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sleepwalker

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Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 10.02.2021
Ein englischer Winter
Reverdy, Thomas

Ein englischer Winter


ausgezeichnet

Anfangs tat ich mich zugegebenermaßen mit Thomas Reverdys „Ein englischer Winter“ etwas schwer. Die fragmentierte Schreibweise und die verschiedenen Handlungsstränge bildeten für mich auf den ersten Seiten einfach keine Einheit. Aber als ich mich an den Stil des Autors gewöhnt hatte, habe ich das Buch in einer Tour durchgelesen. Stilistisch ähnelt das Buch für mich mehr einer Novelle als einem Roman, denn es hat weder einen wirklichen Anfang, noch einen richtigen Schluss. Das tat der der Lesefreude aber keinen Abbruch.
Der Winter 1978/79 war für England in mehrerlei Hinsicht hart: einerseits ist es sehr kalt, andererseits steckt das Land in einer sehr tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise. Die Labour-Regierung von James Callaghan steht vor dem Aus. Die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf und mit den höher werdenden Müllbergen in London (neben den Mitarbeitern der Nahverkehrsbetrieben streikten die der Müllabfuhr als erste), wächst auch der Unmut in der Bevölkerung.
Und mittendrin zwei Frauen, die sehr unterschiedlich sind, aber grundsätzlich auch vieles gemeinsam haben. Candice ist die einzige weibliche Mitarbeiterin eines Fahrradkurier-Unternehmens und versucht sich in ihrer Freizeit als Darstellerin in Shakespeares „Richard III“ in einer Laientheatergruppe. Und dann ist da eine Krämerstochter, die das Land aus der Krise führen möchte. Diese wird später als konservative Premierministerin und Eiserne Lady in die Geschichte eingehen, 1978 besticht sie aber erst einmal durch flammende (Wahlkampf-)Reden und eine „Betonfrisur“. Der Rest ihrer Geschichte ist dem interessierten Leser hinlänglich bekannt.
Zwei emanzipierte Frauen unterschiedlicher Herkunft (Candace stammt aus der Arbeiterschicht mit trinkendem und prügelndem Vater, Margaret Thatcher aus der Mittelschicht Lincolnshires und versucht, mit Sprechunterricht ihren Akzent abzulegen), die ihren Platz in einer bis dato männerdominierten Gesellschaft suchen. Beide sind visionär und energisch, allerdings sind sowohl ihre Ausgangspunkte als auch ihre Ziele völlig unterschiedlich.
Der weniger geschichtsinteressierte Leser wird sich eventuell mit dem Buch aber schwer tun. Der Autor verknüpft Fakten mit Fiktion, hangelt sich an einem Punk-lastigen Soundtrack entlang, der die Weltuntergangsstimmung und die düstere No-Future-Atmosphäre noch betont. Nicht von ungefähr wird der Zeitraum, in dem das Buch spielt, „der Winter des Missvergnügens“ („winter of discontent“) genannt. Nicht zuletzt verflicht er auch mit der immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit Shakespeares Stück, in dem Candice auf der Bühne debütiert, Geschichte mit (zeitloser) Fiktion. Macht (unter anderem die der Gewerkschaften), (Zweck)Bündnisse und gesellschaftliche Umbrüche sind sowohl im Theaterstück als auch im Roman wichtige Themen.
Für Leser, die sich für britische Geschichte und Politik interessieren, ist das Buch ein echtes Schmankerl. Es ist eine gekonnte und tiefgreifende politische Gesellschaftsanalyse verknüpft mit einer literarischen Erörterung. Eine klitzekleine Liebesgeschichte darf auch nicht fehlen, wobei die eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Nicht zuletzt kann man vieles über die Denkweise vieler Briten lernen und unterschwellig kann man auch herauslesen, wie es jetzt zum Brexit kam. Ein Fehler ist dem Autor allerdings unterlaufen: „Q wie die Queen – Elizabeth begleitete das ganze Jahrhundert. 1977 wurde ihr 50-jähriges Thronjubiläum gefeiert.“ – 1977 feierte Elizabeth II. ihr 25. Thronjubiläum. Dennoch hat mich das Buch sehr gut unterhalten. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 10.02.2021
Die Freimaurer - Der mächtigste Geheimbund der Welt
Dickie, John

Die Freimaurer - Der mächtigste Geheimbund der Welt


ausgezeichnet

Umfangreicher Einblick in die Freimaurerei, von der Entstehung bis heute
Die Freimaurer sind keine Geheimgesellschaft, sondern eine Gesellschaft mit vielen Geheimnissen – so könnte man das Buch „Die Freimaurer – Der mächtigste Geheimbund der Welt“ von John Dickie ganz knapp zusammenfassen. So kurz und bündig macht der Autor das natürlich nicht. Er ist eigentlich ein Fachmann für Italienstudien und die Cosa Nostra. Aber mit seinem Werk über die Freimaurer begibt er sich auf die Spuren einer völlig anderen Organisation.
Minutiös rollt er die Geschichte der Freimaurer auf, beschreibt Rituale und Zeremonien und erklärt, was es mit den Logen so auf sich hat. Wirklich? Naja, sagen wir mal so: er trägt eine Menge Informationen zusammen und macht sie dem Leser zugänglich. In der Hauptsache aber sind es die Informationen, die die Freimaurer bereit sind, öffentlich zu machen. Denn natürlich bleibt der mächtigste Geheimbund auch nach der Lektüre dieses Buches eben dies: geheimnisvoll.
Momentan sind Verschwörungstheorien en vogue, allerdings betreffen diese weniger die Freimaurer. Dennoch ziehen sich zu diesem Geheimbund die Theorien durch die mehr als vier Jahrhunderte seines Bestehens hartnäckig durch. Hatten sie Anteil an der französischen Revolution? Oder an der Mafia (dem eigentlichen Steckenpferd des Autors) und wer kann überhaupt Freimaurer werden und wie? All diese Themen beleuchtet John Dickie ausführlich und lesenswert, manchmal sogar spannend. Die Einteilung des Buchs erfolgt geografisch, so schreibt er nacheinander unter anderem über die Freimaurerei in Lissabon, Edinburgh, London, Rom und München, natürlich lässt er auch Washington und Charleston nicht aus, unter „Nirgendwo“ verbucht er das, was sich geografisch nicht einordnen lässt.
Eines ist angesichts des Inhaltsverzeichnisses schon ganz klar: Freimaurer gibt es auf der ganzen Welt und in allen möglichen Gesellschaftsschichten. Waren es ursprünglich wirklich Handwerker (daher natürlich auch der Name „Freimaurer“), so findet man heute alle möglichen Berufe, bis hin zur Hochfinanz, hochrangigen Politikern, Künstlern und Wissenschaftlern. Es war ein weiter Weg von den Bauhütten Europas in die höchsten Etagen und bis heute wird den Logen ein großer Einfluss im Weltgeschehen zugeschrieben.
Um die Freimaurer ranken sich Mythen und Gerüchte, und das ändert auch dieses Buch nicht. Denn eines muss dem Leser trotz seines Umfangs klar sein: es ist ein Ausschnitt aus einem unglaublich komplexen Thema und dieser umfasst exakt das, was der Bund andere wissen lassen möchte. Nicht mehr und nicht weniger. Denn trotz einer gewissen „Pseudo-Transparenz“ behält die Bruderschaft bis heute ganz sicher eine Menge Geheimnisse für sich.
Dennoch hat John Dickie mit dem Buch einen interessanten Überblick geschaffen, gut formuliert und strukturiert und durchaus interessant geschrieben, sodass der Leser trotz der Fülle an Informationen nie die Lust am Lesen verliert. Man merkt dem Buch auch an, dass der Autor selbst Spaß am Thema hat, seine Neugierde kann man durchaus herauslesen. Und so schafft er es auch, ein sauber recherchiertes und minutiös aufgearbeitetes Sachbuch so zu verfassen, dass es nie dröge oder langweilig ist. Interessant war für mich natürlich auch, welche bekannte Persönlichkeiten Freimaurer waren, bzw. sind. Der Bild-Teil am Schluss und eine umfassende Bibliografie runden das Buch ab und luden mich zur weiteren Recherche ein. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 04.02.2021
Ich lese dich
Standop, Eric

Ich lese dich


weniger gut

Seit ich einen Vortrag von Niels Krøjgaard, einem dänischen „psychologischen Entertainer“ und Fachmann für nonverbale Kommunikation, gehört habe, ist Gesichtslesen für mich ein interessantes Thema. Deshalb habe ich mich über das Buch „Ich lese dich: Geheimnisse eines Facereaders“ von Eric Standop sehr gefreut. Und völlig enttäuscht hat das Buch mich nicht, aber fast. Denn es bleibt weit hinter den Werken von Paul Ekman oder von Joe Navarro über Mikroexpressionen und deren Deutung zurück.
Stellenweise fand ich das Buch sehr interessant, vor allem, wenn es um objektive Ansätze ging, die der Autor auch wissenschaftlich belegen kann. Daher fand ich die zahlreichen Bilder, die seine Ausführungen zur Rolle von Augen („Die Augen als Tor zur Gedanken- und Gefühlswelt“) und Mund, Stirn, Ohren und besonderen Merkmalen sehr interessant und lehrreich, wobei ich da schon der Position von Muttermalen und Ohren und deren Bedeutung wenig Wissenschaftliches abgewinnen konnte. Im Endeffekt sind viele Muttermale und auch der Sitz der Ohren (zumindest in meiner Familie) ebenso vererbt wie die Höhe der Stirn. Zudem handelt es sich dabei nicht um unveränderliche Merkmale (Stichwort angelegte ehemals abstehende Ohren, Botox bei Stirnfalten oder entfernte Muttermale).
Schlichtweg unwissenschaftlich finde ich aber seine Exkurse zum esoterischen Gedankengut. Hellsichtigkeit definiert er zwar anders, als es landläufig der Brauch ist („Hellsichtige sind Menschen, die etwas wahrnehmen, was andere nicht sehen oder erkennen.“), das macht sie aber nicht „hell“sichtig, sondern meiner Meinung nach eher besonders empathisch und sensibel. Ebenso schwierig und eher pseudo-wissenschaftlich angehaucht finde ich seinen Blick auf Dinge wie „Antlitzdiagnostik“ (die in der Hauptsache von Heilpraktikern praktiziert wird) oder die traditionelle chinesische Medizin, der ebenfalls die Evidenz fehlt. Diese eher pseudo-wissenschaftlichen „Erkenntnisse“ machen sehr viele der Ansätze, die er beschreibt, rein subjektiv und sie lesen sich für mich wie eine wilde Mischung aus Kaffeesatzlesen, Wahrsagen und schlichtem Raten gepaart mit guten Ratschlägen wie auf dem Abreißkalender oder in den einschlägigen Frauenzeitschriften. Denn neben wissenschaftlichen Grundlagen fußt das Gesichtslesen in der Hauptsache auf Intuition, Empathie und Instinkt – und jahrelanger Erfahrung.
So wechselten sich für mich in dem Buch sehr interessante und informative Teile mit sehr vielen eher wenig greifbaren Passagen ab, dazwischen streut der Autor Anekdoten aus seinem Alltag (beruflich und privat) ein, die ganz nett sind, aber in der Hauptsache zeigen, wie gut er seinen Job macht. Zwar schreibt er über „wertfreie Ratschläge“ und vorurteilsfreies „Reading“, aber manchmal blitzte für mich dann doch ein „confirmation bias“ durch. Alles in allem ist es für mich bestenfalls ein populär- oder pseudowissenschaftliches Buch, für den Laien nett zu lesen, mehr aber auch nicht. Seine häufige Selbstbeweihräucherung machte mir das Buch manchmal wirklich madig. Der Autor findet sich selbst schon extrem toll. Er ist wohl einer der Vorreiter auf seinem Gebiet und weiß sich (und seine Arbeit) auch zu verkaufen.
Daher fand ich das Buch insgesamt eher mittelmäßig. Zwar ist es durch die Anekdoten unterhaltsam, durch die fehlende Wissenschaftlichkeit mir aber zu oberflächlich. Schade, denn da hat der Autor eine Menge Potenzial verschenkt. Von mir 2 Sterne.

Bewertung vom 26.01.2021
Der Mann im Strom
Lenz, Siegfried

Der Mann im Strom


ausgezeichnet

Hätten Bücher eine farbige Aura, dann wäre „Der Mann im Strom“ von Siegfried Lenz für mich grau in grau. Das 1957 erstmals erschienene Buch über den Berufstaucher Hinrichs, der außerdem alleinerziehender Vater von Timm und Lena ist, hat für mich eine durchweg bedrückende Stimmung, was es natürlich nicht zu einem schlechten Buch macht. Gegen Ende wird es unterschwellig spannend und alles in allem fand ich es unglaublich intensiv erzählt.
Die Geschichte an sich ist oberflächlich betrachtet einfach und vielen wohl bekannt, schließlich wurde sie auch schon zweimal verfilmt: Hinrichs macht sich in seinem Taucherpass jünger, damit er weiterhin als Bergungstaucher für Munition aus gesunkenen Kriegsschiffen arbeiten kann, sonst droht ihm weitere Arbeitslosigkeit. Parallel dazu möchte sich seine schwangere Tochter Lena abnabeln und mit ihrem Freund Manfred, einem eher halbseidenen Zeitgenossen, zusammenziehen und eine Familie gründen.
Das Buch ist eine gekonnte Mischung aus sozialkritischem Roman, fiktivem Zeitdokument und, in Bezug auf Lena, ein Coming-of-Age-Roman. Im Zentrum stehen Lügen, Vertrauen, Misstrauen, Enttäuschung, Not und ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer.
Alle Beteiligten lernen in der kurzen Zeitspanne, in der die Geschichte spielt, viel dazu: über sich selbst, ihre Beziehungen und darüber, wem man vertrauen kann und sollte. Erzählt ist die Geschichte über das Leben in der Hamburger Arbeiterwelt nach dem 2. Weltkrieg eindrücklich, bildgewaltig und metaphernreich, dazu aber melancholisch und düster, manchmal sogar tieftraurig und hoffnungslos. Einer der wenigen Lichtblicke im Buch ist das Feuerwerk bei der Freundschaftskampagne, an dessen Ende zwei Fallschirme mit einem flackernden Leuchtband über dem See herabschweben „auf dem in bunten Buchstaben stand: DENK JEDEN ABEND ETWAS SCHÖNES!“
Hinrichs ist für seine beiden Kinder ein liebevoller, wenn auch strenger Vater. Allerdings ist er durch seine spröde Art (er ist kein Mann großer Gesten und vieler Worte), etwas unbeholfen und durchaus mitunter überfordert („Der Mann stand neben dem Bett des Jungen, er stand unschlüssig da für einen Augenblick, aber plötzlich streckte er seine Hand aus, die große, braune, zitternde Hand, er streckte sie dem Jungen hin in lächelndem Komplizentum, und der Junge ergriff sie und begrub darin sein Gesicht.“). Er möchte die Kinder beschützen und versorgen, ein liebevoller Umgang ist ihnen aber nicht gegeben. Er ist der Patriarch der Familie, er sagt, wo es lang geht. Er gibt die Richtung des Stroms vor, selbst schwimmt er aber gerne dagegen und bricht Regeln, deren Einhaltung er von anderen einfordert.
Nach „So zärtlich war Suleyken“ und „Deutschstunde“ war es seit vielen Jahren das erste Buch von Siegfried Lenz, das ich gelesen habe. Aber ich weiß jetzt wieder, was mich schon vor 20 Jahren so an ihm begeistert hat: seine Fähigkeit, mit mageren Worten greifbare und plastische Bilder zu zeichnen und mit ruhiger und unaufgeregter Erzählung eine Welt zu schaffen, die den Leser in ihren Bann zieht, oder, um im Bild des Titels zu bleiben: in einen Strom mitreißt und bis zum Schluss und darüber hinaus nicht loslässt. Nicht jeder kann eine so deprimierende und melancholische Geschichte so „schön“ erzählen. Von mir eine ganz klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

Bewertung vom 21.01.2021
Unter dem Nordlicht
Menrath, Manuel

Unter dem Nordlicht


ausgezeichnet

Kanada ist für viele ein Wohlfühl- oder Sehnsuchtsort, bei dem man an eine offene und liberale Gesellschaft, das „bessere Amerika“, denkt. Zumindest hört und liest man das immer wieder. Aber ganz so ist es nicht. Manuel Menrath beleuchtet in seinem Buch „Unter dem Nordlicht- Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land“ die eher unrühmlichen Aspekte der Geschichte des Landes. Heute leben „auf dem kanadischen Territorium 634 vom Staat anerkannte indianische „Stammesgemeinschaften“, die offiziell als First Nations bezeichnet werden und die etwa 3000 Reservate besitzen.“ Dennoch treten die Angehörigen indigene Völker heute in Kanada kaum in Erscheinung, ihr Beitrag zur Geschichte des Landes wird meist schlicht ignoriert oder „vergessen“. „So entsteht der Eindruck, alles, was vorher (also vor der Besiedelung durch die Europäer) gewesen war, sei bedeutungslos.“
Manuel Menrath sieht dies anders und rollt die Geschichte der indigenen Bevölkerung Kanadas minutiös auf. Er schreibt eindrucksvoll über ihr heutiges Leben und wie es dazu kam, dass stolze und friedliche Stämme, die jahrhundertelang im Einklang mit der Natur gelebt hatten, nach und nach von den „weißen Herrenmenschen“ in Reservate verbannt wurden. Er schreibt über Zwangassimilation, darüber, wie Eltern ihre Kinder weggenommen wurden, um sie „gesellschaftsfähig“ zu machen (die Kinder wurden auf christliche Schulen, sogenannte „residential schools“ geschickt, oft misshandelt und gequält und gezwungen, alles „Wilde“ abzulegen) – die Konsequenz war oft ein Gefühl der Entwurzelung, Verzweiflung und führte in vielen Fällen zu Alkoholismus und/oder Selbstmord.
Die Erlebnisse haben in der indigenen Bevölkerung teils bis in die heutigen Generationen Auswirkungen. In den meisten Ländern, die kolonialisiert wurden, kann man diese Aus- und Nachwirkungen betrachten. Sei es in den USA, Australien oder auch in Grönland. Zwar haben sich die meisten Regierungen inzwischen für das begangene Unrecht entschuldigt (oder besser: sie baten um Entschuldigung), aber wirklich viel hat sich für die Betroffenen nicht verändert, denn manche Dinge kann man einfach nicht entschuldigen oder rückgängig machen. Denn zu den Spätfolgen des erlittenen Unrechts kämpfen die Angehörigen indigener Völker (wie so viele andere auch) gegen Rassismus und Ausgrenzung.
Gekonnt verflicht der Autor Geschichte mit Geschichten. Tatsachen aus Kanadas Historie (beispielsweise die Entstehung der Hudson Bay Company und der North West Company) paart er mit zahlreichen Interviews von Angehörigen indigener Stämme und der Leser erfährt praktisch aus erster Hand über zerstörte Kulturen, die bis heute zwar im Kleinen weiter am Leben erhalten werden, aber denen meistens jegliche Lebensgrundlage fehlt. Als Historiker beleuchtet Menrath natürlich auch die „Fakten-Seite“, die Geschichte des Kolonialismus seit 1493, dem Jahr, in dem Papst Alexander VI eine Bulle erließ, die neu entdeckte Länder automatisch den christlichen „Entdeckern“ zusprach. Seine Fakten untermalt er mit Zitaten und untermauert sie mit sage und schreibe 822 Fußnoten.
Dennoch ist das Buch spannend, interessant und packend geschrieben, hervorragend und gefällig formuliert und daher trotz der Fülle an Information sehr gut zu lesen. Der Inhalt ist bestürzend, beschämend und macht schlicht traurig. Auch wenn manche Abschnitte schöne Geschichten, vielleicht sogar ein bisschen „Wild-West-Romantik“ enthalten, blieb in mir eine große dunkle Wolke der Traurigkeit. Vermutlich könnte dieses Buch es vielen Lesern die Augen über das ach so liberale Kanada öffnen, ein Land, in dem wesentlich mehr Diskriminierung herrscht, als vermutlich viele wahrhaben wollen. Das Potenzial zur Aufklärung hat es allemal. Eine ganz klare Lese-Empfehlung für jeden, der sich für die Geschichte hinter der Fassade interessiert. 5 Sterne.

Bewertung vom 18.01.2021
Kindheit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.1
Ditlevsen, Tove

Kindheit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

„Kindheit” ist der erste Teil der „Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen, posthum rund 44 Jahre nach ihrem Selbstmord veröffentlicht. Es war mein erstes Buch der Autorin, aber sicher nicht mein letztes. Die Dichte, mit der sie schreibt, die Wortgewalt in ihren eigentlich schlichten Sätzen und natürlich die Geschichte an sich, hatten mich von der ersten Seite an gepackt.
Tove Ditlevsen schreibt die Geschichte ihrer Kindheit im Kopenhagen der 1920er Jahre auf und fängt innerhalb ihrer eigenen Biografie den Zeitgeist der Jahre zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg ein. Aufgewachsen ist sie als jüngeres von zwei Kindern in einer Arbeiterfamilie, der Vater war sozialistisch eingestellt, was der Mutter missfiel und oft zu Reibereien zwischen den Eltern führte. Als Mädchen hatte Tove (wie vermutlich die meisten Mädchen ihrer Zeit) nur eine Aussicht im Leben: gut zu heiraten. Daher melden sie die Eltern nach der Konfirmation (also mit knapp 14 Jahren) von der Mittelschule ab. Eine weitere Ausbildung war für sie, anders als für ihren Bruder, nicht vorgesehen. Dabei ist sie intelligent und lernwillig, liest gerne und schreibt schon in jungen Jahren ihre ersten Gedichte. Stattdessen verdingt sie sich zuerst einmal als Dienstmädchen. Der Traum, Dichterin zu werden, bleibt aber bestehen, auch wenn diesen in ihrem Umfeld keiner ernst nimmt.
Die Lektüre des Buchs bereitete mir aufgrund der Intensität und Authentizität fast körperliche Schmerzen. Nicht, dass der Vater seine Arbeit verliert und die Familie lange Zeit von altbackenen Gebäckstücken leben muss. Auch nicht, dass sie durch ihre Freundin Ruth beinahe auf die schiefe Bahn geraten wäre, da diese sie zu Ladendiebstahls-Touren mitnahm. Nein, die Unnahbarkeit der Mutter, ihr liebloser Umgang mit ihrer Tochter, Toves Unverstandenheit und ihr ständiges Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht zu genügen und „falsch zu sein“ machte mir enorm zu schaffen – selten habe ich mich einer Autorin so nah und verbunden gefühlt. Die toxische Mutter-Tochter-Beziehung zieht sich durch die gesamte Kindheit der Autorin, wobei sie die Schuld immer bei sich selbst sucht.
Das Buch endet mit ihrer Konfirmation, die auch das Ende ihrer Kindheit darstellt. Zu dieser Zeit endet auch ihre Freundschaft mit Ruth und Tove bricht in einen neuen Lebensabschnitt auf. Den kann man dann im zweiten Teil „Jugend“ nachlesen, der demnächst auch auf Deutsch erscheinen wird. Wenn man sich näher mit Tove Ditlevsens persönlicher und beruflicher Biografie beschäftigen möchte, halte ich die Bände der „Kopenhagen-Trilogie“ für einen unverzichtbaren Baustein für das Verständnis ihres Werkes.
Das Buch hat mich in mehrerlei Hinsicht beeindruckt. Ich habe es auch im Original gelesen und, obwohl ich sonst meistens Probleme mit Übersetzungen habe, muss ich sagen: hier hat die Übersetzerin ganz Hervorragendes geleistet. Die Sprache, der Ausdruck und der Duktus sind im Deutschen ebenso gut gelungen, wie im dänischen Original. Der Zeitgeist, das Lebensgefühl und die Ängste der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist beim Lesen spürbar, vor allem anhand der Rolle der Frauen in der Gesellschaft und die allgegenwärtige Arbeitslosigkeit, beziehungsweise die stetig präsente Angst davor. Für mich war das Buch ein echtes Highlight, klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

Bewertung vom 07.01.2021
Essen gut, alles gut
Niemeier, Heike

Essen gut, alles gut


ausgezeichnet

„Essen gut, alles gut. Wie wir wieder lernen, auf unseren Bauch zu hören“ von Dr. Heike Niemeier ist schlicht und einfach eines der besten Bücher über Ernährung, das ich bislang gelesen habe. Die promovierte Ökotrophologin bringt das schwierige und äußerst komplexe Thema fachlich fundiert, umfassend und anschaulich auf den Punkt. Gewürzt mit teils launigen, immer aber lehrreichen Geschichten über ihre Erfahrungen mit Klient*innen aus ihrem Alltag als Ernährungsberaterin, Rezepten und Anleitungen zu Selbstversuchen, hat sie einen umfangreichen Ernährungsratgeber geschaffen. Aber das Buch ist noch mehr als das ist: es ist ein lesenswerter, informativer und umsetzbarer Ernährungs-Leitfaden. Denn schlussendlich müssen wir alle irgendwie essen, Lebensmittel sind nämlich schlicht Mittel zum Leben.
Angenehm finde ich vor allem auch, dass der Autorin selbst nichts Menschliches fremd ist. Sie schreibt nicht mit erhobenem Zeigefinger oder schwingt die Moralkeule, nein, sie isst selbst gern („Auch Ökotropholog*innen essen – und das sogar gern. Zumindest ich.“) und verteufelt in ihrem Buch nichts, außer vielleicht ein Zuviel an Kohlehydraten. Aber insgesamt propagiert sie eine ausgewogene eiweißreiche Ernährung, in der nichts verboten ist. („Verbote sind verboten. […] Kein Lebensmittel auf dieser Welt ist so schlimm oder gefährlich, dass es nicht gegessen werden dürfte. Selbstverständlich kann man immer über die Menge und die Häufigkeit reden. Doch bitte tun Sie sich selbst den Gefallen und essen Sie! Essen Sie so lange und so viel davon, wie Sie ein gutes Gewissen haben. Nehmen Sie Ihre eigene Körperintelligenz und das Bauchgefühl als Maßstab.“) Mit dem obigen Zitat ist eigentlich alles gesagt: das Buch liefert einen Leitfaden und Anregungen (samt dazugehöriger Rezepte), die Umsetzung liegt bei den Leser*innen.
Formal besteht das Buch aus drei großen Teilen („Wozu über das Essen nachdenken?“, „Was essen wir?“ und „Wie essen wir?“), die ihrerseits aus 12 Unterkapiteln bestehen. Am Ende wichtiger Abschnitte fasst die Autorin das Thema noch einmal in einem farbig hinterlegten Feld kurz zusammen. In Kapiteln wie „Eine Kalorie ist nicht gleich eine Kalorie“ liefert die Autorin auch biochemisches Grundlagenwissen, ohne ihr Publikum mit Fachausdrücken und Formeln zu langweilen („Sie finden in diesem Buch an der einen oder anderen Stelle Zahlen, Fakten und Empfehlungen. Ich möchte aber auch sagen: Nutzen Sie diese als Orientierungshilfen und nicht als Gesetze.“). Vieles davon wusste ich schon vorher (wie viel Zucker beispielsweise in Smoothies oder Orangensaft steckt, wie wichtig eine Kombination aus guter Ernährung und Bewegung ist, oder dass Eier keinen Einfluss auf den Cholesterinspiegel haben), fand die Herangehensweise von Dr. Niemeier aber interessant und ihren Schreibstil erfrischend, außerdem kann man die Begeisterung für das Thema überall herauslesen.
Die Autorin räumt mit manchen Binsenweisheiten auf, betont die Wichtigkeit von Eiweiß und Fett in der Ernährung, erklärt und klärt auf und gibt zudem wirklich nützliche Tipps für Veränderungen der persönlichen Gewohnheiten. Aber sie ist nicht dogmatisch, sondern zeigt (manchmal mit einem erkennbaren Augenzwinkern), dass sie mitten im Leben steht und viel Erfahrung mitbringt. Sie ist realistisch und vermittelt dies auch ihrem Publikum, denn sie weiß, dass es bei angepeilten Veränderungen oft Rückschläge gibt, ermuntert aber zum Durchhalten und Weitermachen. Ihr Buch gibt gute Ratschläge für Veränderungen des Ess-Verhaltens im realistischen Rahmen. Nicht mehr und nicht weniger.
Von mir für dieses gelungene Buch 5 Sterne und eine Lese-Empfehlung für alle, die sich mit (ihrer) Ernährung eingehender beschäftigen wollen.

Bewertung vom 06.01.2021
Ihr Königreich
Nesbø, Jo

Ihr Königreich


weniger gut

Zugegeben, „Ihr Königreich“ war mein erstes Buch von Jo Nesbø, vermutlich aber auch mein letztes, denn so wirklich warm konnte ich damit nicht werden. Dabei ist es an sich gar kein schlechtes Buch. Ich musste aber immer mal wieder aufs Titelblatt schauen, ob es sich tatsächlich um einen Krimi handeln soll, denn über weite Strecken ist das Buch ein (gut geschriebener und nett zu lesender) Familienroman, bestenfalls ein Drama in sieben Akten. Zwar ist latent beim Lesen ein stetig ungutes Gefühl spürbar, wie eine omnipräsente dunkle Wolke, die über dem Berghof der Brüder (ihrem Königreich) und dem nahen Abgrund zu schweben scheint, aber wirklich Spannung konnte ich wenig feststellen. Abgebrochen habe ich das Buch allerdings auch nicht, für mich war es wie ein Verkehrsunfall – eigentlich wollte ich es weglegen, aber so wirklich losreißen konnte ich mich dann doch nicht davon, zu groß war meine Neugier, ob der Autor die Kurve zu einem spannenden Buch doch noch bekommt..
Die Geschichte ist vielschichtig und eigentlich nicht uninteressant. Roy (der auch der ich-Erzähler ist) und Carl wachsen auf einem abgelegenen Hof in Norwegen auf, der Vater ist streng und will sie zu „echten Männern“ erziehen, die Mutter eher Typ „Heimchen am Herd“. Beide Eltern kommen bei einem Unfall ums Leben, Carl geht in die USA um zu studieren und Roy bleibt im elterlichen Hof wohnen. 15 Jahre später kommt Carl mit großen Plänen und einer Frau zurück und die gemeinsame Vergangenheit beginnt, die beiden einzuholen.
Kurz gesagt: so richtig in Fahrt kam das Buch für mich nicht, richtige Spannung kam kaum oder nur zögerlich auf. Stilistisch fand ich das Buch gut zu lesen und es ist flüssig geschrieben, wenn auch etwas lang(atmig). Die verschiedenen Zeit-Ebenen, auf denen die Handlung spielt, sind gut erkennbar abgegrenzt. Auch das Familiendrama war an sich gut konstruiert. Dennoch las das Buch sich für mich sehr zäh und war für mich absolut kein Page-Turner. Auch die problematische Persönlichkeit von Roy, dem Ich-Erzähler fand ich schwierig, denn er löst seine Probleme im Endeffekt immer auf dieselbe Art und Weise („Ich schlage auf Leute ein“).
Die Haupt-Charaktere fand ich ganz gut ausgearbeitet und durch die vielen Einblicke in ihr Leben und ihre Persönlichkeiten anschaulich beschrieben, wenn auch nicht sehr sympathisch. Das Buch hätte thematisch sehr viel Potenzial geboten: Leben in der Einöde, problematische Familienverhältnisse mit dunklen Geheimnissen, Loyalität, Schuldgefühle und Mord, um nur ein paar der Punkte zu nennen, die der Autor versucht, zu einem stimmigen Ganzen zu verknüpfen.
Gut, gegen Ende kommt etwas Spannung auf, aber von einem Spannungsbogen kann man bei dem Buch nicht wirklich sprechen, schon gar nicht von einem hohen. Meine Erwartungen an den hochgepriesenen Jo Nesbø waren andere und die wurden enttäuscht. Es ist kein wirklich schlechtes Buch, aber das Genre hat es definitiv verfehlt. Es ist absolut kein Krimi, sondern vielmehr eine Mischung aus Familiendrama und Milieustudie mit Einblick in das Leben in einem kleinen Dorf in der Einöde, gepaart mit unrealistischen Plot-Twists. Das Durchbeißen bis zum Ende hat sich für mich nicht wirklich gelohnt. Von mir daher 2 Sterne.

Bewertung vom 05.01.2021
Meine lieben jungen Freunde
Fallada, Hans

Meine lieben jungen Freunde


ausgezeichnet

„Meine lieben jungen Freunde: Briefe an die Kinder“ von Hans Fallada, herausgegeben von Nele Holdack, ist ein schmaler Band (das Buch hat nur 144 Seiten), in dessen erstem Teil augenscheinlich nicht mal wirklich viel steht. Kennt man aber die Biografie des Schriftstellers, dann steht zwischen den Zeilen sehr viel und im zweiten Teil noch viel mehr. Außerdem besteht nur der erste Teil des Buchs aus Briefen, aber nicht an DIE Kinder, sondern fast ausschließlich an seine Tochter Lore, genannt Mücke, die als Neunjährige ein Internat in Hermannswerder bei Potsdam besuchte, da es in der ländlichen Heimat nur eine Dorfschule gab. Die Briefe an seinen Sohn Uli, der im Internat in Templin (Uckermark) war, sind übrigens in „Mein Vater und sein Sohn“ erschienen. Den zweiten Teil macht ein Vortrag aus, den Fallada für den literarischen Verein seines Sohnes Ulrich schrieb (und auch hielt). Von diesem stammt auch der Titel des Buchs.
Der erste Teil, die Briefe an Mücke sind zwar eher trivial, denn Fallada lässt die Tochter durch seine Berichte am Leben zu Hause teilhaben. In der Hauptsache bestehen seine Briefe aus Erzählungen darüber, was sie verpasst, Kritik an ihrer mangelhaften Rechtschreibung und Bitten, sie möge doch öfter und vielleicht etwas ausführlicher schreiben. Mücke schreibt kurz und erzählt eher wenig und auch ihre vielen Rechtschreibfehler sind übernommen. Da die Briefe aus der Zeit August 1942 bis Ende 1943 stammen, fehlen aber auch Fliegerangriffe und Luftalarme in Mückes Briefen nicht, was das Buch zu einem eher unterschwelligen, wenn auch sehr knappen, Zeitdokument macht. Die Eltern auf dem Land sehen den „Feuerschein über Berlin“ aus der Ferne und hören die Flugzeuge, Mücke erlebt manches hautnah.
Der zweite Teil des Buch, der Vortrag an „meine lieben jungen Freunde“, ist autobiografisch angehaucht und zeigt eine Art „Innenansicht“ des Schriftstellers, der zwar wohl tatsächlich der liebende Vater war, den die Briefe des ersten Teils erahnen lassen, aber der auch eine andere, eine dunkle Seite hatte. So war er Alkoholiker, Morphinist und nahm es mit der ehelichen Treue nicht so genau. Und er war ein Getriebener, einer, der gegen seine Dämonen ankämpfte und letztendlich verlor. „Man muss Bücher schreiben, weil man sie schreiben muss!“ Sogar: „Schreibe ich denn diese Bücher? Es schreibt sie in mir.“ – war nicht nur seine Erklärung dafür, was es braucht, ein Schriftsteller zu werden, sondern auch eine Art Entschuldigung für seinen Lebensstil und seinen Lebenswandel.
Die heile (Familien-)Welt, die der erste Teil vermuten lässt, ist nämlich tatsächlich nicht so heil, wer Fallada kennt, weiß beispielsweise, dass er nicht nur mehrfach zum Entzug in diversen Sanatorien war, sondern auch im Gefängnis saß, weil er seine Frau im Rausch mit einer Pistole bedrohte. Mit diesem Wissen im Hinterkopf liest sich das Buch dann zwischen den Zeilen doch etwas anders. Aber fest steht, dass er mit Sicherheit ein liebender und liebevoller Vater und ein außergewöhnlicher Schriftsteller war. Mir hat das Büchlein den Menschen Hans Fallada (oder Rudolf Ditzen, wie er mit bürgerlichem Namen hieß) etwas näher gebracht. Eine Lese-Empfehlung für alle, die, wie ich, Falladas Werk schätzen. 5 Sterne.

Bewertung vom 04.01.2021
Der Spiegelmann / Kommissar Linna Bd.8
Kepler, Lars

Der Spiegelmann / Kommissar Linna Bd.8


sehr gut

Endlich ein neuer Joona-Linna-Thriller! Mit „Der Spiegelmann“ haben Lars Kepler (dahinter verbirgt sich ja bekanntlich ein Autoren-Duo) den achten Teil der Serie veröffentlicht und reißen ihre Leser mit in einen Strudel aus Gewalt, Brutalität und Mord.
Fünf Jahre nach ihrem Verschwinden, wird die Schülerin Jenny Lind erhängt auf einem Spielplatz aufgefunden. Joona Linna beginnt er mit seinen Ermittlungen und findet mehr zufällig (wenn man bei Joona Linna überhaupt irgendwas zufällig ist) eine Auffälligkeit an der Leiche. Zwar bietet sich mit einem psychisch kranken Zeugen auch direkt ein potenzieller Täter an, aber Linna erkennt schnell: so einfach, wie es aussieht, ist an diesem Fall rein gar nichts. Näher möchte ich auf die Handlung gar nicht eingehen, denn sie ist sehr komplex und rasant erzählt. Aber eines ist klar: in Brutalität, Vielschichtigkeit und Verwirrung steht auch dieser Band den Vorgängern aus der Serie in nichts nach.
Der Thriller spielt in drei verschiedenen Handlungssträngen, die erst sehr spät zu einem Ganzen verflochten werden. Er fängt spannend an, geht spannend weiter und endet mit einem (für mich nicht ganz) überraschenden Schluss – und natürlich dem unvermeidlichen Cliffhanger und dem kleinen Ausblick auf das, was einen in Band 9 so erwarten könnte. Zwischendrin hat das Buch allerdings ein paar eher gemächliche Passagen, in denen der Leser bei so viel rasanter Spannung und Brutalität etwas zu Atem kommen kann. Das ist meiner Meinung nach bei den sehr detailliert beschriebenen Gewalttaten auch nötig, denn die sind nichts für schwache Nerven und sensible Mägen. Manche waren selbst mir zu brutal und ich bin als eingefleischter Krimileser wirklich einiges gewohnt.
Interessant fand ich die (eventuell gar nicht beabsichtigte) Namensähnlichkeit des ersten Opfers Jenny Lind mit der jungen Cecilia Lind aus Cornelis Vreeswijks „Balladen om Fredrik Åkare“. Seltsam falsch ist der Begriff „Adlernest“ (schwedisch: örnbo) – es heißt auf Deutsch korrekt „Adlerhorst“. Schade auch, dass der Rechtsmediziner in der Übersetzung „Åhlén“ heißt und der „Sprachwitz“, dass er „Nålen“ (die Nadel) genannt wird, verloren geht. Selbst in der englischen Übersetzung wird dieser mit „the needle“ aufgegriffen. Auch sind Oberarme nicht „muskulär“, sondern muskulös und die Pulsader am Hals heißt Halsschlagader. Alles in allem hat das Buch ein paar Schwächen, einige davon liegen in der Übersetzung, andere in der Recherche der Autoren, worauf ich allerdings nicht näher eingehen kann, ohne zu spoilern. Allerdings muss ich aus eigener Erfahrung sagen, dass da sehr vieles viel zu pauschal abgearbeitet wird und auch fachlich auf dem Gebiet der Psychologie und Medizin nicht alles ganz korrekt ist.
Der Spannungsbogen ist konstant hoch, die Geschichte packend und rasant erzählt. Obwohl es schon der achte Band der Serie ist, konnte man ihn auch problemlos einzeln verstehen, selbst das Zerwürfnis zwischen Joona Linna und seiner Tochter Lumi, das aus dem vorhergehenden Teil stammt, wird hinreichend erklärt. Gefreut habe ich mich über ein Wiedersehen mit dem „Hypnotiseur“ Erik Maria Bark. Bei aller Spannung waren manche Szenen allerdings eher widerlich-brutal und man hätte sie ohne Verlust innerhalb des Plots auch weglassen können. Aber auch das bin ich von Lars Kepler gewohnt. Ebenso die manchmal nervige, fast übermenschliche Ermittlungsgenialität von Joona Linna.
Der Thriller ist eine klare Lese-Empfehlung für alle Fans des Autoren-Duos und alle, denen brutalste Folter-, Missbrauchs- und Tötungsszenen nichts ausmachen. Ich freue mich auf Band 9, überlege aber, ihn im Original zu lesen. Abzüglich eines Übersetzungs-Sterns vergebe ich 4 Sterne.