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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Ein Licht im Zimmer / Kommissar Colbert Bd.3
Wittekindt, Matthias

Ein Licht im Zimmer / Kommissar Colbert Bd.3


sehr gut

Silvia Courbet hat einen ungewöhnlichen Weg zur Arbeit. Vom fiktiven Bauge in der Bretagne nimmt sie die Fähre nach England, um in London in ihrer Galerie zu arbeiten. In Silvias Heimatort Bauge brodeln die Gerüchte, seit eine chinesische Firma die Ausschreibung für den Bau eines Gezeitenkraftwerks gewinnen konnte. Mit der Ankunft von einigen hundert chinesischen Arbeitern beginnend, sind in Bauge bizarre Morde passiert; DNA-Spuren weisen auf einen Serienmörder hin. Trotz erkennbarer Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern tappt die Polizei bisher im Dunkeln.

Matthias Wittekindt entwickelt ein kompliziertes Szenario mit kleinstadttypischen Verbindungen und Verdächtigungen. Da gibt es missgünstige Nachbarn, Groll wegen uralter Geschichten, junge Erwachsene als Mitglieder eines Geheimbundes, zurückgewiesene Zuneigung und Existenzängste durch das Bauprojekt. Dem Ermittler-Team wird vom entgegengesetzten Ende Frankreichs Brigadier Ohayon zugeordnet, um die Führungsschwäche der gerade nicht dienstfähigen Vorgesetzten zu decken. Ungewöhnlich selbstbewusste Kolleginnen arbeiten in Bauge, stellt der Brigadier fest, der als Neuer im Team einen unverstellten Blick für die lokalen Empfindlichkeiten mitbringt. Der Kollege aus der Nähe der deutschen Grenze erklärt sich die zupackende Art seiner Kolleginnen damit, dass sie auf den Fischkuttern ihrer Väter mit anpacken mussten wie ihre Brüder. In Bauge bekommt er es mit der lokalen Kulturschickeria zu tun und muss sich in einen außergewöhnlich manipulativen Teenager hineinversetzen. Im Ausschlussverfahren arbeitet sich Ohayon Schicht für Schicht durch die Familien- und Beziehungskonflikte, bis er dem tatsächlichen Täter auf die Schliche kommt. Die Leser haben zwar Einblick in die Gedanken einer verdächtigen namenlosen Person, sind Ohayon aber nur geringfügig voraus in ihren Vermutungen. Der Brigadier lässt seine Gedanken schweifen und führt Wittekindts Leser abwechselnd auf falsche und erfolgversprechende Spuren. Eine dieser Spuren ist die nervige Art der Leute von Bauge, überfürsorglich unerwünschte Ratschläge zu geben: 'Sind Sie sicher, dass sie heute warm genug angezogen sind?'

Die Atmosphäre einer bretonischen Kleinstadt vermittelt der Krimi weniger, das Setting muss schlicht in der Region angesiedelt sein, damit das Gezeitenkraftwerk gebaut werden kann und starke Frauenfiguren die Kutter ihrer Väter durchs Bild steuern können. Obwohl verhältnismäßig viel berichtet und weniger gezeigt wird (zwischen den Ereignissen vergehen einige Jahre, in denen sich die Figuren m. A. nach nicht merkbar verändern), hat mich Wittekindts personalintensiver Plot gut unterhalten.

Bewertung vom 04.01.2017
Breaking the Rules, DVD-ROM

Breaking the Rules, DVD-ROM


sehr gut

Martin Krolops Videotraining wird in einer Box mit einer DVD und einer umfangreichen Anleitung geliefert. Die DVD enthält ungefähr fünf Stunden Videomaterial, jedoch kein Übungsmaterial, was auch nicht erforderlich ist. Der auf der DVD enthaltene Player startet ohne Installation von der DVD und lässt sich sowohl im Vollbild als auch im Fenster betrachten.

Inhaltlich wendet sich Martin Krolop an Fashion-Fotografen, die schon etwas Erfahrung in der Modelfotografie haben und dabei Gefahr laufen, sich in festen Bahnen zu bewegen. Aber auch für Fotografen aus anderen Genres ist sicher der eine oder andere Denkanstoß hilfreich. Im Laufe des Trainings hatte ich ein paar Mal Angst, dass Herrn Krolop beim schnellen Sprechen die Luft ausgeht. Zum Glück ist das nicht passiert, aber man muss konzentriert zuhören, um ihm immer im Detail folgen zu können.

Die Tipps und Anregungen, die Martin Krolop gibt, sind für manchen sicher überraschend oder auch nicht jedermanns Geschmack, aber genau das ist das Ziel des Videotrainings:
- Es will Ideen liefern, wie man Bilder (mit einfachen Mitteln) auch mal anders gestalten kann.
- Es kann anregen, über die eigene Arbeit und Arbeitsweise nachzudenken und ausgetretene Pfade zu verlassen.

Für meinen Geschmack ist Krolop das gut gelungen, bereits nach zwei Teilen Videotraining habe ich für das nächste Shooting völlig andere Ideen entwickelt, sei es was die Location angeht, sei es was die Art und Vorgehensweise bei der Aufnahme betrifft. Selbst der Koffer für die nächste Fotoreise wurde noch einmal umgepackt.

Ein sehenswertes Videotraining, das zum Nachdenken über den eigenen Weg anregt. Einzige Kritikpunkte sind der teils sehr schnell gesprochene Text und an einigen Stellen konnte ich Martin Krolops Negativbeispiele mangels Beispielbildern nicht nachvollziehen.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Lauf der Dinge
Stamm, Peter

Der Lauf der Dinge


ausgezeichnet

Die Gesamtausgabe der Erzählungen Peter Stamms enthält alle Texte der Bände Blitzeis (1999), In fremden Gärten (2003), Wir fliegen (2008), Seerücken (2011, zusätzlich elf bisher unbekannte oder unveröffentlichte Texte aus den Jahren 1994-2012. - Peter Stamm hat sich als Erzähler mit einer kühlen, analytischen Sprache auch international einen Namen gemacht. Seine frühen Erzählungen in "Blitzeis" folgen hauptsächlich jungen Männern bei ihren Bewährungsproben in Cliquen junger Erwachsener (Feuer, Am Eisweiher), auf dem Weg ins Berufsleben und verzeichnen deren Entfremdung von Heimatort und Jugendfreunden. Charakteristisch sind in diesen frühen Geschichten Icherzähler, die in Metropolen wie London oder New York Fuß zu fassen versuchen (Treibgut, In den Außenbezirken). Der Auslandsaufenthalt junger Akademiker bleibt dabei berufliche Übergangsphase, in der die Hoffnung auf privates Glück sich noch nicht erfüllt. Stamms Protagonisten stehen noch außerhalb der beleuchteten Fenster jener, die sich bereits beruflich und privat etabliert haben. Peter Stamm lässt auch Menschen in Ausnahmesituationen unerwartete Seiten zeigen (Jedermannrecht). Für mich herausragend war in "Blitzeis" die Erzählung über eine junge Frau aus Kasachstan, der aufgrund ihrer unheilbaren Tuberkuloseerkrankung für ihre restliche Lebensspanne die Isolierung in einer Lungenklinik bevorsteht und deren Mann sich bereits von der Todgeweihten abgewandt hat. Das Blitzeis betrifft Larissa nicht mehr, es befindet sich außerhalb der Klinik, die sie nicht mehr verlassen wird. - 'In fremden Gärten' wartet Stamm mit älteren Protagonisten und ihren Lebenskrisen auf (Der Besuch, In fremden Gärten, Eric, Der Kuss), in deren Leben Rituale ihren Sinn verloren haben. Ein männlicher Protagonist erlebt in New York eine plötzliche Schneekatastrophe, die die Metropole zur Langlaufloipe macht. Stamm zeigt auch in diesem Erzählband wieder die private Leere im Leben beruflich mobiler Großstädter (Alles, was fehlt). In 'Deep Furrows' wird der Icherzähler als gewünschter Ehemann für eine der drei unverheirateten Töchtern von deren Vater praktisch gefangen, eine Grenzsituation, die beklemmend einer psychischen Erkrankung ähnelt. - 'Wir fliegen' befasst sich mit ungelebten Träumen (Drei Schwestern), dem Ausharren im Alltag der Provinz und der Erkenntnis, dass man trotz des erreichten Berufsabschlusses noch immer nicht im Leben angekommen sein kann (Die Verletzung). In 'VideoCity' beobachtet der Erzähler wie ein Kameramann eine psychische Ausnahmesituation aus Wahnvorstellungen und Kommunikation mit fremden Mächten, die auf eine konkrete geschäftliche Krise zurückzuführen ist. Auch hier sind Krisen im Übergang zwischen Lebensphasen Thema (Im Alter, Der Brief). - Im Band "Seerücken" (Sommergäste) sucht ein Autor als Icherzähler einen Platz zum ungestörten Schreiben und gerät außerhalb der Saison in ein leer stehendes Hotel. Die Abläufe dort werden zunehmend sonderbarer, so dass man an der Wahrnehmung des Mannes zweifeln könnte. Während das bewusst kinderlose Paar in 'Der Lauf der Dinge' noch dem realistischen Thema Midlife-Krise zugeordnet werden könnte, treten der Pastor in 'Das Mahl des Herrn' und eine junge Schwangere deutlich aus der Realität heraus in der Annahme einer jungfräulichen Zeugung. Anja (Im Wald) tritt als unangepasste Protagonistin auf, die schon als Schülerin ganzjährig im Wald lebt und sich mit Ladendiebstählen durchschlägt. Inzwischen lebt die Frau, die ihre Empfindsamkeit aus der Zeit im Wald behalten hat, ein bürgerliches Leben und wird von ihrem Ehemann für depressiv gehalten. Mit 'Sweet Dreams' kehrt Stamm in diesem Band wieder zu Protagonisten zurück, die am Beginn ihres Berufslebens und ihrer Partnerschaft stehen und setzt Bezüge zu sehr aktuellen Ereignissen. - Als Gesamtausgabe der vier Erzählbände bietet 'Der Lauf der Dinge' die willkommene Gelegenheit Peter Stamms Entwicklung als Erzähler nachzuvollziehen.

Bewertung vom 04.01.2017
Schmetterling im Sturm / Heartland Trilogie Bd.1  (Restauflage)
Lucius, Walter

Schmetterling im Sturm / Heartland Trilogie Bd.1 (Restauflage)


gut

In Amsterdam wird ein afghanischer Junge schwerverletzt im Stadtwald gefunden, offensichtlich dafür geschmückt und geschminkt, um sexuell missbraucht zu werden. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wir, ist dort zufällig gerade die Journalistin Farah Hafez, die selbst aus Afghanistan stammt. Baccha Baazi heißt in Afghanistan die jahrhundertealte Tradition, für die das Kind in die Niederlande gebracht wurde. Hafez arbeitet für die Lokalredaktion einer Amsterdamer Zeitung. Obwohl dem Besitzer der Zeitung finanziell das Wasser bis zum Hals steht, kann er sich Farah als investigative Journalistin in einem ganz großen Fall vorstellen und duldet deshalb ihre Alleingänge in dem ungewöhnlichen Fall.

Die Notärztin Danielle Bernson, die zuerst an den Fundort des verletzten Kindes kommt, leidet seit einem DRK-Einsatz in Afrika an einer bisher unbehandelten Angststörung, die sie völlig unprofessionell gegen ihren Berufskodex handeln lässt. Ermittler der Amsterdamer Polizei suchen noch nach dem Zusammenhang zwischen dem verletzten Jungen und einem in der Nähe ausgebrannten Transporter. Die für den Fall zuständigen Kriminalbeamten gehören drei unterschiedlichen Einwanderer-Gruppen an, die nicht gerade zart miteinander umgehen. Vorgesetzter ist der indonesisch-stämmige Inspector Tomasao, knallhart und scharfzüngig, seine Mitarbeiter: Joshua Calvino und der Marokkaner Marouan Diba.

Lucius Trilogie, die in den Niederlanden schon komplett erschienen ist, schien allein aufgrund des Settings und der Figuren Spannung zu versprechen. Doch nach der Einführung der Protagonisten, weiterer möglicher Schauplätze und politischer Brennpunkte scheint Lucius die Luft auszugehen. Durch das Anlegen persönlicher Verbindungen zwischen den Figuren und zu Ereignissen im Afghanistan der 70er Jahre wird die Aufmerksamkeit des Lesers zu lange von den eigentlichen Ermittlungen abgelenkt. Der Plot hat auf mich wie das Drehbuch für eine Fernsehserie gewirkt, in der mit ständigen Szenenwechseln und neuen Figuren nur der Anschein von Spannung erweckt wird. Lucius verliert sich einerseits in akribischer Beschreibung von Nebensächlichkeiten, speist an anderen Stellen seine Leser mit ein paar Markennamen für Kleidungsstücke ab, anstatt seine Protagonisten zu beschreiben. Danielle handelt so unprofessionell, als gäbe es keine Krankenhaushierarchie und kein Berufsethos, auch Farah agiert aus ihrer beruflichen Situation heraus höchst unglaubwürdig. Beim Leser aufkommende Zweifel daran, wie Farah ihren Beruf und ihre Ermittlungen im Fall des afghanischen Jungen rein zeitlich organisieren kann, toppt Lucius allen Ernstes mit Farahs übersinnlichen Fähigkeiten. Um diese Logiklöcher zu überlesen, finde ich das Buch nicht spannend genug.

Mein Tipp: Warten Sie das Erscheinen aller drei Bände ab und geben Sie dem ungewöhnlichen Plot noch eine Chance.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Kunst vegan zu backen
Meyer, Axel

Die Kunst vegan zu backen


ausgezeichnet

Als Pionier der Naturkostbewegung und Verfasser des Kultbuchs Die Kunst des Backens (1979) hätte Axel Meyer sich die zunehmende Umkehr zu veganer Lebensweise damals vermutlich schwer vorstellen können.

Sein aktuelles Backbuch richtet sich mit ganzseitigen Fotos und einem übersichtlichen Layout inhaltlich heute wieder an ein Publikum, das seine Ernährung auf das Wesentliche reduzieren will. Wenn einem ein Brotteig aus selbst gemahlenem Korn auf Anhieb gelingt, ist das neben den gesundheitlichen und ethischen Gründen die beste Werbung für eine vegane Ernährung. Meyers Buch führt in das Geheimnis der Brotbäckerei (mit Sauerteig und Hefeteig) ein und verrät, welche Lebensmittel in der veganen Bäckerei Kuhmilch und Butter ersetzen können. Pizza und Quiche bereitet er mit Sojamilch und Tofu zu, Flammkuchen und auch Käsekuchen mit Mandelmilch, deren Herstellung aus ganzen Mandeln ausführlich erklärt wird. Die Plätzchenrezepte sind für Einsteiger ins vegane Backen vermutlich am einfachsten umzusetzen, da sie sich mit der Verwendung ungehärteter Pflanzenmargarine nur gering von Großmutters Rezepten unterscheiden.

Zusätzlich zum Themenregister können in einem zweiten Register Rezepte auch nach Zutaten gesucht werden. Alle Rezepte sind mit Zutatenliste, Zeitaufwand und Zubereitung übersichtlich gegliedert. Der Buchumschlag wirkt wenig dauerhaft für ein Buch, das direkt in der Küche benutzt werden solll.

Wer als (veganer) Einsteiger selbst Brot und Brötchen backen will, ist mit dem luxuriös gestalteten und sinnvoll gegliederten Buch gut beraten. Brötchen-, Muffin- und Plätzchenrezepte bieten in veganer Ernährung routinierten Bäckern die Gelegenheit, sich selbst Kleinigkeiten für unterwegs zuzubereiten – und mit diesen Kostproben auch Skeptiker zu überzeugen, dass vollwertige Backwaren einfach lecker schmecken.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Zug der Waisen
Kline, Christina Baker

Der Zug der Waisen


ausgezeichnet

Molly wirkt wie ein Goth aus dem Bilderbuch, geschminkt, gesträhnt und gepierct. Das siebzehnjährige Mädchen hat nach dem Tod des Vaters und der Gefängnisstrafe der Mutter viele Pflegestellen und viele verschiedene Schulen erleben müssen. Die Erwachsenen funktionieren wie auf Knopfdruck. Wenn Molly provoziert, explodieren ihre Erziehungsberechtigten, Molly wird wieder fortgeschickt und fühlt sich jedes Mal kurzfristig als Siegerin. Ralph und Dina, die aktuellen Pflegeeltern, nehmen vermutlich an keiner Selbsthilfegruppe für Pflegeeltern teil; denn ihr gemeinsames Motiv, einen schwierigen Jugendlichen aufzunehmen, ist zwischen den Partnern nicht geklärt worden. Als Molly ein Buch aus der Bibliothek zu stehlen versucht, droht ihr – reichlich martialisch – gleich ein Jugendarrest. Mollys guter Freund Jack will sich auf keinen Fall von Molly trennen und dringt darauf, dass sie die Strafe in Form von Sozialstunden abarbeitet. Jack hat auch gleich eine Idee wie, Molly soll der betagten Vivian beim Entrümpeln des Dachbodens helfen.

Vivian, 91 Jahre alt, verfügt über die gebieterische Ausstrahlung einer Ordensschwester und findet gleich den richtigen Ton bei Molly. Schnell wird klar, dass Vivian sich noch nicht von den Erinnerungsstücken auf ihrem Boden trennen kann; denn über ihr Schicksal als Adoptivkind in den USA der harten 30er Jahre hat sie bisher kaum gesprochen. Vivian wurde gemeinsam mit anderen Kindern aus dem New Yorker Waisenhaus mit dem Orphan Train nach Minnesota aufs Land geschickt und dort als kostenlose Arbeitskraft an so genannte Adoptiveltern verschachert. Die Interessenten wollten entweder ein Baby, einen kräftigen Jungen als Arbeitskraft oder ein Mädchen, das den Haushalt führt und die leiblichen Kinder betreut. Für die Adoptiv-Kinder bestand eine Art Rückgaberecht, so dass sie jederzeit befürchten mussten, wieder fortgeschickt zu werden.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Molly vor den Gesprächen mit Vivian nicht bewusst war, dass ein Pflegekind sich den Wünschen anderer so stark anpassen kann, bis es nicht mehr spüren kann, wer es selbst ist. Vivian, die eigentlich Niamh hieß, musste sogar zweimal ihren Vornamen wechseln, um sich den Wünschen ihrer wechselnden Pflegeeltern zu unterwerfen. Im Unterricht in Amerikanischer Geschichte entdeckt Molly (deren Vater indianischer Abstammung war) gerade die Geschichte der Ureinwohner, die ihre Habe mit sich transportieren und dafür klug auswählen mussten. Die Portage, das Verpacken des persönlichen Besitzes, kann im übertragenen Sinn für Aufbruchssituationen im Leben stehen. Molly erkennt, dass Vivians Nachlass dringend eine Vermittlerin wie sie selbst braucht, damit auch andere die Bedeutung der Dinge verstehen können. Molly und Vivian finden in der jeweils anderen unerwartet eine Gesprächspartnerin, der man das eigene Schicksal nicht erst erklären muss und es kommt für alle Beteiligten zu unerwarteten Wendungen.

Christina Baker Kline hat mit ihrem flüssig zu lesenden Buch den Kindern der Orphan Trains ein Denkmal setzen wollen und dokumentiert die historischen Ereignisse eindringlich mit zeitgenössischen Fotos. Zusätzlich hat sie ein wunderbares Buch über Pflegekinder und Pflegeeltern geschrieben, das seinen Lesern Einblick in die Gefühle eines entwurzelten Kindes gibt – und das darüber hinaus einige schwer auszurottende unrealistische Vorstellungen über die Beziehung zwischen Pflegekind und Wahlfamilie aus der Welt schaffen kann. Ich bin froh, dass ich von Vivians und Mollys Schicksalen gelesen habe, auch wenn ich Schicksalsberichten anfangs meist skeptisch gegenüberstehe.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Im Tal der roten Orchidee (eBook, ePUB)
Lehmann, Christine

Im Tal der roten Orchidee (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Isabella hat das Vagabundenleben ihrer Familie satt. Noch ein Jahr bis zum Abitur in Kapstadt, dann will sie zurück nach Deutschland, endlich Fuß fassen und Freundschaften schließen, die länger als nur ein oder zwei Jahre dauern. Die Mutter der Achtzehnjährigen leitet in Kapstadt das Büro einer Filmproduktionsgesellschaft, vorher lebte die Familie in München, London und Paris. Als Ruderin fällt Isabella zuerst auf, dass es in Südafrika neben einer Trennung der Lebensbereiche von Weißen und Schwarzen auch eine strenge Trennung zwischen Männersport und Frauensport gibt. In ihrem Ruderclub sind nur Weiße aktiv. Isabellas spontane Idee, einen Wettkampf-Achter mit schwarzen Mädchen zu trainieren, trifft auf unerwartete Hindernisse. Wie viele hilfsbereite Menschen aus Industriestaaten hat Isabella vorher nicht bedacht, wie sie Mädchen aus den Townships überhaupt ansprechen kann und wie deren Fahrten zum Training mit öffentlichen Verkehrsmitteln finanziert werden sollen. Den Rat der Einheimischen, dass weiße Mädchen nicht allein in eine Siedlung der Schwarzen gehen, möchte Isabella ungern akzeptieren.

Isas Ansprechpartner im Ruderclub ist Greg, ein beneidenswert gut aussehender weißer Südafrikaner, der ihr Projekt unterstützt, auch wenn Isa sich das ungern eingesteht. So unverschämt selbstsicher wie Greg auftritt, sortiert Isa ihn gleich in eine Schublade. Greg benimmt sich wie ein Bure, demnach kann er nur arrogant und rassistisch sein. Isa muss erst schmerzhaft lernen, dass es in Südafrika nicht genügt, die Opfer von Gewalt und die der Tat Verdächtigen in entsprechende Schubladen zu stecken. Südafrika ist auf dem Weg die Probleme des Landes zu lösen, indem Gegner aus der Zeit des Kampfes gegen das Apartheids-Regimes miteinander sprechen und die Position des Anderen respektieren lernen. Mit ihren forschen Urteilen bringt Isa sich nicht nur in peinliche, sondern auch in lebensgefährliche Situationen. Gregs abenteuerliche Spuren-Suche danach, was einmal zwischen Weißen und Schwarzen passierte, eröffnet Isabella die Möglichkeit, Südafrika außerhalb der Großstadt kennenzulernen und sich der zarten Liebe zu Greg zu öffnen.

Isabella mit ihrer jugendlich-naiven Hilfsbereitschaft stand für mich stellvertretend für Weiße, die afrikanische Verhältnisse vorschnell mit europäischen Maßstäben beurteilen. Sie muss erst auf die harte Tour lernen, dass ihre Logik in Südafrika nicht greift und dass ihre für europäische Verhältnisse altersgemäße Auflehnung gegen Anordnungen afrikaerfahrener Personen sie im Extremfall das Leben kosten kann. Hinter einem Buchcover des Genres Love & Landscape verbirgt sich hier ein Jugendbuch, das ein erfreulich realistisches Südafrika-Bild vermitteln kann. Das Wagnis deutschen Lesern Südafrika mit den Augen einer ausländischen Besucherin näherbringen zu wollen, gelingt Christine Lehmann nicht immer überzeugend. So fragt man sich, woher Isabella als Großstädterin ihre Kenntnisse über spezielle südafrikanische Belange hat, wenn sie doch entschlossen ist, 'nur' ihr Abitur hier abzulegen. Bei Isabella hatte ich mich schon gewundert, warum sie sich während ihrer Auslandsaufenthalte ihres nicht allen verständlichen Stuttgarter Dialekts noch nicht bewusst geworden ist. In der wörtlichen Rede von Greg jedoch, der in den Niederlanden aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, werden die süddeutschen Dialektausdrücke endgültig zum Fall für ein sorgsameres Lektorat.

Trotz geringfügiger Kritik ein absolut empfehlenswertes Jugendbuch mit einer eher spröden, sportlichen Hauptfigur, die in Südafrika ihre erste Liebe erfährt und das Land von einer unerwarteten Seite kennenlernt.

Bewertung vom 04.01.2017
London Underground / Nick Belsey Bd.2
Harris, Oliver

London Underground / Nick Belsey Bd.2


ausgezeichnet

Detective Nick Belsey wird im brütendheißen Londoner Sommer bei der Verfolgung eines Verdächtigen abgehängt und landet in einer Sackgasse. Der Mann ist plötzlich verschwunden und muss genau gewusst haben, dass er an dieser Stelle in Londons unterirdischen Tunneln und Katakomben verschwinden kann. Belsey steigt neugierig in ein Tunnelsystem ein, das sich in mehreren Etagen noch unter den U-Bahn-Linien unter Londons Innenstadt ausbreitet und seit der Zeit des Kalten Krieges verlassen zu sein scheint. Er findet eine üppig ausgestattete Infrastruktur für den Notfall, von der die britische Öffentlichkeit vermutlich nichts weiß. Ein romantisches Treffen mit einer Frau in der verlassenen Unterwelt endet in einer Katastrophe. Die junge Studentin Jemma (mit der ein korrekter Ermittler keine private Beziehung hätte) wird entführt.

Der Täter nennt sich nach einem britischen Spion, kennt Belseys Wege offenbar genauestens und nimmt direkten Kontakt zu ihm auf. Belsey hat es mit einem sonderbaren Kauz zu tun, dessen Spezialwissen über das Bunkersystem Belsey allein nicht gewachsen ist. Durch Belseys Degradierung zum Innendienst sind seine beruflichen Möglichkeiten gerade empfindlich eingeschränkt. Der Sachverhalt klingt aber auch so aberwitzig, dass Belsey als Suspendierter wohl kaum eine Hundertschaft unter die Erde zitieren kann, um nach Jemma zu fahnden. Hilfe verspricht er sich von Tom Monroe, einem Journalisten mit schillerndem Lebenslauf, der Bücher zu Spionagethemen veröffentlicht hat. Monroe macht sich für Belsey unentbehrlich durch seine Kenntnisse über die Nachkriegszeit. Unter dem Deckmantel von Post- und Fernmeldewesen sollte damals ein Leben nach einem möglichen Atomangriff Russlands vorbereitet und unter dem Namen „Able Archer“ eine Krisensimulation veranstaltet werden. Man ging davon aus, dass ein Teil der Bevölkerung überleben und fortan unterirdisch existieren würde. Belsey kämpft nun an allen Fronten: Um Jemmas Leben, gegen den gezielt gestreuten Verdacht, er wäre selbst der Täter, gegen den Geheimdienst, der ihm bereits im Nacken sitzt, und gegen einen Täter, der nichts mehr zu verlieren hat.

Aus dem faszinierenden Setting eines Systems ungenutzter Schutzbunker im Londoner Untergrund entwickelt Harris einen Plot, der sich in der zweiten Hälfte zum spannenden Geheimdienst-Thriller entwickelt. Sein Ermittler Belsey agiert dabei äußerst intelligent und geschickt vernetzt, liefert der Polizeibürokratie jedoch immer wieder Angriffsfläche, um ihn wegen seiner kriminellen Aktionen endgültig aus dem Dienst zu entfernen. Dreißig Jahre nach den Ereignissen, denen Belsey auf die Spur kommt, fand ich einerseits die naive Vorstellung jener Zeit vom Leben nach einem angenommenen Atomschlag höchst interessant, aber auch die Londoner Verhältnisse, wo nahezu jedes Fleckchen der Stadt von Kameras überwacht wird. Für Leser, die sich gern von London und seinen brachliegenden Versorgungssystemen als Schauplatz fesseln lassen, eine unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 04.01.2017
Was ich weiß von dir
Rosoff, Meg

Was ich weiß von dir


sehr gut

Milas Mutter hält ihren Mann Gil für so schusselig, dass sie froh ist, wenn ihre 12-jährige Tochter ein Auge auf ihn hat. Mathew, der amerikanische Freund des Vaters, ist ohne ein Wort zu seiner Familie einfach verschwunden. Mila und ihr Vater werden in die USA reisen und versuchen Mathew aufzuspüren. Milas Familie lebt zwischen vielen verschiedenen Kulturen; Mutter Marieka bereist als Geigerin die ganze Welt, der Vater ist Übersetzer. Milas Vorfahren stammen aus so vielen Ländern, dass die Familie sich nur schwer auf eine Muttersprache einigen kann. Von ihrem Namen ist Mila genervt, weil in der Familie schon einmal ein Hund Mila genannt wurde. Genau genommen fühlt sie sich aber sehr gut charakterisiert; denn sie zeigt alle positiven Seiten eines Hundes: Mila ist schlau, schnell und treu, damit die ideale Begleiterin für ihren verplanten Vater. In den USA angekommen, treffen Vater und Tochter auf eine beunruhigende Situation. Mathews Frau scheint ihren Mann nicht wirklich zu vermissen, Mathew hat seinen betagten Hund bei seiner Frau zurückgelassen und niemand hat sich bisher darum gekümmert, ob Mathew sich evtl. nur in seine Hütte an der amerikanischen Ostküste zurückgezogen hat. Mila und ihr Vater werden sich in einem sehr winterlichen April auf die Reise machen, um Mathew aufzuspüren. Zur Erheiterung des Lesers betont Gil immer wieder, dass ihr Roadmovie sie durch das 'echte' Amerika führt, obwohl Vater und Tochter in einer reinen Touristengegend unterwegs sind. Hilfe bei der Interpretation der Ereignisse findet Mila in Gedanken an ihre gute Freundin Catlin und die Spionagespiele, die die beiden früher miteinander gespielt haben. Die vernünftige Mila bildet in ihrer sehr innigen Beziehung den Anker, Cat bringt das Funkeln in diese Freundschaft.

Meg Rosoffs zwölfjährige Icherzählerin ist stets ein Quentchen zu scharfsichtig, zu altklug, zu selbstlos und zu eloquent, um glaubwürdig zu sein. Befremdlich finde ich, dass sich hier ein Kind als Zaungast in einem fremden Leben den Kopf zerbrechen muss um Familienkonflikte, die es selbst nicht betreffen, sondern ihr bisher unbekannte Erwachsene. Da Mila sich aber auch Gedanken um sich und Catlin macht und ich mich noch sehr gut erinnere, wie sehr ich als Jugendliche schlaue Heldinnen wie Mila mochte, wünsche ich den jungen Leserinnen des Buches viel Spaß mit Mila.