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Bellis-Perennis
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Wien

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Insgesamt 869 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2024
Jelka
Kuchar, Helena

Jelka


ausgezeichnet

„Aus Kärnten werde ich ein Paradies machen ...“ (S.14) Genausowenig wie seine größenwahnsinnigen Architekturfantasien Linz oder Wien zu den „Perlen des Deutschen Reiches“ gemacht haben, ist aus Kärnten das versprochene Paradies geworden. Mit diesen überzogenen und großspurigen Allmachtsfantasien ist Hitler auf Menschenfang gegangen und hat in weiten Teilen des vom Ständestaat zerrissenen Österreich zahlreiche Anhänger gefunden. Dass nach 12 Jahren das von ihm propagierte tausenjährige Reich am und zu Ende war, ist bekannt. Weniger bekannt sind die vielen Widerstandsgruppen, die sich gegen das NS-Regime gestellt haben. Eine davon ist die Gruppe rund um Helena „Jelka“ Kuchar im Grenzgebiet zwischen Kärnten und Slowenien.

Dieses Buch sind nicht nur Lebenserinnerungen von Helena „Jelka“ Kuchar (1906–1985) die zunächst als Magd auf einem Bauernhof bei Bad Eisenkappel/Železna Kapla gelebt hat, sondern auch eine fundierte Darstellung des Kärntner Widerstandes gegen die NS-Diktatur.

Heimlich mussten sie und ihr Mann heiraten, denn die Familie ihres Mannes war mit der bitterarmen Magd nicht einverstanden. In diesen Aufzeichnungen, die bereits 1984 im Drava-Verlag erschienen sind, erinnert sie sich, wie die slowenische Minderheit von den Deutschkärntern schon vor 1938 gedemütigt und drangsaliert worden. Während des Zweiten Weltkrieges und der kriegsbedingten Abwesenheit ihres Ehemannes muss sie alles tun, um ihre vier Kinder vor den Schergen des Regimes schützen, denn die machen, wie wir wissen, Jagd auf alle Nicht-Arischen. Jelka schließt sich den Partisanen an, stets in Gefahr zu verhungern oder verraten zu werden. Das Buch spart Jelkas Verhaftung und Folter durch die Gestapo nicht aus. Letztlich gelingt es ihr mit viel Chuzpe am Laben zu bleiben.

Die Hoffnung auf Verbesserung der Situation der Kärntner Slowenen nach Ende des Krieges, erfüllt sich nicht. Es wird noch Jahre dauern, bis die versprochenen zweisprachigen Ortsafeln aufgestellt und die slowenische Sprache als Amts- und Unterrichtssprache in jenen Ortschaften akzeptiert wird, in denen sich die Bewohner zu ihren Wurzeln bekennen.

Jelka Kuchar engeagierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis ins hohe Alter für die slowenische Frauenbewegung und die Kulturarbeit vor allem mit Kindern und Jugendlichen.

Meine Meinung:

Das Buch „Jelka“ erschien erstmals 1984 im Verlag Drava. Es wurde jetzt vom Wieser Verlag neu aufgelegt und ist ein Teil der „Slowenischen Bibliothek“. Der Klagenfurter Verlag ist einer der wenigen in Österreich, der Bücher slowenischer Autoren verlegt. Loijze Wieser ist dabei wichtig, auch Unbekanntes aus der gemeinsamen Geschichte Kärntens und Sloweniens zu präsentieren. Diese Lebenserinnerungen wurden Thomas Busch und Brigitte Windhab nach Tonbandaufzeichnungen von Helena Kuchar veröffentlicht.

Als halbe Kärnterin ist mir die Geschichte des Bundeslandes vetraut und wichtig. Leider gehört(e) meine väterliche Verwandtschaft zu jenen, die auch heute noch dem Ariernachweis eine unangemessen wichtige Bedeutung schenken. Bei solchen Menschen tut Aufklärung auch Jahrzehnte nach dem Ende des Unrechtsregime not. Hier könnte dieses Buch seinen Beitrag leisten.

Fazit:

Gerne gebe ich diesen Lebenserinnerungen, die ein beredtes Zeugnis für die Freiheit und wider das Vergessen sind, 5 Sterne.

Bewertung vom 19.02.2024
Kantika (eBook, ePUB)
Graver, Elizabeth

Kantika (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Dieser Roman beruht auf wahren Gegebenheiten und erzählt die Geschichte von Rebecca Cohen Baruch Levy, der Großmutter der Autorin Elizabeth Graver.

Die Erzählung beginnt im Jahre 1907, als Rebecca Cohen ihr Leben als Tochter eines wohlhabenden sephardischen Unternehmers in Istanbul genießt. Doch nach dem Ende der Ersten Weltkriegs verliert der Vater sein Vermögen und die die nationalistischen Kräfte wenden sich gegen Griechen, Armenier und nicht zuletzt gegen Juden. Während Rebecca, wie ihre Freundin Lika lieber nach Amerika auswandern möchte, beschließt ihre Familie nach langem Zögern, sich in Spanien niederzulassen. Ausgerechnet nach Spanien, das vor rund 400 Jahren alle Juden zwangstaufen ließ und jene, die sich weigerten, ermordeten. Doch scheint das Angebot für die Samuel Cohen annehmbar zu sein.

Die Ankunft in der Wirklichkeit von 1925 ist heftig, nur eine kleine Wohnung für die mehrköpfige Familie, kein gesellschaftliches Leben und kaum Verdienstmöglichkeiten. Die politische Lage in Spanien verschlechtert sich zusehend. Rebecca wird 1926 mit Luis verheiratet, der im Ersten Weltkrieg einen Giftgasangriff überlebt hat und an Spätfolgen leidet. Sie wird Mutter zweier Söhne und als sie nach Adrianopel aufbricht, um ihren Mann wieder zu sehen, weiß sie bei Reiseantritt noch nicht, dass sie Witwe ist.

Als ihre Freundin Lika bei der Geburt ihres Kindes stirbt, wie Rebecca mit dem Likas Ehemann verkuppelt. Nun scheint sich der Traum von besseren Leben in Amerika, doch noch zu erfüllen. Allerdings muss Rebecca die Reise ohne ihre Familie antreten, denn die sitzt in Spanien von 1934 fest.

Meine Meinung:

Mir hat diese Familiengeschichte sehr gut gefallen. Anders als die streng orthodoxen chassidischen Juden ergreifen die Sepharden beinahe jedem Strohhalm. Und hier sind es die Frauen, die die Initiative ergreifen. Sie lassen sich durch die strengen Glaubensregeln nicht einschüchtern. Sie beugen (oder ignorieren) die Regeln, wirken weltoffen und arrangieren sich mit Gegebenheiten.

Bei Rebeccas Lebensweg führt sie von Istanbul (vormals Konstantinopel) nach Barcelona, Adrianopel und über Kuba nach Astoria in den USA. Das Leben hat abermals so manche Bürde für bereit, denn die behinderte Tochter von Lika, die sie mitgeheiratet hat, sowie ihre Schwiegermutter machen ihr das Leben schwer. Doch sie schafft es, das Leben zu meistern.

Gut gefällt mir, dass immer wieder Sätze in ladino, also der Sprache der sephardischen Juden eingeflochten sind. Wer die Worte aufmerksam liest, wird den Mix aus spanisch, französisch und jiddisch erkennen.

Der Buchtitel „Kantika“ heißt bezeichnenderweise „Lied“, denn die Lieder der Erinnerung an die alte Heimat helfen, die Mühsal des Alltags zu ertragen.

Fazit:

Diesem Roman, mit dem die Autorin ihrer Großmutter Rebecca Cohen Baruch Levy ein Denkmal setzt, gebe ich gerne 5 Sterne.

Bewertung vom 16.02.2024
Der tote Bäcker vom Montmartre
Laffite, René

Der tote Bäcker vom Montmartre


gut

Commissaire Geneviève Morel gilt, obwohl sie eine der höchsten Aufklärungsquoten in der Pariser Kripo hat, in ihrer eigenen Familie als schwarzes Schaf. Denn die Familie Morel ist nämlich seit Generationen als Kunsträuber tätig. Es gibt die stille Übereinkunft, dass in Paris keine Diebstähle verübt werden. Doch nicht alle halten sich daran, die liebenswürdige und schlitzohrige Großmutter Mamie mit Hang zu funkelnden Juwelen zum Beispiel.

Als François Beauvais, der Inhaber des Palais de Pains, der beliebtesten Bäckerei von Paris, die auch das Baguette in den Elysee-Palast liefert, ermordet worden ist, kommt Geneviève nicht so recht voran. Es gibt zwei Hauptverdächtige: Der eine ist der Neffe des Opfers Cédric, Besitzer einer Patisserie, und der andere, Baptiste Buffet, der Konkurrent um das beste Baguette der Stadt.

Während Buffet in Gewahrsam genommen wird, reist Geneviève widerwillig an die Côte d‘Azur, um die Kontakte der Familie in die dortige Unterwelt anzuzapfen. Cédric scheint spielsüchtig zu sein und das in illegalen Casinos.

Meine Meinung:

René Laffite ist das Pseudonym des österreichischen Autors Christian Schleifer, der uns durch seine Krimi-Reihe um Charlotte Nöhrer bekannt ist. Mit Commissaire Geneviève Morel als Hauptperson wechselt der Schauplatz von Perchtoldsdorf nach Paris.

Dieser Krimi rund um den toten Bäcker am Montmartre ist der Auftakt zu einer neuen Krimi-Reihe.

Die Idee, einer Polizistin, deren Familie auf der anderen Seite des Gesetzes steht, finde ich charmant. Hieraus können sich zahlreiche Verwicklungen ergeben. Leider ist der Funke nicht so recht auf mich übergesprungen. Stellenweise wirkt der Schreibstil sehr bemüht und das französische Flair, die Leichtigkeit des Savoir Vivre fehlt ein wenig. Die Ermittlungen ziehen sich, dabei ist von Beginn an klar, der Mörder muss ein Linkshänder und überdies kleiner als sein Opfer sein. Mein persönlicher Ermittlungsansatz wäre hier, alle Linkshänder im Umfeld des Toten zu befragen. Da wäre Geneviève Morel recht flott auf die Auflösung gekommen. Aber, das liegt vermutlich daran, dass ich als umgelernte Linkshänderin, der Linkshändigkeit (m)eine besondere Beachtung schenke.

Aufgepeppt wird der Krimi durch zahlreiche schillernde Charaktere wie Morels Großmutter Mamie, die ihrer Leidenschaft für funkelnde Juwelen auch in Paris frönt. Gut gefällt mir die Figur der Lunette Lizeroux, jener Polzistin, die bei dem Terrorüberfall im Bataclan ihren rechten Unterschenkel verloren hat und bei Morels Vorgänger als Sekretärin beschäftigt worden ist. Unter Geneviève blüht Lunette so richtig auf. Allerdings, wer nennt seine Tochter „Lunette“? „Lunette“ heißt nämlich Sonnenbrille, Fernrohr, Dachluke und ist in der Architektur die Bezeichnung eines halbmondförmigen Ornamentes in einer Fassade oberhalb eines Eingangsportals.

Aufgefallen ist mir auch, dass von Lunette immer mit dem Vornamen gesprochen wird, während Morels männliche Untergebene sowohl mit Vornamen als auch mit Nachnamen oder mit ihrem Rang angesprochen werden.

Der Abstecher an die Côte d‘Azur zeigt die komplizierten Familienverhältnisse der Morels. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass Genevièves Herkunft geheim bleiben kann. Das würde natürlich Potenzial für Konflikte bei ihrer Karriere bedeuten und gleichzeitig ein Ausstiegsszenario bieten. Aber, so weit ist es ja noch nicht. Schauen wir einmal, was der nächste Fall bringen wird.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem Auftakt zu der neuen Krimi-Reihe, der noch ein wenig Luft nach oben hat, 3 Sterne.

Bewertung vom 13.02.2024
Die Bildweberin
Maly, Beate

Die Bildweberin


ausgezeichnet

Beate Maly nimmt uns in das Nürnberg von 1534 mit. Die Stadt wird von den Zunftmeistern regiert, die sich um jedes noch so kleine Detail ihrer Stadt kümmern.

Hauptperson ist Emilia, die künstlerisch begabte Tochter des Malers Walter Baumgart, die als Bildweberin in der Werkstatt der bekannten Kunigunde Löffelholz arbeitet. Lieber als Tapisserien anzufertigen würde sie malen. Doch das ist den Frauen, wie vieles andere, in dieser Epoche streng verboten. Um den Unterhalt der Familie zu sichern, der Vater ist depressiv und kann nicht mehr malen, wird ein Zimmer an den holländischen Künstler Jan Vermeyen, Hofmaler bei Margarete von Österreich, vermietet.

Die prekäre finanzielle Situation spitzt sich zu. Emilia soll einen reichen, aber gewalttätigen Bürger heiraten, um die Familie vor dem Schuldturm zu retten. Sie ist hin und her gerissen, zwischen der Verantwortung, die Familie zu retten und ihrem persönlichen Wohlergehen. Als der Vater stirbt, stellt sie das begonnene Porträt einer Ratherrengemahlin fertig. Aufgrund einer Intrige wandert Emilia in den Kerker. Dort trifft sie auf eine Frau, die seit Jahren im Kerker dahinvegetiert und einem ähnlichen Komplott zum Opfer gefallen ist. Wird es gelingen, die Frauen zu retten?

Meine Meinung:

Beate Maly ist es wieder sehr gut gelungen, das Los der Frauen in einer Männerwelt darzustellen. Einer Welt, die von Männern für Männer gemacht ist und das wertvolle (künstlerische) Potenzial der Frauen links liegen lässt, nur um die eigenen Macht- und sonstigen Gelüste zu befriedigen.

Gut gefallen hat mir der Einblick in die Kunst der Bildweberei. Anders als bei der Gobelin-Stickerei, bei der auch einer kleineren Vorlage gestickt werden kann, erfordert die Bildweberei Vorlagen im Maßstab 1:1.. Diese technischen Details werden den Lesern völlig unaufgeregt in einem Dialog zwischen Emilia und Jan Vermeyen näher gebracht. Burgund ist damals eine Hochburg der Tapisserieherstellung.

Der wohl bekannteste Wandteppich ist jener von Bayeux, an dem Dutzende adelige Frauen gearbeitet haben. Interessant ist, dass es im Mittelalter zahlreiche Malerinnen und Illustratorinnen gegeben hat. Sie lebten allerdings in Klöstern und ihre Kunst diente vor allem, Gott zu preisen. Namentlich sind nur die wenigsten bekannt. Es wird noch einige Zeit dauern, bis Frauen als Malerinnen etabliert sind. Die ersten sind Sofonisba Anguissola (1532–1625) und Artemisia Gentileschi (1593-1654), die sich in Italien einen Namen machen und den Weg für MalerINNEN ebnen.

Beate Maly hat eine Leidenschaft für starke Frauen, die sich gegen ihr Schicksal auflehnen. Nicht allen gelingt es, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, viel scheitern an der Übermacht der Männer.

Ich kenne alle Bücher der Autorin und auch sie selbst. Es macht mir Freude, ihre Bücher zu lesen. Geschickt webt sie fesselnde, oft bislang unbekannte Details der Geschichte in in ihre historischen Roman ein, ohne dass sie ihre Leser belehrt. Wissenswertes unterschwellig darbieten, Wissen vermitteln, ohne die Leser mit Infodump zu überfordern - das gefällt mir. Beate Malys Bücher sind akribisch recherchiert und spannend erzählt.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem penibel recherchierten und gekonnt erzählten historischen Roman 5 Sterne.

Bewertung vom 13.02.2024
Das Philosophenschiff (eBook, ePUB)
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff (eBook, ePUB)


sehr gut

Anouk Perlemann-Jacob, hundertjährige Stararchitektin, die in St. Petersburg geboren worden ist, engagiert den als Ich-Erzähler auftretenden Schriftsteller, um ihre Biografie zu schreiben.

„Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaubt man ihnen oft nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaubt Ihnen, wenn Sie schummeln. Das habe ich mir sagen lassen. Stimmt das?“.

In zahlreichen, täglichen Sitzungen erzählt sie aus ihrem Leben, in dem die Ausweisung aus dem damaligen Sowjetrussland die zentrale Rolle spielt. Dies hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen im Jahr 1922. Nachdem Lenin nichts mehr gefürchtet hat, als denkende Menschen, hat er mehrere Tausend der damaligen Intelligenzija einfach ausweisen lassen, ein anderer Teil ist im Gulag verschwunden oder gleich erschossen worden.

„Die Elemente, die wir ausweisen oder ausweisen werden, sind als solche politisch bedeutungslos. Aber sie sind potenzielle Waffen in den Händen unserer Feinde. Falls es erneut zu militärischen Komplikationen kommt, werden all diese unversöhnlichen und unbelehrbaren Elemente sich als militärisch-politische Agenten des Feindes erweisen. Und wir werden gezwungen sein, sie nach dem Kriegsrecht zu erschießen. Deshalb ziehen wir es vor, sie jetzt in einer ruhigen Phase, beizeiten auszuweisen. Und ich [Trotzki] hoffe, dass Sie bereit sein werden, unsere vorausschauende Humanität anzuerkennen und sie gegenüber der öffentlichen Meinung zu verteidigen.“

Nach welchen Kriterien die Ausweisungen vorgenommen worden sind, bleibt unklar.

„Vor dem Trotzki haben sich alle gefürchtet, noch mehr als vor dem Lenin. Lenin denkt, Trotzki tut. So hat es damals geheißen.“.

Anouk ist gerade einmal 14 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern, einer Ornithologin und einem Architekten, das Land verlassen muss und aus ihrer bürgerlichen Umgebung herausgerissen worden ist. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die sich im Pariser Exil 1931 das Leben nehmen, kann sie in der westlichen Welt Fuß fassen und lebt in Deutschland un Österreich.

Meine Meinung:

Mein erster Gedanke war, Köhlmeier hat sich Margrete Schütte-Lihotzky (1897-2000) zum Vorbild genommen. Jein, denn die Architektin ist in Wien geboren und hat erst in den 1930er-Jahren in der Sowjetunion gelebt und gearbeitet.

Wir begegnen während in dieser Erzählung zahlreichen realen russischen Persönlichkeiten, die ebenso ausgewiesen worden sind und ebenso zahlreichen, die vom Regime ermordet worden sind. Dass der sterbenskranke Lenin persönlich selbst auf einem dieser Philosophenschiffe war, ist allerdings Fiktion. Sein (Un)Geist ist allerdings deutlich spürbar und präsent.

Die Erzählung ist interessant, ist allerdings ohne Vorkenntnisse der russischen Revolutionsgeschichte nur schwer nachzuvollziehen. Denn Anouk Perlemann-Jacob springt in Raum und Zeit umher. Wie es einfach alte Menschen tun, wenn sie über ihr langes Leben berichten. So wechseln sich scheinbare Nebensächlichkeiten und historisch Belegtes ab.

Der Schreibstil ist sachlich und souverän. So besorgt sich der Ich-Erzähler, weiterführende Literatur, um die Aussagen der alten Frau zu überprüfen. Das macht die Geschichte glaubwürdig, auch wenn sie doch zu einem großen Teil fiktiv ist.

Fazit:

Eine gelungene Erzählung, der ich gerne 4 Sterne gebe.

Bewertung vom 12.02.2024
Der Kommissar und der Tod auf Cotentin / Philippe Lagarde ermittelt Bd.14
Dries, Maria

Der Kommissar und der Tod auf Cotentin / Philippe Lagarde ermittelt Bd.14


gut

Dieser 14. Fall für den ehemaligen Elitepolizisten Philippe Lagarde beginnt mit einem Prolog im Gefängnis von Cherbourg. Charline, eine verurteilte Gattenmörderin, die stets ihre Unschuld beteuert, erhängt sich.

Wenige Wochen später werden auf Kommissar Ludovic Cleroc zwei Anschläge verübt, die er verletzt überlebt. Eine pensionierte Richterin hat weniger Glück und wird mit ihrer eigenen Gartenschere erstochen.

Nachdem Cleroc ein Freund Lagardes ist, wird gemeinsam ermittelt. Es dauert, bis Cleroc endlich den Zusammenhang mit einem alten Verbrechen erkennt. Nun ist höchste Eile geboten, denn der damalige Anwalt, der so scheint es, versagt hat, ist ebenfalls in Gefahr.

Doch wer ist der Täter?

Meine Meinung:

Nachdem ich alle Vorgänger kenne, ist dieser Band wie ein Klassentreffen. Man hat sich länger nicht gesehen und doch gleich wiedererkannt. So geht es auch Odette, die einst mit dem bekannten Krimiautor Sébastien Gautier eine amour fou gehabt hat. Ausgerechnet dieser Mann hat den alten baufälligen Leuchtturm in Cotentin gekauft, renoviert und lebt jetzt in Odettes und Lagardes Nähe.

Nun, ich hätte von einem langjährigen Ermittler schon erwartet, dass er zackig den Zusammenhang mit dem alten Fall erkennt. Deswegen schwächelt dieser Krimi ein wenig an der Handlung. Das Rundherum wie Umgebung, die delikaten Speisen samt ausführlicher Weinbegleitung ist wie immer sehr gut. Lagarde darf ein bisschen Gefühl zeigen: Sorge um Odette und Eifersucht auf den Krimiautor.

Mein Verdacht, wer der Täter sein könnte, hat sich bestätigt.

Fazit:

Ein schöner Urlaubskrimi, dem ich gerne 3 Stern gebe. Möge der nächste wieder ein wenig spannender sein.

Bewertung vom 12.02.2024
Unheiliges Land
Pouchairet, Pierre

Unheiliges Land


ausgezeichnet

Der Ort Nablus, eine Siedlung im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Westjordanland, gilt als Hotspot von Unruhen. Zum einen, weil zahlreiche orthodoxe Juden dort Siedlungen errichten, die nicht immer legal sind und zum anderen, weil dadurch die dort lebenden Palästinenser, die kaum Beschäftigung haben, verdrängt werden. Vor allem die männliche Jugend ist empfänglich für Hassprediger und militante Führer, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen.

„Man hat die Nase voll von diesen Imamen. Sind nicht schon genug Moscheen in dieser Stadt gebaut worden? Wir brauchen Fabriken, Arbeit für unsere jungen Leute ... Von Moscheen kriegen sie keinen Job.“

Deshalb rücken, sobald jüdische Siedler ermordet werden, Angehörige des Schabak, des israelischen Inlandsgeheimdienstes aus, um die Täter zu fassen. Das ist nun der Hintergrund, vor dem dieser Krimi rund um die Ermordung der fünfköpfigen Familie Uzan spielt.

Eli Zimmermann, leitender Ermittler des Schabak sieht, wie viele andere Israelis, die ungezügelte Ansiedlung der ultraorthodoxen Juden als Gefahr für einen möglichen Friedensprozess mit den Arabern. Dennoch muss er gegen sie ermitteln und in einer Nacht und Nebelaktion werden drei junge Männer im nahe gelegenen Flüchtlingslager Balata verhaftet.

Doch so einfach ist es wieder nicht. Denn sowohl die beiden aus Frankreich stammenden Kriminalpolizisten Dany Cohen und Guy Touitou als auch die palästinensische Polizistin Maïssa, Tochter von Ahamd Marouane eines ehemaligen Mitstreiters von Yassir Arafat, werden als Beobachter nach Nablus entsandt.

Während der Schabak die Morde als terroristischen Akt einstuft, verfolgen Dany und Guy einen anderen Ansatz, denn der tote Familienvater war Chemiker in einer Pharmafirma, die Generika herstellt, und hat jede Menge Bargeld in seiner Gartenhütte versteckt.

Ein zweiter Handlungsstrang führt uns Leser nach Nizza, wo es zu mehreren, unter Drogeneinfluss begangene Gewalttaten kommt. Es ist zwar nicht so, dass Gewalt und Drogen an der Côte d’Azur ungewöhnlich wären, aber Crystal Meth in dieser besonderen Zusammensetzung ist doch recht neu. Als Capitaine Gabin Mournet entdeckt, dass diese Drogen möglicherweise aus dem Nahen Osten kommen, sind alle in Alarmbereitschaft. Denn hier scheint sich eine ungewöhnliche Zusammenarbeit anzubahnen und Gabin muss nach Israel.

„Das kommt uns völlig verrückt vor. Russische Juden arbeiten doch nicht mit Arabern zusammen.“
„Ich halte das nicht für unwahrscheinlich. Wenn es darum geht, ordentlich Knete zu machen, können die Ganoven sich schon verständigen.“

Trotz der verhärteten politischen Fronten zwischen Israel und den Palästinensern müssen sich die Polizisten zusammenraufen und, um den internationalen Drogenring zu sprengen, an einem Strang ziehen.

Meine Meinung:

Dieser höchst komplexe Krimi ist 2014 erschienen. Sehr geschickt sind die 2014 aktuellen Tatsachen in den Krimi eingeflochten. Allerdings verlangsamen sie die Krimihandlungen. Dennoch sind sie notwendig, um die komplexe Situation von Israelis und Palästinensern zu verstehen. Weder die einen, noch die anderen sind einheitlicher Meinung. So gibt es sowohl bei den Israelis zahlreiche Stimmen, die gegen die Ultraorthodoxen und ihre Siedlungspolitik sind. In einer solchen aufgeheizten Stimmung haben es Kriminelle leicht, ihre eigenen Geschäfte durchzuziehen.

„Der Gazastreifen ist ein Schandfleck für den Hebräischen Staat und für die Palästinensische Autonomiebehörde. Die Hamas regiert auf ihre Weise. Eiserne Faust und Religion. Da gibt es nichts zu lachen. Verschleierte Frauen, kein Alkohol, selbst lange Haare und Hüftjeans werden von den örtlichen Sicherheitskräften verfolgt. Paradoxerweise beklagt sich die internationale Gemeinschaft ständig über sie, unterstützt sie aber doch. Das ärgert Israel zutiefst. Und die Hamas ist auch das Schreckgespenst der Palästinensischen Autonomiebehörde und Mahmud Abbas. Sie haben Angst, dass sie gestürzt und die Hamas eines Tages die Macht übernimmt.“

Die wahren Ereignisse in den vergangenen zehn Jahren und besonders jene des Oktobers 2023, haben die Fantasie des Autors überflügelt. Die Hamas hebt bereits ihr brutales Haupt und beginnt unter den arbeits- und perspektivenlosen Jugendlichen mit der Rekrutierung von willfährigen Anhängern. Und solange es in deren Familien als ehrenhaft gilt, für Terroranschläge verhaftet und verurteilt zu werden, selbst wenn die Geständnisse falsch sind oder gleich zu sterben, wird sich wenig ändern.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem komplexen Krimi, der die instabilen Machtverhältnisse von 2014 im Nahen Osten aufzeigt, 5 Sterne.

Bewertung vom 10.02.2024
Putins Krieg gegen die Frauen
Oksanen, Sofi

Putins Krieg gegen die Frauen


ausgezeichnet

Gleich vorweg, dieses Buch schildert die extreme Brutalität, die russische Soldaten mit Wissen und Billigung von Wladimir Putin gegen die ukrainische Bevölkerung einsetzt und ist daher nichts für Zartbesaitete. Dabei geht es vor allem um die Zivilbevölkerung, also Kinder, Frauen und alte Menschen, die tagtäglich unvorstellbaren Kriegsverbrechen ausgesetzt sind.

In folgenden Kapiteln schreibt Sofi Oksanen über die extreme Gewalt gegen Frauen und Kinder:

Der Einsatz sexueller Gewalt als Waffe
Von Soldaten zu Kriegsverbrechern
Homo putinicus
Crashkurs in russischem KoloniaIismus
Exportartikel

Sofi Oksanen berichtet über Vergewaltigungen von Frauen, Kindern und auch Männern, die an der Tagesordnung stehen. Extreme Brutalität durch russische Soldaten werde auch und vor allem gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, um sie in den neu besetzten Gebieten einzuschüchtern. In den russisch besetzten Gebieten werden die Menschen vertrieben oder, wer sich wehrt, getötet, die ukrainischen Sprache verboten und Russen werden neu angesiedelt. Wir lesen über das Déjà-vu in den baltischen Staaten, die Terror und Russifizierung sowie Deportationen erleben mussten.

Sofie Oksamen zählt zahlreiche Beispiele vom Einsatz sexueller Gewalt gegen Kinder und Frauen, die ein „übliches Mittel“ zur Einschüchterung der Zivilbevölkerung durch feindliche Armeen ist, auf. Es darf hier nicht länger der Mantel des Schweigens über diese Kriegsverbrechen gebreitet werden. Heute ist es möglich, die Gräueltaten zu dokumentieren. Die Hoffnung und die Chancen, dass Russlands Straffreiheit ein Ende haben wird, bestehen. Die Kriegsverbrecher von Bosnien oder in Afrika sind letztlich verurteilt worden.

Welche Folgen die sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern hat, kann u.a. in „Meine Stimme für das Leben“ des Friedensnobelpreisträgers Denis Mukwege sowie in anderen in dem ausführlichen Literaturverzeichnis angegebenen Werken nachgelesen werden.

Fazit:

Niemand sollte nach der Lektüre dieses Buches der finnisch-estnischen Autorin Zweifel an den Kriegsverbrechen von Putins Armee haben. Gerne gebe ich diesem erschütternden und aufwühlenden Buch 5 Sterne.

Bewertung vom 09.02.2024
Die Königin
Conrad, Sebastian

Die Königin


ausgezeichnet

Nofretete - Gemahlin des Echnaton und Ikone der Schönheit

In seinem Buch "Die Königin - Nofretetes globale Karriere" nimmt uns der Autor Sebastian Conrad auf eine Reise ins antike Ägypten mit, um den Hype dieses Bildnisses zu erklären.

In insgesamt sechs Kapiteln erzählt er den Werdegang einer Büste, die 1913 in einer Handwerkerwerkstätte in Tell al-Amarna gefunden worden ist, danach ihren Siegeszug angetreten hat, der bis heute anhält und ungeachtet aller Diskussionen um eine allfällige Restitution, zu einer Ikone der Schönheit ist.

Entdeckung
Ausstellung
Restitution
Nofretete global
Die afroamerikanische Nofretete
Globalisierung, Restitution und Nofretetes Zukunft

Mit diesem Buch zeigt uns der Autor, welche Faszination von dieser Frau ausgeht. Als die Büste vor exakt 100 Jahren der Berliner Öffentlichkeit erstmals präsentiert wird, ist der Andrang kaum zu bewältigen und der Besucheransturm im Ägyptischen Museum auf der Berliner Museumsinsel ist nach wie vor ungebrochen. Dabei hat die ägyptische Schönheit eine goldene Konkurrenz. 1922 entdeckt Howard Carter das ungeöffnete Grab Tutanchamuns mit all seinen Schätzen.

Sebastian Conrad geht den Fragen nach Restitution der Büste an Ägypten sowie der Vereinnahmung durch zahlreiche Institutionen oder Gruppen, deren Intentionen, Nofretete für sich in Anspruch zu nehmen, oft divergieren.

„In der Figur der Nofretete kreuzen sich also zahlreiche, zum Teil miteinander konkurrierende Erwartungen und Ansprüche, genau das macht ihren Weltruhm aus. Die vielen verschieden Weisen, das Bild der ägyptischen Königin zu beschwören, machten sie in der ganzen Welt zu einem Symbol und verschafften ihr globale Resonanz. Viele Betrachtungen mochten sich auf Nofretete und „Ägypten“ beziehen - aber si verbanden damit jeweils eigene, zum Teil gegenläufige Ziele. Paradoxerweise war es gerade die Vielfalt dieser Bezugnahmen, die in ihrer Gesamtheit dazu führten, dass das charakteristische Profil mit der blauen Krone mehr oder weniger bis in den letzten Winkel der Erde als eine Ikone der Schönheit verstanden wurde. Mehr noch: Sogar die Stilisierung der Nofretete als Gegenentwurf zu den westlichen ästhetischen Standards führte letzten Ende dazu, die seit den 1920er-Jahren in Europa propagierte Vorstellung von der Universalität ihrer Schönheit, umso fester zu verankern.“

So spannt Sebastian Conrad den Bogen jener, die Nofretete für ihre Ziele vereinnahmen von der Weimarer Republik über das NS-Regime sowie die Nationalisten Ägyptens bis hin zu Intellektuellen in Kalkutta oder Mittelamerika und den Drag Queens der queeren Society bis hin zu Toni Morrison oder Beyoncé.

Meine Meinung:

Das Buch ist in gediegener Ausstattung als Hardcover mit Lesebändchen erschienen. Auf der Vor- und Nachsatzseite findet sich jeweils eine Landkarte Ägyptens, einmal aus dem Jahr 1350 vor Christus, der Lebenszeit Nofretetes und einmal aus der Gegenwart. Das Buch besticht durch seine akribische Recherche und den rund 80 Seiten Anmerkungen sowie Quellenangaben. Zahlreiche Fotos ergänzen dieses Sachbuch, das dem globalen Ruhm der Nofretete nachgeht.

Der Schreibstil ist fesselnd und keine staubige Angelegenheit, wie es manchmal in archäologischen Sachbüchern der Fall ist. Die lautstark geführten Diskussionen um eine mögliche Restitution an Ägypten finden ebenso Platz, wie die Kritik an der gnadenlosen Vermarktung eines Kunstwerkes.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem penibel recherchierten und gekonnt erzählten Sachbuch 5 Sterne.

Bewertung vom 07.02.2024
Zeit der Verwandlung
Bollmann, Stefan

Zeit der Verwandlung


ausgezeichnet

Autor Stephan Bollmann nimmt sich in seinem Buch „Zeit der Verwandlung“ einer faszinierenden Epoche Münchens an. Ab den 1890er-Jahren ist München der Sehnsuchtsort zahlreicher Künstlerinnen und Künstler. Während sich Berlin streng, also preußisch, gibt, scheint München so herrlich unkompliziert zu sein. Natürlich ist auch dort nicht alles Gold, was glänzt.

Für Frauen wie Franziska von Reventlow bietet München die große Freiheit, auch wenn die mittellose Lebenskünstlerin ihren Lebensunterhalt manchmal auch im Bordell verdienen muss. Man trifft sich, feiert, liebt Frauen und Männer gleichermaßen, malt, dichtet oder politisiert - der Aufbruch in die Moderne scheint nicht aufzuhalten zu sein. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges lässt zunächst noch die Puppen tanzen, das Ende 1918 ist bitter.
Wir begegnen zahlreichen literarischen Größen wie Frank Wedekind, Hedwig Pringsheim und ihrem zukünftigen Schwiegersohn Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke. Auch die bildende Kunst ist mit klingenden Namen wie Wassily Kandinsky oder Gabriele Münter vertreten.
Es ist Platz für die Frauenrechtlerinnen wie Anita Augspurg sowie Anarchisten wie Erich Mühsam. Daneben wird dem Spiritismus Platz eingeräumt bis man ihn als Talmi entzaubert.
Stefan Bollmanns Buch bietet einen spannenden Einblick in diese Aufbruchsstimmung, einem Kaleidoskop ähnlich, das nie oberflächlich bleibt, sondern auch die Schattenseiten zeigt.

Fazit:

Diesem faszinierenden Spaziergang durch die Kulturgeschichte der Boheme Münchens um die Jahrhundertwende gebe ich 5 Sterne.