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Volker M.

Bewertungen

Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 27.10.2022
»Man möchte hundert Hände haben ...«

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ausgezeichnet

Georg Gustav Erbkam war der Architekt der Lepsius-Expedition nach Ägypten in den Jahren 1842-45. Auch wenn Elke Freier den Namen „Lepsius-Expedition“ als fehlgeleitet empfindet, möchte ich ihn im Folgenden dennoch beibehalten, da die Bezeichnung seit dem 19. Jahrhundert etabliert und auch allgemein üblich ist.

Die sehr sorgfältige, mit zahlreichen Querverweisen und Referenzen versehene Edition von Erbkams Tagebüchern der Expedition steht in direktem Zusammenhang mit den bereits 2013 erschienenen Reisebriefen Erbkams und ergänzt diese hervorragend. Während die Reisebriefe bereits an Dritte gerichtet waren, sind die Tagebücher deutlicher vom unmittelbaren Eindruck geprägt, ungefilterter und im Zweifel auch kritischer in der Wertung von Mitreisenden oder Situationen. Erbkam schrieb seine Tagebücher oft bis tief in die Nacht, nach einem arbeitsreichen Tag. Bemerkenswert ist die Sorgfalt, die er in seine Beschreibungen legt, sowohl was den faktischen Inhalt als auch seine innere Einstellung angeht. Ihm war stets bewusst, dass diese Reise ein einmaliges Ereignis in seinem Leben bleiben würde und dass angesichts der Fülle des Erlebten diese Aufzeichnungen zu seinem einzig verlässlichen Gedächtnis werden würden. Lepsius führte zwar ein akribisch genaues Grabungstagebuch, das in seiner Zeit Maßstäbe setzte, aber er war kein Chronist seiner sozialen Umgebung, es sei denn, er bewegte sich in Herrscherkreisen. Seine bereits 1852 veröffentlichten „Briefe aus Ägypten“ sind bezüglich des Zusammenlebens wenig ergiebig und er neigte sowieso nicht zu klaren Worten der Kritik. Erbkam dagegen bemerkt bereits früh die sozialen Spannungen, die insbesondere durch den Gipsformer Carl Franke ausgelöst wurden, der im späteren Verlauf die Expedition auch verlassen musste. Franke war damit neben dem Maler Johann Jakob Frey, der aus gesundheitlichen Gründen ausschied, der einzige Teilnehmer, der die Reise nicht beendete. Todesfälle gab es, trotz der ausgesprochen risikobehafteten Reiseroute keine, alle Teilnehmer konnten die Früchte ihrer Arbeit noch jahrzehntelang ernten.

Die Edition ist eine wortgenaue Transkription, wobei die von Erbkam verwendeten Abkürzungen dankenswerterweise (im Schriftbild erkennbar) ergänzt werden. Erbkam erwähnt des Öfteren von ihm angefertigte Zeichnungen, die, soweit identifizierbar, mit Querverweisen auf seine Feldskizzenbücher versehen oder als verkleinerte Faksimiles eingebunden sind. Ebenfalls werden Lepsius‘ Grabungsbücher, seine Briefe, sowie die umfangreiche Expeditionspublikation „Denkmäler aus Ägypten und Äthiopien“ und die bereits erwähnten Reisebriefe Erbkams referenziert. Interessant ist das auch vor dem Hintergrund, was in diesen parallelen Quellen erscheint und was nicht. Das Bild wird sich voraussichtlich noch weiter komplettieren, wenn die kürzlich entdeckten Tagebücher Max Weidenbachs ebenfalls editiert werden (in Vorbereitung). Mehrere Indizes zu den erwähnten Personen, Orten und Sachschlagworten bieten im Anhang zusätzlich Orientierung und Nutzen.

Die Lepsius-Expedition war eine epochale Leistung. Hervorragend geplant, minutiös und mit Fleiß durchgeführt, ausgesprochen ertragreich und bis heute von großem wissenschaftlichen Wert. Durch die Erschließung des privaten Archivmaterials „der zweiten Reihe“ bekommt der Leser zunehmend alternative bzw. komplettierende Sichten auf den Expeditionsverlauf und die Gruppendynamik, zumal gerade Lepsius oft abwesend war und die Expeditionsroute in einigen Fällen auch geteilt wurde. Erbkam ist ein genauer Chronist, der nicht nur die Kontakte mit hochgestellten Persönlichkeiten, sondern auch das Lagerleben protokolliert und die fremdartige Schönheit der Landschaften zu genießen weiß. Für den heutigen Leser sind die unmittelbaren Schilderungen von großer Authentizität und Direktheit und erlauben einen faszinierend lebendigen Blick in die Vergangenheit. Für die Wissenschaft erschließen sich dagegen neue Facetten, insbesondere zur Arbeitsorganisation, den gruppendynamischen Prozessen und privaten Ansichten der Expeditionsteilnehmer.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 26.10.2022
Shorty
Maurer, Jörg

Shorty


ausgezeichnet

Es ist fast unmöglich, über dieses Buch eine Rezension ohne Spoiler zu schreiben, aber ich werde es versuchen:
Shorty hat in seinem Leben schon fast jeden Beruf ausgeübt. Er kann alles, aber nichts so richtig gut und daher hat es ihn immer zu neuen Ufern gezogen. Aber jetzt zweifelt er an seinem Verstand. Er hört Stimmen. Das heißt, er hört die Stimme von seinem Lieblings-Hörbuchsprecher, die ihm die Anweisung gibt, ein Umspannwerk zu sabotieren. Man kennt das ja: Zuerst sagen die Stimmen, man solle ein Umspannwerk sabotieren, um dann die Weltherrschaft an sich zu reißen. Shorty gibt jedenfalls sein Bestes, aber das ist wieder mal nicht gut genug und so kommen die Dinge ins Rutschen, bis nichts mehr ist, wie es war.

Ich muss gestehen, dass ich die Geschichte anfangs ein wenig konventionell fand, aber dieser erste Eindruck hat sich mit jeder Seite mehr verflüchtigt, denn Jörg Maurer hat sich da etwas ausgedacht, das zwar zunächst harmlos daher kommt, aber immer neue Facetten, immer mehr Tiefe bekommt, je weiter die Handlung fortschreitet. Es beginnt als witzige Sci-Fi-Komödie, wird dann zum Sci-Fi-Thriller und endet als philosophische Was-wäre-wenn-Fabel, wobei Maurer sehr geschickt die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Theorien mit einem gehörigen Schuss Zivilisationskritik verknüpft. Das ist phasenweise regelrecht virtuos, wenn hinter seinen humorvollen Einfällen die ernsthaften Hintergedanken aufleuchten und er gleichzeitig die Logik nie aus den Augen verliert. Mich enttäuschen viele Sci-Fi-Romane oft erst am Ende, wenn die phantasievollen Welten, politischen Konstellationen oder wissenschaftlichen Ideen über irgendeine logische Schwelle stolpern und ins Trudeln geraten. „Shorty“ hat keinerlei Schwächen dieser Art. Es ist ein in sich geschlossener, vollkommen logischer Ansatz, überaus spannend ausgedacht, mit zahlreichen unerwarteten Wendungen, sehr phantasievollen und eindrücklich geschilderten Szenen und Charakteren, sowie einem brillanten, erzählerisch auf den Punkt formulierten Ende. Die Geschichte ist originell und enthält zahlreiche Referenzen aus Wissenschaft, Philosophie und Erkenntnistheorie, die absolut beiläufig vermittelt werden und dennoch stört es nicht, wenn man wie Jörg Maurer über eine etwas überdurchschnittliche Allgemeinbildung verfügt. Im Gegenteil, man hat den doppelten Spaß, wenn man die echten von den ausgedachten „Originalzitaten“ zu trennen weiß oder man erkennt, dass viele Ideen durchaus im Einklang mit den Naturwissenschaften stehen und dem Ganzen eine sehr alte Theorie der Welterklärung zugrundeliegt. Jetzt sind wir leider wieder an der Spoilergrenze und ich muss mich bremsen, aber man kann über „Shorty“ ziemlich lange diskutieren. Oder nachdenken. Oder einfach nur Spaß haben.

Eine der besten Sci-Fi-Geschichten, die ich seit Langem gelesen habe und das Schöne ist: Sie ist absolut unverfilmbar. Man muss sie schon lesen...

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.10.2022
What if? 2 - Was wäre wenn?
Munroe, Randall

What if? 2 - Was wäre wenn?


ausgezeichnet

Ich habe „What if? (1)“ schon gelesen und fand es gar nicht so „absurd“, wie der Titel einredet. Randall Munroe geht die Fragen, die man ihm stellt, wissenschaftlich ziemlich ernsthaft an. Dass er das außerdem unterhaltsam tut, zeigt nur, dass es zumindest im Ausland auch Ingenieure mit Humor gibt.

„What if? 2“ setzt nahtlos da an, wo Band eins aufgehört hat. Sterne und Galaxien, Dinosaurier, sehr, sehr gute Kleber und artistische Akrobateneinlagen spielen wie üblich die Hauptrolle und natürlich kann der Geldbeutel nicht groß genug sein. Eine Frage ist zum Beispiel, was die teuerste Füllung für einen Schuhkarton wäre. Spoiler: Gold ist es nicht.

Was mich immer wieder wundert, ist die Komplexität, die teilweise hinter einfachen Fragen steckt und wie viele Einflussfaktoren und Auswirkungen es gibt (und dass Munroe immer daran denkt). So kann aus einem simplen Gedankenexperiment ganz unverhofft eine Weltuntergangsmaschine werden. Ein bisschen wie beim Klimawandel, nur ist der nicht lustig.

Die kurzen Kapitel sind gerade richtig als Bettlektüre, nicht zu lang, nicht zu kompliziert und mit ein bisschen Glück träumt man von Galaxien, Dinosauriern und sehr, sehr starken Klebern.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 19.10.2022
Gisela Krohn

Gisela Krohn


ausgezeichnet

Seit über 20 Jahren malt Gisela Krohn Landschaften, oder um es präziser zu sagen, sie malt Wälder. Mit großer Virtuosität spielt sie mit Licht und Schatten und es gelingt ihr, selbst das größte Dickicht so zu strukturieren, dass jeder einzelne Baum, jeder Ast, jedes Blatt lesbar bleibt. Krohn ist ausgebildete Grafikerin und das wird in ihren Bildern mehr als deutlich. Sie sind naturalistisch, aber stets verfremdet, mal durch sorgfältig aufeinander abgestimmte Falschfarben, mal durch Wischeffekte, die den Eindruck von fließendem Wasser oder einem sich bewegenden Beobachter erzeugen. Es ist eine gefällige Moderne, dekorativ und doch zeitgemäß, naturalistisch, aber mit impressionistischen Techniken und modernistischer Farbgebung.
Ein weiterer Schwerpunkt Krohns sind Wildtiere in ihrer natürlichen Umgebung. Besonders Wölfe faszinieren sie, als Botschafter einer ungestörten (oder zurückeroberten) Natur, aber auch als Symboltier des ständigen Konflikts Mensch-Natur.

Der exzellent illustrierte Band versammelt in erster Linie Werke der letzten fünf Jahre, ist also sehr aktuell. Die meisten Bilder sind allerdings schon in Privatbesitz. Auch das zeigt, dass Gisela Krohn in vielen Menschen Saiten zum Schwingen bringt, die ihre Sicht auf die Natur teilen. Letztlich überträgt die Künstlerin die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts sehr geschickt und handwerklich virtuos in unsere Zeit, ohne den süßlichen Zuckerguss, aber am Ende bedient sie doch die gleichen Sehnsüchte ihres Publikums.

Das wolkig bedeutungsschwere, streckenweise auch noch redundante Vorwort von Katharina Henkel ist inhaltlich belanglos. Die brillanten Bilder sollte man in jedem Fall für sich sprechen lassen.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 19.10.2022
Mord ist eine Wissenschaft
Valentine, Carla

Mord ist eine Wissenschaft


ausgezeichnet

Carla Valentine ist britische Forensikerin und, wie ihre auffällige Erscheinung bereits nahelegt, ziemlich öffentlichkeitsaffin. Sie hat für Channel 4 gearbeitet, betreibt einen Leichenhallen-Blog und leitet ein etwas kurioses Pathologie-Museum.

„Mord ist eine Wissenschaft“ ist nicht ihr erstes Buch, aber das erste, das ins Deutsche übersetzt wurde. Der Untertitel „Was schon Agatha Christie über Rechtsmedizin wusste“ gibt inhaltliche ziemlich präzise die Linie vor: Die Autorin nutzt Agatha Christies Romane als Richtschnur für eine kurzweilige Geschichte der Forensik, wobei der Schwerpunkt in der Anfangsphase liegen mag, die weiteren Entwicklungen bis in die Gegenwart aber nicht vernachlässigt werden.

Agatha Christie war durch ihre zeitweise Tätigkeit in einer Apotheke mit Giften und ihrer Wirkung schon vertraut, bevor sie anfing, Krimis zu schreiben. Später suchte sie aktiv den Kontakt zu forensischen Spezialisten ihrer Zeit und bildete sich auf diesem Gebiet ständig fort. Nichts freute sie mehr, als wenn man ihr einen Fehler nachweisen wollte und sie belegen konnte, dass sie dennoch recht hatte. Es ist also wirklich keine dumme Idee, Christies Romane als Spiegel des Standes der Wissenschaft zu betrachten und ihre raffinierten Plots einmal im Detail zu untersuchen.

Carla Valentine ist ausgesprochen belesen, sowohl im Christies-Universum als auch in der Geschichte der Forensik. Sie kennt zahlreiche Anekdoten, interessantes Fußnotenwissen, technische Hintergründe und auch die zeitgeschichtlichen Entwicklungen kommen nicht zu kurz. Es ist erstaunlich, was bereits in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in der Praxis möglich war, die wissenschaftlichen Grundlagen reichen sogar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Die Methoden wurden immer ausgefeilter, aber auch das Verbrechen passte sich an. Ein Katz-und-Maus Spiel, das bis heute anhält.

Valentine schreibt unterhaltsam, ohne flapsig zu sein, dem oft auch ernsten Hintergrund angemessen, ohne jemals staubtrocken zu werden. Insbesondere ihr Anekdotenreichtum macht Spaß, wobei sie strukturiert schreibt, ohne sich zu verzetteln. Auch wenn sie Agatha Christies Romane als roten Faden nutzt, gelingt es ihr doch, die Pointen der Geschichten nicht zu verraten und so die Lust darauf zu bewahren, Agatha Christie selber zu entdecken. Carla Valentine enthüllt sozusagen ihre persönliche Bestenliste, ganz ohne Spoiler. Und es bleibt natürlich nicht bei Christie: andere Altmeister des Kriminalromans wie Conan Doyle sind ebenfalls gern gesehene Gäste.

Eine nostalgische, aber niemals altbackene Reise durch die Frühzeit der kriminaltechnischen und -medizinischen Untersuchungsmethoden, mit vielen biografischen Hintergrundinformationen über Agatha Christie, die Geschichte des Kriminalromans im Allgemeinen und wie sie bis in die Gegenwart wirken. Sehr unterhaltsam und verdammt lehrreich.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 17.10.2022
Legacy-Das Erbe Der Menschheit
Arthus-Bertrand,Yann/Sting

Legacy-Das Erbe Der Menschheit


sehr gut

In seinem neuen Film erzählt Yann Arthus-Bertrand die Geschichte der Menschheit und appelliert gleichzeitig an unsere Zukunft. Seine Botschaft untermalt er mit unglaublichen Luftbildsequenzen aus aller Welt, von afrikanischen Savannen, über Wüsten und Meere und natürlich dokumentiert er die Lebensbedingungen der Menschen unterschiedlichster Kulturen aus der Luft. Alles verwebt er zu einer gemeinsamen Geschichte, wobei er sogar seine eigene Biografie mit einbaut. Er lebte einige Jahre als junger Familienvater in Kenia, zu einer Zeit, als die Naturräume dort noch unverwundbar schienen. Alles hat sich seitdem verändert. Der Mensch hat seine Umwelt mittlerweile so schwer geschädigt, dass es selbst Auswirkungen in Regionen hat, in denen er nicht siedelt. Und die besiedelten Regionen werden zunehmend unbewohnbar.

Yann Arthus-Bertrand zeigt beide Seiten, die unzerstörte Natur und den Raubbau in ähnlich schönen Bildern, so dass selbst qualmende Fabrikschlote, tote Vögel und riesige Bergbauminen eine Ästhetik bekommen, die der drängenden Botschaft etwas im Weg steht. Wäre der Film ohne Ton, man würde die ganze Zeit nur über die Schönheit der Welt im Großen wie im Kleinen staunen. Der Kommentartext von Arthus-Bertrand stört das Wohlbefinden allerdings aus zweierlei Gründen: Zum einen ist seine Sorge völlig berechtigt, denn wir vernichten gerade unsere Lebensgrundlage und wenn die Menschheit darüber nicht ausstirbt, wird es zumindest lange Zeit keine Hochkulturen mehr geben können. Zum anderen ist Yann Arthus-Bertrand zwar ein begnadeter Kameramann, aber er ist kein begnadeter Autor. Er redet fast ununterbrochen und die meisten Sätze sind leider eher schlicht, oft wissenschaftlich nicht auf dem neuesten Stand (teilweise inhaltlich sogar falsch) und wiederholen sich in ähnlichen Formulierungen alle paar Minuten. Si tacuisses ... wenn du geschwiegen hättest, wäre die Botschaft definitiv stärker gewesen. Und obwohl Arthus-Bertrand so viel redet, erfährt der Zuschauer nur selten, wo genau die Bilder herkommen, die er gerade sieht. Es entsteht ein seltsames Missverhältnis aus viel Text und mangelhafter Information.

Trotzdem ein eindrucksvoller Film, denn die Bilder sprechen für sich, wenn man sie richtig lesen kann. Letztlich gibt es nur eine einzige Ursache für alle Probleme: Es sind mindestens 6 Milliarden Menschen zu viel auf der Welt.

(Diese Blu-ray wurde mir von Polyband kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 16.10.2022
Bekenntnisse einer Maske
Mishima, Yukio

Bekenntnisse einer Maske


ausgezeichnet

„Bekenntnisse einer Maske“ erschien 1949, kurz nach dem Krieg, den der Autor Yukio Mishima als Jugendlicher und junger Erwachsener erlebte. Der stark autobiografisch geprägte Roman schildert in für die Zeit sehr offener Weise den inneren Kampf des Ich-Erzählers, der zwischen seiner Homosexualität und den normativen Zwängen seiner Umgebung sowie den Versuchen, ein „normales“ Leben zu führen, zerrissen wird. Mishima ist Mitglied der ehemaligen japanischen Samurai-Oberschicht und versteigt sich in eine fast schon religiöse Todessehnsucht, die ihm auch als ehrenvoller Ausweg aus seiner Zwangslage erscheint. Die ständige Bedrohung des Krieges und sein junges Alter dienen ihm als Ausrede, um keine Beziehung zu einer Frau eingehen zu müssen. Erst das für ihn unerwartete Kriegsende bringt dieses Gebäude aus Selbstbetrug und Lüge zum Einsturz.

Stilistisch ist dieser Roman für Japan sehr ungewöhnlich. Einflüsse der europäischen Literatur und Geistesgeschichte finden sich auf jeder Seite, Mishima hat die internationalen Autoren von Weltrang ebenso gelesen, wie z. B. die Werke von Magnus Hirschfeld, den er häufig zitiert. Seine Sätze sind im Unterschied zu den meisten japanischen Autoren von hoher Komplexität und entwickeln einen Gedanken mit großer Eloquenz weiter, die in der Übersetzung hervorragend getroffen ist. Während japanische Literatur häufig von Andeutungen lebt, spricht Mishima die Dinge aus und er offenbart präzise sein widerstreitendes Innenleben. Auch das ist etwas, worin Japaner oft nicht besonders überzeugen, da persönliche Befindlichkeiten traditionell nicht an die Öffentlichkeit getragen werden. Man fühlt sich eher an Proust erinnert als an japanische Autoren. Typisch ist allerdings das halboffene Ende, das zwar die wahrscheinliche Entwicklung nahelegt, sie aber nicht ausspricht.

Mishimas Homosexualität hat eine starke Verbindung mit Tod und Selbstmordphantasien, die ihn aber vor allem sexuell anregen und eher nebenbei die ersehnte Lösung seiner Probleme sind. Im Licht seines rituellen Selbstmords im Jahr 1970, nach einem gescheiterten nationalistischen Putschversuch, erscheint der Roman wie eine vorweggenommene Prophezeiung. Mishima gab dennoch nie öffentlich zu, homosexuell zu sein; er ging eine Ehe ein und zeugte Kinder. Erst nach seinem Tod kamen Briefe ans Tageslicht, die keinen Zweifel mehr ließen, aber die Präzision der „Bekenntnisse“ sprach eigentlich schon für sich. Ein wenig erinnert die Konstellation an Thomas Mann, der in seinen Romanen ebenfalls eindeutige Hinweise gab, öffentlich aber nie zu seiner sexuellen Orientierung stand.

Das Buch ist von einer bemerkenswerten Klarheit und besonders, wenn man das Erscheinungsjahr bedenkt, von absoluter Ehrlichkeit. Es ist mir leider nicht gelungen herauszufinden, wann die erste deutsche Übersetzung erschien und wie sie damals wahrgenommen wurde. Sollte sie zeitnah zur Originalausgabe erschienen sein, war es sicher ein Skandal. Heute ist es immer noch ein Buch, das zwischen verstörenden Todesphantasien und quälenden Selbstanalysen einen Menschen beschreibt, der mit trauriger Gewissheit ahnt, dass er in seinem Leben niemals Erfüllung finden wird.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 16.10.2022
Japanischer Taschenkalender für das Jahr 2023

Japanischer Taschenkalender für das Jahr 2023


ausgezeichnet

Taschenkalender sind im Zeitalter der Terminverwaltung im Smartphone fast schon etwas anachronistisch. Als alter Japan-Enthusiast verwende ich den japanischen Taschenkalender auch seit Jahren nicht in erster Linie um Termine zu notieren, sondern als kleines Tagebuch, in dem ich die wichtigsten Ereignisse kurz festhalte. Zu jeder Woche gibt es einen in die Jahreszeit passenden Haiku, der von Ekkehard May kenntnisreich kommentiert wird. Es sind Verse von Bashô und seinen Schülern, die schon in den sehr empfehlenswerten Haiku-Bänden „Shômon I und II“, „Haibun“ und „Chûkô“ enthalten waren. Wer diese Sammlungen, die aus meiner Sicht die am besten kommentierten Haiku Zusammenstellungen in deutscher Sprache sind, noch nicht kennt, der bekommt hier einen guten ersten Überblick in die Gedankenwelt und Struktur des Haiku. Die passenden Abbildungen stammen diesmal aus verschiedenen Originalquellen des 17.-19. Jahrhunderts.

Auf einer zusätzlichen Seite pro Woche kann man eigene Verse notieren, was mit ein bisschen Übung auch erstaunlich leicht von der Hand geht und Spaß macht.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.10.2022
Hans Apengeter

Hans Apengeter


ausgezeichnet

Hans Apengeter, Bronzegießer in Lübeck in der Zeit von etwa 1300 bis nach 1351, ist eine historisch schwer fassbare Persönlichkeit, über die sich Forscher schon seit mehr als 100 Jahren den Kopf zerbrechen. Der Name „Apengeter“ bezieht sich auf seine Tätigkeit als „Grapengießer“ (Grapen = mittelalterlicher Henkeltopf), ist also kein Familienname, sondern die im Mittelalter übliche Berufsbezeichnung. Dass es ihn gegeben hat, belegen allerdings mehrere inschriftlich signierte Werke im norddeutschen Raum, insbesondere der Bronzeleuchter im Kolberger Dom, sowie die Taufbecken der Nikolaikirche in Kiel und der Lübecker Marienkirche. Aber auch zahlreiche weitere Bronzegüsse werden ihm zugeschrieben und das, obwohl sie qualitativ zum Teil deutlich schwächer sind. Man geht heute davon aus, dass Hans Apengeter eine größere Werkstatt betrieb und nicht an allen Stücken selber Hand anlegte.

Der Band ist das Resultat einer interdisziplinären Untersuchung des Werkkomplexes, aber auch der Rezeptions- und Zuschreibungsgeschichte. Er beleuchtet die Stilgeschichte der Bronzegusswerke des norddeutschen Raums, aber auch Technologie, Ikonografie und Paläografie der Apengeter und seiner Werkstatt zugeschriebenen Objekte. Im Weiteren widmen sich die Autoren und Autorinnen dem soziokulturellen Umfeld und analysieren verfügbare und vergleichbare Quellen zum Stiftungs- und historischen Nutzungskontext. Hans Apengeter steht kunstgeschichtlich natürlich nicht isoliert, sondern er wurde von Zeitgenossen künstlerisch beeinflusst und beeinflusste selbst Technologie und Stilistik von Zeitgenossen und Nachfolgern, auch wenn die genauen Zusammenhänge nicht mehr eruiert werden können. Nicht geklärt werden konnte auch die geografische Herkunft der verarbeiteten Metalle mit materialwissenschaftlichen Methoden, da die Zusammensetzung stark variiert und für die Herstellung wahrscheinlich ältere Objekte eingeschmolzen wurden. Es bleibt ebenso im Dunkeln, ob die Monumentalbronzen in der (archäologisch belegten) Lübecker Gusswerkstatt, oder vor Ort gegossen wurden. Der kritisch kommentierte Werkkatalog, von den monumentalen Kirchenausstattungen bis zu Kleinbronzen, ist der logische Schlusspunkt dieser Untersuchung, die auch einige Neuentdeckungen und Neubewertungen liefert.

Die mit großem Aufwand illustrierte und in schwierigen Corona-Zeiten realisierte Monografie versammelt die in vielen Publikationen verstreuten Informationen und wertet sie im Kontext aktuell aus. Die Untersuchung setzt die Geschichte des norddeutschen Metallgusses im Spätmittelalter in neues Licht und zeigt gleichzeitig die Schwierigkeit, Wechselwirkungen und Einflüsse konkret zu benennen. Die materiellen Belege sind im Kontext oft nicht erhalten und müssen durch Analogien substituiert werden, was zwar naheliegende Schlüsse zulässt, aber keine Beweiskraft besitzt. Die Monografie ist daher eine anregende Grundlage für weitere Untersuchungen, die sich wahrscheinlich lohnen würden.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)