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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2021
Wenn es dunkel wird
Stamm, Peter

Wenn es dunkel wird


ausgezeichnet

Peter Stamm war mir vor der Lektüre seiner Anthologie „Wenn es dunkel wird“ kein Begriff. Und da mich die 11 Kurzgeschichten der Sammlung sehr zwiegespalten zurücklassen, wird er mir wohl auch nicht wirklich im Gedächtnis bleiben. Schlecht ist das Buch nicht, aber von den Geschichten treffen nur sehr wenige meinen Geschmack.
Peter Stamms Geschichten handeln von augenscheinlich „normalen“ Menschen, Menschen wie du und ich. Die Lebensläufe aller Protagonist:innen weisen Brüche auf, alle stehen an irgendeinem Wendepunkt in ihren Leben. Die Wendungen, die ihre Lebenswege danach nehmen, sind oft banal und vorhersehbar, manche aber durchaus skurril, manche fast surreal, und überraschend. So schafft es der Autor auch, eher einfache Geschichten über einfache Menschen zu Spiegeln der Gesellschaft zu machen.
Peter Stamm lässt jede seiner Geschichten von einem Ich-Erzähler erzählen, seine Protagonist:innen könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist ein junger Auszubildender, der monatelang bis ins kleinste Detail einen Banküberfall plant. Der Arzt im Ruhestand kurz vor seiner eigenen Operation, der sich an Mirjam erinnert, eine Frau, die ihn gestalkt hat, als er in der Notaufnahme arbeitete. Oder der Angestellte, der seine Arbeitszeit damit verbringt, eine einzige Liste zu führen, und kurz vor der Rente beginnt, ganz langsam aus der Welt zu verschwinden.
Da es sich um Kurzgeschichten handelt, sind alle Erzählungen lediglich kurze Einblicke in das Geschehen, ohne wirklichen Anfang und fast alle mit einem offenen Schluss. Jede Geschichte könnte so oder so enden, was wirklich real ist und überhaupt realistisch, kann man beim Lesen nicht wirklich erkennen, für mich war das Buch wie ein warmes Schaumbad – wohlig und entspannend, aber nach dem Ablassen des Wassers vorbei und schnell vergessen. Wenige Geschichten werden mir im Gedächtnis bleiben, am ehesten vermutlich die der Arzt-Stalkerin und die des verschwindenden Angestellten, denn sie brachten mich zum tieferen Nachdenken über die menschliche Psyche und die Gesellschaft als solche. Die Dunkelheit aus dem Titel ist in der Hauptsache eher metaphorisch gemeint, als tatsächlich. Wenn auch im Buch für mich eine konstant eher dunkle Grundstimmung spürbar war.
Themen wie Einsamkeit, das Gefühl, überflüssig oder gar unsichtbar zu sein, Egoismus, Egozentrik und Dissoziation nutzt der Autor für seine manchmal versteckte, manchmal ganz offene Gesellschaftskritik. Er legt Finger in Wunden und seziert die Gesellschaft unter dem Mikroskop und trotzdem konnte mich das Buch in seiner Gänze nicht begeistern. Der Autor schreibt klar, schnörkellos und ruhig, seine Erzählungen augenscheinlich einfach, aber mit lauten und heftigen Zwischentönen in den Zwischenzeilen. Dennoch ist mir das alles zu surreal und abstrakt. Das macht das Buch aber nicht zu einem schlechten, es traf nur einfach nicht meinen Geschmack. Daher von mir 3 Sterne.

Bewertung vom 19.02.2021
Kein Entkommen / Katja Sand Trilogie Bd.1
Wortberg, Christoph

Kein Entkommen / Katja Sand Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Ich gebe es zu: ich kannte Christoph Wortberg vorher nur aus der Lindenstraße. Deshalb habe ich mich auf sein Buch „Trauma – Kein Entkommen“ sehr gefreut und meine Erwartungen wurden auch vollständig erfüllt. Zwar war es für mich nicht wie angekündigt ein Thriller, aber ein solider, spannender und gut ausgearbeiteter Krimi, in dem auch die psychologische Komponente gut recherchiert und gekonnt aufgearbeitet ist, denn der Autor nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise in die tiefen Abgründe der menschlichen Psyche.
Schon mit dem Prolog hatte der Autor mich gepackt. Die kurze Sequenz beschreibt ein traumatisches Erlebnis für ein dreijähriges Kind. Lange bleibt das Kind neutral, der Leser erfährt keinen Namen und selbst das Geschlecht wird erst später verraten. Aber eines ist klar: diesem Kind wird man im Lauf des Buchs noch mehrfach begegnen, denn irgendwie muss es mit der eigentlichen Handlung verknüpft sein.
Traumata spielen nämlich auch im Haupt-Handlungsstrang eine große Rolle. Ermittlerin Katja Sand von der Münchner Mordkommission ermittelt zusammen mit ihrem Assistenten Rudi Dorfmüller in zwei verdächtigen Todesfällen. Einer der Toten ertrinkt in einem See, der andere erstickt in einem Kühlschrank. Die Ermittlungen ergeben, dass bei beiden Toten ihre schlimmsten Alpträume wahr wurden und sie ein früheres Trauma noch einmal durchlebten. Der erste Verdacht lautet Selbstmord. Aber den Ermittlern kommen schnell Zweifel.
Ich fand das Buch von der ersten Seite an atemberaubend spannend, vor allem, da ich mich in der Vergangenheit selbst mit Traumata und ihren Folgen befasst habe. Dieses Thema hat der Autor meiner Meinung nach sehr gründlich recherchiert und bringt es gut auf den Punkt und dem Leser gekonnt näher. Verknüpft mit zwei sympathischen Ermittlern, von denen jeder seine Eigenheiten und Eigenarten hat, ein bisschen Privatleben und den Ermittlungen hat Christoph Wortberg einen fesselnden Krimi geschaffen, den ich nur schwer aus der Hand legen konnte. Die in den eigentlichen Handlungsstrang eingeflochtenen Sequenzen um das „kleine Kind“ schufen eine bedrückende Atmosphäre, in der ich dessen Angst fast körperlich spüren konnte.
Und natürlich konnte der Autor mich damit bei der Stange halten, ich wollte unbedingt wissen, wie alles zusammenhängt, denn eines ist von Anfang an klar: alles hängt mit allem zusammen und ein Trauma lässt einen in den meisten Fällen ein Leben lang nicht mehr los. Der Schluss hat mich dann nicht wirklich überrascht, aber er ist stimmig und logisch. Der Schreibstil passt für mich auch, das Buch ist sehr flüssig zu lesen. Der Autor schafft den Spagat zwischen den tatsächlichen Ermittlungen und dem Drumherum (hauptsächlich Katjas Privatleben und ihre Probleme mit ihrer Teenager-Tochter, beziehungsweise deren Freund) sehr gut und die Gewichtung innerhalb des Plots ist gelungen. Die Charaktere finde ich sehr gut beschrieben und insgesamt ist das Buch für mich eine runde Sache. Ich freue mich auf den nächsten Band, denn „Kein Entkommen“ ist der Auftakt zu einer Trilogie. Denn eines wird im Lauf der Geschichte klar: auch Katja trägt ein Trauma in sich. Von mir eine absolute Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

Bewertung vom 19.02.2021
Flüsterwald - Der verschollene Professor (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 2)
Suchanek, Andreas

Flüsterwald - Der verschollene Professor (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 2)


ausgezeichnet

Neues aus dem Flüsterwald. Die Abenteuer von Lukas und seinen Freunden gehen weiter.

„Der verschollene Professor“ ist Andreas Suchaneks zweiter Teil der Flüsterwald-Reihe und war für mich wie schon der erste Teil ein wirklich gelungenes Buch, das ich gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Es ist sicher möglich, das Buch ohne die Kenntnisse aus dem ersten Teil zu lesen, ich finde es aber nicht empfehlenswert, vor allem natürlich auch, weil Band 1 ebenso lesenswert ist. Allerdings fand ich den zweiten Teil noch ein wenig besser, konzeptionell und auch stilistisch ausgereifter.
Neben Lukas, der Elfe Felicitas, dem Menok Rani und der Katze Punchy ist Ella die Neue im Kreis der „Flüsterwald-Gruppe“. Sie ist die durchaus manipulative Enkeltochter des Professors, dem das Haus, in dem Lukas und seine Familie wohnen, ursprünglich gehörte. Und da sie ihren Opa als verschollen gilt, macht sie sich mit den anderen auf in den Flüsterwald, um ihn zu suchen.
Im Flüsterwald wartet auf die bunt gemischte Truppe eine Menge Abenteuer. Mehr kann und möchte ich gar nicht darüber schreiben, denn das Buch ist in seiner Abenteuerlichkeit sehr umfangreich und ich möchte nicht spoilern. Nur eines ist klar: das Buch steht in Puncto Spannung, Fantasie und oft auch Komik in nichts nach. Es hat also durchaus einen Fingernägel-abkau-Haare-rauf-unter-der-Bettdecke-versteck-Faktor. Da gibt es unter anderem „lebende“ Skelette von Seefahrern und U-Boot-Kommandanten in Uniformen unterschiedlicher Epochen und Nationalitäten, ein fliegendes U-Boot, verlassene Stollen, die „Quelle der Magie“. Und natürlich bleibt der Schluss mehr oder weniger offen und lässt den Leser mit Vorfreude auf den dritten Band zurück.
Es ist ein spannendes, flott und flüssig (kindgerecht, aber nie seicht oder langweilig) geschriebenes Buch voller toller Illustrationen von Timo Grubing, Magie und Fantasie. Man merkt bei jeder Zeile den Spaß, den der Autor selbst damit hat. Ein paar Fehler seien ihm daher verziehen, vermutlich war er so im Schreibfluss, dass sie ihm nicht aufgefallen sind. Es ist zwar als Kinderbuch deklariert, aber empfehlenswert ist es für alle, die Spaß an fantastischen Geschichten haben, egal, wie alt sie sind, schließlich ist Alter nur eine Zahl, denn vermutlich kann sich kaum einer dem sehr speziellen Charme von Rani (vor allem in dessen „Buch der Heldentaten“) entziehen, wobei auch die anderen Charaktere in ihren Eigenheiten und ihrem Wesen sehr gut beschrieben und ausgearbeitet sind.
In freudiger Erwartung auf den dritten Teil vergebe ich 5 Sterne und empfehle das Buch gerne weiter.

Bewertung vom 18.02.2021
Schublade auf, Schublade zu
Förster, Jens

Schublade auf, Schublade zu


ausgezeichnet

„Wie gelingt der Blick hinter unsere Vorurteile?“, was sind Vorurteile überhaupt und wie entstehen sie? – das sind nur ein paar der Themen, die Dr. Jens Förster in seinem Buch „Schublade auf, Schublade zu. Die verheerende Macht der Vorurteile“, erörtert. Herausgekommen ist bei dieser Mammut-Aufgabe ein Buch, das den Spagat zwischen Unterhaltung und Sachbuch hervorragend meistert.
Als roter Faden durch das Buch ziehen sich Gespräche mit einer Außerirdischen, die er WRX nennt, ihr erklärt er das schwierige Thema fast kindgerecht, fundiert und anschaulich, manchmal sogar lustig. So kann eigentlich jeder Begrifflichkeiten wie Vorurteile, Diskriminierung und Stereotype verstehen. Zwar hatte ich manchmal angesichts der Komplexität des Themas das Gefühl, der Autor verzettele sich etwas, aber dank WRX schafft er es immer wieder, zurück zum Thema zu finden.
Er streift Grundlagen der Sozialpsychologie, schreibt über Schubladendenken und Fettnäpfchen, Gruppen und Blasen, die Rolle von Comedians beim Gebrauch von Stereotypen, klassischen und modernen Rassismus, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und Frauenquoten in der Berufswelt, und natürlich darf auch Homo- und Transphobie nicht fehlen. Und er erklärt immer wieder, wie es dazu kommen kann, dass diese Denkweisen entstehen und wieso sie sich so hartnäckig am Leben halten.
„Wir alle teilen Vorurteile, schützen kann sich davor niemand“ – mit dieser Aussage hat Förster sicher Recht. Leider. Denn vermutlich hat jeder, wenn auch unbewusst, gewisse Vorurteile. Und ein Buch wie dieses kann sicherlich aufrütteln und dabei helfen, das eigene Denken und Handeln zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern. Heute, in Zeiten von Corona, #blacklivesmatter und dem widerkehrenden Faschismus in allen möglichen Ländern weltweit, ist ein Umdenken und eine Abkehr von reinem „schwarz-weiß-Denken“ wichtiger denn je. Denn, so wie wir nicht in Schubladen gesteckt werden möchten, sollten wir auch keine anderen in ebensolche packen, denn aus diesen wieder herauszukommen ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich..
Stilistisch fand ich das Buch unterhaltsam und dennoch lehrreich und informativ geschrieben, oft ernst und sachlich, sehr oft aber auch launig und mit Augenzwinkern. Vieles vom Inhalt kannte ich schon, einiges war mir aber in dieser Form nicht bewusst. Die vielen anschaulichen Beispiele, die der Autor zu jedem Thema anführt, machen das Buch sehr lebendig und es ist niemals trocken zu lesen, auch beschreibt er meistens eher, als dass er den mahnenden Zeigefinger erhebt. Ob bei Quoten in der Wirtschaft oder der Homophobie der Kirchen – er ist immer nur aufklärend, nie belehrend oder gar verurteilend.
WRX hat am Schluss des Buchs viel dazu gelernt und ich auch. Eine ganz klare Lese-Empfehlung und von mir 5 Sterne.
P. S. Eines ist mir allerdings bei der Lektüre aufgefallen, zum einen schreibt er „Antidiskriminierungsverbote sind damit keine willkürlichen Spinnereien irgendwelcher Gutmenschen“ – das ist vermutlich ein Fehler, warum sollte ANTIdiskriminierung denn verboten werden?

Bewertung vom 18.02.2021
Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3
Ditlevsen, Tove

Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3


ausgezeichnet

„Abhängigkeit” ist der deutsche Titel des dritten und letzten Teils von Tove Ditlevsens autobiografischer „Kopenhagen-Trilogie“. Im Original hieß das Buch „Gift“, also „verheiratet“ – beide Titel passen exakt zum Inhalt des Buchs. Denn es dreht sich um Toves Ehen und ihre Abhängigkeit, sowohl die Abhängigkeit von Männern, als auch von Drogen. Insgesamt war sie viermal verheiratet. Dieses Buch ist in zwei Teile gegliedert, der erste umfasst ihre ersten beiden Ehen, der zweite ihre Sucht und ihr Verhältnis mit und zu ihrem dritten Mann.
Tove wähnte sich am Ziel ihrer Träume, als der 30 Jahre ältere Verleger Viggo F. Møller sie heiratet. Aber die Ehe ist für sie mehr ein Gefängnis, denn ihr Mann ist geizig und ihr gegenüber eher gleichgültig. Sie ist oft froh, wenn er die gemeinsame Wohnung verlässt und sie flüchtet sich schnell in die Arme von Piet, einem Mitglied ihres Schreibzirkels „Klub der jungen Künstler“, dem sie vorsteht. („Dann ist »Der Club der jungen Künstler« Realität geworden, und das Leben hat wieder an Farbe und Fülle gewonnen.“). Piet hilft ihr, sich aus der unglücklichen Ehe zu befreien und nach zwei Jahren lässt Tove sich scheiden.
Ihre Tochter Helle bekommt Tove dann aber nicht mit Piet, sondern mit dem gleichaltrigen Studenten Ebbe Munk, doch auch die beiden lassen sich nach kurzer Zeit wieder scheiden. Und auch ihre dritte Ehe, mit dem Arzt Carl T. Ryberg, ist nicht glücklich und kostet sie beinahe das Leben, denn durch ihn kommt sie erstmals an Drogen. Den Grundstein für ihre Drogensucht legte Ryberg schon kurz nach ihrem Kennenlernen, als er beginnt, ihr nach ihrem zweiten Schwangerschaftsabbruch regelmäßig Pethidin zu spritzen. (»Wenn ich wiederkomme«, sage ich langsam, »bekomme ich dann noch so eine Spritze?« Er lacht laut und reibt sich das vorstehende Kinn. »Tja«, sagt er, »wenn es dir so gut gefallen hat? Du hast ja nun wirklich nicht das Zeug zur Drogensüchtigen.«) Tove heiratet ihn und bekommt ein Kind von ihm, um ihn an sich zu binden. So hat sie jederzeit Zugang zu den Drogen, nach denen sie inzwischen süchtig ist (»Jederzeit«, sagte ich, weil ich dachte, wenn ich erst mit ihm verheiratet wäre, würde ich ihn viel leichter dazu bringen, mir meine Spritzen zu geben. »Könntest du dir vorstellen, noch ein Kind zu bekommen?«, fragte er, als er mich die Treppe hinunterbegleitete. »Ja«, antwortete ich umgehend, denn durch ein Kind würde ich mich enger an ihn binden…“) Ihre Gedanken kreisen nur noch um Pethidin und Methadon (für das sie Rezepte fälscht), Schreiben ist ihr zum ersten Mal im Leben völlig gleichgültig („Ich hatte gerade meinen Erzählband abgegeben und überhaupt keine Lust zum Schreiben. Ständig dachte ich nur daran, wie ich Carl dazu bewegen könnte, mir wieder Pethidin zu geben.“) und auch ihre Kinder interessieren sie zeitweise überhaupt nicht mehr („Als ich wieder allein in meinem Bett lag, fiel mir auf, wie lange ich meine Kinder schon nicht mehr gesehen hatte.“)
Es ist ein bedrückendes Buch über eine Frau, die ihrem Glück hinterherjagt, es scheinbar findet und kurz vor dem Ziel in der Drogensucht endet. Tove Ditlevsen schildert ihre Sucht und auch die illegalen und zweifelhaften Methoden, an ihre Drogen zu kommen ebenso schonungslos wie die Tatsache, dass sie ihre Kinder vernachlässigt. Man möchte sie bei der Lektüre abwechselnd schütteln und in den Arm nehmen, mit ihr schimpfen und sie trösten und fühlt sich manchmal ebenso hin- und hergerissen, wie sie selbst. Als sie zum Ende des Buchs Victor trifft, hatte ich Tränen in den Augen. Einerseits, weil ich ihr von Herzen gewünscht hätte, dass sie endlich glücklich wird und ihre Erfüllung findet – aber da ich ihre Biografie kenne, wusste ich es schon beim Lesen besser. Ein ehrliches Buch, wie auch die beiden anderen Teile ihrer Kopenhagen-Trilogie und von mir eine ganz klare Lese-Empfehlung für alle drei. 5 Sterne.

Bewertung vom 15.02.2021
Jugend / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.2
Ditlevsen, Tove

Jugend / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

„Jugend” ist der zweite Teil der „Kopenhagen Trilogie“ von Tove Ditlevsen. Ursprünglich waren die ersten beiden Teile „Kindheit“ und „Jugend“ 1969 in dem Band „Den tidlig forår“ veröffentlich worden, auf Deutsch erscheint die Trilogie über 40 Jahre nach Tove Ditlevsens Tod zum ersten Mal. Das Buch schließt nahtlos an den ersten Band an, die Autorin beschreibt die Zeit nach ihrer Konfirmation, also ab dem Alter von etwa 14 Jahren.
Tove versucht, sich mehr und mehr von der Familie zu emanzipieren, die sie zwar nicht unterstützt, gerne aber ihr Kostgeld zum Lebensunterhalt annimmt. („Wir sind nur deinetwegen umgezogen“, klagt meine Mutter verbittert, „damit du dein eigenes Zimmer zum Dichten bekommst. Aber das kümmert dich nicht. Und jetzt ist dein Vater wieder arbeitslos. Wir können nicht auf deinen Beitrag zur Miete verzichten.“) Ihr Bruder Edvin hat die elterliche Wohnung bereits verlassen, später heiratet er sogar heimlich. Und auch Tove träumt von einem eigenständigen Leben und von einem Leben als Schriftstellerin.
Aber erst einmal muss sie eine Arbeit finden, die ihr ein Auskommen ermöglicht, denn dass sie Dichterin werden könnte, ist vor allem für den Vater undenkbar. Und so landet sie erst als Haushälterin in einer Familie, dort hält sie es genau einen Tag aus. Nach einer Episode als Hilfskraft in einem Hotel bekommt sie verschiedene Anstellungen als Schreib- und Bürokraft, nebenher dichtet sie ab und zu für Kollegen Lieder. Und sie zieht aus der elterlichen Wohnung aus und bezieht ein möbliertes Zimmer in Østerbro, aus dem unangepassten Mädchen aus „Kindheit“ wird eine ebenso unangepasste junge Frau. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Arbeit, wenig Freizeitvergnügen (viel ist nicht möglich, da sie kaum Geld hat, aber auch weil der 2. Weltkrieg vor der Tür steht) und dem Schreiben.
Sie trifft den 30 Jahre älteren Verleger Viggo Fr. Møller, der in seiner Zeitschrift „Wilder Weizen“ (Vild Hvede) ihr erstes Gedicht veröffentlicht und sie 1939 bei der Veröffentlichung ihrer ersten Gedichtsammlung „Mädchenseele“ (Pigesind) unterstützt. („Könnten Sie sich vorstellen“, fragt Viggo F. Møller, „einen Gedichtband zu veröffentlichen?“ Er sagt das, als wäre es nichts Außergewöhnliches. Er sagt es, als wäre es etwas ganz Alltägliches für mich, Gedichtbände zu veröffentlichen; als wäre es nicht, solange ich denken kann, mein heißester Wunsch. Und ich antworte mit einer dünnen, alltäglichen Stimme, das könne ich mir durchaus vorstellen, ich hätte nur noch nie darüber nachgedacht.)
Wer Tove Ditlevsens Biografie kennt, weiß, dass sie ihn heiraten wird (über ihre Ehen schreibt sie in „Abhängigkeit“, dem dritten Teil der Trilogie). Tove Ditlevsen schreibt, wie man es von ihr gewohnt ist: schonungslos deskriptiv und dennoch bildhaft und poetisch. Ihr Hunger ist spürbar: aufs Schreiben, Liebe und vor allem aufs Leben. Es ist ein Coming-of Age Roman, der Bericht über eine, die es geschafft hat: raus aus der armen Arbeiterfamilie, rein in die „feinere Gesellschaft“ („Ich habe viele Berühmtheiten getroffen. Ich habe sie gesehen, mit ihnen gesprochen, neben ihnen gesessen, mit ihnen getanzt. Sowie ich den Saal betreten hatte, bewegte ich mich in einer ganz anderen Sphäre als gewöhnlich.“) Dazu zeichnet sie ein kritisches Bild der dänischen Gesellschaft vor dem 2. Weltkrieg, denn auch in Dänemark gab es überzeugte Nazis. Das Buch thematisiert darüber hinaus Emanzipation und den Wunsch nach einem anderen Leben. Toves Wunsch geht scheinbar in Erfüllung (wer ihre Biografie kennt, der weiß, dass es nicht wirklich so ist).
Ein trotz der in der Hauptsache düsteren Grundstimmung eher positiver und schonungslos realistischer Roman – von mir eine klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.02.2021
Ein englischer Winter
Reverdy, Thomas

Ein englischer Winter


ausgezeichnet

Anfangs tat ich mich zugegebenermaßen mit Thomas Reverdys „Ein englischer Winter“ etwas schwer. Die fragmentierte Schreibweise und die verschiedenen Handlungsstränge bildeten für mich auf den ersten Seiten einfach keine Einheit. Aber als ich mich an den Stil des Autors gewöhnt hatte, habe ich das Buch in einer Tour durchgelesen. Stilistisch ähnelt das Buch für mich mehr einer Novelle als einem Roman, denn es hat weder einen wirklichen Anfang, noch einen richtigen Schluss. Das tat der der Lesefreude aber keinen Abbruch.
Der Winter 1978/79 war für England in mehrerlei Hinsicht hart: einerseits ist es sehr kalt, andererseits steckt das Land in einer sehr tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise. Die Labour-Regierung von James Callaghan steht vor dem Aus. Die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf und mit den höher werdenden Müllbergen in London (neben den Mitarbeitern der Nahverkehrsbetrieben streikten die der Müllabfuhr als erste), wächst auch der Unmut in der Bevölkerung.
Und mittendrin zwei Frauen, die sehr unterschiedlich sind, aber grundsätzlich auch vieles gemeinsam haben. Candice ist die einzige weibliche Mitarbeiterin eines Fahrradkurier-Unternehmens und versucht sich in ihrer Freizeit als Darstellerin in Shakespeares „Richard III“ in einer Laientheatergruppe. Und dann ist da eine Krämerstochter, die das Land aus der Krise führen möchte. Diese wird später als konservative Premierministerin und Eiserne Lady in die Geschichte eingehen, 1978 besticht sie aber erst einmal durch flammende (Wahlkampf-)Reden und eine „Betonfrisur“. Der Rest ihrer Geschichte ist dem interessierten Leser hinlänglich bekannt.
Zwei emanzipierte Frauen unterschiedlicher Herkunft (Candace stammt aus der Arbeiterschicht mit trinkendem und prügelndem Vater, Margaret Thatcher aus der Mittelschicht Lincolnshires und versucht, mit Sprechunterricht ihren Akzent abzulegen), die ihren Platz in einer bis dato männerdominierten Gesellschaft suchen. Beide sind visionär und energisch, allerdings sind sowohl ihre Ausgangspunkte als auch ihre Ziele völlig unterschiedlich.
Der weniger geschichtsinteressierte Leser wird sich eventuell mit dem Buch aber schwer tun. Der Autor verknüpft Fakten mit Fiktion, hangelt sich an einem Punk-lastigen Soundtrack entlang, der die Weltuntergangsstimmung und die düstere No-Future-Atmosphäre noch betont. Nicht von ungefähr wird der Zeitraum, in dem das Buch spielt, „der Winter des Missvergnügens“ („winter of discontent“) genannt. Nicht zuletzt verflicht er auch mit der immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit Shakespeares Stück, in dem Candice auf der Bühne debütiert, Geschichte mit (zeitloser) Fiktion. Macht (unter anderem die der Gewerkschaften), (Zweck)Bündnisse und gesellschaftliche Umbrüche sind sowohl im Theaterstück als auch im Roman wichtige Themen.
Für Leser, die sich für britische Geschichte und Politik interessieren, ist das Buch ein echtes Schmankerl. Es ist eine gekonnte und tiefgreifende politische Gesellschaftsanalyse verknüpft mit einer literarischen Erörterung. Eine klitzekleine Liebesgeschichte darf auch nicht fehlen, wobei die eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Nicht zuletzt kann man vieles über die Denkweise vieler Briten lernen und unterschwellig kann man auch herauslesen, wie es jetzt zum Brexit kam. Ein Fehler ist dem Autor allerdings unterlaufen: „Q wie die Queen – Elizabeth begleitete das ganze Jahrhundert. 1977 wurde ihr 50-jähriges Thronjubiläum gefeiert.“ – 1977 feierte Elizabeth II. ihr 25. Thronjubiläum. Dennoch hat mich das Buch sehr gut unterhalten. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 10.02.2021
Die Freimaurer - Der mächtigste Geheimbund der Welt
Dickie, John

Die Freimaurer - Der mächtigste Geheimbund der Welt


ausgezeichnet

Umfangreicher Einblick in die Freimaurerei, von der Entstehung bis heute
Die Freimaurer sind keine Geheimgesellschaft, sondern eine Gesellschaft mit vielen Geheimnissen – so könnte man das Buch „Die Freimaurer – Der mächtigste Geheimbund der Welt“ von John Dickie ganz knapp zusammenfassen. So kurz und bündig macht der Autor das natürlich nicht. Er ist eigentlich ein Fachmann für Italienstudien und die Cosa Nostra. Aber mit seinem Werk über die Freimaurer begibt er sich auf die Spuren einer völlig anderen Organisation.
Minutiös rollt er die Geschichte der Freimaurer auf, beschreibt Rituale und Zeremonien und erklärt, was es mit den Logen so auf sich hat. Wirklich? Naja, sagen wir mal so: er trägt eine Menge Informationen zusammen und macht sie dem Leser zugänglich. In der Hauptsache aber sind es die Informationen, die die Freimaurer bereit sind, öffentlich zu machen. Denn natürlich bleibt der mächtigste Geheimbund auch nach der Lektüre dieses Buches eben dies: geheimnisvoll.
Momentan sind Verschwörungstheorien en vogue, allerdings betreffen diese weniger die Freimaurer. Dennoch ziehen sich zu diesem Geheimbund die Theorien durch die mehr als vier Jahrhunderte seines Bestehens hartnäckig durch. Hatten sie Anteil an der französischen Revolution? Oder an der Mafia (dem eigentlichen Steckenpferd des Autors) und wer kann überhaupt Freimaurer werden und wie? All diese Themen beleuchtet John Dickie ausführlich und lesenswert, manchmal sogar spannend. Die Einteilung des Buchs erfolgt geografisch, so schreibt er nacheinander unter anderem über die Freimaurerei in Lissabon, Edinburgh, London, Rom und München, natürlich lässt er auch Washington und Charleston nicht aus, unter „Nirgendwo“ verbucht er das, was sich geografisch nicht einordnen lässt.
Eines ist angesichts des Inhaltsverzeichnisses schon ganz klar: Freimaurer gibt es auf der ganzen Welt und in allen möglichen Gesellschaftsschichten. Waren es ursprünglich wirklich Handwerker (daher natürlich auch der Name „Freimaurer“), so findet man heute alle möglichen Berufe, bis hin zur Hochfinanz, hochrangigen Politikern, Künstlern und Wissenschaftlern. Es war ein weiter Weg von den Bauhütten Europas in die höchsten Etagen und bis heute wird den Logen ein großer Einfluss im Weltgeschehen zugeschrieben.
Um die Freimaurer ranken sich Mythen und Gerüchte, und das ändert auch dieses Buch nicht. Denn eines muss dem Leser trotz seines Umfangs klar sein: es ist ein Ausschnitt aus einem unglaublich komplexen Thema und dieser umfasst exakt das, was der Bund andere wissen lassen möchte. Nicht mehr und nicht weniger. Denn trotz einer gewissen „Pseudo-Transparenz“ behält die Bruderschaft bis heute ganz sicher eine Menge Geheimnisse für sich.
Dennoch hat John Dickie mit dem Buch einen interessanten Überblick geschaffen, gut formuliert und strukturiert und durchaus interessant geschrieben, sodass der Leser trotz der Fülle an Informationen nie die Lust am Lesen verliert. Man merkt dem Buch auch an, dass der Autor selbst Spaß am Thema hat, seine Neugierde kann man durchaus herauslesen. Und so schafft er es auch, ein sauber recherchiertes und minutiös aufgearbeitetes Sachbuch so zu verfassen, dass es nie dröge oder langweilig ist. Interessant war für mich natürlich auch, welche bekannte Persönlichkeiten Freimaurer waren, bzw. sind. Der Bild-Teil am Schluss und eine umfassende Bibliografie runden das Buch ab und luden mich zur weiteren Recherche ein. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 04.02.2021
Ich lese dich
Standop, Eric

Ich lese dich


weniger gut

Seit ich einen Vortrag von Niels Krøjgaard, einem dänischen „psychologischen Entertainer“ und Fachmann für nonverbale Kommunikation, gehört habe, ist Gesichtslesen für mich ein interessantes Thema. Deshalb habe ich mich über das Buch „Ich lese dich: Geheimnisse eines Facereaders“ von Eric Standop sehr gefreut. Und völlig enttäuscht hat das Buch mich nicht, aber fast. Denn es bleibt weit hinter den Werken von Paul Ekman oder von Joe Navarro über Mikroexpressionen und deren Deutung zurück.
Stellenweise fand ich das Buch sehr interessant, vor allem, wenn es um objektive Ansätze ging, die der Autor auch wissenschaftlich belegen kann. Daher fand ich die zahlreichen Bilder, die seine Ausführungen zur Rolle von Augen („Die Augen als Tor zur Gedanken- und Gefühlswelt“) und Mund, Stirn, Ohren und besonderen Merkmalen sehr interessant und lehrreich, wobei ich da schon der Position von Muttermalen und Ohren und deren Bedeutung wenig Wissenschaftliches abgewinnen konnte. Im Endeffekt sind viele Muttermale und auch der Sitz der Ohren (zumindest in meiner Familie) ebenso vererbt wie die Höhe der Stirn. Zudem handelt es sich dabei nicht um unveränderliche Merkmale (Stichwort angelegte ehemals abstehende Ohren, Botox bei Stirnfalten oder entfernte Muttermale).
Schlichtweg unwissenschaftlich finde ich aber seine Exkurse zum esoterischen Gedankengut. Hellsichtigkeit definiert er zwar anders, als es landläufig der Brauch ist („Hellsichtige sind Menschen, die etwas wahrnehmen, was andere nicht sehen oder erkennen.“), das macht sie aber nicht „hell“sichtig, sondern meiner Meinung nach eher besonders empathisch und sensibel. Ebenso schwierig und eher pseudo-wissenschaftlich angehaucht finde ich seinen Blick auf Dinge wie „Antlitzdiagnostik“ (die in der Hauptsache von Heilpraktikern praktiziert wird) oder die traditionelle chinesische Medizin, der ebenfalls die Evidenz fehlt. Diese eher pseudo-wissenschaftlichen „Erkenntnisse“ machen sehr viele der Ansätze, die er beschreibt, rein subjektiv und sie lesen sich für mich wie eine wilde Mischung aus Kaffeesatzlesen, Wahrsagen und schlichtem Raten gepaart mit guten Ratschlägen wie auf dem Abreißkalender oder in den einschlägigen Frauenzeitschriften. Denn neben wissenschaftlichen Grundlagen fußt das Gesichtslesen in der Hauptsache auf Intuition, Empathie und Instinkt – und jahrelanger Erfahrung.
So wechselten sich für mich in dem Buch sehr interessante und informative Teile mit sehr vielen eher wenig greifbaren Passagen ab, dazwischen streut der Autor Anekdoten aus seinem Alltag (beruflich und privat) ein, die ganz nett sind, aber in der Hauptsache zeigen, wie gut er seinen Job macht. Zwar schreibt er über „wertfreie Ratschläge“ und vorurteilsfreies „Reading“, aber manchmal blitzte für mich dann doch ein „confirmation bias“ durch. Alles in allem ist es für mich bestenfalls ein populär- oder pseudowissenschaftliches Buch, für den Laien nett zu lesen, mehr aber auch nicht. Seine häufige Selbstbeweihräucherung machte mir das Buch manchmal wirklich madig. Der Autor findet sich selbst schon extrem toll. Er ist wohl einer der Vorreiter auf seinem Gebiet und weiß sich (und seine Arbeit) auch zu verkaufen.
Daher fand ich das Buch insgesamt eher mittelmäßig. Zwar ist es durch die Anekdoten unterhaltsam, durch die fehlende Wissenschaftlichkeit mir aber zu oberflächlich. Schade, denn da hat der Autor eine Menge Potenzial verschenkt. Von mir 2 Sterne.

Bewertung vom 26.01.2021
Der Mann im Strom
Lenz, Siegfried

Der Mann im Strom


ausgezeichnet

Hätten Bücher eine farbige Aura, dann wäre „Der Mann im Strom“ von Siegfried Lenz für mich grau in grau. Das 1957 erstmals erschienene Buch über den Berufstaucher Hinrichs, der außerdem alleinerziehender Vater von Timm und Lena ist, hat für mich eine durchweg bedrückende Stimmung, was es natürlich nicht zu einem schlechten Buch macht. Gegen Ende wird es unterschwellig spannend und alles in allem fand ich es unglaublich intensiv erzählt.
Die Geschichte an sich ist oberflächlich betrachtet einfach und vielen wohl bekannt, schließlich wurde sie auch schon zweimal verfilmt: Hinrichs macht sich in seinem Taucherpass jünger, damit er weiterhin als Bergungstaucher für Munition aus gesunkenen Kriegsschiffen arbeiten kann, sonst droht ihm weitere Arbeitslosigkeit. Parallel dazu möchte sich seine schwangere Tochter Lena abnabeln und mit ihrem Freund Manfred, einem eher halbseidenen Zeitgenossen, zusammenziehen und eine Familie gründen.
Das Buch ist eine gekonnte Mischung aus sozialkritischem Roman, fiktivem Zeitdokument und, in Bezug auf Lena, ein Coming-of-Age-Roman. Im Zentrum stehen Lügen, Vertrauen, Misstrauen, Enttäuschung, Not und ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer.
Alle Beteiligten lernen in der kurzen Zeitspanne, in der die Geschichte spielt, viel dazu: über sich selbst, ihre Beziehungen und darüber, wem man vertrauen kann und sollte. Erzählt ist die Geschichte über das Leben in der Hamburger Arbeiterwelt nach dem 2. Weltkrieg eindrücklich, bildgewaltig und metaphernreich, dazu aber melancholisch und düster, manchmal sogar tieftraurig und hoffnungslos. Einer der wenigen Lichtblicke im Buch ist das Feuerwerk bei der Freundschaftskampagne, an dessen Ende zwei Fallschirme mit einem flackernden Leuchtband über dem See herabschweben „auf dem in bunten Buchstaben stand: DENK JEDEN ABEND ETWAS SCHÖNES!“
Hinrichs ist für seine beiden Kinder ein liebevoller, wenn auch strenger Vater. Allerdings ist er durch seine spröde Art (er ist kein Mann großer Gesten und vieler Worte), etwas unbeholfen und durchaus mitunter überfordert („Der Mann stand neben dem Bett des Jungen, er stand unschlüssig da für einen Augenblick, aber plötzlich streckte er seine Hand aus, die große, braune, zitternde Hand, er streckte sie dem Jungen hin in lächelndem Komplizentum, und der Junge ergriff sie und begrub darin sein Gesicht.“). Er möchte die Kinder beschützen und versorgen, ein liebevoller Umgang ist ihnen aber nicht gegeben. Er ist der Patriarch der Familie, er sagt, wo es lang geht. Er gibt die Richtung des Stroms vor, selbst schwimmt er aber gerne dagegen und bricht Regeln, deren Einhaltung er von anderen einfordert.
Nach „So zärtlich war Suleyken“ und „Deutschstunde“ war es seit vielen Jahren das erste Buch von Siegfried Lenz, das ich gelesen habe. Aber ich weiß jetzt wieder, was mich schon vor 20 Jahren so an ihm begeistert hat: seine Fähigkeit, mit mageren Worten greifbare und plastische Bilder zu zeichnen und mit ruhiger und unaufgeregter Erzählung eine Welt zu schaffen, die den Leser in ihren Bann zieht, oder, um im Bild des Titels zu bleiben: in einen Strom mitreißt und bis zum Schluss und darüber hinaus nicht loslässt. Nicht jeder kann eine so deprimierende und melancholische Geschichte so „schön“ erzählen. Von mir eine ganz klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.