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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1115 Bewertungen
Bewertung vom 30.09.2022
Donaunebel / Die Totenärztin Bd.3
Anour, René

Donaunebel / Die Totenärztin Bd.3


ausgezeichnet

Tödliche Armut

„Sie wollen eine forensische Analyse eines Tatorts? Sowas ist bisher kaum praktiziert worden. Es wird gerade diskutiert, ob das eine sinnvolle Ergänzung zu einer Obduktion sein könnte.“ (S. 47) Die junge Gerichtsmedizinerin Fanny und ihr Kollege Franz werden von der Polizei zum ersten Mal überhaupt an einen Tatort gerufen. Mitten in den Donau-Auen stehen ein paar armselige Lehmhütten, deren 6 Bewohner alle tot sind – ohne, dass eine Todesursache erkennbar ist. Auch die Obduktion der Opfer ergibt nichts Verwertbares. Sie finden zwar die Todesart heraus, aber nicht, wodurch diese verursacht wurde. „Ein rascher Mord, ohne Gift und Gewalt.“ (S. 201) Die Zeitungen schüren das Gerücht der Auwald-Bestie, die ermittelnden Polizisten machen Druck und Fannys Chef Prof. Kuderna tobt – und sie gibt nicht zum ersten Mal Widerworte. Am Ende bekommt sie sechs Wochen Zeit und die alleinige Verantwortung für den Fall – traut Kuderna ihr endlich etwas zu?

„Donaunebel“ ist bereits der dritte Teil der Totenärztin und wurde von mir wieder sehnsüchtig erwartet. Die Protagonisten sind mir seit dem ersten Fall ans Herz gewachsen. Ich fiebere und leide mit ihnen mit, denn Fanny und ihre Freunde geraten bei den Ermittlungen regelmäßig in Lebensgefahr. Außerdem hat Fanny einen mächtigen Gegenspieler, der sich in ihr Leben und ihre Fälle einmischt. Ich hoffe ja, dass sie ihn irgendwann zur Strecke bringt. Auch hier taucht er kurz auf – also unbedingt mit dem ersten Band beginnen, falls ihr das noch nicht getan habt.

Mir gefällt, dass Fanny trotz allem, was sie bisher erlebt hat, immer noch so mutig, furchtlos, neugierig und mitfühlend ist. Sie kann die Morde einfach nicht hinnehmen, sondern will das Schicksal der Toten um jeden Preis aufklären, obwohl es aussichtslos scheint. „Die Opfer waren allen gleich. Niemand wusste überhaupt, dass sie existieren. Zumindest jetzt würde ich ihnen gern eine Stimme geben. … Und wenn es nur zeigt, dass ihr Tod nicht allen egal ist.“ (S. 76) Dabei hilft ihr neben ihrer Sturheit auch, dass sie um die Ecke denken kann und sich nicht zu fein ist, andere um Hilfe zu fragen, und sich nicht immer an die gängigen Regeln und Konventionen hält.
Schon bei ihren ersten gemeinsamen Ermittlungen haben sie und Polizist Max sich ineinander verliebt, doch in letzter Zeit verbringt er seine Freizeit lieber mit seinem neuen Freund, engagiert sich in der Arbeiterbewegung und entfernt sich immer mehr von ihr. Kein Wunder, dass sich Fanny da lieber auf ihren Kollegen Franz verlässt, mit dem sie endlich einen Artikel in einer Fachzeitschrift veröffentlicht.
Auch ihre beste Freundin Tilde, eine Herzensbrecherin, hat schon viel Schlimmes erlebt, erholt sich aber langsam von den Spätfolgen ihrer Entführung, verlässt ihr selbstgewähltes Schneckenhaus und krempelt ihr Leben um.
Natürlich mischt auch Fannys Cousin Schlomo wieder kräftig mit, der es aufgrund seiner Andersartigkeit in der eigenen Familie nicht leicht hat, hier aber endlich über seinen Schatten springt und zu dem steht, was er ist.

René Anour scheibt unglaublich fesselnd, mit feinem Humor und überrascht nicht nur mit seiner für die damalige Zeit sehr modernen Mordmethode und wie diese sich in Zukunft leider noch entwickeln wird, sondern auch mit der Person des Mörders und dessen Motiv. Er zeigt, dass nicht nur in der Auenwaldsiedlung tödliche Armut herrscht, sondern auch unter den Fabrik- und Donauhafenarbeitern, weswegen diese sich zu Streiks aufwiegeln lassen und damit Immobilienspekulanten in die Hände spielen. „Die Reichen gehen über Leichen, um sich ein noch größeres Stück am Kuchen zu sichern.“ (S. 101)

Mein Fazit: Die Totenärztin ist für mich eine der besten historischen Krimiserien dieser Zeit, hervorragend recherchiert, extrem spannend und unterhaltsam erzählt.

Bewertung vom 27.09.2022
Die Süße des Todes / Benjamin Freling Bd.2
Ferber, Mattis

Die Süße des Todes / Benjamin Freling Bd.2


ausgezeichnet

Hochprozentige Morde

„… wir haben einen Job für dich. Du musst nur ein paar Weine schätzen.“ (S. 11/12) Der Anruf seines Freundes kommt Benjamin Freling wie gerufen. Er hat vor einem Jahr seinen Job als Sommelier und Restaurantleiter im Gourmetrestaurant seiner Familie hingeschmissen und langsam wird das Geld knapp. Allerdings ist „nur ein paar Weine“ die Untertreibung des Jahres. Ihm gehen die Augen über, als er die uralten Gewölbekeller des Benediktinerklosters Marienwingert im Rheingau betritt und hunderte Flaschen extrem seltener Weine entdeckt, die die Nonnen von einem angeblich unbekannten Wohltäter geerbt und die zum Teil einen sechsstelligen Wert haben. „Er war im feuchten Traum eines Weinfreaks gelandet.“ (S. 26) Er kann kaum glauben, dass sie nicht wissen, was für Werte sie hier lagern. Aber sie haben die Schätze nach Gutdünken als Messwein genutzt, wichtigen Gästen kredenzt (vor allem der Bischof lud sich regelmäßig selber ein), oder – ganz schlimm für Benjamin – zum Kochen verwendet! Außerdem macht ihn stutzig, dass die Priorin, die das Erbe verwaltet hat, vor kurzem die Kellertreppe heruntergestürzt und gestorben ist. Danach war nämlich ihr Schlüssel weg und die Tür zum Weinlager musste aufgeflext werden.
Als weitere Nonnen bei ungewöhnlichen Unglücken sterben, sein Freund lebensgefährlich verletzt wird und Benjamin ins Visier der Polizei gerät, forscht er nicht mehr nur nach der Herkunft der Weinsammlung, sondern auch nach demjenigen, dem der Tod der Nonnen nutzt …

Wie schon „Mörderische Auslese“ ist auch „Die Süße des Todes“ wieder ein extrem spannender Genusskrimi. In der abgeschlossenen Welt des Klosters gibt es viele Geheimnisse und die Nonnen leben noch fast so isoliert wie seit Jahrhunderten. Außer Handwerkern oder anderen Dienstleistern betritt kein Fremder die strenge Klausur. Dann muss der Täter doch von innen kommen, oder?
Als Benjamin in den dunklen, kalten Kellern (die perfekt für die Weinlagerung sind) nach Hinweisen sucht, fühlt er sich mehr als nur einmal verfolgt und beobachtet. Außerdem juckt es ihn natürlich in den Fingern, eine der ihm anvertrauten Flaschen zu öffnen: „Einmal die berühmte Süße des Todes erleben, dafür würde der Sommelier viele Entbehrungen auf sich nehmen: die große, süße Entfaltung eines uralten Weins, bevor er kippte und ungenießbar wurde.“ (S. 25)

Man merkt Mattis Ferber (Gastro-Journalist Hannes Finkbeiner) an, dass er vom Fach kommt. Er beschreibt jeden Tropfen so poetisch und detailliert, dass man ihn förmlich schmecken kann. „Ein gereifter Wein, der zum richtigen Zeitpunkt geöffnet wurde, war für den Sommelier ein kleines Mysterium. Er war Zen. Yin und Yang. Pure Poesie. Die perfekte Balance von Millionen Gegensätzen.“ (S. 9)
Aber auch die Spannung und der Gruselfaktor kommen nicht zu kurz. Ich habe den Krimi am Stück gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, ob meine Tätervermutung richtig war, und ob, wo und wie er wieder zuschlägt. Und ohne zu viel verraten zu wollen, er hat zum Teil auf sehr kreative Weise gemordet. Zwischendurch musste ich mich echt allerdings echt zusammenreißen, mir nicht schon am Sonntagvormittag eine gute Flasche Wein zu öffnen …
Zudem fand ich es sehr interessant, einen Einblick in den Handel mit den außergewöhnlichen Spirituosen zu bekommen und wie die zum Teil horrenden und für Laien nicht wirklich nachvollziehbaren Preise entstehen – und schließe mit den Worten der Äbtissin und einem Augenzwinkern: „Das ist ja wohl eine Frechheit, was für eine Gier! So viel sollte kein Wein auf der Welt wert sein.“ (S. 61)

Bewertung vom 25.09.2022
Die Wagemutige
Bernard, Caroline

Die Wagemutige


ausgezeichnet

Wir sehen uns nach dem Krieg

… sagt Lisa zu den Zurückbleibenden, als sie im Frühling 1940 zusammen mit einigen anderen Frauen endlich aus dem Internierungslager fliehen kann. Mehrere Wochen haben sie, Hannah Ahrendt, Marta Feuchtwanger und viele mehr gehofft, dass sie auf legalem Weg freikommen, bevor die Gestapo auch in Gurs nach Inhaftierten von ihren Verhaftungslisten sucht.
Zusammen mit ihrer Freundin Paulette beginnt eine Odyssee in Richtung Marseille, wo sie ihre Partner treffen, um Frankreich zu verlassen. Doch Marseille ist längst von Flüchtlingen überlaufen und sie bekommen die dringend benötigten Ausreisepapiere nicht schnell genug.
In dieser Situation lernt sie in einem Café den amerikanischen Reporter Louis kennen. Er lädt sie zu Champagner, Abendessen und zum Tanzen ein – sie verlieben sich. Die Zeit mit ihm fühlt sich nach einem normalen Leben mit einer gemeinsamen, glücklichen und ungefährlichen Zukunft an. „Ich habe jemanden getroffen, der in mir eine Frau sieht. Nicht nur eine Widerstandskämpferin.“ (S. 214) Louis will sie schon nach kurzer Zeit heiraten und mit nach New York nehmen. Aber dann müsste sie ihre Familie und Freunde zurücklassen.
Gleichzeitig bittet Varian Fry, ein weiterer Amerikaner, sie, eine Fluchtroute über die Pyrenäen nach Spanien zu finden, auf der er so viele Exilanten wie nur irgend möglich retten kann. Lisa muss sich zwischen ihrer eigenen Freiheit und der vieler Verfolgter entscheiden.

„Die Wagemutige“ erzählt die Geschichte der Widerstandskämpferin Lisa Fittko, einer Jüdin und Kommunistin, die schon 1933 untertauchte und als U-Boot in Berlin lebte. „Tagsüber irrte sie durch Kaufhäuser, Cafés und U-Bahnstationen, nachts tippte sie auf ihrer Schreibmaschine Flugblätter und versuchte Schlaf zu finden.“ (S. 7) Später ging sie zusammen mit ihrem Partner Hans zuerst nach Prag und dann nach Paris, wo sie mit tausenden anderen Frauen im Mai 1940 ins Velodrom gesperrt und nach Gurs gebracht wurde.

Lisa ist eine junge Frau, die leben, lieben, Kinder haben und ein normales Leben führen will, aber durch die Umstände daran gehindert wird. Statt aufzugeben oder nur sich selber zu retten, wächst sie über sich hinaus. Sie ist mutig, furchtlos, fürsorglich und immer wachsam und stellt das Leben Anderer oft über ihr eigenes.
Die Liebe zueinander lässt sie und Hans vieles ertragen, aber durch ihre Untergrundtätigkeit, den ewigen Hunger und die Ängste um sich selbst, Familie und Freunde, liegen ihre Nerven blank. Irgendwann scheint Hans in ihr nur noch die Genossin, aber nicht mehr die Partnerin zu sehen. Kein Wunder, dass sie sich in den smarten Louis verliebt.

Caroline Bernard schreibt sehr bildlich und fesselnd über bewegende Gänsehaut-schicksale und die damaligen Zustände. Sie schildert ein Leben in Angst mit immer neuen, gefälschten Papieren, stets knapp unter dem Radar des Feindes, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Lisa und ihre Genossen durchhalten lässt.

Basierend auf den Eckdaten von Lisas Fittkos Leben, die beispielhaft für die vielen Frauen im Widerstand steht, hat Caroline Bernard einen biographischen Roman mit hervorragend recherchierten historischen Hintergründen geschrieben und mir so eine bisher unbekannte Widerstandskämpferin und ihr gefährliches und bewundernswertes Leben nähergebracht. Ein weiteres wichtiges Buch #gegendasvergessen

Bewertung vom 21.09.2022
Das Geheimnis des Pilgers / Pilger Bd.2
Schier, Petra

Das Geheimnis des Pilgers / Pilger Bd.2


sehr gut

Das stumme Kreuz

„Ich sitze in der Falle, Reinhild. Zumindest fühlt es sich so an. Meine Pflichten erstrecken sich plötzlich nicht mehr nur auf mich oder uns beide oder die Familie, sondern haben sich mehr oder weniger über Nacht vervielfacht.“ (S. 396) Es ist immer noch unwirklich für Conlin und Reinhild, dass sie sich wirklich verlobt haben, schließlich ist sie erst seit zwei Monaten Witwe und ihr Mann war sein bester Freund. Zudem ist Conlin seit kurzem Landgraf von Langenreth und steckt mitten im Aufbau seines Geschäftes mit Sicherheiten, für das ihm noch Kapital fehlt.
Auch sein Freund Palmiro hat ein Problem. Dessen Ziehvater engagiert einen angeblichen ehemaligen Söldner als Wachmann für ihn, ohne zu ahnen, dass der ein Spion des Inquisitors Erasmus von London ist und nach Palmiro sucht, weil vermutet wird, dass der ein Ketzer ist und den Gralsschatz versteckt haben soll.

„Das Geheimnis des Pilgers“ ist der zweite Band der Pilger-Trilogie von Petra Schier und ich würde unbedingt empfehlen, vorher den ersten zu lesen, damit man die ineinander verwobenen Handlungsstränge, die Beziehungen unter den Protagonisten und die Hinweise auf deren Vergangenheit versteht. Das Highlight der Reihe ist eine Reliquie, das „Kreuz des Zacharäus“, die sich seit Generationen im Besitz von Palmiros Ziehfamilie befindet und ihren Träger vor Gefahren warnt.

Conlin ist „nur“ ein zweitgeborener Adeliger, aber nachdem sein älterer Bruder nicht mehr zurechnungsfähig ist, muss er dessen Stellung in und die Verantwortung für die Familie übernehmen. Sein Freund Palmiro hat ihn und Reinhild verkuppelt, weil es zwischen ihnen funkt, aber sie reden sich ein, dass es eine Vernunftehe wird (was ja damals völlig normal war). Reinhild will sich und ihren Sohn durch die Ehe absichern, und Conlin bietet ihr eine Beziehung auf Augenhöhe. Sie darf sogar in seinem Kontor mitarbeiten und ihn beim Aufbau und führen seines Geschäfts unterstützen. Allerdings hat sie Angst, dass er irgendwann hinter ihr dunkles Geheimnis kommt …

„Ihr scheint diesem Kruzifix alle geradezu blind zu vertrauen.“ (S. 133) Palmiro ist sehr abenteuerlustig und oft etwas zu leichtsinnig, aber bei Benedikt hat er von Anfang an kein gutes Gefühl, weil er dessen Seelenlicht nicht sehen kann und auch das Kreuz schweigt – hat der Mann gar keine Seele und ist gar ein Abgesandter des Teufels? Außerdem hat Palmiro ein Geheimnis, dessen Aufdeckung seinen Tod bedeuten könnte.

Petra Schier verbindet gekonnt mittelalterliche Geschichte und Mystik und schreibt dabei sehr spannend, lebendig und kurzweilig, vor allem die Wortgefechte zwischen den verschiedenen Personen finde ich immer sehr amüsant. Es gelingt ihr, das damalige Koblenz und Umgebung vor dem Auge des Lesers wieder auferstehen zu lassen, auch ihre Protagonisten klingen und verhalten sich ihrer Zeit angemessen. Zudem erfährt man z.B., wie ein Haushalt und Geschäfte funktionierten, welche Rollen Frauen außerhalb des Hauses übernahmen (z.B. die Vertretung ihres Mannes in dessen Geschäft, selten führen sie eigene) und was die Aufgaben der Kleriker waren. Mich hat sie wieder gut unterhalten und ich bin gespannt, wie es im nächsten Band weitergeht.

Bewertung vom 20.09.2022
Es gibt ein Sterben nach dem Tod
Kruse, Tatjana

Es gibt ein Sterben nach dem Tod


ausgezeichnet

Leichen pflastern ihren Weg

„So hatte sie sich den Tod nicht vorgestellt. Wen man tot war, hörte doch alles auf. Auch das Denken.“ (S. 16) Eigentlich hatte sich Marketingexpertin Börnie (Bernhardine) das Erwachen nach ihrer Abschiedsfeier bei Schön Cosmetics anders vorgestellt – z.B. mit einem schnuckeligen Lieferjungen in einem Hotelbett, aber doch nicht auf dem Fußboden ihres Büros! Tot! Vergiftet! Wer hat denn nach ihrem Weggang noch was davon? Ihr Verlobter und dessen Geliebte, die in der gleichen Firma arbeiten? Oder die zickige Chefsekretärin? Der hat Börnie ja noch nie über den Weg getraut! Trotzdem bleibt die Frage nach dem Warum. Und als sich dann der Tunnel mit dem weißen Licht öffnet, dreht sie sich einfach um – sie ist noch nicht bereit zu gehen, erst muss sie ihren Mord aufklären! Dem damit betrauten Hauptkommissar traut sie das nämlich nicht zu. Doch noch hängt sie in ihrem Büro fest und weiß nicht weiter. Bis nach einigen Tagen Putzkraft Jenny dort auftaucht „… bestimmt einen Meter neunzig, stämmig, kantig. Und schwarz.“ (S. 36) und mit ihr spricht. Jenny kann sie sehen und hören! Börnie ist begeistert und will sie für die Mörderjagd anheuern, doch stattdessen zeigt ihr Jenny, wie sie sich an andere Orte bewegen kann „Totsein ist eben ein Lernprozess.“ (S. 47) und bringt sie zu Madama Arkana, der „Dolmetscherin der Toten“ – die in Wirklichkeit ein schmächtiger, ängstlicher Jüngling mit fusseligem Kinnbart namens Kai-Uwe ist, der den Job von seiner Tante geerbt hat. Aber wenigstens kann er Börnie ebenfalls sehen und hören. Mit viel Geld bringt sie ihn dazu, Nachforschungen anzustellen, denn „Zudem fürchtete Börnie, dass es mehr von ihrer Art geben könnte, und sie würde sich ihnen nicht ohne Putzfrau und Medium stellen.“ (S. 133)

Bei ihrer Mörderjagd erleben Börnie, Jenny und Kai-Uwe einige Überraschungen. Sie arbeiten sich von einem Verdächtigen zum nächsten vor, doch leider sterben auch die bald weg wie die Fliegen. Will etwa jemand die gesamte Firma Schön Cosmetics auslöschen? Die Polizei tappt lange im Dunklen, entdeckt die anderen Leichen nicht oder bringt sie erst viel zu spät miteinander in Verbindung. Börnie und ihrem „Team“ bleibt also gar nichts anderes übrig, als selber weiterzumachen.
Nur leider ist Kai-Uwe nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte und hat das Talent, sich entweder selbst zu verletzen oder von ihrem Gegenüber niedergestreckt zu werden. Außerdem hat er ein (zu) weiches Herz und kann kein Blut sehen – er kippt regelmäßig um. Auch bei den Befragungen stellt er sich – nett formuliert – etwas ungeschickt an.
Jenny scheint sich die Hände nicht (mehr) schmutzig machen zu wollen und steht zwar mit Rat und Tat zur Seite, greift allerdings selber kaum ein. Nicht mal Börnies Geld kann sie locken.
Börnie war eine typische eiskalte Karrierefrau und hat andere immer auf Distanz gehalten. Dass sie Jenny und Kai-Uwe jetzt so nah an sich heranlässt, hätte sie sich nie träumen lassen. Außerdem wird ihr bewusst, dass sie zu Lebzeiten wirklich nicht besonders nett war und sie muss sich der Frage stellen, ob am Ende der Himmel oder die Hölle auf sie warten und wie sie ihr Karma noch verbessern kann …

Wer die Bücher von Tatjana Kruse kennt, weiß, dass bei ihr oft nichts so ist wie es im ersten Augenblick scheint. Ihre extrem skurrilen Protagonisten überraschen in vielerlei Hinsicht und die rasante Handlung nimmt mehrmals unerwartete Wendungen. Auch „Es gibt ein Sterben nach dem Tod“ ist wieder total abgedreht, sehr unterhaltsam, kurzweilig und echt lustig.

Bewertung vom 18.09.2022
Prost, auf die Singles
Kalpenstein, Friedrich

Prost, auf die Singles


ausgezeichnet

Internal Affairs

„Was auch immer dieser jungen Frau widerfahren war, einen romantischeren Ort zum Sterben hätte sie sich in dieser Gegend nicht aussuchen können.“ (S. 9) Als ausgerechnet Polizeiobermeister Fink die Tote am Ufer des Roten Traun identifizieren kann, wird es für ihn echt brenzlig. Er hatte Tanja am Vorabend beim Speeddating im „Krause“ kennengelernt und sich mit ihr angelegt, weil sie extrem unsympathisch war und sich über die anderen Teilnehmer lustig gemacht hatte. Mit seiner Meinung stand er zwar nicht allein, aber nur er hat ihr mehr als deutlich die Meinung gesagt. Kein Wunder, dass ihn Kommissar Tischler ordnungsgemäß verhört, auch wenn dem Muttersöhnchen nicht wirklich einen Mord zutraut.
Doch auch die anderen Teilnehmer der Veranstaltung scheinen kein ernsthaftes Mordmotiv zu haben, also schauen sich die Ermittler im Umfeld des Opfers um. Tanja war Krankenschwester, träumte aber von einer Karriere als Influencerin und zeigte sich dafür recht freizügig in den sozialen Medien. Ist vielleicht einer ihrer Fans übergriffig geworden und die Situation eskaliert? Oder gab es Probleme auf Arbeit, die ihnen verheimlicht werden?
Tischler und Fink ermitteln nach der altbewährten TUF-Methode in alle Richtungen und werden dabei tatkräftig von Dackeldame Resi unterstützt, die Tischler in Pflege genommen hat, während Förster Ferstl zur Kur ist.

„Prost, auf die Singles“ ist bereits der 5. Fall für Hauptkommissar Tischler und wieder sehr spannend (ich hatte den Täter bis zum Schluss nicht auf dem Schirm) und unterhaltsam mit viel Lokalkolorit. Der neue Fall führt in die Welt (un-)glücklicher Singles und den stressigen Krankenhausalltag, wo zwischenmenschlich auch nicht alles so toll ist, wie es nach außen kommuniziert wird.

Tischlers Spezl Fink braucht diesmal ein ganz schön dickes Fell, denn natürlich sticheln die Kollegen über seine Beteiligung in dem Mordfall, doch Fink lässt das ziemlich cool an sich abprallen – er hat nämlich endlich eine Freundin, gegen die auch seine Mama nichts hat (und die seine Trachtenjanker zu mögen scheint).
Doch auch Tischler hat zwei ernsthafte Probleme, bei Britta tun sich berufliche Veränderungen auf und seine heißgeliebte Kaffeemaschine ist kaputt.

Und ohne zu viel verraten zu wollen, besonders amüsant fand ich den Kleinkrieg zwischen Gastwirtin Nori und der zwielichtigen Nageldesignerin Tereza und Polizeioberrat Schwenks Rationalisierungspläne, die eigentlich noch geheim bleiben sollten. Aber auf dem Land ist die stille Post eben verdammt schnell unterwegs …

Mein Fazit: Wer Spannung, Humor und Dackel mag, liegt hier genau richtig!

Bewertung vom 16.09.2022
Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3
Storks, Bettina

Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3


sehr gut

Literatur, Leidenschaft und Eifersucht

„… ich bin Inge hoffnungslos verfallen. Ohne sie werde ich wahnsinnig. Mit ihr allerdings auch.“ (S. 94) Dieser Satz sagt wahrscheinlich alles, was man über die Beziehung von Ingeborg Bachmann und Max Frisch wissen muss. Als sie sich 1958 kennenlernen, ist sie 32 und er 47, beide sind frisch getrennt und berühmt. Und sie sind voneinander fasziniert. Max verliebt sich wohl sofort in Inge, aber sie ist vorsichtig. Inge braucht ihre Freiheit, im Schreiben und Leben, sie war mit ihrem bisherigen Dasein als Dauergeliebte von Paul Celan zufrieden, will gar keine bürgerliche Beziehung. Aber Max umwirbt sie und macht ihr große Versprechungen: „Wir können alles umdenken, Mann und Frau neu erfinden, wir werden die ersten sein.“ (S 77)

„Ich geh vom Leiden weg, du wendest dich ihm zu.“ (S. 373) Gegensätze ziehen sich an, habe ich nicht nur einmal beim Lesen von Bettina Storks Romanbiographie über dieses berühmte Künstlerpaar gedacht, denn was die beiden unterscheidet, trennt sie auch. Inge ist ein Nachtmensch, extrem freiheitsliebend und ringt um jedes Wort, alles hat für sie eine Bedeutung. Sie braucht Ruhe und ihren Freiraum, um zu schreiben. Außerdem kann (oder will) sie nicht mit Geld umgehen, gibt oft mehr aus, als sie hat und lebt sehr impulsiv. Max hingegen hat seinen Tag strikt durchgeplant, da kommt der Architekt, der er früher war, zum Tragen. Er setzt sich immer zur gleichen Zeit an die Schreibmaschine und schreibt dann auch – das macht Inge bald wahnsinnig – und hält penibel Ordnung. Ihn hingegen stört ihr kreatives Chaos, ihr laxer Umgang mit Geld, ihre zahllosen (Brief-)Freundschaften mit Männern, ihre vielen Reisen und vor allem, wie präsent Paul Celan in ihrem gemeinsamen Leben weiterhin ist – er kann seine Eifersucht kaum kontrollieren. „Ihre Freiheit machte ihn unfrei, ihr Wunsch nach Unabhängigkeit ließ ihn klammern.“ (S. 179) Trotzdem raufen sie sich immer wieder zusammen, denn sie lieben sich doch und sind sich intellektuell ebenbürtig, dann muss doch auch das Zusammenleben funktionieren …

Bettina Storks schreibt extrem lebendig, leidenschaftlich und poetisch – so wie die Beziehung des Paares war. Man dringt tief in Inges und Max‘ Gedanken- und Gefühlswelt ein, in ihren Alltag mit den sich ständig wiederholenden Szenen der Eifersucht und Selbstzweifel. Sie führen eine (in meinen Augen) sehr ungesunde, selbstzerstörerische Beziehung. Selbst die Leichtigkeit, die eine junge, frische Liebe ausmacht, scheint es nie gegeben zu haben. Die Freiheit, die er zu Beginn so an Inge mag, stört Max bald und treibt ihn in regelrechte Eifersuchtsattacken. Er versucht sie zu ändern und an sich zu binden. Sie antwortet, indem sie geht – in ein anderes Zimmer, eine andere Wohnung, Stadt oder gar ein anderes Land. Aber sie lässt sich immer wieder von ihm einfangen und zurückholen. Doch gesund ist es nicht, es nagt an ihren Körpern und Seelen (Inge hat eine lange Schreibblockade), sie flüchten sich in Alkohol oder Tabletten – oder „kurze Begegnungen“, wie die Affären, die ausdrücklich erlaubt sind, bezeichnet werden.

Aber sie wachsen auch aneinander, geben sich neue Impulse für ihre Arbeit. Inge scheibt neben Lyrik endlich auch Erzählungen und Romane, Max verarbeitet seine Probleme mit ihr in seinen Werken – was sie verständlicherweise sehr kränkt.

Bettina Storks hat es geschafft, mir diese beiden Ausnahmeliteraten, mit denen ich mich bisher ehrlich gesagt bisher noch nicht beschäftigt habe, näherzubringen und mich neugierig auf ihre Werke zu machen.
Nach meinem Geschmack lag der Focus allerdings manchmal zu sehr auf den Konflikten, was zugegebenermaßen natürlich den Charakter der Beziehung ausmachte. Man ist dadurch zwar mittendrin, sollte das aber auch mögen.

Bewertung vom 14.09.2022
Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1
Blum, Charlotte

Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1


ausgezeichnet

Hier Amt, was beliebt?

Baden-Baden 1922: Alma Täuber ist Telefonistin, ein Fräulein vom Amt, und stolz auf ihren Beruf. Eines Tages schaltet sie sich ausversehen in ein Gespräch und hört den Satz: „… ich wollte nur melden, dass der Auftrag erledigt ist. Sie finden die Dame bei den Kolonaden.“ (S. 18) Als dann genau dort eine Frau ermordet aufgefunden wird, meldet sie das der Polizei, doch außer Kriminalkommissar-anwärter Ludwig Schiller glaubt ihr niemand. Kurzentschlossen nimmt sie die die Ermittlungen selbst in die Hand. Unterstützt von ihrem Cousin Walter, einem Medizinstudenten, und ihrer Mitbewohnerin Emmi wagt sie sich in die zwielichtigen Amüsierbetriebe von Baden-Baden, da bei der Toten Jetons gefunden wurden …

„Das Fräulein vom Amt“ ist der Auftakt einer neuen Krimi-Reihe des Autoren-Duos Charlotte Blum und spielt in den Goldenen Zwanzigern, die hinter den Kulissen leider meist gar nicht so golden sind. Deutschland ächzt dank der Reparationszahlungen nach dem 1. WK unter der Inflation, aber im mondänen Kurort Baden-Baden wird weiter gekurt und gefeiert, werden Auto- und Pferderennen abgehalten und heimlich in verbotenen Casinos gespielt.

Alma ist eine moderne junge Frau ihrer Zeit, bodenständig, klug und entschlossen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dank ihres Gehaltes kann sie sich zusammen mit ihrer Freundin Emmi eine winzige Dachwohnung leisten und den Heiratsplänen ihrer Mutter und Großmutter entgehen. Leider ist sie auch neugierig und überzeugt, dass die Tote kein leichtes Mädchen war, wie die Polizei und Zeitungen behaupten. Furchtlos und gewitzt stürzt sie sich in die Ermittlungen und wickelt dafür Männer (und Frauen) mit viel Charme um ihre Finger. Sie scheint Ludwig Schiller oft einen Schritt voraus zu sein, wie dieser neidlos anerkennt, und träumt bald von einem Leben abseits des Telefonpultes: „Ich habe daran Gefallen gefunden. Ich genieße es. Ich will mehr. Ich will alles. Ich will Aufklärung. Ich will darin verwickelt sein. Nicht als Räuber und Gendarm, … sondern richtig. Koste es, was es wolle.“ (S 237 /238)

„Weg mit unserem schnöden Leben! Her mit dem Abenteuer!“ (S. 60) ist der Leitspruch ihrer Freundin Emmi Wolke – Wölkchen. Die Floristin scheint mit dem Kopf wirklich meist in den Wolken zu sein, flattert von einem Mann zum nächsten und kennt immer jemanden, der jemanden kennt, wenn Alma Hilfe braucht.

Alma und Emmi leben in einer Zeit, in der man das Leben und die Liebe endlich wieder genießen kann, in der alles möglich zu sein scheint, wenn man sich nur traut und sein Glück selbst in die Hand nimmt. Aber es ist auch noch viel Leid auf den Straßen und in den Gesichtern der Menschen zu sehen. Nicht wenige haben alles verloren oder Traumata zurückbehalten und müssen jetzt sehen, wie sie über die Runden kommen.

„Die Nachricht des Mörders“ ist ein klassischer, sehr spannender und unterhaltsamer Howdunit mit feinem Humor und überraschenden Elementen.
Die Autorinnen schreiben sehr atmosphärisch und anschaulich. Obwohl ich noch nie in Baden-Baden war, konnte ich mir die Stadt und jeweiligen Gegebenheiten gut vorstellen. Sie lassen technische Entwicklungen wie Telefone oder Automobile und die damit verbundenen Probleme und Gefahren einfließen, aber auch den Spaß, den eine rasante Verfolgungsjagden macht oder die aufregende Stimmung beim Glücksspiel und Pferderennen.

Mein Fazit: Mich hat Almas erstes Abenteuer ausgesprochen gut unterhalten und ich bin schon sehr gespannt auf alle, die noch folgen werden.

Bewertung vom 11.09.2022
Am liebsten sitzen alle in der Küche
Karnick, Julia

Am liebsten sitzen alle in der Küche


sehr gut

Rache serviert man am besten eiskalt

Drei Frauen um die 50 lernen sich zufällig kennen und werden beste Freundinnen. Sie haben verschiedene Probleme – und ein gemeinsames, wie sie bald herausfinden. Es gibt einen Mann, der ihre Leben auf die eine oder andere Art vergiftet. Aber sie schwören Rache und servieren sie ihm eiskalt …

„Am liebsten sitzen alle in der Küche“ ist eine sehr unterhaltsame Komödie über drei Frauen in den besten Jahren. Almut wurde nach 25 Jahren und 4 Kindern von ihrem Mann für eine andere abserviert. Sie zieht in eine kleine Wohnung und weiß nichts so richtig mit sich anzufangen. Ihr Leben hat sich bisher nur um Mann, Haushalt und Kinder gedreht und bis auf ihre Jüngste sind die längst aus dem Haus. „25 Jahre war ich für ihn sein Kindermädchen, seine Köchin, seine Privat Sekretärin, sein Reisebüro und seine Gesellschaftsdame …“ (S. 272) Sie freundet sich mit ihrer Nachbarin Tille an, einer alleinerziehenden, ständig überarbeiteten Urologin mit einem 14jährigen Sohn („Alleinverdienend, alleineinkaufend, alleineinkäufetragend, alleinkochend, alleinaufräumend, alleinschlafend, alleinaufstehend, alleinerziehend …“ (S. 422)), und kochte jeden Donnerstagabend für sie. Bei einem Salsa-Kurs lernen sie Yeliz kennen, eine erfolgreiche Werbefachfrau mit türkischen Eltern und einem dänischen Freund, deren größte Probleme ihre Kinderlosigkeit und männliche Kunden sind, die Frauen weder als Geschäftspartner noch als Zielgruppe ernst nehmen: „Mit der Wahrheit können wir auf keinen Fall werben.“ (S. 24)

Schon bald ist Almuts Küche für sie „Ein magischer Ort, an dem niemand sie finden und mit nervigen Pflichten und Erwartungen belästigen konnte.“ (S. 127) und in der sie wirklich alles besprechen, Pläne schmieden und sich auch mal zoffen können, wenn sie das Lebenskonstrukt oder die Intentionen der anderen nicht verstehen.

Almut, Tille und Yeliz sind Frauen, in denen man sich wiedererkennen kann, mit Problemen, die mitten aus dem Leben gegriffen sind. Da ist die frisch Verlassenen, stets Hilfsbereite die einen neuen Sinn und neue Freunde finden muss und sich zu leicht ausnutzen lässt; die Alleinerziehende, die gar keinen Mann in ihrem Leben braucht („Liebe schien etwas zu sein, das sie theoretisch besser beherrscht als praktisch.“) aber voller Selbstzweifel und Sorgen ist, ob sie bei ihrem Kind alles richtig macht, und die Powerfrau, deren Leben perfekt sein könnte, wenn sie nur ein Kind hätte.

Ich fand die Erlebnisse und Küchengespräche der Freundinnen sehr amüsant, vor allem Tilles Job bietet viel „Kicherpotential“. Allerdings hatte ich ausgehend vom Klappentext weniger Alltag der Freundinnen und dafür deutlich mehr Rache(-Pläne) an ihrem gemeinsamen Feind erwartet.

Ich habe das Buch übrigens abwechselnd gelesen und gehört und Sprecherin Ilka Teichmüller hat die verschiedenen Charaktere mit ihrer Stimme sehr gut pointiert.

Mein Fazit: Julia Karnick zeigt, wie wichtig Freundschaften sind, dass man Frauen und ihre Netzwerke nie unterschätzen sollte und es für die Liebe nie zu spät ist.

Bewertung vom 11.09.2022
Eine Familie in Berlin - Ulla und die Wege der Liebe / Die große Berlin-Familiensaga Bd.3
Renk, Ulrike

Eine Familie in Berlin - Ulla und die Wege der Liebe / Die große Berlin-Familiensaga Bd.3


ausgezeichnet

Die Geschichte einer großartigen Freundschaft

„Zu heiraten heißt, sich zu verpflichten. Ein Leben lang. Und ein Leben kann sehr lang sein. Unseren Müttern ist es nicht geglückt, dieses Versprechen zu erfüllen.“ (S. 99)
1919 ist der Krieg endlich vorbei und Veras Mann Tetjus und Ullas große Liebe Heinrich sind zwar lebend, aber nicht unverletzt an Seele und Körper zurückgekehrt. Sie werden von Albträumen und Aussetzern geplagt, Heinrich hat eine nicht heilende Verletzung im Knie davongetragen. Während sich Tetjus ins pralle Leben und eine künstlerische Idee nach den anderen stürzt, um sich von seinen Problemen abzulenken, überrascht Heinrich alle mit seinem Entschluss, nach dem bereits abgeschlossenen Medizinstudium noch Psychologie studieren zu wollen – die Erlebnisse im Krieg und die Nichtbehandlung der geschädigten Soldaten haben in dazu inspiriert. Allerdings könnte er dann die Familie, die er mit Ulla gründen will, nicht ernähren. Und Ulla ist sich zwar sicher, dass sie ihn liebt, hat aber Angst, in einer Ehe ihre Eigenständigkeit und ihren Freiraum als Künstlerin zu verlieren. „Ich möchte mein Leben lang gestalten. Ich möchte immer künstlerisch tätig sein. … Was, wenn das nicht funktioniert – verheiratet zu sein und dennoch ein eigenes Leben zu führen? “ (S. 100)

„Ulla und die Wege der Liebe“ ist der dritte Band von Ulrike Renks „Eine Familie in Berlin“ und nicht nur die Fortsetzung von Ullas Geschichte, sondern auch die ihrer großartigen Freundschaft mit Vera. Beide werden früher als erwartet Mütter und ihre Ehen verlaufen anders als erhofft. Tetjus sieht sich in erster (und leider auch einziger) Linie als Künstler, lebt sein Leben, als wäre er immer noch Single, und nimmt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse von Vera und ihrem Kind. Heinrich hatte Ulla versprochen, dass eine Heirat nichts zwischen ihnen ändern würde, trifft dann aber wichtige Entscheidungen über ihren Kopf hinweg und erwartet, dass sie diese widerspruchslos akzeptiert und aus ihr eine perfekte Hausfrau wird – mit ihrer künstlerischen Arbeit kann sie zu dieser Zeit eh kein Geld verdienen.
Außerdem haben die Dehmels mit Paulas Tod zu kämpfen, deren Erbe geregelt werden muss. Weil Richards zweite Frau Ida versucht, sich in die Entscheidungen einzumischen, tritt Ulla als Vermittlerin auf. Sie kennt alle Beteiligten gut und hat von außen einen anderen Blickwinkel auf die Situation.

Die damalige Zeit ist von der (Hyper-)Inflation und Unsicherheit nach dem Krieg geprägt, den verschiedenen Meinungen zu den Reparationszahlungen, den politischen Strömungen und dem erstarkenden Nationalsozialismus. Das hat Ulrike Renk wunderbar mit der Geschichte der Dehmels verbunden. Denn auch innerhalb der Familie gibt es deswegen Probleme. Vor allem Ullas Schwester Hilde leidet unter der Radikalisierung und den sich ändernden Ansichten ihres Mannes.

Ulrike Renk zeichnet ein sehr lebendiges Bild dieser unruhigen Zeit und der verschiedenen Charaktere der Dehmels. Ich habe mit Ulla und Vera mitgefiebert und gelitten (und hätte mir ihre Männer gern mal vorgenommen). Sie sind starke Frauen, die sich in ihre neuen Rollen als Mütter erst einfinden müssen, es aber schaffen, sich dabei nicht selbst zu verlieren, sondern sich treu zu bleiben. Ich habe sie um ihre bedingungslose Freundschaft beneidet und dafür bewundert, wie realistisch sie ihre Situation einschätzen. Vera klammert sich nicht an Tetjus, sondern lässt ihm seine Freiheiten in der Hoffnung, ihn dadurch zu halten. Und Ulla arrangiert sich indem sie Kleider näht, statt zu malen, und wie im Krieg Obst und Gemüse anbaut, um ihre Familie zu ernähren.

Jetzt bin ich sehr gespannt auf den nächsten Band, in dem es um Ullas älteste Tochter Fine gehen wird ...