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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Der Ozean am Ende der Straße
Gaiman, Neil

Der Ozean am Ende der Straße


ausgezeichnet

Der Icherzähler der Geschichte kommt zu einer Beerdigung in seinen Heimatort im ländlichen Sussex zurück. Um abseits der Trauerfeier etwas Ruhe zu finden, biegt er wie automatisch in einen unbefestigten Pfad ein, an dem früher die Farm der Hempstocks lag. Damals war der Junge 7 Jahre alt, ein in vielerlei Hinsicht magisches Alter. Mit 7 beginnt eine neue Epoche in der kindlichen Entwicklung. Als Zweitklässler vollziehen die meisten Kinder zu der Zeit einen gewaltigen Schritt in die Unabhängigkeit, nachdem sie selbstständig lesen gelernt haben. Sie sind damit unabhängig vom Urteil Erwachsener und deren Bücher-Auswahl geworden und können fortan ihren ganz persönlichen Interessen nachgehen. Wie die Leser entdecken werden, bringt dieses Alter bisher unbekannte Ängste und Bewährungsproben mit sich. Auch Letties Alter (sie ist 11) empfand ich als magisch, sie verbringt den letzten Sommer ihrer Kindheit mit dem jüngeren Jungen. Ob sie im folgenden Jahr noch Kinderspiele spielen wird, steht in den Sternen.
Gaimans Icherzähler sieht die Welt zunächst allein aus seiner kindlich ichbezogenen Perspektive. Während sich fern von ihm unangenehme Dinge zusammenbrauen (seinen 7. Geburtstag verbringt er allein an der gedeckten Kaffeetafel; denn keiner der Eingeladenen erscheint), interpretiert er den drohenden finanziellen Abstieg seiner Familie um seine Befindlichkeit herum, verkörpert durch das gelbe Waschbecken in seinem Kinderzimmer. Obwohl das Handwaschbecken nach Maß für ihn an der Wand befestigt wurde, lebt in diesem Zimmer neuerdings als Untermieter ein geheimnisvoller Mann, der in Australien als Opalschürfer gearbeitet hat. Indirekt führt der Opalsucher den Jungen zu den Hempstocks. In der Familie heißen Großmutter, Mutter und Tochter alle Hempstock; falls es früher einmal Männer gegeben sollte, sind die in die Welt hinaus gezogen, erklärt ihm die Tochter Lettie. Die Elfjährige betreut den Jungen in einer Krisensituation wie eine Mutter und wird fortan seine Beschützerin und Erklärerin sein. Der Ententeich hinter der Farm ist Letties Ozean, hinter dem sich die übrige Welt befindet, aber auch der Übergang in eine zunehmend bedrohlich wirkende magische Welt. Auch Lettie hängt kindlichen Allmachtsphantasien an, dass sie mit ihren magischen Fähigkeiten den Jüngeren vor allem Bösen beschützen kann, das dort draußen lauert und sich aktuell in der Person der neuen Haushälterin Ursula in seinem Elternhaus eingenistet hat.
Lettie verfügt über magische Fähigkeiten, die deutlich durch die einfache Lebensweise der Familie unterstützt werden. Wer über ein offenes Herdfeuer mit dazugehörigem Feuerhaken verfügt, kann es entschlossen mit den wispernden und flatternden Ungeheuern aufnehmen, die außerhalb des Portals zur magischen Welt lauern. Die mächtige Haushälterin, die die Freiheit des Jungen empfindlich einschränkt, könnte man zur Phantasiegestalt erklären, aber auch zur Verkörperung seiner kindlichen Ängste, als er erkennt, dass sie sich nicht wie ihre Vorgängerinnen durch ein paar Frösche im Bett vertreiben lassen wird.
"Der Ozean am Ende der Straße" ist kein Kinderbuch, sondern ein Roman für Erwachsene, die sich den Bildern ihrer Kindheit noch oder wieder verbunden fühlen. Wie schwer das sein kann, hat Gaiman selbst erfahren, der die Landschaft und die Bilder seiner Kindheit erst mit der Unterstützung seiner Schwester wieder hervorholen konnte. Ein Buch über die Macht der Phantasie und der phantastischen Literatur, das ich jederzeit als mein einziges Buch mit in die berühmte einsame Hütte ohne Stromanschluss nehmen würde.

Bewertung vom 04.01.2017
Aller Anfang ist böse
Bray, Libba

Aller Anfang ist böse


ausgezeichnet

Eine Siebzehnjährige ins aufregende New York der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu schicken, kann wohl kaum eine wirksame Strafe sein. Evangeline O’Neill hatte in leicht angesäuseltem Zustand auf einer Party das peinliche Geheimnis eines Gastes „gelesen“ und ausgeplaudert. Als erzieherische Maßnahme wird sie aus dem ländlichen Ohio zu ihrem Onkel Will nach New York verfrachtet, der dort das bisher eher erfolglose Museum für „Amerikanisches Volkstum, Aberglauben und Okkultismus“ leitet. Evie und weitere Figuren entdecken im ersten Band der Diviners-Trilogie beunruhigende magische Fähigkeiten an sich, die sich durch beängstigende Träume ankündigen und die sie zunächst nicht einordnen können. Libba Brays Protagonisten sind um die 18 Jahre alt, im richtigen Alter, um bald auf eigenen Füßen stehen. Im Vergleich zur körperlichen Reife sind Ihre okkulten Fähigkeiten bisher erst unvollständig entwickelt. Memphis, der Zahlenlotto-Läufer, ist mit seiner Tätigkeit für Papa Charles, einen mächtigen Glücksspiel-Boss der New Yorker Unterwelt, schon finanziell unabhängig. Der junge Schwarze hat die Heilerfähigkeit seiner Jugend bereits wieder verloren und trägt jetzt Verantwortung für seinen jüngeren Bruder Isaiah, der offensichtlich in die Fußstapfen des Älteren treten wird. Auch Jericho Jones, Assistent von Onkel Will, arbeitet bereits für seinen Lebensunterhalt. Nicht immer zu Wills Begeisterung sucht Evie ihren Platz im Leben, in dem sie das Museum aus seinem wirtschaftlichen Dornröschenschlaf wecken will. Als die Polizei Will zu den Ermittlungen in einer Serie von Ritualmorden als Okkultismus-Experten hinzuzieht, kreuzen sich die Wege der jungen Leute und es kommt zu nicht ungefährlichen Verwicklungen. Evie scheint die ideale Besetzung für die noch zu schaffende Rolle der Profilerin in okkulten Sonderfällen zu sein, auch wenn sie in jugendlicher Begeisterung anfangs eher Verwirrung stiftet als Will zu unterstützen. Als weiterer Beteiligter der Handlung, die in überschaubarem Umfang mit unappetitlichen Details aufwartet, tritt Knowles’ End auf, ein leer stehendes Haus am oberen Hudson, das seiner abergläubischen Besitzerin einst von einer mächtigen Wahrsagerin abgeluchst worden war.

Als Einstieg in eine phantastische Trilogie charakterisiert Libba Bray ihr umfangreiches Figurenarsenal mit schlagfertigen, frechen Dialogen, die auch in der Übersetzung in die Zeit der Handlung passen. Historische Fakten sind in geschickten Dosen eingestreut, wirken jedoch niemals belehrend: die Rassentrennung jener Zeit, aus der Prohibition resultierende Geschäfte der Unterwelt, die erwartete Ankunft eines Kometen. Sehr gelungen fand ich den Einblick in Hoffnungen und Träume der jungen Zauberlehrlinge und die atmosphärische Schilderung der Großstadt als wäre sie ein lebendes Wesen. Obwohl mich die Leseprobe zum Buch zunächst nicht begeisterte, konnten mich die Schicksale der jungen Großstädter und die Atmosphäre der 20er nun doch fesseln, so dass ich sie in den folgenden Bänden gern weiter verfolgen will.

Bewertung vom 04.01.2017
Willkommen zuhause!
Altenhoven, Katja

Willkommen zuhause!


ausgezeichnet

Die Berlinerin Renée ist 45, als ihr Mann tödlich verunglückt. Ehe Renée ihrer Trauer um Martin Raum geben kann, muss zügig geklärt werden, was aus ihrer riesigen Altbauwohnung werden soll. Selbst wenn Renée keine Hypothek mehr abzuzahlen hätte, müssen die Nebenkosten aufgebracht werden. Als Lösung bietet sich eine WG alter Freunde an. Michael, Renées Freund aus Kindertagen und heute ihr Hausarzt, Judith und Frank, beide mit DDR-Sandmännchen-Sozialisation, die „Rote Anne“, sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und ihr Mann Pavel, der ein Altenheim leitet, zeigen Interesse an der Idee. Konfliktstoff, um das Projekt platzen zu lassen, bringt jeder von ihnen reichlich mit. Wird Annes und Pavels Beziehung der Belastung durch Annes Bundestagsmandat standhalten? Wird Renée den lesenden Zyniker Michael weiter als Hausarzt haben wollen, wenn er ihr täglich in der WG begegnet? Werden Anne und Renée, die beruflich zusammenarbeiten, Privates und Politisches trennen können? Was sollte aus dem WG-Projekt mit kinderlosen Paaren und Singles werden, wenn Renées erwachsene Tochter schwanger würde und Renée sich urplötzlich für die Rolle der Vollblut-Oma entscheiden würde? Nicht zuletzt, wo bleibt bei allem Planen, Testwohnen und Organisieren noch Raum für Renées Trauer um ihren Mann? Schließlich sorgt das unerwartete Interesse an der WG von Wille, einem alten Freund Martins, für Überraschungen. Wille ist 20 Jahre älter als Renée und bringt eine völlig andere Sicht auf die Zukunft in die Gemeinschaft ein.

Der Klappentext des Romans hat mich mit Renées jugendlichem Alter von 45 auf eine völlig falsche Fährte gebracht. Mit 45 bekommen einige Frauen endlich/doch noch ein Kind oder erfüllen sich langgehegte Träume von beruflicher Veränderung. Von der Figur Renée hatte ich mir einige Überraschungen versprochen. Dass Renée sich jedoch mit Abstand als jüngste Mitbewohnerin der geplanten WG entpuppen würde, brachte beim Lesen eine für mich unerwartete Wende zum Ernsthaften, die mich sehr positiv überrascht hat. Katja Altenhovens Figuren arbeiten in medizinischen, sozialen und Dienstleistungsberufen. Ihre alterstypische Erschöpfung und Ernüchterung im Beruf prägen natürlich ihr privates Zusammenleben. Die allwissende Erzählerstimme überfrachtet das allein durch die Zeichnung der Figuren für mich sehr spannende Buch leider mit einem sozialpolitischen und sozialpädagogischen Unterbau, den ich nicht gebraucht hätte. Vor allem nicht, wenn in dieser Gemeinschaft sozial interessierter und engagierter Personen an anderer Stelle unbedarft die Bezeichnung „Entmündigung“ für eine gesetzliche Betreuung fällt.

Mein Fazit: Ein leicht theorielastiger, überraschend ernsthafter Roman über ein Wohnprojekt Erwachsener, den ich mit Überzeugung weiterempfehle.

Bewertung vom 04.01.2017
Aquarius
Finn, Thomas

Aquarius


ausgezeichnet

Spannender Mystery-Thriller an der nordfriesischen Küste
Jens Ahrens ist von Beruf Bergungstaucher und als ausgebildeter Kampfschwimmer der Bundesmarine Realist. Als er bei Bergungsarbeiten aus einem Schiffswrack an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste verunglückt, kommt er an einem sonderbaren Ort wieder zu sich. Sein Auftraggeber wird ihm kaum glauben (und auch sonst niemand), dass er die Explosion einer Seemine überlebt haben und an der Küste angespült worden sein kann. Der Taucher findet sich zusammen mit anderen Männern in einer Art Gewölbe gefangen gehalten. Die Bewacher zeigen ein eigenartiges Interesse an der körperlichen Fitness ihrer Gefangenen. Ein Mitgefangener prophezeit, dass sie alle nur noch wenige Tage zu leben hätten. Jens gelingt die Flucht; und er wird von der Polizistin Meike Ehlers zu dem merkwürdigen Ereignis vernommen. Die junge Polizistin rückt damit heraus, dass sie gern genauer untersucht hätte, in welchen Zyklen sich an der Nordseeküste verdächtige Leichenfunde gehäuft haben. Mit ihrem Interesse muss sie offenbar einflussreichen Kreisen auf die Zehen getreten sein, die dafür sorgten, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Der Tod von Meikes Vorgängerin im Amt unter eigenartigen Umständen blieb in der Gegend nicht der einzige Todesfall. Ein mit Wasser in all seinen Erscheinungsformen vertrauter Taucher wie Sven kann kaum glauben, dass sich Wasser im Umfeld der aufgefundenen Toten sintflutartig gegen alle Naturgesetze verhalten haben soll. Gemeinsam folgen die beiden der Spur eines verschwundenen Heimatforschers, der sich mit den Mythen Nordfrieslands und speziell mit dem Untergang Rungholts befasst hat. Bei ihren gemeinsamen Ermittlungen rückt der 4000-Seelen-Ort Egirholm in den Mittelpunkt, in dem sich, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, ein erstaunliches wirtschaftliches Wachstum verzeichnen lässt. Im Zusammenhang mit Tierschutzaktivitäten und der industriellen Nutzung des Meeresbodens kann einen die Abgeschiedenheit dieser Firmengründungen auf beunruhigende Ideen bringen. Auch Svens Firma unterhält im Ort eine Niederlassung. Jens und Meike erfahren von einer Hippie-Kommune, die vor 40 Jahren eine winzige Nordseeinsel bewohnte und von angeblichen Spuren eines unheimlichen Lebewesens mit gefährlich spitzen Zähnen, das aktuell in der Gegend für Angst und Schrecken sorgt. Mit ihren Nachforschungen haben sie einen zu allem entschlossenen Gegner auf den Plan gerufen, dessen Verfolgung das ungleiche Paar entschlossen aufnimmt. Dabei scheut speziell Jens weder Gefahren, Schmerzen noch Schlammbäder. Soweit fügen sich Schauplatz, Protagonisten und Thriller-Elemente zu einer spannenden Handlung. - Thomas Finn übertreibt es dabei mit dem Infodropping. Muss man z. B. heute Lesern noch ausführlich erklären, was Geocachen ist? Über geografische und heimatkundliche Details gibt es nichts zu meckern; wenn sich jedoch Meike und Jens in den seltenen Atempausen ihrer gefährlichen Jagd mit umfangreichen Infoblöcken zutexten, wirken die Dialoge gnadenlos künstlich.

Finn siedelt seinen Mystery Thriller an der nordfriesischen Küste an, wo sich seit langer Zeit Legenden um Sirenen oder Meerjungfrauen mit dem Respekt der Bewohner für die Naturgewalten verbunden haben. Historische und mythologische Hintergründe, sowie die Ermittlungen einer Polizistin und eines erfahrenen Tauchers führen zu einem für aufmerksame Leser nicht unerwarteten, doch eindrucksvollen Showdown.

Bewertung vom 04.01.2017
Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe
Oates, Joyce Carol

Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe


ausgezeichnet

Ein starkes Buch!
Merissa scheint die von allen bewunderte erfolgreiche Modellschülerin zu sein. Am Ende des vorletzten Schuljahres erhält sie schon eine Studienplatz-Zusage für eine amerikanische Elite-Universität, sie schreibt stets Bestnoten, führt das Hockeyteam und bekommt natürlich im Schultheaterstück die begehrte weibliche Hauptrolle. Doch bei einem Blick hinter die begeisterten Fassaden sieht die Sache ganz anders aus. In der Schule und auch zuhause wagt Merissa es nicht, anderen den Rücken zuzudrehen, weil sie stets damit rechnet, dass dann etwas Gemeines über sie gesprochen wird. Als lustvoll, weil verboten, empfindet Merissa das heimliche Ritzen. Ihre Narben trägt sie wie ein verstecktes Tattoo. Der elitäre Vater-Tochter-Bund bröckelt, der die weniger intellektuelle Mutter ausschloss und aus der Zeit stammt, als Merissa noch klein und niedlich war. Die Siebzehnjährige fühlt sich als fast Erwachsene vom Vater nicht mehr beachtet. Mädchen dürfen nicht wachsen und nicht erwachsen werden, so die unterschwellige Botschaft. Merissas gesamte Lebensplanung ist der Bewerbung um den Studienplatz untergeordnet. Sie spielt nicht Hockey, weil sie es will, sondern weil es für die Bewerbung taktisch sinnvoll ist, auch Theater, Musik und ihr soziales Engagement werden taktisch klug eingesetzt. Merissa, Nadia und Tink waren einmal eine eingeschworene Dreierclique. Doch seit Tink die Freundinnen durch ihren Selbstmord verlassen hat, haben die Zurückgebliebenen umso stärker mit ihrem Gefühl der Wertlosigkeit zu kämpfen. Tink fand es nicht nötig, anderen zu gefallen und nahm dadurch die Rolle eines Anti-Paradiesvogels ein. Nadia findet sich im Vergleich zu ihrer jugendlich-kapriziösen Stiefmutter zu dick und gerät an der Schule ungeschickt in einen Strudel aus Sexting (Mobbing mit sexuellen Inhalten) und üblem Tratsch. Beiden Mädchen ist die tote Tink immer noch so nahe, dass man beim Lesen sogar an Tinks Tod zweifeln könnte. Tinks Tod wirkt auf die Mädchen so bedrohlich, dass Merissa das Wort nur mit einem Stern zensiert zu denken und zu schreiben wagt.

Joyce Carol Oates hat mich schon auf den ersten Seiten ihres neuen Jugendromans damit gefesselt, dass sie die Häme hinter der Fassade von Glück und Erfolg nur beobachtet. Die Fäden verknüpfen und die Vorgänge analysieren müssen ihre Leser ganz allein. Ihr Buch gehört zu den besten Jugendbüchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Es verursacht dieses bestimmte Kribbeln, mit dem sich ein klassischer, völlig zeitloser Text ankündigt, über den man auch noch in vielen Jahren ebenso kontrovers diskutieren kann wie heute. Die Persönlichkeit Merissas hat mich im ersten Drittel des Buches mit Abstand am stärksten gefesselt, wenn auch die Zusammenhänge erst mit der Charakterisierung der Dreier-Clique deutlich werden. Merissas Lebensumstände karikieren den amerikanischen Traum vom Aufstieg aus eigener Kraft, halten überehrgeizigen Eltern den Spiegel vor und entlarven nicht zuletzt die Häme, die die Beziehung zwischen den Jugendlichen vergiftet. Ein starkes Buch.

Bewertung vom 04.01.2017
Papa hat sich erschossen
Jungnikl, Saskia

Papa hat sich erschossen


ausgezeichnet

Mit dem journalistischen Präsens werde ich mich wohl nie anfreunden können, weil es mein Sprachgefühl verwirrt. Als Saskia Jungnikl den Anruf ihrer Mutter erhält, dass ihr Vater sich erschossen hat, fließen für sie Gegenwart und Vergangenheit ineinander, sie erzählt alle Ereignisse konsequent im Präsens, anfangs in kurzen, einfachen Sätzen. Die österreichische Journalistin nähert sich dem Schock über die Selbsttötung ihres Vaters über seinen Nachlass im Elternhaus, der seine vielfältigen Interessen zeigt, und entfaltet dann atmosphärisch dicht das Leben eines Mannes, der rastlos nach neuen Herausforderungen suchte, ein Studium der Publizistik und eine Ausbildung als Regisseur und Dokumentarfilmer absolvierte. Seine Erziehung und sein Einfluss auf die Tochter sind unverkennbar.

Die Autorin wurde als drittes Kind der Familie nach zwei Söhnen geboren. Till, der zweite Sohn, war durch Ereignisse kurz nach seiner Geburt geistig behindert. An dieser Stelle wird deutlich, welchen Sinn die Überlappung der Ereignisse in der Erinnerung der Autorin haben; denn der Vater tötete sich an Tills Geburtstag, vier Jahre nach Tills Tod. Ein doppelter Todesfall in der Familie erschwert allen betroffenen Angehörigen den Trauerprozess. In der Familie Jungnikl richten die beiden Todesfälle den Blick auf die besondere Beziehung zum behinderten Bruder als Mittelpunkt der Familie. Deutlich wird, dass Männer mit dem Schicksal einer Behinderung in der Familie anders umgehen als Frauen. Auch Saskia Jungnikls Vater hat in besonderer Weise mit Tills Schicksal gehadert. Der biografische Teil des Buches, der das Familienleben im Burgenland schildert, die Erziehung der Kinder, die Musikerkarriere des Vaters, seinen spät gefunden christlichen Glauben, seine Arbeit als Autor und Regisseur, lesen sich so fesselnd, dass ich mich gefragt habe, warum über diesen vielseitigen Vater keine eigene Hardcover-Biografie mit seinem Foto auf dem Umschlag erschienen ist.

Breiten Raum nehmen die Suche der Angehörigen nach den Gründen des Suizids ein und ihr Grübeln, wer von den Ängsten und Depressionen des Vaters gewusst haben sollte. Ob überhaupt die winzige Möglichkeit bestanden hätte, einen stets so konsequent handelnden Mann zu überzeugen, seine Depression behandeln zu lassen, fragen sich die Hinterbliebenen. Recherchen zum Thema allgemein ergeben, dass Männer im Alter seltener an Depressionen leiden als Frauen, wenn sie daran erkranken jedoch größere Probleme haben, den Tunnel wieder zu verlassen, der direkt auf die Selbsttötung zuzuführen scheint.

Drastische Kritik übt Saskia Jungnikl an der eigenen Profession. Zwar gibt es - in Deutschland - ein Netzwerk gegen Depression, das medizinischem Personal das Erkennen einer Depression erleichtern soll, die einzigen, die aus dem Kampf gegen Selbsttötungen ausscheren, sind jedoch die Journalisten. Der so genannte Werther-Effekt belegt empirisch, dass eine sensible und zurückhaltende Berichterstattung über aktuelle Fälle die Zahl der Suizide messbar verringert, während sensationsgierige Berichte die Selbstmordzahlen in die Höhe schnellen lassen.

Saskia Jungnikl berichtet von ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen nach dem Suizid ihres Vaters, sie gibt sehr berührend Einblick in das Leben mit einem geistig behinderten Angehörigen und zeigt ihren Lesern, wie Selbsttötungen die Familienbeziehung aus dem Gleichgewicht bringen können.

Bewertung vom 04.01.2017
Eines Morgens in Paris
Richardson, Charles Scott

Eines Morgens in Paris


weniger gut

Charles Scott Richardson erzählt die Geschichte des Pariser Bäckers Émile Notre-Dame, der nicht mehr der Alte ist, nachdem er vom Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs zurückgekehrt ist. In seiner Abwesenheit haben seine Frau, sein kleiner Sohn Octavio und der fast blinde Uhrmacher Grenelle die Bäckerei weitergeführt. Klugerweise hatte Émile seinen Sohn aus der Schule genommen und in seinem Handwerk ausgebildet, als sich herausstellte, dass Octavio wie sein Vater wortblind ist, also unter Legasthenie leidet. „Ich war auch nicht so sehr für die Schule“, reagiert der Vater lapidar auf die Nachricht von den Schulproblemen seines Sohnes. Vater und Sohn verbindet die Liebe zu Geschichten. So konnten sie sich vor dem Krieg unverdrossen damit beschäftigen, wie wohl das hölzerne N aus dem Wort Boula-n-gerie von der Hausfassade verschwunden ist und was es in der Zwischenzeit erlebt hat. Beide Männer brauchen anstelle der Schrift Bilder im Kopf, die sie beim Erzählen zum Leben erwecken. Wie dramatisch das Trauma des Vaters sein muss, wird daran deutlich, dass er auch 10 Jahre nach Kriegsende noch immer Octavios besondere Zuwendung braucht. Verknüpft mit dem Schicksal der Familie Notre-Dame sind weitere Personen, eine Buchhändlerfamlie mit einem Stand am Pont des Arts, ein Künstler, der wegen Talentlosigkeit seinen Studienplatz an der Akademie verliert, und eine junge Restauratorin im Louvre. Die Verbindung zwischen ihnen bilden eine bestimmte Zeichnung und Bücher. Henri Fornier, Enkel und Sohn von Buchhändlern, hat eine sehr persönliche Art, mit Büchern umzugehen, die den sehr großen Bogen dieser Geschichte am Ende wieder schließt.

Richardsons Roman besteht aus vielen kurzen Abschnitten, die zu verschiedenen Zeiten spielen und eine der vielen Personen zum Mittelpunkt haben. Normalerweise mag ich es gern, mir die Handlungsfäden und die Familienverhältnisse in einem Roman aus einzelnen Hinweisen selbst zusammenzusuchen. Für eine so kurze Geschichte, die auch noch den Anschein erweckt, ein atmosphärisches Wohlfühlbuch zu sein, finde ich die gewählte Form unpassend. Gerade im Zusammenhang mit dem Beruf des Autors als Buchkünstler hätte es sich angeboten, die Kapitel mit Jahreszahlen oder kleinen Vignetten zu kennzeichnen, so dass Leser sofort erkennen, mit wem sie es in der Geschichte gerade zu tun haben. Die Sprache finde ich in ihrer Verschachtelung nicht zum Milieu und zur Zeit der Handlung passend. Mir hat in Richardsons Text einmal der sinnliche Zugang zur praktischen Arbeit gefehlt, dann die Perspektive eines Kindes, das im Milieu selbstständiger Handwerker aufwächst und zuletzt hätte ich von einem preisgekrönten Autor erwartet, dass er mehr zeigt, als er behauptet. Krasses Beispiel für einen schlechten Text war m. A. die - fehlende - Beschreibung des Uhrmachers Grenelle, der mal ein Uhrmacher, dann ein blinder Uhrmacher und schließlich ein halbblinder Uhrmacher sein soll. Ein sorgfältiger Autor hätte Grenelles Verhalten so beschrieben, dass ich selbst erkennen kann, wie stark der Uhrmacher behindert ist und es wäre nicht zur Verwirrung durch widersprüchliche Beschreibungen gekommen.

Das Buch enthält zwar einige Juwelen der Erzählkunst, die nach meinem Geschmack jedoch zu schwer zu entdecken sind. Meine Erwartung hat sich nicht erfüllt, hier eine bezaubernde Geschichte oder bezaubernde Personen zu finden.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Interessanten
Wolitzer, Meg

Die Interessanten


sehr gut

Für zwei Ferienmonate eines Jugendlichen im privaten Sommerlager Spirit in the Woods zahlen wohlhabende Familien 7000$. Für diesen Preis können die Teilnehmer Kultur pur inhalieren, Theater spielen oder an den Webkursen der Isländerin Gudrun teilnehmen. Julie Jacobson, die sich später Jules nennen wird, bekommt einen Freiplatz im Camp, weil kurz zuvor ihr Vater gestorben ist. Jules trifft hier Jugendliche, die Bücher von ihrer Leseliste für die Schule mitgebracht haben und die Heinrich Böll lesen. Der Aufenthalt im Camp sollte die künstlerische Begabung der Teilnehmer wecken und hat das bei vielen auch getan. Jules und Ethan sind aufgrund ihrer Herkunft im Camp Außenseiter, denen die Codes der Reichen bisher fremd waren. Ethan zeichnet schon als Jugendlicher Comics und wird seinem Lebensthema treu bleiben. Ein Treffen von Jules, Ethan, Ash, ihrem Bruder Goodman, Cathy und Jonah hält wie der Blick durch ein Vergrößerungsglas einen Tag im Leben der Siebzehnjährigen fest.

Ein Ferienlager ist eine Stufe auf dem Weg ins Erwachsenenleben; hierher kommt nur zurück, wer später auf die Seite der Betreuer wechselt. Nach diesem Sommer werden die Kinder wohlhabender Eltern ein Studium beginnen und ihren vorgezeichneten Weg gehen. Jules Zukunft wird ein Studium der Sozialpädagogik sein und eine Tätigkeit als Therapeutin. Weder sie noch ihr Mann Dennis werden die Kredite abzahlen können, die sie für ihre Ausbildung aufgenommen haben. Von den Weggefährten, die sich damals konspirativ in einem der Tipis trafen, werden Ash und Jules und ihre späteren Ehemänner durch gute und schlechte Zeiten hindurch miteinander befreundet bleiben. Ein Camp-Teilnehmer wird einen homosexuellen Partner finden und einer wird auf der Flucht vor der Polizei untertauchen und Zeit seines Lebens auf der Flucht vor den US-amerikanischen Behörden sein. Die frisch geknüpften Paarbeziehungen lassen Anfang der 80er zwei der Teilnehmer zurück wie zu spät an den Abflugort gekommene Zugvögel. Das Ferienlager hält sich die ganze Zeit wie der Souffleur eines Theaterstückes bereit, bis auch es einen letzten Auftritt hat.

Die Ausgangssituation der in gegensätzlichen Verhältnissen lebenden Paare wirkt anfangs noch unspektakulär. Schicksalsschläge und Richtungswechsel fordern die Freundschaft der Ex-Campgefährten immer wieder heraus. Nicht alle talentierten Menschen werden Erfolg als Künstler haben, kann man den Schicksalen der sechs im Focus stehenden Teilnehmer entnehmen. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Handlung Jules Neid auf die luxuriösen Verhältnisse, in denen Ethan und Ash leben. Geld beruhigt zwar, macht hier jedoch nicht glücklich und kompliziert die Beziehungen. Wenn Ethan als Entwickler von Animationsfilmen zu den 100 einflussreichsten Amerikanern gezählt wird und die besten Freunde sich gerade so eine Zwei-Zimmer-Wohnung leisten können, wirft das ebenso Konflikte auf wie die Geburt eines entwicklungsgestörten Kindes in einer der Familien. Der Sohn auf der Flucht hinterlässt eine Lücke in seiner Familie, die sein Vater unbedingt durch eine andere Person schließen will. Thematisiert werden schwere Krankheiten, AIDS, Behinderungen und Depressionen.

Die Handlung des Romans umfasst rund 40 Jahre, von der Amtsenthebung Nixons 1974 bis in die Zeit nach 9/11. Erzählt wird nicht linear, die Autorin wechselt zwischen Ereignissen der Gegenwart und Rückblenden. Wer sich für die 80er und 90er interessiert, wird die Kulturszene mögen, in der Ash und Ethan erfolgreich sind, und evtl. die Anspielung zu Alice Millers im Buch genannten „Drama des begabten Kindes“ aufnehmen. Auch wenn die Handlung für meinen Geschmack nur sehr zögernd in Gang kam und mir die Figuren anfangs lange fremd blieben, war das fein geknüpfte Netz aus beruflichen und familiären Beziehungen für mich psychologisch sehr interessant.

Bewertung vom 04.01.2017
Alles Licht, das wir nicht sehen
Doerr, Anthony

Alles Licht, das wir nicht sehen


ausgezeichnet

Marie-Laure LeBlancs Vater ist in den 30ern des vorigen Jahrhunderts Herr der Schlüssel im Pariser Muséum National d’Histoire. Bei Daniel holen sich die Angestellten ihre Schlüssel für die 12 000 Schlösser des Hauses und liefern sie am Abend wieder ab. Die Förderung seiner erblindeten kleinen Tochter nimmt Daniel mit handwerklichem Geschick selbst in die Hand. Er baut ihr ein maßstabsgetreues Modell ihres Stadtviertels, bietet ihr dazu ein selbst erdachtes Mobilitätstraining und unterrichtet sie in Braille-Schrift. Marie darf die Artefakte des Museums anfassen und zu manchen bekommt sie von Wissenschaftlern des Hauses Geschichten erzählt. So trainiert das Mädchen schon als Kind alle Sinne, spürt und hört die Umgebung und verfügt über eine ausgeprägte Vorstellungskraft. Marie-Laures größter Schatz ist ihr Blindenschrift-Exemplar von "20 000 Meilen unter dem Meer". Der Zweite Weltkrieg verschlägt Vater und Tochter 1940 auf der Flucht aus Paris ins von deutschen Truppen besetzte Saint-Malo an der Atlantikküste. Auch hier im Haus seines Onkels baut Daniel für Marie-Laure wieder ein Modell der Stadt, mit dem sie in ihrer Vorstellung ihre Wege draußen vorbereiten kann. - In Essen wächst zur gleichen Zeit Werner Hausner in einem Waisenhaus auf, betreut von einer Nonne, die aus dem Elsass stammt und den Kindern einen Bezug zur französischen Sprache vermittelt. Weil Werner bemerkenswertes Verständnis für Radiotechnik zeigt, wird er auf die Eliteschule Napola der Nationalsozialisten nach Schulpforta und anschließend mit gerade 16 Jahren als Experte für das Aufspüren feindlicher Sender in den Krieg geschickt. „Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten, Hausner,“ sagt Werners Physiklehrer. Die Wege der beiden Jugendlichen streben zunächst auseinander, ein mögliches Zusammentreffen zeichnet sich jedoch schon früh ab durch das verbindende Thema Radiotechnik. Im Haus von Marie-Laures Großonkel Etienne gibt es ein Studio für die Aufzeichnung von Radiosendungen, das noch eine wichtige Rolle im französischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer spielen wird. In einem dritten Handlungsfaden jagt der Diamantenexperte Reinhard von Rumpel als kommandierender Oberst von Saint-Malo einem berühmten Diamanten nach, den er in der Stadt vermutet. Rumpel ist schwer krank und verstrickt sich mit letzter Kraft in eine absurde Kraftprobe um ein Phantom.
Indem Doerr (selbst erst 30 Jahre nach Kriegsende geboren) beide Jugendlichen in einer Ausnahmesituation aufwachsen lässt, nimmt er sich die Freiheit, den Alltag in Deutschland und Frankreich nach eigener Vorstellung zu gestalten. Die Fülle historischer Details wirkt nicht immer authentisch und der Perspektivwechsel ins Europa eines anderen Jahrhunderts gelingt Doerr nicht vollständig. - „Alles Licht, das wir nicht sehen“ wirkt sehr direkt und anrührend durch die Einzelschicksale der jungen Protagonisten. Werner in der Rolle des unentbehrlichen Technikers, der schon als Schüler das System infrage gestellt hat, ihm aber dennoch dient, vermag in idealer Weise vermitteln, warum die Menschen in jener Zeit handelten, wie sie es taten. Als Werner Zeuge wird, wie Wehrmachtssoldaten im Winter einem Gefangenen die Schuhe wegnehmen und er das als Todesurteil für den Mann erkennt oder Marie-Laures geduldiges Warten auf die Rückkehr ihres Vaters aus der Haft können nachhaltiger und schonungsloser berühren als nackte Zahlen über Kriegsopfer das erreichen würden. Mit dem Zusammenführen der Handlungsfäden 30 Jahre und noch einmal 60 Jahre nach Kriegsende zeigt Anthony Doerr sich als Meister des Wortes.