher manchem Laster. Auch Hulda ist nicht abgeneigt, sich einige schöne unterhaltsame Stunden mitten im Getümmel zu erlauben. Allerdings ist sie als ambulante Hebamme in ständiger Rufbereitschaft. Sie versorgt Schwangere in ihrem Wohnbezirk in Schöneberg und Umgebung, egal ob arm oder reich. Manchen Hausbesuch macht sie sogar umsonst, weil ihr das Leben von Mutter und Kind am Herzen liegt. Es ist nicht immer leicht, ihrer Aufgabe gerecht zu werden, weil eine klare Abgrenzung zu den Tätigkeiten besteht, die ein Arzt vorzunehmen hat.

Eine von Hulda betreute Schwangere wohnt am Bülowbogen. Die Wohnung der Nachbarin Margarita Schönbrunn, kurz Rita genannt, ist polizeilich gesperrt und wenig später erfährt Hulda davon, dass sie tot im nahen Landwehrkanal aufgefunden wurde. Das Schicksal von Rita ist ihr präsenter als ihr zunächst recht ist, doch dann beginnt sie Fragen zu stellen. Bei der Suche nach Antworten begegnet ihr Kriminalkommissar Karl North, der für sie im Laufe der Zeit in mehrfacher Hinsicht immer attraktiver wird.

Hulda trägt ihr Herz auf dem rechten Fleck. Sie lebt als Untermieterin in der Mansarde eines Mehrfamilienhauses, ist kein Kind von Traurigkeit, sondern offen und ehrlich. Geheimnissen geht sie gern auf die Spur. Sowohl bei Rita wie auch bei Karl spürt sie, dass deren Vergangenheit schicksalsgebend war. In schwierigen Situationen spricht sie sich selbst Mut zu und geht unbeirrt ihren Weg.

Die Perspektiven in der Geschichte wechseln, so dass in den einzelnen Erzählabschnitten nicht immer nur Hulda im Mittelpunkt steht. Dadurch wurde der Roman vielgestaltiger und neben der Protagonistin entwickelten sich auch andere Figuren darin mit. Einige Tagebuchauszüge aus dem Notizheft von Rita verdeutlichten den damaligen Umgang mit psychisch erkrankten Personen und gaben auf diese Weise weitere Einblicke in medizinische Gegebenheiten der damaligen Zeit.

Der Auftakt der Romanreihe „Fräulein Gold“ ist Anne Stern mit ihrem Buch „Schatten und Licht“ gelungen. Dank der sehr guten Recherche des historischen Hintergrunds und der Ortskenntnisse der Autorin entsteht das bunte Porträt einer Berliner Gesellschaft der Gegensätze in einer Zeit des Aufbruchs mit einer sympathischen Hauptfigur. Gerne empfehle ich den Roman weiter und warte schon ungeduldig auf den nächsten Band.