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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 09.10.2022
Zur Reiseliteratur um 1800
Hentschel, Uwe

Zur Reiseliteratur um 1800


sehr gut

In der Mitte des 18. Jahrhunderts explodiert die Zahl der Reisebeschreibungen, nicht nur in Deutschland. Es ist der Beginn der systematischen Welterkundung, die in unterschiedlichsten Zielsetzungen Reiseerlebnisse dokumentiert und aufbereitet. Es ist eine Zeit des Sammelns und Kategorisierens und die Geburtsstunde vieler neuer Wissenschaftsdisziplinen.

Uwe Hentschel setzt mit seinem Titel „Zur Reiseliteratur um 1800: Autoren - Formen - Landschaften“ die Grenzen seiner Untersuchung sehr weit, was gewisse Erwartungen weckt.

Er unterteilt sein Buch in drei Hauptkapitel, die jeweils einen anderen Blickwinkel einnehmen. In „Autoren“ stellt er exemplarisch vier Reiseschriftsteller vor, die unterschiedliche Ansätze verfolgten: Gotthold Friedrich Stäudlin ist ein Vertreter des schwärmerischen Philhelvetismus, der die vermeintlich freiheitliche Gesellschaftsordnung der Schweiz glorifizierte. Joachim Heinrich Campe, Onkel des berühmten Verlegers Julius Campe, hatte mit seinen Abenteuergeschichten und kindgerechten Erdbeschreibungen einen erzieherischen Bildungsauftrag, während Garlieb Merkel vor allem die Vermarktbarkeit seiner Berichte im Auge behielt. Er gehörte zu den ersten Reiseschriftstellern, die von ihrer Kunst zu leben versuchten und zu diesem Zweck vermischte er regelmäßig Erlebtes und Fiktion miteinander. Carl Friedrich Zelter, bekannt als Komponist und ausgebildeter Maurer, ist zwar auch literarischer Dilettant, aber sein enger Freund Goethe förderte die Publikation seiner interessanten Reisebriefe.

Schon in dieser Aufzählung fällt auf, was sich dann im weiteren Verlauf verfestigt. Ein wichtiger, aus meiner Sicht sogar der wichtigste Aspekt aufklärerischer Reisebeschreibungen führt in Hentschels Untersuchung ein absolutes Nischendasein: Die Erweiterung naturwissenschaftlicher und ethnologischer Erkenntnisse. Wie viele Geisteswissenschaftler fällt auch Hentschel dem Irrtum anheim, Goethe sei ein ernstzunehmender Naturwissenschaftler gewesen. Goethe ist aber auch als Reiseschriftsteller nie besonders hervorgetreten (seine italienischen Reiseskizzen waren singuläre Versuche und erschienen auch erst ab 1816, also 30 Jahre nach der eigentlichen Reise) und doch weht dem Leser Goethes Geist auf jeder Seite entgegen. Der Kosmos, den Hentschel beschreibt, erscheint auf eine seltsame Weise in sich geschlossen: Fast alle Autoren hatten direkte oder indirekte Kontakte miteinander und oft ist Goethe ein Kondensationskeim. Sie bewegen sich ausschließlich in literarischem Umfeld, kommen ausschließlich aus dem deutschsprachigen Raum und außereuropäische Expeditionen werden von Hentschel mit keiner Zeile bedacht. Erkenntnistheoretische, geografische, ethnologische oder naturwissenschaftliche Entwicklungen, die von der Reiseliteratur um 1800 geprägt oder sogar erst angestoßen wurden, werden von Hentschel nicht diskutiert.

Das Kapitel „Formen“ stellt anhand beispielhafter Publizisten und Autoren die Wahrnehmung und sekundäre Informationsverarbeitung in den Fokus. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht verbreitete Kategorie der „malerischen“ (aber selbst erlebten) Reisebeschreibung steht im Kontrast zu den zur gleichen Zeit unternommenen, vergeblichen Versuchen, monografisch alles Verfügbare auszuwerten und zu publizieren. Auch hier ist die Beschränkung auf rein deutschsprachige Autoren und europäische Reisen (mit einem starken Fokus auf die Grand Tour Ziele) auffällig, die sich im Kapitel „Landschaften“ fortsetzt. Hier werden die Grenzen sogar noch enger gesetzt: Berlin, Böhmen, die Schweiz und Straßburg bilden den geografischen Rahmen, um exemplarische Annäherungen an unterschiedliche Landschafts- (und Lebens)formen darzustellen.

Obwohl meine eigene Erwartungshaltung aufgrund von Titel und Klappentext nicht erfüllt wurde und ein fast ausschließlich literaturwissenschaftlicher Grundton vorherrscht, hat mir das Buch doch einige Erkenntnisse beschert. Die sorgfältig recherchierten biografischen Hintergründe der Autoren, ihre gesellschaftliche Verortung, ihre Netzwerke, all das sind interessante Informationen, die auch einem Leser mit naturwissenschaftlichem Hintergrund Nutzen bringen. Dass Alexander von Humboldt nur ein einziges Mal in einer Randnotiz erwähnt wird (und im Register nicht einmal geführt wird), sein Bruder Wilhelm mit einer unbedeutenden Reiseschrift dagegen mehr als ein Dutzend Mal (ja richtig, Wilhelm ist nämlich im Gegensatz zu Alexander mit Goethe gereist), mag exemplarisch für Hentschels Tunnelblick sein. Aber am Ende jeden Tunnels gibt es immer auch ein kleines Licht.

Bewertung vom 05.10.2022
Die Wissenschaft von Mittelerde

Die Wissenschaft von Mittelerde


ausgezeichnet

Bevor J. R. Tolkien mit dem Schreiben seiner Mittelerde-Romane begann, existierte dieses Fantasy-Universum weitgehend vollständig in seinem Kopf. Die Konsistenz der Erzählung, die bis ins Detail logischen Beziehungen, geschichtlichen Hintergründe und Mythologien sind auch für heutige Leser immer noch beeindruckend, dass Tolkien aber auch auf der wissenschaftlichen Seite mit ähnlicher Präzision vorging, ist vielleicht weniger bewusst.

Kürzlich erschien ein Buch zur „Wissenschaft von Star Trek“, in dem die Technologien an Bord der Enterprise auf den Prüfstand gestellt wurden, mit manchmal verblüffenden Erkenntnissen. Dass man ähnliches auch für Fantasywissenschaften entwickeln könnte, wäre mir auf den ersten Blick nicht in den Sinn gekommen, denn Mittelerde befindet sich technologisch im tiefsten Mittelalter und Magie ist bekanntlich etwas für Illusionisten und kleine Kinder. Aber wie sagte Arthur C. Clarke schon einmal sehr hellsichtig: Eine hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden. Auf diesen Standpunkt stellen sich die Autoren von „Die Wissenschaft von Mittelerde“ und plötzlich sind viele Dinge in "Herr der Ringe" nicht mehr ganz so phantastisch, sondern geraten in den Bereich des Möglichen. Unsichtbarmachende Tarnkappen, sprechende Bäume, Orks ... wenn man nur lange genug darüber nachdenkt, haben sie wissenschaftliches Potenzial. Auch die evolutionären Stammesgeschichten von Elfen, Hobbits und Menschen kann man „ernsthaft“ untersuchen, genauso wie die (von Tolkien sehr ernsthaft entwickelten) Sprachen und die vielfältige Tierwelt Mittelerdes.

Die Autoren bewegen sich mit großer Sicherheit in Tolkiens Universum und verschmelzen Informationen aus allen Werken (was wieder einmal Tolkiens Talent für kongruentes Schreiben belegt), manchmal nehmen sie mir den Text allerdings ein wenig zu ernst und verlieren die Distanz zur Fantasy-Welt. Trotzdem sind ihre Gedanken und Analysen sehr aufschlussreich und beleuchten Tolkiens Motivation und Inspiration bei der Entwicklung von Mittelerde und seiner (Vor)Geschichte.

Arnaud Rafaelians Zeichenstil ist naturalistisch, wenn auch mit Schwächen bei der Darstellung der korrekten Perspektive, sowohl in der Architektur als auch bei Lebewesen. Es gibt aus meiner Sicht Fantasyzeichner, die sich eher empfohlen hätten. Das Gesamtlayout des Buches ist dagegen sehr geschmackvoll gelungen, mit leisen Anklängen an mittelalterliche Folianten, viel Buchschmuck und großzügiger Seitenaufteilung.

„Die Wissenschaft von Mittelerde“ wirft einen frischen Blick auf Tolkiens Welt und analysiert sie, ohne sie zu entzaubern. Es ist doch immer wieder erstaunlich, dass unter jeder Schale, die man von ihr entfernt, eine neue erscheint, die in sich meist wieder logisch geschlossen ist.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 04.10.2022
Professionelle Anlagestrategien für die Börse
Binder, Steffen

Professionelle Anlagestrategien für die Börse


gut

Welcher Anleger möchte nicht schon heute wissen, welche Aktientitel morgen erfolgreich sind? Gibt es Faktoren, die bei allen Highperformern vorhanden sind? Steffen Binden hat in seinem Buch "Professionelle Anlagestrategien für die Börse" einen auf den ersten Blick überzeugenden Ansatz gefunden.

In einem ersten Schritt hat er auf Basis frei zugänglicher Daten die langfristige Performance von 40 deutschen Unternehmen am Aktienmarkt (DAX/MDAX) seit 1990 analysiert. Dabei haben sich erhebliche Unterschiede aufgetan: Aus 1.000 Euro anlegt in SAP wurden Ende 2020 140.571 Euro, während die gleichen 1.000 Euro bei Commerzbank-Aktien nur noch 185 Euro wert waren. Soweit keine große Überraschung.

Im zweiten Schritt hat Binder dann ein Ranking mit der prozentualen Gesamtrendite der einzelnen Aktien sowie ein weiteres mit dem absoluten Wertgewinn erstellt und dieses Ranking gegen verschiedene Kennzahlen wie Umsatz, Umsatzwachstum, Marge, Dividende etc. statistisch getestet, um ihren Einfluss auf die Performance der Aktien zu ermitteln. Auch nicht-finanzielle Variablen wie z. B. Branche, Zahl der CEO-Wechsel oder Skandale waren dabei. Insgesamt flossen 30 Faktoren in seine statistische Analyse ein und Binder ist anschließend verschiedensten Fragestellungen nachgegangen: Haben Aktien mit hoher Schwankung (also hohem Risiko) auch eine hohe Rendite? Gibt es Unternehmen, die ihren Erfolg phasenweise oder über die Jahrzehnte eine recht konstante Rendite erzielen? Gibt es fundamentale Faktoren, die im Zusammenhang mit erfolgreicher Performance stehen?
Nach Binder haben Ankeraktionäre (Anteil > 25 %) einen sehr hohen positiven Einfluss, während eine hohe staatliche Regulierungsintensität genau das Gegenteil bewirkt. Er deckt aber noch weitere Einfluss- und Nichteinflussfaktoren auf.

Der Researchspezialist hat so allgemeingültige Erfolgsfaktoren mit Hilfe statistischer Methoden und qualifizierter Analysen identifiziert. Er weist aber darauf hin, dass sich seine Aussagen auf langfristige Zeiträume beziehen, denn die Untersuchungen haben auch gezeigt, dass bei den meisten Unternehmen die Performance der Aktie nicht stabil erfolgt, die Rendite häufig springt und Rückschläge jahrelang anhalten können.

Binder hat nur 40 deutsche Unternehmen aus dem DAX und MDAX in seine Untersuchungen einbezogen, und dies auch nur für die letzten 30 Jahre. Statistisch ist das eine sehr kleine Grundgesamtheit, um daraus allgemeingültige Schlüsse zu ziehen und das Jahr 1990 setzt auch kurz nach dem Börsencrash von 1987 an, wodurch die spätere Erholung, die sich sehr lange hinzog, komplett mitgenommen wird. Es gibt noch weitere Randbedingungen, die den Datensatz verzerren („Bias“) und daher halte ich es für fragwürdig, ob diese Analyse statistisch sinnvoll ist, um allgemeingültige Erfolgsfaktoren zu bestimmen. Die Verwerfungen in 2022 (Zeitwende: Ukraine-Krieg, Inflation, Lieferkettenstörungen...) finden ebenfalls noch keine Berücksichtigung und da es keine vergleichbaren Präzedenzen im Analysezeitraum gab, lassen sich die Ergebnisse auch nicht einfach übertragen. Dennoch halte ich die Idee für interessant und die Einflussfaktoren wirken wahrscheinlich unterschwellig weiter, auch wenn sie vielleicht an Bedeutung gegenüber anderen Marktfaktoren verlieren. Leider werden die Rohdaten nicht zum Download bereitgestellt, damit man auch eigene Auswertungen machen und die Angaben überprüfen kann. Interessant fand ich die Fallbeispiele der erfolgreichsten und der erfolglosesten Unternehmen, die zeigen, worauf Anleger ein besonderes Augenmerk haben sollten.

Mit den genannten Einschränkungen ist die Analyse für Privatanleger geeignet, die neben ETF-Investitionen auch auf Einzeltitel setzen möchten.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 02.10.2022
IT-Sicherheit

IT-Sicherheit


ausgezeichnet

Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass in den Medien von einem Cyberangriff auf Unternehmen, Behörden und andere Institutionen berichtet wird. Insbesondere Ransomware - ein Erpressungstrojaner - stellt eine existenzielle Bedrohung dar, denn durch die zunehmende Vernetzung wächst die Angriffsfläche und jedes Gerät stellt dabei ein potentielles Einfallstor dar.

In ihrem Buch zeigen Michael Lang und Hans Löhr zusammen mit 16 Experten aus Praxis und Hochschule, wie erfolgreiches IT-Sicherheitsmanagement aussieht. Die Zielgruppen des praxisnahen Ratgebers sind dabei vor allem IT-Systemverantwortliche und -manager, interne und externe Berater sowie Informatikstudenten.

In 15 unabhängigen Kapiteln beleuchten die Autoren alle relevanten Themen rund um die IT-Sicherheit. In den einleitenden Kapiteln vermitteln sie, welche Angriffstechniken und Angriffswege in der Praxis vorkommen und wie man sich mit Sicherheitsmechanismen dagegen schützen kann. Dabei gehen sie auf die wesentlichen Grundprinzipien der IT-Sicherheit ein. Wesentlich ist zum Beispiel, dass man die möglichen Bedrohungen in einem IT-Produkt kennt, sei es durch absichtliche Handlungen (Angriff) oder natürlichen Einfluss. Was sich einfach anhört, gestaltet sich in der Praxis schwierig (Stichwort: das unbekannte Unbekannte). Da es eine 100-prozentige Sicherheit nicht gibt, heißt es abzuwägen, zu priorisieren und wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Aber auch Themen wie z. B. Organisation, rechtliche Rahmenbedingungen, Datenschutz und -sicherheit, Standards, Zertifizierungen und Reifegradanalysen sowie das ebenso wichtige Thema Bedrohungs- und Risikoanalysen werden fachkompetent für den Leser aufbereitet.

In verständlicher, sachlicher Sprache und mit vielen Grafiken und Infoboxen gelingt es den Autoren, die für manchen trockene und teilweise komplizierte Materie systematisch und praxisnah zu vermitteln. (Fast) jedes Kapitel enthält am Ende eine Zusammenfassung sowie umfangreiche Empfehlungen für weiterführende Literatur. Allerdings hätte ich mir in einigen Kapiteln mehr Hilfestellung gewünscht, wie z. B. Checklisten, Musterdokumente und Beispiele, die für das Verständnis und bei der praktischen Umsetzung sicherlich hilfreich wären. Auch wäre ein Glossar mit den wichtigsten Fachbegriffen und Abkürzungen eine sinnvolle Erweiterung.

Mit dem im Buch abgedruckten individuellen Code kann das zugehörige eBook als PDF- oder ePub-Datei heruntergeladen werden. Die so erzeugten eBooks werden mit einem digitalen Wasserzeichen versehen, sind dafür aber DRM-frei. Ein schöner Zusatznutzen, die sich andere Verlage gerne extra bezahlen lassen.

Die besonderen Stärken des Buches liegen in der umfassenden, verständlichen und vor allem praxisnahen Darstellung des Themas. Alle Kapitel sind eigenständig, und auch wenn verschiedene Autoren mitgewirkt haben, wirkt das Buch - dank der beiden Herausgeber - insgesamt homogen und die Kapitel fügen sich zu einem einheitlichen Bild zusammen. Auch wer sich gezielt mit einem bestimmten Thema beschäftigen will, erhält mit den Fachbeiträgen jeweils eine abgeschlossene Darstellung.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 30.09.2022
Die Känguru-Comics: Also ICH könnte das besser
Kling, Marc-Uwe

Die Känguru-Comics: Also ICH könnte das besser


ausgezeichnet

Den Film hatte ich nach 10 Minuten ausgeschaltet. Ein kommunistisches Känguru als Realanimation hat einfach nicht funktioniert. Es ist mehr was für die kurze Form, denn nach spätestens 10 Minuten gehen mir kommunistische Kängurus immer schon auf den Senkel. Ich kenne das noch aus dem Studium, da liefen nämlich einige davon rum. Heute hüpfen woke-aktivistische Kängurus durchs Auditorium, die gehen mir aber auch nach 10 Minuten auf den Senkel.

Die Känguru-Comics machen den Fehler jedenfalls nicht. Es sind kurze Strips aus maximal vier Bildern, samstags auch mal neun, die Pointe kurz auf den Punkt gebracht, gerade richtig für Leser wie mich, der ich die Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens habe. Die Pointe sitzt dann wie ein Känguruboxhandschuh auf Marc-Uwes Auge. Es werden auch nicht die Kalauer aus den Büchern als Comicstrip recycelt, sondern man bekommt ganz neue Unverschämtheiten und weise Weisheiten eingeflößt.

Wir verdanken die Gedanken übrigens dem Coronavirus, der Marc-Uwe von seiner normalen Arbeit auf der Bühne fernhielt und mit dem genialen Zeichner Bernd Kissel zusammenbrachte, der seine Figuren so sehr verinnerlicht hat, dass sie auf dem Papier lebendiger werden als das peinliche, bewegliche Animationstier im Film. Das ist rundum gelungen und wie sich Zeichner und Texter die Bälle zuspielen, wie sie (etwas völlig Neues im Känguru-Universum) nicht nur Wort-, sondern auch Bildwitz umsetzen, das hat Stil. Nicht jeder Gag sitzt gleich gut, aber was erwartet man, wenn jeden Tag ein neuer ausgebrütet werden MUSS. Wie bei der Trilogie sollte der Leser einen gewissen Bildungshintergrund haben, weder Aluhüte tragen, noch die Invasion außerirdischer Echsenmenschen fürchten. Eine menschenfreundliche Einstellung hilft beim Verständnis ebenso wie Sinn für Humor.

In diesem Band ist das erste Corona-Jahr gesammelt. Da das Team Kling-Kissel seitdem fleißig weiter gearbeitet hat, ist mit einem Folgeband wohl in Kürze zu rechnen. Ich bitte darum. Sogar meine Aversion gegen kommunistische Kängurus hat sich etwas gelegt. Eigentlich ist das Tier ganz süß. Von vorne sieht es aus wie ein Hase, von der Seite wie ein Esel. Knuffig.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 27.09.2022
Folding Techniques for Designers Second Edition
Jackson, Paul

Folding Techniques for Designers Second Edition


ausgezeichnet

Origami, die Kunst des Papierfaltens, ist die alte japanische Technik, ein zweidimensionales Blatt Papier dreidimensional zu gestalten. In Japan stehen abstrakte Formen weniger im Vordergrund, sondern meist der Versuch, naturalistische Abbilder zu schaffen und das oft mit staunenswerter Virtuosität.

Papier kann aber auch im abstrakten Sinn künstlerisch eingesetzt werden oder als Modell für Geometrien dienen, die sich technisch aus flachen Elementen produzieren lassen. „Folding Techniques for Designers“ vermittelt mithilfe von aus dem Origami abgeleiteten Anleitungen die notwendigen Kenntnisse, um komplexe Formen zu falten. Der auf dem Cover abgebildete Torus steht beispielhaft für Objekte, denen ein regelmäßiges, mathematisches Konstruktionsprinzip zugrundeliegt, aber es werden auch Techniken vorgestellt, die dem freien künstlerischen Gedanken mehr Raum geben.

Alle dargestellten Formen sind aus 100 g/m2 Papierbögen gefaltet. Der Autor macht zwar keine Angaben zur Papierqualität, aber das ist auch ein Freiheitsgrad bei der persönlichen Gestaltung. Ferner braucht man ein Lineal und je nach Komplexität auch einen Winkelmesser und ein Skalpell. Das Skalpell wird vor allem zum Prägen von scharfen Falzlinien mit dem Rücken gebraucht, geschnitten wird bei den Modellen selten.

Die Anleitungen nutzen die auch im Origami verwendete Falt-Notation, die sehr anschaulich und leicht zu erlernen ist. Zusätzlich werden die Grundtechniken auch noch in insgesamt 10 Videos gezeigt. Man braucht in jedem Fall ein bisschen Übung, insbesondere um saubere (und parallele) Gegenfalze ohne störende Knicke zu produzieren. Neben der Anleitung finden sich sehr ästhetische s/w Fotografien der Modelle, von denen einige zweifellos eigenen Kunstwert haben. Da der Autor aus Anschaulichkeitsgründen nur weißes Papier nutzt, ist der Effekt von Farbe noch gar nicht angeschnitten und eröffnet viele weitere Möglichkeiten. Die Zielgruppe sind Designer und Künstler. Daher wird auch das wichtige Thema Copyright adressiert, denn Faltobjekte sind in einigen Fällen geistiges Eigentum, für dessen kommerzielle Nutzung man Tantieme zahlen muss.

Einige der vorgestellten Formen sind wirklich außergewöhnlich und man kann kaum glauben, dass sie aus einem zweidimensionalen Blatt überhaupt entstehen können. Die Präzision und die damit einhergehenden Licht- und Schatteneffekte machen schon die Fotos zu eindrucksvollen Kunstwerken, die dritte Dimension liefert aber noch zusätzliche Lebendigkeit.

Das Buch, das schon seit einigen Jahren nur noch antiquarisch zu bekommen war, erscheint jetzt in zweiter Auflage und ist zu Recht ein kleiner Klassiker.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 23.09.2022
Wer war ich?
Willimann, Ricarda

Wer war ich?


ausgezeichnet

Jeder, der in der deutschen Humorszene einen Namen hat, kennt Ricarda Willimann. Nahezu alle verdanken ihr die eigene Karriere, sie hat mit revolutionär neuen Formaten Fernsehgeschichte geschrieben und als Gag-Produzentin, Comictexterin und Muse international Erfolge gefeiert. Die Welt der Comedy lag ihr zu Füßen, in Deutschland ebenso wie in den USA. Eine Urgewalt, deren Einfluss auf den Lauf der Humorgeschichte man niemals unterschätzen kann: Georg Kreissler verdankte ihr die Texte seiner besten Lieder, Loriot hätte ohne sie weder Dr. Klöbner noch Herrn Müller-Lüdenscheidt kennengelernt, sie hat David Letterman zum Nummer-1-Talker in den USA gemacht und Harald Schmidt seine eigene Show verschafft, sie hat Fix und Foxi ihren Stempel aufgedrückt sowie dem TITANIC-Magazin, Wigald Boning und Till Mette den entscheidenden Karrierekick gegeben. Till wer? Egal... Sie war Kleptomanin, examinierte Vollalkoholikerin, ihr Vermögensstatus war zeitlebens ungeklärt und ihr Riesenego reichte aus, einen Konzertsaal zu füllen.

Warum zur Hölle hat die Öffentlichkeit von diesem Naturereignis nie etwas gehört? Die unglaubliche Geschichte wurde erst jetzt, mehr als 10 Jahre nach Ricarda Willimanns plötzlichem Verschwinden ans Tageslicht gebracht, zufällig entdeckt in einem nachlässig abgestellten Umzugskarton im Marburger Literaturarchiv. Darin verstaut der komplette Vorlass Ricarda Willimanns, eine humorhistorische Goldmine von epochalem Ausmaß, nur vergleichbar mit der ersten Mondlandung, der Entdeckung von Tutanchamuns Grab oder der des Universalheilmittels gegen Krebs. Kaum war der Name Willimann in aller Munde, meldeten sich all jene zu Wort, die sie kannten oder zu kennen glaubten: Elias Hauck (von Hauck & Bauer), Dominik Bauer (von Bauck & Hauer), Wigald Boning (von Wildeshausen), Till Mette (von Till Mette), Joachim Gauck (von wegen) und rund zwei Dutzend weitere Willimann-Gewächse haben Gedanken, Erlebnisse und Begegnungen zu Papier gebracht, Originaldokumente, historische Tagebucheintragungen und Speisekarten gesichtet und in Erinnerungen geschwelgt.
Was für eine illustre Ausbeute, aber auch ein sehr ungewöhnliches Projekt für die Andere Bibliothek, die sich in der Regel um Autoren bemüht, bei denen man am Sargdeckel anklopfen muss. Ricarda Willimann, die Forrest Gump der Comedy, lebt. Wo, weiß keiner, sicher ist nur: Das alles ist bestimmt wieder ein riesengroßer Scherz.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.09.2022
Der Taschenanwalt
Solmecke, Christian

Der Taschenanwalt


ausgezeichnet

*** Dieses Buch wurde mir kostenfrei vom Verlag zur Verfügung gestellt. ***

Von der Wiege bis zur Bahre lauern eine Menge juristische Fußangeln. Christian Solmecke hat seinen bekannten Blog in Buchform gebracht, schön sortiert nach Lebensabschnitten und Themenbereichen. Viele Fragen, die er behandelt, habe ich mir selber auch schon gestellt, aber nicht immer kommt vor Gericht das Gleiche heraus, wie beim Einsatz des gesunden Menschenverstands. Juristen halten sich an den Gesetzestext und an sonst wenig. Was man wohl feststellen kann, dass das BGB ein wirklich klug durchdachtes Gesetzeskonvolut ist, das vor allem im privaten Umfeld vieles auf sehr nachvollziehbare Weise regelt. Vom Obstfall über Nachbars Zaun bis zum Reiserücktritt - das BGB hat die Antwort. Weniger durchdacht und handwerklich oft richtig schlecht gemacht sind Gesetze der EU Kommission oder auch neuere bundesdeutsche Machwerke aus dem ministeriellen Dilettantenstadel. Da hapert es vor allem an der qualifizierten Folgenabschätzung.

Christian Solmecke bringt alles Wesentliche kurz auf den Punkt, locker erzählt, aber selbst wenn die Fragen auf den ersten Blick witzig erscheinen, wird er niemals flapsig oder unseriös. Es geht nicht selten um ziemlich existenzielle Dinge. Solmecke zieht aktuelle Urteile zur Begründung heran, wobei allerdings immer im Hinterkopf bleiben sollte, dass der Einzelfall im Detail möglicherweise etwas anders gelagert ist. So ist z. B. die Rechtsprechung (und Buchungspraxis bei manchen Airlines) viel komplexer als sie der Autor auf einer Doppelseite darstellen kann oder der Unterschied zwischen Gewährleistung und Garantie hätte etwas deutlicher herausgearbeitet werden können. Trotzdem bekommt man einen qualifizierten und in der dargestellten Form auch richtigen Überblick.

Am unterhaltsamsten und auch sehr oft überraschend waren für mich die Antworten auf Allerweltsfragen, die im Freundeskreis schon heiß diskutiert wurden. Wenn’s eng wird, würde ich sicher nicht nur auf den Taschenanwalt vertrauen, aber als allgemeine Lebenshilfe ist es gar nicht so schlecht, einen im Bücherschrank zu haben.

Bewertung vom 16.09.2022
Der babylonische Weltschöpfungsmythos Enuma Elisch
Heinrich, Adrian C.

Der babylonische Weltschöpfungsmythos Enuma Elisch


ausgezeichnet

*** Dieses Buch wurde mir kostenfrei vom Verlag zur Verfügung gestellt. ***

Das Enuma Elisch entstand wahrscheinlich um das Jahr 1100 in Babylon und es ist bis heute der älteste, fast vollständig erhaltene Weltschöpfungsmythos. Seit am Ende des 19. Jahrhunderts die Keilschrift entschlüsselt wurde, haben sich viele Forschergenerationen mit dem Text beschäftigt, wobei England das Zentrum dieser Bemühungen war und immer noch ist. Eine deutsche kommentierte Gesamtübersetzung hat es meines Wissens nach bisher nicht gegeben und die vorliegende basiert maßgeblich auf den Vorarbeiten Wilfred G. Lamberts und Benjamin R. Fosters.

Die Übersetzung besticht durch ihren sehr differenzierten Ansatz, der nicht den Weg des geringsten Widerstands wählt und das Enuma Elisch als poetischen Text in eine flüssig lesbare deutsche Version zwingt, sondern die philologischen und linguistischen Schwierigkeiten benennt und ggf. auch Lücken an Stellen lässt, die bisher nicht zu entschlüsseln oder nur fragmentarisch überliefert sind. Das Enuma Elisch kennt zahlreiche erhaltene Versionen vom 9. vorchristlichen Jahrhundert bis in die ersten Jahrhunderte nach Christus, als die Keilschrifttradition erlischt. Zur Erleichterung des Verständnisses steht den sieben Kapiteln (den sogenannten „Tafeln“) jeweils eine kurze inhaltliche Zusammenfassung voran. Ferner gibt es eine ergänzende versbezogene Kommentierung im Anhang, in der insbesondere sprachliche Probleme und Mehrdeutigkeiten, sowie Begriffs- und Personenerklärungen behandelt werden.

Das äußerst interessante Nachwort thematisiert ausgewählte Bereiche im Licht der aktuellen Forschung. Ausführlich wird die Wiederentdeckung des Enuma Elisch beschrieben, sowie die historische Überlieferungs- und Entstehungsgeschichte. Ein weiterer Schwerpunkt ist die zugrundeliegende Mythologie/Theologie des Textes. Eine qualitativ exzellente Bibliografie ermöglicht dem interessierten Leser, sich vertieft mit einzelnen Aspekten zu befassen.

Besonders interessant waren für mich die erkennbaren Parallelen zwischen Enuma Elisch und den ebenfalls altorientalischen Texten der Bibel. Es sind weniger erzählerische Parallelen, indem bestimmte Geschichten in abgewandelter Form wieder aufgenommen worden wären (obwohl es das durchaus gibt), sondern vielmehr kulturgeschichtliche. Die Brutalität und göttliche Gewalt des Alten Testaments findet sich ungebrochen auch im Enuma Elisch wieder. Es ist eine testosteronschwangere, überaus gewalttätige Welt- und Götterordnung, in der der Stärkere das Recht innehält und den Schwächeren erbarmungslos unterwirft. Selbst nach der Weltenschöpfung geht das Blutvergießen unter den Göttern weiter, obwohl die Fronten eigentlich geklärt scheinen. Historisch gesehen scheitert das babylonische Reich an seiner eigenen Brutalität, aber wie es scheint, haben im Orient bestimmte Prinzipien bis heute überlebt, die sich auch mit noch so viel gutem politischem Willen nicht eliminieren lassen. Insofern ist das Enuma Elisch vielleicht sogar aktuell noch von Bedeutung, wenn man die Entwicklungen im Nahen Osten bewerten will.

Bewertung vom 16.09.2022
Die Herzog August Bibliothek
Burschel, Peter

Die Herzog August Bibliothek


ausgezeichnet

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Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel hat seit fast 500 Jahren einen legendären Ruf als Sammlung der kostbarsten Handschriften im deutschsprachigen Raum, wohl nur noch übertroffen von den Sammlungen des Vatikan. Peter Burschel ist derzeit ihr Direktor und er hat in dem kleinen Büchlein die Geschichte seines Hauses anhand exemplarischer Werke nachgezeichnet. So erklärt er anhand alter Bestandskataloge die Ordnungsprinzipien der alten Sammlungen, ihre Aufstellung und Wanderungen im Lauf der Jahrhunderte, er lässt Schlüsselfiguren, wie Leibniz und Lessing auftreten, die selber Bibliotheksdirektoren waren, erläutert deren Motivation und Wirkung, und schlussendlich führt er den Leser auch noch durch die erhaltenen (und nicht erhaltenen) Bibliothekssäle vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Natürlich darf auch ein Exkurs über das Evangeliar Heinrichs des Löwen (und Kunigundes von England, wie es heute geschlechtergerecht bezeichnet werden muss) nicht fehlen.

Die Bibliothek erscheint als ein lebendiger Organismus, der sich in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Ziele gesetzt hat. Es war ein Ort der Repräsentation und Macht, es ist immer noch ein Ort der Forschung, aber die Sammlung nutzt heute auch zunehmend digitale Werkzeuge, um die eigene Sichtbarkeit und Zugänglichkeit zu erhöhen. Peter Burschel fragt am Schluss, ob in digitalen Zeiten eine analoge Bibliothek überhaupt noch eine Existenzberechtigung hat und beantwortet sie mit einem überzeugten „ja!“. Und wer einmal in diesen Räumen gestanden hat, von denen viele sagen, sie seien die schönste Bibliothek der Welt, der möchte dem auf keinen Fall widersprechen.