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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 08.11.2020
Herzklappen von Johnson & Johnson
Fritsch, Valerie

Herzklappen von Johnson & Johnson


weniger gut

Thematisch ambivalent

Der Schmerz ist das zentrale Thema des dritten Romans der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch, der in seiner vier Generationen umfassenden Geschichte die Frage aufwirft, wie Schmerz und Schuld den Menschen formen. Seine Protagonistin Alma spürt darin einem Familiengeheimnis nach, das sie als Trauma seit frühester Kindheit verfolgt und ihr keine Ruhe lässt. Alles andere als ein Wohlfühlroman also, fußt sein Impetus doch auf der zivilisatorischen Zäsur, die der Zweite Weltkrieg mit seinen Gräueln bedeutet hat. Deren Folge war die weitverbreitete Sprachlosigkeit einer ganzen Generation, zu der auch Almas Großeltern gehören. Ist es möglich, dass derart traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg weiterwirken, und ist Empfindungslosigkeit vererbbar?

Alma wächst in einem klinisch sauberen Haushalt auf, in einer wenig anheimelnden Atmosphäre, die ihr mitunter geradezu kulissenartig vorkommt. Ihr Großvater kam aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und leidet seither daran, dass ausgerechnet er als einer der wenigen überlebt hat und viele seiner Kameraden nicht. Er hat sich in das Schweigen geflüchtet, denn durch seine Mitwirkung bei grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung ist er zum Mörder geworden. Anders als er erzählt die kranke Großmutter, die das Haus nicht mehr verlässt und sich völlig in ihre Häuslichkeit zurückgezogen hat, Alma von der schicksalhaften Vergangenheit. Damit löst sie bei ihrer Enkelin jedoch Ängste aus, die sich zunehmend auf die Persönlichkeit der weltabgewandten, jungen Frau auswirken, die als Illustratorin arbeitet. Als sie Mutter wird, stellt sich schon bald heraus, dass ihr Sohn unter einer genetisch bedingten Analgesie leidet, dem krankhaften Fehlen von Schmerzen. Damit fehlt ihm der somatische Selbstschutz, die Warnfunktion des Schmerzes also, was auf seinen Körper verheerende Auswirkungen hat. Seine Mutter wird ständig in Atem gehalten, weil er sich dauernd irgendwo verletzt, ohne es zu merken. Sie muss ihm den Schmerz deshalb rein verbal demonstrieren, die Sprache fungiert dabei als Stellvertreter.

Mit Schmerz und Leid geht natürlich auch die Empathie-Empfindung einher. Valerie Fritsch versucht hier quasi, psychische und physische Gefühllosigkeit und das daraus resultierende Schweigen als Antipoden in eine Metapher zu binden. Sie stellt dem Schweigen des Großvaters die Sprachlosigkeit des Kindes gegenüber, das sich nicht beklagt, weil es nichts spürt. Der Großvater stirbt schließlich, «Er schwieg sich davon», heißt es im Buch, «Sein innerer Winter ergriff vollends von ihm Besitz». Drei Tage später erschießt sich die Großmutter. Nach der Doppel-Trauerfeier beginnt Alma, nacheinander die Orte der Vergangenheit zu besuchen, erst die in der Nähe, dann die entfernten. Und schließlich will sie auch nach Kasachstan, zum Gefangenenlager des Großvaters. Der Roman wirft plötzlich alle Statik ab und mutiert in den letzten zwei der zehn Kapitel zur Road Novel. Ihr Mann hat einen Auftrag bekommen zum Fotografieren von Industrie-Brachen und Fabrik-Ruinen in den Ländern des Ostens. Sie wird mitfahren und diese Reise dann bis nach Kasachstan ausdehnen. Es folgt eine wochenlange Autofahrt durch endlose Weiten, armselige Dörfer und quirlige Großstädte, jeden Tag gibt es Neues zu sehen. Und plötzlich sind sie da. «Was immer sie erwartet hatte, trat nicht ein. Der letzte Vorhang fiel nicht» heißt es am Schluss.

Stilistisch bleibt Valerie Fritsch sehr zurückhaltend, sie zeigt mehr, als dass sie beschreibt in ihrer geschliffenen, kargen Prosa. Ihre Figuren bleiben sprachlos, sie wirken, ganz ohne direkte Rede, wenig lebendig. Das wichtigste narrative Element, die medizinisch extrem seltene Schmerzlosigkeit des Sohnes, ist arg weit hergeholt, erzählerisch wenig glaubhaft umgesetzt und zudem eher beiläufig in diese Geschichte eingebaut. Das gilt am Ende auch für die spontane Reise, die thematisch ambivalent neben dem zentralen Thema der Analgesie steht

Bewertung vom 08.11.2020
Goldene Jahre
Camenisch, Arno

Goldene Jahre


gut

Ironisches Requiem

Mit «Goldene Jahre» ist kürzlich das zwölfte Buch des Schweizer Schriftstellers Arno Camenisch erschienen, freudig bejubelt von seiner Fan-Gemeinde. Auch die Juroren des diesjährigen Frankfurter Buchpreises waren so beeindruckt, dass sie den 100-Seiten-Band auf die Liste der Nominierten gesetzt haben. Wie in vielen seiner Bücher geht es auch hier thematisch um die Vergänglichkeit, ein Abgesang also auf Gewohntes, Liebgewonnenes. Aber das Besondere daran ist wieder die Sprache, in der da erzählt wird, dieses spezifische, rätoromanisch durchsetzte Camenisch-Idiom. Davon schwärmen besonders jene Leser, die den Autor in Lesungen selbst erlebt haben.

Handlungsort des Romans ist ein Kiosk in einem Dorf in der Surselva, der Talschaft des Vorderrheins in Graubünden. Mit seiner Leuchtreklame auf dem Dach ist er weithin sichtbar, und mit seiner Zapfsäule ist er auch die einzige Tankstelle im Ort, ein zentraler Treffpunkt für dessen Einwohner. Margrit und Rosa-Maria hatten ihn 1969, im Jahr der Mondlandung, eröffnet, und vor kurzem erst haben sie ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert. Die beiden inzwischen über siebzig Jahre alten Damen haben ihre festgelegten Rituale, vor allem halten sie ihren Kiosk blitzblank. Und es hat sich über die Jahre auch kaum etwas geändert an ihrem Tagesablauf, alles ist bestens eingespielte Routine. Über sich selbst geben sie rein gar nichts preis. Eine Familie haben sie wohl beide nicht, und ob sie Schwestern sind oder nur Freundinnen, das bleibt offen.

Dieses nostalgische Narrativ von einer Welt im Wandel wird allein dialogisch vorgetragen, durch das nicht abreißende, vor sich hinplätschernde Gespräch der Beiden an einem typischen Arbeitstag. Beginnend am frühen Morgen mit dem Aufschließen, Fegen des Bürgersteigs, Fensterputzen, Herauslegen typischer Mitnahmeartikel auf die breite Ablage am Fenster. Zu den historischen Ereignissen, über die da getratscht wird, gehört die Mondlandung, der Dreh für einen James Bond-Film mit Roger Moore, aber auch die Tour de Suisse. Die hatte nämlich einmal durch den Ort geführt, was heute nicht mehr möglich wäre, dafür ist die Dorfstrasse in einem viel zu schlechtem Zustand. Mit der Umgehungsstrasse ist dann auch das Geschäft zurückgegangen, aber es reiche ja noch für sie, sagen die Beiden. Einmal hatte eine Kundin mit einem Los von ihnen 500 Fränkli in der Lotterie gewonnen. Es gab auch Prominenz als Kunden, diverse Liebesgeschichten und Skandale werden da durchgehechelt, und Ereignisse wie Tschernobyl oder der Mauerfall in Deutschland sind noch gut in Erinnerung. Die Zwei reden über Hochwasser, Lawinen und den nicht mehr zu übersehenden Klimawandel. Früher war der Kiosk ja schon mal bis übers Dach zugeschneit, heute aber falle kaum noch Schnee. Am Kiosk flitzen jetzt ältere Damen auf ihren Elektro-Fahrrädern vorbei wie einst Eddy Merckx, und die prominenten Gäste schweben mit dem Helikopter ein. Bei allem Klatsch sind Margrit und Rosa-Maria jedoch äußerst diskret, kein Mensch wird je erfahren, welche Art von Lektüre der Pfarrer gelegentlich bei ihnen kauft.

Arno Camenisch hat seinen Dörflern als Chronist sich ändernder Zeiten sehr genau ‹aufs Maul geschaut›. Die beiden unentwegt schwätzenden, einfältigen Kiosk-Damen kommen vom Stöckchen zum Hölzchen in ihrem Tratsch. Denn der schließt letztendlich alles ein, vom belanglosen Dorfklatsch bis hin zum großen Weltgeschehen, das auch in diese alpenländische Idylle hineinwirkt. Es gibt keine Handlung, ihr Zwiegespräch wird auch von keinem Kunden unterbrochen, alles entwickelt sich in Rückblenden allein aus dem Dialog. Es wird also quasi in Echtzeit erzählt, man braucht als Leser für die knapp hundert Seiten dieses kleinformatigen Büchleins kaum zwei Stunden. Und da ist es bei den Damen, die zu Beginn der Geschichte morgens ihren Kiosk aufschließen, ja noch nicht mal Mittag. Dieses ironische Requiem auf den Kiosk als solchen ist mit seinem amüsanten, alpenländischen Idiom eine angenehm unterhaltende Lek

Bewertung vom 04.11.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


schlecht

Schwaches Büchlein

In dem neuen Roman «Der letzte Satz» greift der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler erneut den Tod als Thematik auf, wie schon in seinem vor zwei Jahren erschienenen Roman «Das Feld». Konträrer aber können zwei aufeinander folgende Romane eines Autors gar nicht sein, was ihre literarische Qualität anbelangt. Während der in jeder Hinsicht erstklassige Vorgänger mit seinen 29 verstorbenen Ich-Erzählern eine, wie ich es damals formuliert habe, «unpathetische Antwort auf die Sinnfrage» gibt, behandelt das neue Buch völlig uninspiriert das Siechtum des Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler. Der berühmte Musiker ahnt 1911, auf seiner letzten Schiffpassage von New York nach Europa, den nahen Tod voraus und denkt über die Höhen und Tiefen seines Lebens nach. Dabei listet dieser in jeder Hinsicht enttäuschende, schmale Band geradezu lexikalisch nüchtern hinlänglich bekannte Stationen im Leben des Protagonisten auf. Und daraus entsteht dann letztendlich nichts anderes als erzählerischer Kitsch, nicht bereichernd, abstoßend rührselig, völlig ereignis- und spannungslos obendrein!

Auf einer Kiste an Deck sitzend starrt Gustav Mahler sinnierend auf den grauen Atlantik, während er sein Leben rekapituliert. Ein Schiffsjunge, extra für ihn abkommandiert, sorgt sich um sein Wohlergehen. Er serviert ihm regelmäßig den Tee und achtet vor allem darauf, dass der oft fiebernde Passagier immer warm in seine Decke eingehüllt ist. Seine mitreisende Frau Alma und die innig geliebte Tochter Anna besuchen ihn nicht auf dem zugigen Sonnendeck. Das banale Geschehen auf dem Schiff dient hier lediglich als narratives Gerüst für Erinnerungen, Selbstgespräche und Träume des Fünfzigjährigen. In einem schon fast peinlichen Schlusskapitel schließlich liest der ehemalige Schiffsjunge in einer Hafenkneipe vom Tod des «Direktors», wie er ihn immer genannt hat.

Seinen Durchbruch hatte Gustav Mahler als Kapellmeister und Direktor des Wiener Opernhauses, das er in seiner zehnjährigen Tätigkeit zu großem Erfolg geführt hat. Der Weg war steinig dorthin, aber er habe seine Opernreform letztendlich ja durchsetzen können, stellt er befriedigt fest. Seine ihm immer wichtiger werdende kompositorische Arbeit aber musste er hintanstellen, er denkt mit Wehmut an sein Komponierhäusel zurück, wo er bis zuletzt in den spielzeitfreien Sommermonaten an seinen Sinfonien gearbeitet hat. Mit denen er dann aber bei weitem nicht den Erfolg hatte, den er sich erhoffte. Natürlich fehlt in seiner Rückbesinnung auch die ‹Sinfonie der Tausend› nicht, jene monströse Uraufführung vor dreitausend Besuchern in München, die ihm nun, ein Jahr später, eher peinlich ist. Er denkt an seine gescheiterte Ehe mit Alma, die als Femme fatale in den Wiener Salons und in Künstler-Kreisen von den Männern umschwärmt wird. Wehmütig erinnert er sich auch an seine Tochter Maria, die als Kind überraschend starb, und besonders niederschmetternd ist für ihn die derzeitige Affäre von Alma mit Walter Gropius, der im Roman nur als «Baumeister» bezeichnet wird. In Paris hatte Mahler sehr widerwillig bei Rodin Modell gesessen für eine Büste, und in der holländischen Stadt Leiden war er vier Stunden lang bei Siegmund Freud. Der aber konnte ihm letztendlich, wie er inzwischen weiß, mit seiner psychoanalytischen Expertise auch nicht weiterhelfen in seiner Seelenpein.

«Meine Zeit wird kommen» hatte Gustav Mahler vorausgesagt, und sie kam dann auch, Jahrzehnte später allerdings, mit der Wiederentdeckung seiner Sinfonien lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Robert Seethaler aber bleibt hier weit unter seinen Möglichkeiten, entschieden zu oberflächlich und erzählerisch geradezu lieblos hingeschludert wirkt dieser schmale Band. Die starke Persönlichkeit, die ihm da als literarische Vorlage dient, bleibt auch in den Rückblenden als Figur leider völlig konturlos. Nach Lektüre dieses schwachen Büchleins mag man wirklich kaum glauben, dass vom gleichen Autor auch «Das Feld» geschrieben wurde!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.11.2020
Streulicht
Ohde, Deniz

Streulicht


schlecht

Durchs Raster gefallen

Als literarischer Senkrechtstarter erweist sich der kürzlich erschienene Debütroman «Streulicht», mit dem Deniz Ohde erstmals an das Licht einer breiteren Öffentlichkeit getreten ist. Prompt wurde er nämlich für den Preis der Frankfurter Buchmesse nominiert und landete schließlich sogar auf der Shortlist. Es handelt sich um einen klassischen Bildungsroman, dessen Besonderheit darin liegt, dass seine der Autorin in einigen Punkten autobiografisch ähnelnde Ich-Erzählerin durchs Raster gefallen ist. «Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim» lautet denn auch resignativ der letzte Satz. Coming-of-Age also ganz ohne Fortune!

Die namenlose Protagonistin erzählt als Erwachsene anlässlich eines Besuchs an der Stätte ihrer Jugend ihre Lebensgeschichte. Sie wird als Kind einer türkischen Putzfrau und eines deutschen Fabrikarbeiters in Frankfurt am Main geboren, ganz in der Nähe des Industrieparks Hoechst. Ihre Aufstiegschancen aus den prekären Verhältnissen im bildungsfernen Elternhaus sind gering. Sie ist schüchtern bis hin zur Verstocktheit und wird zudem von diffusen Ängsten beherrscht. Obwohl sie Deutsche ist, wie ihre Mutter immer wieder betont, leidet sie unter dem Stigma, Tochter einer Türkin aus dem hintersten Anatolien zu sein, aus einem armseligen Dorf am Schwarzen Meer. Sie rasiert sich also die Monobraue, um nicht als Türkin zu gelten, und gibt immer nur ihren zweiten, den deutschen Vornamen an, wird aber trotzdem schon früh von den anderen Kindern gehänselt. «Frau A-?» fragt im Buch ein Chef die Heldin beim Empfang zu einem Bewerbungsgespräch, ihre Namenlosigkeit wird eisern durchgehalten im Roman. Ihr Vater ist lebenslang in der chemischen Fabrik als einfacher Arbeiter mit immer der gleichen, stupiden Tätigkeit beschäftigt. Ein äußerst eintöniges, trostloses Arbeitsleben also, das er mit viel Alkohol und stoischer Ruhe erträgt. Wie schon der Großvater ist er ein typischer Messi, der sich von nichts trennen kann, dessen Wohnung immer mehr vermüllt, deutliches Anzeichen für eine pathologische Entscheidungs-Schwäche.

Kein Wunder, dass die Tochter als unterprivilegiertes «Kellerkind» in dem Glauben, weniger wert zu sein als alle anderen, in der Schule häufig scheitert. Sie wird überall ausgegrenzt und hat außer Sophia und Mikka keine Freunde. Gleichwohl kämpft sie sich tapfer auf dem Umweg über die Abendschule bis zum Abitur durch, erreicht einen hervorragenden Notenschnitt und beginnt zu studieren. Auf der Uni lernt sie dann einen Kommilitonen kennen, der erste Freund der inzwischen über Zwanzigjährigen. Mit dem sie dann sogar im Bett landet, erst- und einmalig aber, muss vermutet werden. Mehr erfährt man nämlich nicht in dieser radikal sexfreien Geschichte. Sie ist und bleibt eine verklemmte junge Frau, deren Fremdheitsgefühl manifest zu sein scheint. Beim Erzählen aus ihrem Leben verliert sich die Protagonistin in endlosen Betrachtungen der trostlosen Umgebung und der chaotischen elterlichen Wohnung.

Diffus, wie es schon der Buchtitel andeutet, von der geraden Bahn abgelenkt also, ist nicht nur das Licht an dem vom ewigen Industrie-Smog geplagten Handlungsort, diffus ist auch die Erzählweise dieses Romans. Der Lebensweg seiner von äußeren Negativ-Zuweisungen geschädigten Protagonistin wird nämlich in allzu vielen sprunghaften Rückblenden erzählt. Wobei besonders die dauernden Wiederholungen immer der gleichen Szenarien und schmerzenden Gefühle den Leser schnell ermüden. Die von Hoffnungslosigkeit und Entmutigung gebeutelte, bindungslose Außenseiterin wirkt als Figur wenig überzeugend, was gleichermaßen für die Figurenrede gilt. Eine unterprivilegierte Herkunft ist auch das Thema von Nicolas Mathieu, dessen Roman «Wie später ihre Kinder» die daraus resultierende soziale Schieflage allerdings vehement anprangert. Was bei Deniz Ohde nur als hilflose Frage im Raum stehen bleibt: «Wie konnte dieses Kind durchs Raster fallen?», darauf gibt ihr französischer Kollege eine klare Antwort.

Bewertung vom 30.10.2020
Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Dubois, Jean-Paul

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise


gut

Pageturner par excellence

Überraschend, aber nicht unverdient hat Jean-Paul Dubois für seinen kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Roman «Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise» 2019 den Prix Goncourt erhalten. Es ist die bisher höchste Auszeichnung für ein Werk aus seinem umfangreichen Œuvre, von dem bisher nur sehr wenig auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie bei vielen anderen seiner Bücher herrscht auch in dieser Geschichte ein melancholischer Grundton vor. Ein vom Schicksal gebeutelter Pfarrerssohn, der im Gefängnis sitzt, berichtet als Ich-Erzähler davon, warum er straffällig geworden ist und zu Recht dort hingekommen sei. Dabei zieht der französische Autor gekonnt alle Register für eine ebenso unterhaltsame wie - bis zum versöhnlichen Ende - spannende Erzählung, in der es auch manches zu schmunzeln gibt. Er erzeugt damit einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann, ein Pageturner also ‹par excellence›.

Paul Hansen, der Sohn eines dänischen Pfarrers und einer attraktiven Französin, die in Toulouse ein Programmkino betreibt, erzählt aus seiner Kindheit und von der langsamen Entfremdung seiner Eltern. Die linksorientierte, aufmüpfige Mutter treibt es auf die Spitze, als sie 1975 den Skandalfilm «Deep Throat» zeigt, was ihren Mann vorhersehbar die Stelle kostet, er wird von seiner empörten Kirchengemeinde sofort entlassen. Das Paar trennt sich, er findet in Kanada schließlich eine neue Pfarrstelle. Sein damals zwanzigjähriger Sohn Paul folgt ihm ein Jahr später dorthin und schlägt sich zunächst als handwerklich begabter junger Mann mit allerlei Gelegenheitsjobs durch, ehe er in Montreal die Hausmeisterstelle einer gepflegten Wohnanlage mit 68 Wohnungen übernimmt. Mit großem Engagement kümmert er sich fortan nicht nur um das Gebäude, sondern auch um dessen Bewohner. Als Faktotum mit einer nie ermüdenden Hilfsbereitschaft ist er bei allen Bewohnern äußerst beliebt. Bis sich nach über zwanzig Jahren plötzlich alles ändert.

«Seit einer Woche schneit es», heißt es im ersten Satz. In der ersten Erzählebene des Romans wird aus der viel zu kalten Gefängniszelle berichtet, die sich der zu zwei Jahren Haft verurteilte Paul mit einem hünenhaften Biker von den Hells Angels teilen muss. Sein furchterregender Zellengenosse, dessen Missetat ungeklärt bleibt, erweist sich im weiteren Verlauf aber als Sensibelchen, das vor den Mäusen in der Zelle Angst hat. Im zweiten Handlungsstrang erzählt Paul von seinem Leben, von der weitverzweigten dänischen Familie seines Vaters in Skagen, die seit Generationen vom Fisch lebt, vom Vater selbst, der mit den Jahren den Glauben verliert und spielsüchtig wird, seinen Beruf aber weiterhin ausübt. Er erzählt von seiner Frau, die er als Pilotin eines Flugtaxi-Unternehmens kennen lernt und die ihm, als indianisches Halbblut, die Schönheiten der grandiosen kanadischen Natur nahe bringt. Oder von einem guten Freund, der als Angestellter einer Versicherung nach Schwachstellen in der Vita des Verunglückten suchen muss, damit die fällige Versicherungsprämie für den Wert von dessen Leben möglichst weit heruntergedrückt werden kann. Was er ganz gegen seine innere Überzeugung tun muss, weil er für einen Berufswechsel schon zu alt ist.

Im Auf und Ab der Schicksale seiner zahlreichen Figuren entwickelt der Autor ein elegisches Bild des Lebens und kommt dabei erfreulicherweise ohne Klischees aus. Obwohl es um existentielle Themen geht, ist der Erzählton auffallend locker. Als langjähriger Journalist ist Jean-Paul Dubois ein genauer Beobachter, der sich beim Schreiben, wie er im Interview erklärt hat, immer an realen Figuren orientiere, so auch beim Protagonisten dieser Geschichte. Wobei in dieser comédie humaine mit ihrem programmatischen Titel auch die moralische Keule geschwungen wird, Gut und Böse sich exemplarisch gegenüberstehen. Eine komplexe Thematik, die in diesem tragikomischen Roman auf eindrucksvolle Weise aufgegriffen wird , ganz ohne philosophische Tiefenbohrungen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2020
Alle unsere Gestern
Ginzburg, Natalia

Alle unsere Gestern


gut

Beten hilft nicht

Zu den frühen Werken der italienischen Schriftstellerin Natalia Ginzburg gehört «Alle unsere Gestern», ihr dritter Roman. Mit «Tutti i nostri ieri», wie er im Original heißt, hatte sie 1952 ihre literarische Kariere eingeleitet, seither zählt sie zu den Großen ihrer Zunft in Italien. Dem Buch vorangestellt hat sie ein Motto aus dem ‹Macbeth› von William Shakespeare, auf das sich auch der Buchtitel bezieht: «All of our yesterdays have lighted fools the way to dusty death». Ein resignatives Zitat aus dem Monolog des lebensmüden Tyrannen nach dem Tod seiner Frau, das man sinngemäß mit ‹Alle unsere Gestern haben Narren den Weg geleuchtet zum schmutzigen Tod› übersetzen kann. Es passt optimal zur düsteren Thematik dieses Romans, der das wechselvolle Leben einer italienischen Familie vor und im Zweiten Weltkrieg beschreibt. Dabei sind autobiografische Bezüge unverkennbar. Die auch politisch stark engagierte Grande Dame der italienischen Literatur wurde 1940 selbst in ein Dorf in den Abruzzen verbannt, das dem Handlungsort im zweiten Teil ihres Romans ähnelt.

Diese Geschichte einer Familie, die mit engen Freunden als Nachbarn in der Nähe von Turin wohnt, erzählt aus der Zeit des Faschismus. Dem Vater der heranwachsenden Kinder Anna, Concettina, Giustino und Ippolito gehört eine Seifenfabrik, die Familie lebt komfortabel in großbürgerlichen Verhältnissen. Weil er partout nicht einverstanden ist mit dem Faschismus und dem sich abzeichnenden Kriegseintritt Italiens, schreibt der Patriarch schon seit Jahren verbissen an einem Buch, mit dem er die tyrannischen neuen Machthaber entlarven will. In einem Anfall von Weitsicht verbrennt er schließlich aber sein Manuskript und stirbt dann, kurz vor dem von ihm befürchteten Kriegseintritt Italiens. Zur Familie gehört als Haushälterin auch Tante Maria, bei der als Faktotum alle familiären Fäden zusammenlaufen. Die älteste Schwester Concettina nimmt, nach all den vielen Verlobten, die sie schon hatte, ein opportunistisches ‹Schwarzhemd› als Mann. Über ihrem Ehebett hänge jetzt bestimmt ein Bild von Mussolini, wird gelästert. Ihre Brüder und viele der Freunde betätigen sich derweilen als Verschwörer im antifaschistischen Untergrund, einige landen sogar im Gefängnis.

Heimliche Heldin des Romans aber ist die eher unscheinbare, stille Anna, die als sechzehnjährige Schülerin von einem älteren Mitschüler schwanger ist, weil sie mit ihm «in die Büsche gegangen ist». Der 48jähriger Cenzo Rena, ein alter Freund der Familie, der ihr spontan seine Unterstützung bei der geplanten Abtreibung angeboten hat, macht ihr dann aber überraschend einen Antrag. Der erste Teil des Romans endet mit der Heirat Annas, sie folgt ihrem so deutlich älteren Mann in sein abgelegenes Bergdorf. Dort erweist sich, im zweiten Teil, Annas charismatischer Ehemann als absolut dominante Figur in seinem Dorf. Er kennt jeden, hat nicht zuletzt auch durch sein Geld großen Einfluss, alle sind ihm gewogen, vom einfachen Bauern bis zum Carabiniere und Bürgermeister. Im Privaten zeigt er sich als liebevoller Vater des nicht von ihm gezeugten Kindes. Als der Krieg schließlich das Dorf erreicht und mit ihm das Chaos, hilft ihm seine Weltgewandtheit, er spricht fließend Deutsch und Englisch.

Natalia Ginzburg hat in ihrer melancholischen Chronik des italienischen Alltagslebens im frühen 20. Jahrhundert dessen Auf und Ab in vielerlei Aspekten beleuchtet. Sie berichtet sensibel vom Schrecken ebenso wie von der puren Daseinsfreude. Ihre Figuren müssen sich am Leben abarbeiten und gehen nicht selten gestärkt aus den vielen Zumutungen hervor. «Beten hilft nicht», hatte der Patriarch früher immer gesagt, «wenn es einen Gott gibt, dann weiß er schon, was zu tun ist». Lakonisch, in einer geradezu minimalistischen Sprache, erzählt sie ihre Geschichte und legt damit Zeugnis ab von dieser unseligen historischen Epoche. Allein durch ihre unbedarft wirkende, den Figuren angepasste Sprache gibt es dabei auch viel zu Schmunzeln.

Bewertung vom 26.10.2020
Drei Nächte, drei Tage
Blais, Marie-Claire

Drei Nächte, drei Tage


weniger gut

Literarische Nischenrolle

Aus dem umfangreichen Œuvre der hierzulande unbekannten, kanadischen Schriftstellerin Marie-Claire Blais liegt nun seit kurzem unter dem Titel «Drei Tage, drei Nächte» erstmals ein Roman in deutscher Übersetzung vor. Der in französischer Sprache geschriebene Band trägt im 1995 erschienenen Original den Titel «Soifs», was dem Sinn nach ‹durstig› bedeutet. Der deutsche Titel hingegen spielt auf die Erzähldauer dieses polyfonen Romans an, der das Chaos des Lebens im Verlauf dreier Tage zum Inhalt hat.

Auf einer tropischen Insel lebt ein buntes Völkchen verschiedenster Charaktere zwischen bitterer Armut und obszönem Reichtum. Gleich zu Beginn wird von Jacques erzählt, einem Professor der Literatur, der in palliativer Pflege dem Ende entgegendämmert und sich an verschiedene Ereignisse in seinem Leben erinnert. Dazu gehört vor allem auch seine letzte homosexuelle Affäre mit Tanjou, einem einheimischen jungen Mann, von dem er sich getrennt hat und der nun immer wieder tränenüberströmt an seinem Sterbebett erscheint. Eine weitere, häufig auftauchende Schlüsselfigur des Romans ist Renata, ehemals Frau eines Komponisten, die sich als Rechtsanwältin besonders für straffällige Jugendliche einsetzt. Sie ist mit einem Richter liiert und will sich auf der Insel von einer Operation erholen. Durch ihre schwere Erkrankung hat sich ihre latent vorhandene Lebensgier noch gesteigert, sie fühlt sich jünger als sie ist. Ihre Lebensfreude bezieht sie einzig aus dem Begehren der Männer, obwohl sie sich andererseits auch als kämpferische Feministin definiert. Zur Feier der Geburt des gerade zehn Tage alten Vincent geben dessen Eltern ein großes Fest, bei dem sein kleiner Bruder wie wild durch den geschmückten Garten rennt und der illustren Gästeschar laut schreiend verkündet: «Meine Mutter hat ihr Baby fertig!» Melanie, die glückliche Mutter, strebt scheinbar eine politische Karriere an, ihr Mann Daniel ist mit seinem neuen Roman beschäftigt. Zu Gast ist auch Julio, der bei der Flucht in die USA seine gesamte Familie verloren hat, das junge Paar kümmert sich seither rührend um ihn.

In einem 1995 schon deutlich auf den Jahrtausendwechsel hinzielenden, dystopischen Szenario werden die Risiken einer anhaltend unguten Entwicklung verdeutlicht. Gewalt, Macht, Rassismus, Missbrauch und Sexismus, aber auch unverhüllter Hedonismus, Lust und Begehren bestimmen das Geschehen. Das Figuren-Ensemble wird auch von Verrückten, Künstlern und Philanthropen bevölkert, Verbrecher, Dealer und Kleinkriminelle gehören ebenfalls dazu, jeder versucht sein Glück auf seine Weise. Soziale Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod sind weitere Themenschwerpunkte, die Marie-Claire Blais mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe anschaulich und in einer treffsicheren Sprache beschreibt.

Wie sie das tut ist zweifellos das Besondere an diesem apokalyptischen Roman, es handelt sich hier um eine absolut eigenständige, experimentelle Literatur. Stilistisch extrem eigensinnig, in einer konsequent durchgehaltenen, formalen Strenge, ist dabei letztendlich ein wahres Textungetüm entstanden. Völlig ungegliedert nämlich, ohne Kapitel oder Absätze vom ersten bis zum letzten Wort durchlaufend, werden über ganze Seiten hinweg reichende Sätze aneinander gereiht. In denen sich auch noch die Perspektiven manchmal kaum nachvollziehbar ändern, alles fließt ineinander. Das erfordert bei der Lektüre einen ebenso geduldigen wie aufmerksamen Leser. Es gibt zudem kaum so etwas wie Handlungsfäden, an denen diese monströsen Satzgebilde sich nachvollziehbar entlang hangeln könnten. Man ist quasi gezwungen, sich aus den sprunghaft vorgetragenen Textfragenten eine eigene Geschichte zusammenzureimen. Eine derart experimentelle Literatur jedoch ist allenfalls für eine elitäre Minderheit von Lesern goutierbar. Mit Fug und Recht lässt sich deshalb bezweifeln, dass dieses Buch an der literarischen Nischenrolle dieser kanadischen Schriftstellerin in Deutschland etwas wird ändern können.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2020
1000 Serpentinen Angst
Wenzel, Olivia

1000 Serpentinen Angst


gut

Dreifach diskriminiert

Im Themenspektrum zeitgenössischer deutscher Belletristik hat inzwischen auch die Rassismus-Problematik einen festen Platz, Olivia Wenzel liefert mit ihrem Romandebüt «1000 Serpentinen Angst» einen vielbeachteten Beitrag dazu. Die junge, künstlerisch vielseitig tätige Schriftstellerin, als ‹Afrodeutsche› in Weimar geboren, bezeichnet ihren autofiktionalen Roman im Interview mit der taz als «Coming-out als Nicht-Weiße». Ein Entwicklungsroman also, dessen Protagonistin nicht sie selber sei, sondern eine «düstere Variante» von ihr, mit der sie allerdings die titelgebende ‹Angst› gemeinsam habe. Nachdem sie aus Thüringen weggezogen sei, spüre sie deutlich eine Entspannung, im Bus schaue sie sich nicht mehr «die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt».

Dieser Roman behandelt die Konsequenzen, die sich aus der dreifachen Diskriminierung als Farbige, Frau und Ossi für die namenlose, 35jährige Protagonistin ergeben. Ihr Vater musste die DDR verlassen und ist nach Afrika zurückgegangen, es besteht nur ein loser Kontakt mit ihm per E-Mail. Einmal hat sie ihn in Angola besucht, als erfolgreicher Geschäftsmann unterstützt er sie seit einiger Zeit auch finanziell. Die Mutter hatte als aufmüpfige Punkerin im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies viele Probleme, sie hat mehrfach versucht, ihre Zwillingskinder wegzugeben und auszureisen. Auch heute steckt sie scheinbar immer noch in nicht genannten Schwierigkeiten, jedenfalls versteckt sie sich vor irgendwem. Der Zwillingsbruder nahm sich 17jährig das Leben, die einst linientreue Großmutter hat sich politisch nach rechts orientiert und wird bei der nächsten Wahl ‹die Rechten› wählen. Nach diversen heterosexuellen Affären und Beziehungen hat die Protagonistin in der Vietnamesin Kim eine lesbische Lebensgefährtin gefunden, und zu guter Letzt wird sie dann auch noch schwanger und ist damit ziemlich überfordert.

All dies ist nicht in einen als Handlung zu bezeichnenden Plot eingebettet, der dreiteilige Roman berichtet vielmehr extrem fragmentarisch davon, und zwar in einer an das Theater erinnernden, dialogischen Erzählform. Diese Gedankensplitter sind weder chronologisch noch thematisch geordnet, sie folgen eher der chaotischen Weise, in der verschiedenste Reflexionen gedanklich spontan verarbeitet werden. Leitmotivisch erscheint dabei häufig ein Verkaufsautomat, der einerseits die materielle Gier des Kindes nach Kaugummis oder irgendwelchem Tinnef ausdrückt, den man mittels Taschengeld aus dessen Schublade entnehmen kann. Die Ich-Erzählerin imaginiert ihn aber auch in den verschiedensten Träumen als einen Zufluchtsort vor den Bedrohungen der Welt, in den sie sich dann immer wieder verkriecht. Wegen ihrer Angstpsychose ist sie bei drei verschiedenen Therapeuten in Behandlung, ohne dass man ihr wirklich helfen kann. Ihre Probleme lägen ja nicht in der Vergangenheit, heißt es, sondern sind gegenwärtig. «Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit» lautet lapidar die wenig hilfreiche Diagnose.

Stilistisch ungewöhnlich ist die verhörartige Erzählweise, mit der die Autorin ihr Thema rassistischer Ausgegrenztheit literarisch umsetzt, eine der Stimmen stellt immer wieder übergriffige Fragen. Die Sprache dabei ist lässig, ein flippiger, betont heutiger Jugendslang, der häufig mit englischen Einschüben angereichert ist und in seiner Lakonie oft zum Schmunzeln Anlass gibt. Wer da jeweils spricht bei diesen funkelnden Wortgefechten, das ist ungewiss, die Stimme aus dem Off beeinträchtigt jedoch weder Lesefluss noch Verständnis. «Woran denke ich, was unterschlage ich?» ist alles, was die Autorin vermitteln will. Und sie findet dafür in einer Art Katharsis eine versöhnliche Formel, indem sie bekennt, dass es ihr gut geht in Berlin und auch, dass sie ihre Identität keinesfalls verdrängen darf. Also versucht sie selbstbewusst, sich gesellschaftlich zu emanzipieren, - ihr als Leser dabei zu folgen lohnt sich.

Bewertung vom 21.10.2020
Inniger Schiffbruch
Witzel, Frank

Inniger Schiffbruch


schlecht

Grandios gescheitert

Als ein Erzählexperiment der besonderen Art erweist sich Frank Witzels neuer Roman «Inniger Schiffbruch», wirkt darin doch die psycho-therapeutische Aufarbeitung seiner eigenen Kindheit direkt auf den eigentlichen Schreibprozess zurück, er kommentiert sich permanent selbst. In ständigen Selbstzweifeln wird in dieser kaum fiktionalisierten Autobiografie immer wieder auch die Frage nach der Erzählbarkeit dessen aufgeworfen, wovon der Autor in Form einer breit angelegten Vergangenheits-Bewältigung berichtet. Die Figur des von Selbstzweifeln geplagten Ich-Erzählers in dieser literarischen Psychoanalyse vereint also Therapeut und Patient in einer Person. Ein schwieriges Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist, und prompt erleidet der Autor denn auch literarisch «innigen Schiffbruch» mit seiner seelischen Tiefenlotung. Statt ‹Roman› nämlich, der als Narrativ ohne jede Handlung nur falsche Erwartungen weckt, wäre ‹Sachbuch› die angemessene literarische Form gewesen für diesen intellektuell recht anspruchsvollen und zudem auch interessanten Stoff.

Nach dem Tod des Vaters ist der Sohn mit dessen Nachlass beschäftigt, die Mutter war schon zwei Jahre zuvor verstorben. Er sichtet einen Riesenbestand an Fotoalben, Diakästen, Super8-Filmspulen, Briefen, Tagebüchern und anderem mehr, wozu auch bis zu vier, jahrzehntelang parallel geführte, Kalender des pedantischen Vaters gehören. Bei dieser Recherche wird eine Unzahl an Erinnerungen geweckt, die nicht nur auf den materiellen Nachlass gestützt sind, sondern ergänzend auch auf Erzählungen der Eltern und Großeltern. Beide Eltern waren vom Krieg traumatisiert, die aus wohlhabendem Hause stammende Mutter wurde als 16Jährige aus Schlesien vertrieben, der Vater machte nach dem Krieg notgedrungen eine Lehre als Kaufmann. Er wandte sich dann jedoch der Musik zu, musste aber seine Hoffnungen auf eine Karriere als Pianist und Komponist schon bald aufgeben, wurde Musiklehrer und fungierte außerdem auch als Organist und Chorleiter seiner Kirche. Das Elternpaar ist auf seine Weise also nazigeschädigt und verdrängt in den Jahren des Wirtschaftswunders, wie so viele andere auch, die unrühmliche Vergangenheit. Fast alle Erinnerungen des Autors beziehen sich auf den ebenso bigotten wie strengen Vater mit seinem brutalen Erziehungsterror, die Mutter hat kaum verwertbare Spuren für seine Erinnerungsarbeit hinterlassen, und auch sein Bruder kommt so gut wie gar nicht vor. Auffällig ist zudem die scheinbare Bindungslosigkeit des Autors, Frauen werden allenfalls mal in einem Halbsatz erwähnt. Äußerst befremdlich, aber zudem auch symptomatisch erscheint seine Feststellung, dass er einfach nicht trauern könne um seine Eltern, er kommt ihnen auch posthum nicht nahe.

Eine Stärke dieses zutiefst meditativen Buches ist die anschauliche Beschreibung der Lebenswirklichkeit in der BRD, die materiell mit dem Stichwort ‹Nierentisch› und kulturell mit ‹Beatclub› umschrieben werden kann. Ergänzend zu seinen zahlreichen Träumen und endlosen Grübeleien zieht der Autor auch jede Menge Sekundärliteratur heran, seine Zitierliste umfasst 22 Bücher von Adorno bis Vittorini, und auch der Buchtitel ist ein Zitat aus Rilkes Übersetzung von Leopardis berühmtem Gedicht «L’infinito».

Auf seiner rastlosen Suche nach dem Unausgesprochenen, dem schamhaft Verdrängten im Labyrinth der Vergangenheit, verwendet der Autor eine Technik, bei der er eigene Erinnerungssplitter assoziativ mit materiell gespeicherten Memorabilien vermischt. Dabei werden allerlei Diskrepanzen zu Tage gefördert, Erinnerungen lassen sich nun mal nicht objektivieren. Durch das ständig wiederholte Hinterfragen, das letztendlich ja zu nichts hinführt, wird die Lektüre nicht nur beschwerlich, sondern allmählich auch immer langweiliger. Und viele der Details und Assoziationen, in die er sich verliert, mögen für Frank Witzel wichtig sein, nicht aber für den geplagten Leser. Dieser Roman ist als solcher grandios gescheitert!

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Bewertung vom 17.10.2020
Ich an meiner Seite
Birnbacher, Birgit

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weniger gut

Fragwürdige Resozialisierung

Mit ihrem zweiten Roman packt Birgit Birnbacher das schwierige Thema der Resozialisierung von jugendlichen Straftätern an. Die österreicherische Soziologin sei, wie sie im Nachwort schreibt, «der realen Vorlage für die Hauptfigur dieses Romans für die geduldige und beständige Gesprächsbereitschaft» sehr zu Dank verpflichtet. Ihr Buch schaffte es auf die Longlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises, zu Recht?

Arthur wird im Juni 2010 nach 26 Monaten aus dem Gefängnis entlassen und kommt zur Resozialisierung in eine WG in Wien, ein Projekt, das von einer wissenschaftlichen Studie begleitet ist. Sein Therapeut Dr. Konstantin Vogl, den alle nur Börd nennen, fällt durch seine unkonventionellen Methoden auf. Er verkörpert in Auftreten und Kleidung genau das, was man einen ‹schrägen Vogel› nennt. Unter Depressionen leidend wäre der Alkoholiker eher selbst behandlungsbedürftig, er übt jedoch auf Arthur einen erfreulich positiven Einfluss aus. Unter anderem dadurch, dass er ihn dazu anhält, ihm auf Tonband über sein Leben zu berichten. Diese protokollartigen Selbstauskünfte des personalen Erzählers werden, kursiv und in anderer Schrift, immer wieder kurz in die 33 auktorial erzählten Kapitel dieser tragischen Geschichte eingeblendet. Der Protagonist kommt aus prekären Verhältnissen, denen seine Mutter beherzt entflieht, indem sie mit seinem Stiefvater und ihren beiden Söhnen von ihrer österreichischen Kleinstadt nach Andalusien auswandert, um dort eine Palliativklinik für Wohlhabende zu leiten. Arthur beginnt dort schon bald eine offenbar homo/bisexuelle Dreiecksbeziehung mit Milla und Princeton. Der vermeintliche Freund aber versucht ihn bei einem Bootsausflug zu ertränken, während gleichzeitig Milla spurlos verschwindet und irgendwann für tot erklärt wird. Mit einer Patientin schließlich, die er einmal reglos daliegend antrifft und um die er sich sofort rührend bemüht, entwickelt sich schnell eine innige Beziehung. Grazetta, die alte Frau, die hier zum Sterben hergekommen ist, war früher mal eine bekannte Schauspielerin. Schließlich geht Arthur aber dann doch zurück nach Wien, findet dort jedoch keine Arbeit und wird in seiner Not mit einer raffinierten Internet-Abzocke straffällig.

Man ist an Alfred Döblins Figur Franz Bieberkopf in «Berlin Alexanderplatz» erinnert, wenn Arthur sich nach der Entlassung in einem ähnlichen Circulus vitiosus als ehemaliger Häftling um Wohnung und Arbeit bemüht. Dem intelligenten 22Jährigen fehlen die nötigen Referenzen, um eine Wohnung zu mieten, und er kann auch keine Zeugnisse vorweisen, so dass alle seine Bewerbungen erfolglos bleiben, selbst wenn er die Haft als ‹Auslandsaufenthalt› deklariert. Er scheint das Unglück geradezu magisch anzuziehen, sein Online-Konto wird geplündert und ein Mitbewohner seines armseligen möblierten Zimmers stiehlt ihm aus Rache, weil er ihm kein Geld leihen wollte, einen Umschlag mit Dokumenten. Die waren auf wohlwollendes Betreiben von Grazetta professionell gefälscht und hätten ihm bei seiner Suche nach Arbeit und Wohnung sehr nützlich sein können. Was Arthur auch anpackt, es geht schief, dabei ist er sich sicher, «dass ich ein nützlicher Mensch bin», was er Börd so auch aufs Band spricht. Ihm fehlt der familiäre Rückhalt, die Mutter ist voll eingespannt bei ihrem sozialen Aufstieg aus dem Prekariat, sie kann und will sich nicht um ihn kümmern.

Der Plot ist mit vielen zeitlich ungeordneten Sprüngen vom kitschigen Ende im Jahre 2011 bis zurück zu Arthurs Geburt 1988 alles andere als leicht lesbar. Er ist aber auch oft schwer nachvollziehbar, sei es in Szenen wie der brutalen Gewaltorgie im Knast, Arthurs technisch fragwürdigem Phishing-Fischzug oder der völlig unmotivierten Boots-Episode. Völlig deplaziert ist schließlich auch die Figur der Grazetta, und die Schilderung einer zu vermietenden Messi-Wohnung ist wohl kaum als Satire gemeint. Als was aber dann? Buchpreiswürdig jedenfalls ist dieser Roman keinesfalls!