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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2016
Geisterzeilen (eBook, ePUB)
Ebert, Janina

Geisterzeilen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein ganz normales 16-jähriges Mädchen wird unverhofft zur Muse und zum Sprachrohr verschiedener Geister, die ihre Hand führen und so ihre literarischen Werke zu Papier bringen. Das hat seine Vorteile (in Deutsch und Geschichte waren ihre Noten noch nie so gut), macht ihr aber auch manchmal Angst - aber dann bringt einer der Geister ihr Herz aus ganz anderen Gründen zum Klopfen...

"Geisterzeilen" ist in meinen Augen eine originelle, frische, unterhaltsame Mischung aus Geistergeschichte und Jugendbuch. Oft witzig, manchmal gruselig, immer wieder rührend...

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Helena, und die ist ein typischer Teenager - himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt erlebt sie alles ganz intensiv. Mit der Schule hat sie nichts am Hut und ihre Noten sind eher unterer Durchschnitt, denn alles ist wichtiger: am Anfang vor allen, dass ihr Freund sie verlassen hat. Sie leidet unendlich, und das mit viel Melodrama, denn sie will, dass jeder weiß, wie sehr ihr Herz blutet... Aber als sie dann beschließt, ihr Herz nie wieder zu verschenken, macht sie damit Platz in ihrem Herzen für die Geister.

Janina Ebert beschreibt Helenas Abenteuer mit viel Humor und hat mich öfter zum Lachen gebracht.

Zitat:
Warum wollte meine Mutter auch immer alles so genau wissen? Konnte sie nicht einfach akzeptieren, dass ihre 16-jährige Tochter ein Bild in ihrer Handtasche hatte? War das so ein abscheuliches Verbrechen? Andere Töchter rauchten, tranken oder nahmen Drogen, aber ich, ich missratenes Ding, trug Fotos mit mir herum! Ungeheuerlich!

Aber auch die Romantik kommt in diesem Buch nicht zu kurz! Tatsächlich ist es manchmal schon ein bisschen kitschig, aber ich fand das verzeihlich, denn die Liebesgeschichte ist einfach süß geschrieben.

Mir war Helena direkt sympathisch und ich fand sie sehr glaubhaft, gerade weil sie auch ihre Fehler und Schwächen hat. Im Laufe der Geschichte macht sie dann auch eine große Entwicklung durch, lernt viel über das Leben und wächst an ihren Erfahrungen, was mir gut gefallen hat.

Über die drei Geister will ich noch nicht zu viel verraten, nur soviel:

Da wäre einmal Oskar, ein Schriftsteller aus den 30er Jahren, mit dem Helena bald eine wunderschöne Freundschaft verbindet. Er wird für sie eine Art väterlicher Mentor. Als nächstes begegnet sie einem Geist, der ihr seinen Namen nicht nennen will - sie weiß nur, dass er jung gestorben ist und ebenfalls Schriftsteller war, seine Werke allerdings vor seinem verfrühten Tod nicht mehr veröffentlichen konnte. Sie spürt von der ersten Begegnung an, dass sie etwas ganz Besonderes mit diesem Namenlosen verbindet. Als letztes wäre da noch die Geisterfrau, die Helena fürchterliche Angst macht, denn sie bringt grausame Gedichte voller Schmerz und Selbsthass zu Papier.

Zitat:
Setze die Klingen ans Gesicht,
Schneide tief mit scharfen Messern,
Will mein Antlitz so verbessern,
Auf das der Spiegel von alleine bricht.

Ich fand sehr interessant, wie stark sich der Schreibstil verändert, wenn die unterschiedlichen Geister zu Wort kommen! Überhaupt hat mir der Schreibstil sehr gut gefallen.

Im Laufe der Geschichte passieren ein paar unglaubliche Zufälle, ohne die Helena in ihrer Suche nicht weiter gekommen wäre, was mich ein bisschen gestört hat - aber vielleicht kann man es auch damit erklären, dass hier das Schicksal am Werke ist, um Helenas Bestimmung zu erfüllen? Was mich allerdings wirklich ein wenig enttäuscht hat, war das Ende, denn das kam mir doch sehr erzwungen vor... Nicht so sehr die Auflösung, sondern die Art und Weise, wie sie erreicht wird.

Aber dennoch hat mir das Buch sehr viel Spaß gemacht und ich würde es auf jeden Fall weiter empfehlen, wenn man romantische Fantasy für junge Leser gerne mag.

Bewertung vom 12.06.2016
Firstborn
Alexanderson, Filip

Firstborn


gut

Handlung:

Stockholm. Nach einem schweren Unfall wird dem Studenten Jonas eine merkwürdige Kapsel aus dem Gehirn entfernt. Danach entwickelt er rasant unglaubliche Kräfte und macht sich auf die Suche nach einer Erklärung.

Zeitgleich werden in der Stadt Obdachlose aufgefunden, die mit milchig trüben Augen in einer Art Koma liegen, und dann geschieht auch noch ein Ritualmord an einem Säugling. Warum? Die Antwort auf dieses Rätsel liegt verborgen in der Parallelwelt der "Verborgenen", und auch Jonas' Suche führt ihn an die Grenzen dieser Welt.

Schnell wird er jedoch von beiden Seiten gejagt: von der Polizei der normalen Welt genauso wie von verschiedenen Vertretern der anderen Welt...

Meine Meinung:

Das Buch ist in meinen Augen kein Thriller, wie es auf dem Klappentext steht, sondern eher eine Mischung aus Science Fiction, Action und Fantasy, mit einer Prise Sozialkritik.

Wie bei vielen Fantasyromanen gibt es hier eine komplexe Parallelgesellschaft, von der normale Menschen keine Ahnung haben: die Welt der "Verborgenen". Da gibt es die "Gemeinschaft" und die "Außerhalben", die "Irrlichter" und die "Reinblütigen"... Die Verborgenen wandeln unter uns, unerkannt. Das ist keine schöne Welt, bei der man sich als Leser wünscht, man könnte dazugehören, sondern eine harte, grausame, dreckige Welt, die die eigenen Kinder frisst. Von der Atmosphäre her erinnerte mich "Firstborn" an Sergej Lukianenkos "Wächter der Nacht".

Originell, komplex und vielschichtig ist diese Welt auf jeden Fall! Ich möchte hier noch gar nicht so viel darüber verraten, aber es ist definitiv kein Buch, bei dem ich an irgendeinem Punkt das Gefühl gehabt hätte: das habe ich schon mal gelesen. Der Autor hat viele interessante Ideen, alles scheint mir gut durchdacht und schlüssig aufgebaut - wenn auch nicht immer klar und verständlich erzählt.

Doch trotz dieser guten Grundlage und enormem Potential konnte mich die Geschichte nicht vollends überzeugen.

Lange war ich sehr verwirrt: wer sind diese "Verborgenen", diese "Anderen"? Magische Wesen? Außerirdische? Cyborgs? Das Ergebnis von Gentechnik? Manches davon kann man beim Lesen ausschließen, aber der Autor erklärt es im Grunde niemals wirklich. Überhaupt hatte ich erst nach der Hälfte des Buches wirklich das Gefühl, in der Geschichte angekommen zu sein, davor erschien mir alles sehr chaotisch und verworren.

Das Buch ist spannend, ja. Das aber hauptsächlich durch das rasante Tempo und die vielen Actionszenen - richtig mitgefiebert habe ich selten, denn die Geschichte berührte mich emotional kaum. Dabei geht es hier nicht nur darum, dass der junge Student Jonas unverhofft in diese merkwürdige Parallelgesellschaft hineinstolpert und herausfinden muss, wer er ist und was er kann, sondern auch um rituellen Kindsmord und Morde an Obdachlosen!

Ich denke, es lag vor allem an den Charakteren, die es mir sehr schwer machten. Ich habe es normal sehr gern, wenn Charaktere vielschichtig sind, nicht nur "gut" oder "böse", aber ihr Verhalten muss für mich in sich stimmig sein. Hier hatte ich oft das Gefühl, dass ich gar nicht richtig erfassen konnte, was einen bestimmten Charakter im Grunde seines Wesens ausmacht. Deswegen habe ich immer noch den Eindruck, Eldh und Jonas nicht wirklich zu kennen, und so konnte ich auch nicht tiefer gehend mit ihnen mitfühlen.

Der Schreibstil gefiel mir manchmal richtig gut - dort, wo er mit düsteren Bildern eine dichte Atmosphäre erschafft und mit genau dem richtigen Takt und Tempo durch die Szenen führt. Manchmal gefiel er mir jedoch überhaupt nicht, denn es gibt auch Szenen, in denen kurze, nüchterne Sätze quasi abarbeiten: was kann ich sehen, was kann ich hören, was kann ich riechen.

Bewertung vom 05.06.2016
Die Blutschule
Rhode, Max

Die Blutschule


weniger gut

Simon, die Hauptfigur des Buches, erzählt die grauenhaften Geschehnisse in Form eines Tagebuches. An einer Stelle denkt er darüber nach, was aus diesem Tagebuch wohl werden wird:

"Vielleicht wird es ja sogar irgendwann veröffentlicht, wenn ich längst tot bin. Dann dienen diese Zeilen womöglich der Unterhaltung irgendwelcher Menschen, die ich nicht kenne und die ich auch nie kennenlernen wollen würde, denn wieso sollte ich mich mit Leuten abgeben, die Zerstreuung in der Lektüre über Tod und Gewalt suchen? Das ist krank."

Und ganz ehrlich? Da kann ich Simon nur zustimmen, denn "Die Blutschule" ist kein Thriller, es ist fast schon "Torture Porn". Wem das kein Begriff ist: übersetzt heißt es "Folter-Porno" und bezeichnet ein Subgenre des Horror, in dem die Handlung meist eher dünn ist, während Folter, Verstümmelung und Erniedrigung im Mittelpunkt stehen.

Ich sage "fast schon", denn ich muss dem Autor zumindest zugute halten, dass die meisten Folterszenen eben nicht detailliert beschrieben werden, sondern "nur" das Ergebnis präsentiert wird. Das machte es für mich aber nur geringfügig besser, denn dafür werden fleißig alle Schocker abgearbeitet, wie zum Beispiel Folter niedlicher Tierbabys oder Gewalt zwischen Vater und Kind.

Und das fand ich noch nicht mal spannend. Anfangs dachte ich noch, "Die Blutschule" könne so etwas werden wie die Horror-Klassiker von Stephen King, aber leider kommt es nicht annähernd an Bücher wie "Friedhof der Kuscheltiere" heran. Es ist in meinen Augen viel platter, denn es verzichtet darauf, vorhandenes Potential auszuschöpfen. Interessante Themen werden nur am Rande angekratzt, und das Buch bietet absolut nichts Neues - die Handlung spult sich vorhersehbar ab, ohne originelle Ideen oder unerwartete Wendungen.

Die Charaktere lernt man kaum kennen, denn der Vater entwickelt sich schon am Anfang zum abgrundtief bösen Monster, die Mutter spielt nur eine kleine, nebensächliche Rolle, und Simon und Mark werden dermaßen vom blanken Terror beherrscht, dass man nur wenig Gefühl dafür gewinnt, was für Menschen die beiden sind, wenn sie gerade nicht in einer Extremsituation sind.

Der Schreibstil war für mich noch das Beste an diesem Buch, denn der ist durchaus kompetent, konnte das Ganze für mich aber auch nicht mehr retten.

Fazit:
"Die Blutschule" ist für mich kein Thriller, sondern viel zu bemüht schockierender Horror. Es gibt keinen Fall zu lösen, keinen wirklichen Spannungsbogen, keinen psychologischen Tiefgang, sondern nur sinnlose Gewalt - und das zum Teil gegen Kinder und Tiere.

Der einzige Grund, warum ich "Die Blutschule" überhaupt gelesen habe, ist die Tatsache, dass "Max Rhode" zum einen ein Pseudonym von Sebastian Fitzek ist, und zum anderen eine Figur in dessem Buch "Das Joshua-Profil". Ich finde die Idee immer noch klasse, einer literarischen Figur mehr Glaubwürdigkeit zu geben, indem man diese Figur selber ein Buch schreiben lässt - aber leider wird das hier meines Erachtens verschenkt.

Bewertung vom 01.06.2016
Das Schaf-Komplott
Bernard, Carine

Das Schaf-Komplott


sehr gut

Tja, wie das in Krimis immer so ist, wenn Ermittler Urlaub machen: meistens dauert es nicht lange, bis sie über die erste Leiche stolpern, und natürlich ist die lokale Polizei dann a) antriebslos, b) auf dem Holzweg, c) überfordert oder d) alles auf einmal.

So geht es hier auch Molly Preston! Normal ermittelt sie eher in Sachen Wirtschaftskriminalität als in Sachen Mord, und eigentlich wollte sie in den idyllischen Yorkshire Dales mit ihrem Freund Charles auch nur einen lange überfälligen Liebesurlaub machen. Aber ein wichtiger beruflicher Termin, den Charles nicht verschieben kann, macht daraus eine Singlereise mit Doppelbett - und dann kommt der Vermieter ihrer Ferienwohnung vom Geocaching nicht mehr zurück... Molly zieht los, um den Mann zu finden und gerät mitten hinein in einen Fall, in dem nicht nur sein scheinbarer Unfalltod eine Rolle spielt, sondern auch Schafdiebstahl im großen Stil.

(Nur so am Rande: als Geocacherin war ich entzückt, dass der Fall auch etwas mit Geocaching zu tun hat! Für die "Muggels": Geocaching ist eine Art internationale Schatzsuche, bei der die Teilnehmer anhand von Hinweisen und GPS-Koordinaten versteckte Behälter mit Logbüchern suchen. Und auch, wenn das Hobby inzwischen schon in mehreren Krimis eine Rolle spielt - nein, eigentlich ist es nicht gefährlich.)

Vorneweg sei direkt gesagt: hier gibt es keine nervenzerfetzende Hochspannung mit viel Blut und stapelweise Leichen. Das Buch ist ein eher gemütlicher Krimi in der Tradition von Miss Marple oder Inspektor Jury, der viel von seinen wunderschönen Landschaftsbeschreibungen und den Schilderungen der Schrullen und Eigenheiten der Menschen in diesem Landstrich lebt. Der Kreis der möglichen Verdächtigen ist überschaubar, die Ermittlerin ist zwar hochintelligent, aber eher liebenswert als knallhart...

Die Enthüllung des Täters hat mich auch nicht sonderlich überrascht, aber es geht ohnehin eher um das Wie und Warum, und das ist wirklich pfiffig! Auf ruhige Art liest sich das Buch durchaus spannend und vor allem rundum unterhaltsam. So ein bisschen war das wie ein kleiner Urlaub auf dem Lesesofa, und jetzt habe ich richtig Lust darauf, auch mal in die Yorkshire Dales zu reisen.

Molly war mir sehr sympathisch, auch wenn ich nicht immer alles nachvollziehen konnte, was sie tat oder sagte. Zum Beispiel war mir unverständlich, warum sie sich direkt so von Cliff, dem heiß umkämpften Frauenschwarm des kleinen Ortes, angezogen fühlte - aber gut, immerhin hat ihr Freund sie gerade im Urlaub versetzt... Sie ist sehr intelligent, und wenn es sein muss, kann sie sogar ziemlich draufgängerisch sein - da steigt sie schon mal nachts in schwarzen Klamotten über den Zaun aufs Grundstück eines Verdächtigen. (Kann das gut gehen?)

Die meisten Charaktere haben wunderbare Marotten und Eigenheiten, so dass sie sich großartig in das Lokalkolorit einfügen. Ich sag ja, ein Krimi wie ein Urlaub - charmant und entspannt und voller Atmosphäre.

Auch der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen, er liest sich flüssig runter und ist voller liebevoller Details, mit einer Prise Humor. Ein klein bisschen Urlaubsflirt ist auch enthalten, aber das bleibt eher dezent.

Fazit:
Die Ermittlerin Molly Preston macht Urlaub in den Yorkshire Dales - aber neben gemütlichen Spaziergängen, englischen Pubs und Sightseeing erwarten sie auch organisierter Schafdiebstahl und ein merkwürdiger Todesfall beim Geocaching.

Ein Buch aus dem Genre "Cozy-Krimi": ganz gemütlich, mit eher langsamen Tempo, dafür aber mit ganz viel Charme und Lokalkolorit. Mir hat das viel Spaß gemacht!

Bewertung vom 31.05.2016
Die Falle
Raabe, Melanie

Die Falle


ausgezeichnet

Die Bestsellerautorin Lisa Conrads hat seit der Ermordung ihrer Schwester das Haus nicht mehr verlassen. Ihr Leben spielt sich auf allerkleinstem Raum ab, im immer gleichen Trott, mit dem immer gleichen Ausblick aus dem Fenster. Sie kann nicht loslassen, denn Annas Mörder wurde nie gefasst - obwohl Lisa das Gesicht des Mannes damals sogar gesehen hat.

Doch dann sieht sie IHN eines Tages im Fernsehen: den Mörder ihrer Schwester. Auf einmal hat sie seinen Namen, und nach gründlicher Recherche weiß sie alles über ihn. Sie sieht nur eine Möglichkeit: sie muss den Mörder zu sich locken, ihm die perfekte Falle stellen...

Die Grundidee fand ich schon sehr originell und spannend, gerade weil die Situation für einen Thriller eher ungewöhnlich ist. Normalerweise gibt es in einem Buch dieses Genres viele "Spielfiguren": Polizisten, Gerichtsmediziner, Freunde und Nachbarn des Opfers, diverse Zeugen, vielleicht Leute aus dem Umfeld des Mörders und so weiter. Oft kommt auch der Mörder selbst zu Wort. Aber hier... Hier gibt es erst nur Linda und ihre verquere, klaustrophobische kleine Welt. Sie hatte 11 Jahre Zeit, um über den Mord nachzudenken, und dennoch beherrscht er immer noch ihr ganzes Leben. Sie ist so besessen davon, dass sie keinen Platz mehr hat in ihrem Kopf oder Herzen für "normale" Gefühle.

Und dann ändern wenige Sekunden alles, zerschmettern einfach so das fragile Glashaus von Lindas Realität - Sekunden, in denen sie den Mörder im Fernsehen sieht und sich ihre ganze Obsession darauf richtet, ihn zur Verantwortung zu ziehen und endlich, ENDLICH Antwort auf die eine große Frage zu bekommen: WARUM?

Ich war sehr beeindruckt davon, wie unglaublich geschickt und clever die Autorin einen Thriller aufbaut, der sich zu 90% im Kopf der Hauptfigur abspielt, ohne dass es langweilig wird. Linda begibt sich mit messerscharfem Verstand daran, die perfekte Falle zu konstruieren, mit den Waffen einer Schriftstellerin und ohne ein einziges Mal das Haus zu verlassen.

Das ist alles so ausgefuchst und perfekt durchdacht! Und am interessantesten fand ich, dass man als Leser schnell anfängt zu hinterfragen, inwieweit man Lindas Erinnerungen trauen kann. Immerhin war hier eine schwer traumatisierte Frau mit überbordender Fantasie 11 Jahre lang mit ihren Gedanken eingesperrt. Sie zweifelt selber an sich, spielt Erinnerungen bis ins kleinste Detail durch und fragt sich dann: aber war das wirklich so...?

Insofern ist nicht nur spannend, ob der Mörder in die Falle gehen wird, sondern auch, ob er überhaupt wirklich der Mörder ist! Im Laufe des Buches habe ich meine Meinung dazu bestimmt ein Dutzend mal geändert, und bis zum Schluss war ich mir nicht sicher.

Linda ist in meinen Augen ein großartiger Charakter, denn sie ist zwar eine unzuverlässige Zeugin, aber dabei als Mensch einfach authentisch und glaubhaft. Und ich habe stets mir ihr mitgefühlt und mitgefiebert - egal, ob ich sie jetzt gerade für einen hochintelligenten, knallhart kalkulierenden Rachenengel hielt oder für eine zutiefst verletzte Hinterbliebende, der die Trauer den Verstand geraubt hat.

Und ER, der Mann aus ihren Albträumen: lange Zeit sieht man ihn nur gefiltert durch Lindas verzerrten Blick, und das kam mir ein bisschen so vor wie bei einem dieser holographischen Postkarten, auf denen man zwei unterschiedliche Motive sieht, je nachdem, wie man sie hält... Mal wirkte er auf mich wie ein unschuldiger, aufrichtiger Mann, der völlig ahnungslos in das alles hineingezogen wird, und dann wieder wie ein durchtriebenes, skrupelloses Raubtier, das mit seinem Opfer spielt. Hin, her, hin, her...

Den Schreibstil fand ich wunderbar. Linda erzählt die Geschichte aus der Ich-Perspektive und man merkt, dass sie Schriftstellerin ist: ihre Gedanken haben immer etwas Ausgefeiltes. Mal sind sie zart-poetisch, mal wütend und melodramatisch, aber in meinen Augen immer etwas ganz Besonderes.

Bewertung vom 26.05.2016
Waldesruh
Bagus, Anja

Waldesruh


sehr gut

Ich muss gestehen: ich habe erst wenige Bücher aus dem Genre "Steampunk" gelesen (und bislang nur Æthermagie und Æthersturm von Susanne Gerdom rezensiert - großartige Bücher!), aber deswegen war ich doppelt so gespannt, wie mir "Waldesruh" gefallen würde, das mir auf dem Steampunk-Festival in Osnabrück in die Hände sprang.

Und für diejenigen, die sich jetzt fragen: "Häh? Steampunk?", folgt hier erstmal, wie ich persönlich (als Nicht-Expertin) "Steampunk"als literarisches Genre verstehe:

Meines Erachtens beruht dieses Genre auf den Büchern von Autoren wie Jules Verne und H.G. Wells. in denen Menschen basierend auf der zur viktorianischen Zeit verfügbaren Technik (hauptsächlich Dampfkraft, daher auch "Steam") sehr modern und fortschrittlich anmutende Erfindungen machen oder einsetzen. Also sozusagen Retro-Science-Fiction, die nicht in unserer Zukunft spielt, sondern in einer alternativen Vergangenheit.

Viele heutige Steampunk-Bücher spielen daher im viktorianischen Zeitalter, können jedoch auch in anderen Epochen angesiedelt sein. Oft kommt zum Futuristischen noch eine Art Abenteuerromantik, manchmal spielt etwas namens "Æther" eine Rolle, was in verschiedenen Büchern etwas ganz Unterschiedliches sein kann:

In der "Ætherwelt" von Anja Bagus ist Æther ein grüner Nebel, der aus Gewässern aufsteigt und nicht nur Maschinen antreiben oder Materalien wie Stahl veredeln kann, sondern auch Menschen in sogenannte "Veränderte" (oder abwertend "Verdorbene") verwandeln: Mannwölfe, Meerjungfrauen, Naturgeister....

Wie sie das umsetzt, liest sich meiner Meinung nach spannend, unterhaltsam und originell, mir wurde es beim Lesen nie langweilig. Besonders gut gefiel mir, wie sie hier alte Sagengestalten in die Geschichte einbaut - und mehr möchte ich darüber noch gar nicht verraten, um niemandem den Spaß zu verderben.

Spannend fand ich nicht nur, dass die Hauptcharaktere den rätselhaften Mord an einem Glasmacher aufklären müssen, der mit Glas und Æther experimentierte - sie müssen sich dabei auch mit religiösen Fanatikern auseinander setzen, die alles, was mit Æther zu tun hat, als Teufelswerk betrachten, und mit einer uralten Macht, die den Glasberg in Besitz genommen hat... Diese Mischung aus Mythologie, alternativer Historie, Science Fiction und Fantasy hat mich einfach sehr stark angesprochen.

Der Schreibstil hatte in meinen Augen so seine Höhen und Tiefen. Es gibt immer mal wieder Sätze, die sich für mich etwas holprig und unbeholfen lasen - aber für jeden Satz dieser Art gibt es mindestens zehn großartige Sätze, die mit wunderbarer Sprachmelodie eine reiche Atmosphäre vermitteln. Den Dialekt der Dorfbewohner fand ich gut umsetzt: einerseits urig genug, um der Geschichte Lokalkolorit zu geben, andererseits immer noch gut verständlich.

Im Mittelpunkt steht die junge Witwe Minerva, Freifrau von Rappenfeld-Zähringen. Sie ist eine starke Frau, die sich nicht um Konventionen schert, sondern in Männerkleidung herumläuft, leidenschaftlich gerne an Motoren rumschraubt und in der Vergangenheit auch schon Autorennen gefahren ist.

Schon nach wenigen Seiten fühlt sich Minerva direkt von zwei attraktiven Männern angezogen: dem Unternehmer Falk Bischoff und dem preussischen Hauptmann Richard zu Kirschbronn. Richard blieb für mich etwas blass, aber Falk ist in meinen Augen in interessanter Charakter: auf den ersten Blick aufbrausend und arrogant, ein echtes Alphatier, aber dann doch mit deutlich mehr Empfindsamkeit und Tiefe, als man dahinter erwarten würde.

Normalerweise hasse ich romantische Dreiecksgeschichten, aber Gott sei dank ist Minerva eine entschlossene Frau, die schnell weiß, wen sie will. Allerdings ging mir die Liebesgeschichte entschieden zu schnell. und ich fand ein wenig befremdlich, wie begeistert die emanzipierte Minerva auf einmal davon ist, sich als "Besitz" eines Mannes zu fühlen... Dennoch fand ich die romantischen und erotischen Szene ansprechend geschrieben.