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MB
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Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 391 Bewertungen
Bewertung vom 16.09.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


ausgezeichnet

Magisch!
Wenn du auf Lanzarote einen seltsamen Stein (der seine Temperatur verändern kann!) vom Rande eines erloschenen Vulkans in einem weiten Bogen in ebendiesen hineinwirfst - kann das dann im weit entfernten Island zu einem Vulkanausbruch führen, der den gesamten europäischen Flugverkehr lahmlegt und bewirkt, dass Pedro (königlicher Postbote ohne Post auf Lanzarote) und Carlota (seine große Liebe, die sich für ein besseres Leben als Hotelmanagerin in Barcelona von Pedro getrennt und auch den Sohn Miguel - Fan von Lionel Messi - mitgenommen hat) anlässlich der Hochzeit der Schwester wieder miteinander reden...; wenn das so ist und die Magie der alten Geschichten, die Neuerungen der neuen Zeit (elektronischer Briefverkehr) und die Folgephänomene der neuen Zeit (Fluchtbewegungen aus Afrika), Provinz und Welt (Lanzarote und Barcelona) aufeinander treffen, dann ist das - sofern es gut komponiert ist - Stoff für eine große Erzählung! Und wenn dann zusätzlich noch die großen Fragen des Lebens einen Platz finden (die Frage nach der Herkunft, der Identität und die Frage, wie es weitergeht, woher alles kommt und warum alles so ist, wie es ist), das schlichte und lebenspraktische Denken der Hauptfiguren die wahre Komplexität der Welt vergessen lässt... und wenn dann all das ein wenig märchenhaft erzählt ist, dann kann man sagen: Moritz Rinke hat mit seinem zweiten Roman ein Werk geschaffen, das das Zeug hat, dass man sich darin verlieben kann. Und dafür muss man nicht unbedingt ein Fan von Messi sein, der im Geschehen auch seine Rolle hat, genau wie 'el clásico'...
Magisch!

Bewertung vom 16.09.2021
The Comfort Book - Gedanken, die mir Hoffnung machen
Haig, Matt

The Comfort Book - Gedanken, die mir Hoffnung machen


ausgezeichnet

Wow!
Achtung: Das ist keine Unterhaltung - und by the way, ich liebe gute Unterhaltung - das ist auch keine 'Abhaltung' (Abhaltung ist schlechte Unterhaltung und hält mich davon ab, die wirklich wichtigen Dinge zu tun). Matt Haigs neues Werk ist eine 'Anhaltung' im doppelten Wortsinn: Matt Haig hält uns an, nachzudenken - und um überhaupt ins Nachdenken zu kommen, musst du den üblichen Lauf der Dinge stoppen - also anhalten, gewissermaßen. Matt Haig präsentiert uns eine große Box aus Geschichten, Weisheiten, Listen, Kochrezepten (fürs Leben???) und Krisenbewältigungsstrategien. Und rausgekommen ist kein auf die Schnelle zusammengeschriebener 'Psychophiloodersonstwas-Mischmasch'. Beim Lesen / Hören geht es von einem 'Aha! Siehe da!' zum nächsten. Dieses Werk als Lebensbegleiter, zum ständigen Nachschlagen immer dabei. Also: In den Rucksack packen, losziehen (das Leben leben)... immer wieder anhalten, Matt Haig auspacken und dich ein weiteres Mal zum Nachdenken verführen lassen. Und wo hat dieser Mann - als Mittvierziger - das eigentlich alles her? Ja klar, wahrscheinlich ist er sehr belesen; vor allem aber wird er häufig angehalten haben, wird aus sich selbst herausgetreten sein, das Selbst, die Menschen und die Welt betrachtend. Eine echte Schatztruhe fürs eigene Leben! Wow!

Bewertung vom 07.09.2021
Gegen alle Regeln / Strafverteidiger Pirlo Bd.1
Bott, Ingo

Gegen alle Regeln / Strafverteidiger Pirlo Bd.1


gut

Intelligenter Krimi!
Zunächst einmal - ein Krimi, eine neue Reihe (die wievielte schon in diesem Jahr?), diesesmal rund um einen chaotisch-charismatischen Strafverteidiger (der übrigens von der Beschreibung seines Äußeren her durchaus Ähnlichkeiten mit dem Autor Ingo Bott - Verzeihung: 'Dr. Ingo Bott' - hat, seines Zeichens Rechtexperte im Bereich Wirtschaft, wie die Hauptperson Dr. Anton Pirlo eine Wohnzimmerkanzlei als Ausgangspunkt der Karriere). Ich persönlich begrüße diese Parallelen zwischen dem Autor und seinem Protagonisten, ermöglicht es dem Autor doch, eine Menge seiner fachlichen Kompetenz in die Geschichte einfließen zu lassen. Die Story ist flott, was sich auch sprachlich in kurzen und markanten Sätzen widerspiegelt. Die Figuren sind gut gezeichnet - da ist der soeben nach einem öffentlichkeitswirksamen, gewonnenen Prozess in der Düsseldorfer Highsociety anstellungslos gewordene Strafverteidiger Pirlo, Womanizer, Lebemann, wenig berechenbar und mit zwei Identitäten ausgestattet - er ist nämlich auch der studierte Bruder aus einem berüchtigten arabischen Familien-Clan, was er sich für den aktuellen Fall auch zu Nutze macht. Und da ist seine neue Wohnzimmerkanzlei-Partnerin, die frisch ausgebildete Rechtsanwältin Sophie Mahler aus bekanntem Juristen-Hause. A nice pair! Beide finden sich für eine auf den ersten Blick aussichtlose Verteidigung. Pirlo braucht den Erfolg - und das Geld - um wieder auf die Beine zu kommen. Nach einigen Rückschlägen und Dämpfern stellt sich natürlich der Erfolg für das neue Duo ein und die Story endet folgerichtig nicht nur mit der Neugründung einer Kanzlei - mit Namen 'Recht.Schaffen' - sondern auch mit einem 'cliffhanger': Teil zwei der Serie ist vorbereitet. Es ist deshalb ein intelligenter Krimi, weil es nicht nur eine gute Story, sondern auch eine prachtvolle Lehrstunde in 'Fragetechnik' ist... und das kann man ja immer gut gebrauchen - auch außerhalb des Gerichtsaals.

Bewertung vom 06.09.2021
Mein Sternzeichen ist der Regenbogen
Schami, Rafik

Mein Sternzeichen ist der Regenbogen


gut

Geschichten erzählen kann er!
Geschichten voller Weisheit - orientalischer Weisheit! Und die dazu passende Sprache - fast schon wie aus "1001 Nacht": Wie bedeutsam und auch wieder nicht das Sternzeichen im Leben für die Liebe sein kann... Und wenn das Sternzeichen für die Liebe nicht passt, den 'inneren Neidhammel' zu zähmen. Das Geburtsdatum ist nicht wichtig - es erinnert an das wahre Alter und verhindert so, dass man nicht einfach nur so alt ist, wie man sich fühlt; das Leben vom Tod her zu betrachten hingegen zeigt, dass man durch die Liebe zu den Menschen auch über den Tod hinaus in Erinnerung bleibt.
...und weil man ja nicht weiß, ob ein Kind überhaupt seine ersten Lebensjahre überlebt, wird es nicht direkt bei der Geburt offiziell gemeldet, sondern erst Jahre danach... einige Dinge kommen dann im Leben entsprechend später - z. B. der Militärdienst.
Muss man erst einmal drauf kommen... als gehörnter Ehemann den heimlichen Geliebten der eigenen Frau in der Öffentlichkeit als 'seinen Penis' (also gewissermaßen den 'verlängerten Arm') zu bezeichnen, der für die Ehefrau ersatzweise das eigene Unvermögen ausgleicht. Wir erfahren in den kleinen Geschichten auch, dass der Teufel keine Hörner hat, aber dafür eine rote Krawatte trägt. Wir dürfen an einem internationalen Furz-Festival teilnehmen und der Anhänger 'serieller' Monogamie wird etwas über die 'Entkopplung' des Penis vom Körper erfahren. Und manchmal kommt die Rache erst spät; so treffen sich beispielsweise alle Geliebten eines Männerlebens um seinen 65. Geburtstag zu feiern - dieser wusste natürlich nichts davon, was ihm dann gleich im wahrsten Sinne des Wortes auch aufs Herz geschlagen ist...
So nett das Buch insgesamt ist - schließlich ist für jeden etwas dabei - so unterschiedlich sind auch die Geschichten und der Bogen reicht von Albernheit zu Weisheit und wieder zurück. Aber erzählen kann er, der Autor!

Bewertung vom 01.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Morbide Poesie!
Was für ein Erstling! Stefanie von Schulte ist mit "Junge mit schwarzem Hahn" ein Werk gelungen, welches sich auf eine sehr erfrischende Art von vielen aktuellen Romanen unterscheidet - gerade indem es nicht um Aktualität, nicht um einen unbedingten Bezug zu brisanten gesellschaftlichen Themen und den entsprechenden Diskursen bemüht ist. Stefanie von Schulte ist eine Geschichtenerzählerin - sie schreibt ein Märchen für Erwachsene; man könnte auch sagen es handele sich um eine Dystopie, handelnd in den Zeiten eines düster-hoffnungslosen Mittelalters voller Armut, Aberglaube, Dummheit und menschenverachtender Gewalt mit einem kleinen Lichtblick: Dem Jungen Martin mit dem schwarzen Hahn, die sich schon früh im Leben für eine Partnerschaft, ein Bollwerk gegen die Düsternis, gefunden haben. Martin verkörpert die Macht des Geistes und die Menschlichkeit; auf Martin ruht die Hoffnung der Welt! "Das Kind war ja gewaltig, weil es so ungewöhnlich und eigensinnig ist und - man möchte es nicht so gerne eingestehen - recht mutig, wenn nicht sogar klug. Unterhaltsam insgesamt. Aber die wenigsten wollen es unterhaltsam. Die meisten wollen mit ihren Fehlern in Frieden leben." - So wird die Figur des Martin eingeführt. Mit dem Maler zusammen besteht er einige Abenteuer, ist Weltbeobachter und befreit die entführten Kinder von der Gräfin, die mit einer menschenverachtenden Eitelkeit ausgestattet ist. Martin hält der Welt den Spiegel vor: "Aber Wissen und Sehen ist nicht eins. Und es ist doch tabu, das Gewusste zu sehen, darüber zu sprechen, daran zu denken oder davon zu träumen. Das ist der Tod." Und den Lesenden wird eine Sprache begegnen, die altertümlich und gleichzeitig wie für die Ewigkeit gemacht ist! Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 28.08.2021
Wir für uns
Kunrath, Barbara

Wir für uns


gut

Vorhersehbar...
Die Story ist recht nett! Und für Fans der Freitagsabendfilme im ERSTEN und Sonntagsabendfilme im ZDF sicher ein sehr guter Lesestoff. Ähnlich wie diese, das Wochenende einrahmenden Spielfilme, mit einer mäßigen und vorhersehbaren Dramaturgie ausgestattet, ein Personal, welches eine gute Identifikation ermöglicht und - Gott sei Dank, was man aber bereits vorher schon wusste - alle Krisen übersteht; eine kleine gesellschaftskritische Note - in diesem Werk ist es der (vorgeburtliche) Umgang mit Behinderung (hier das Down-Syndrom) gehört auch dazu; und was in "Wir für uns" besonders auffällt, ist die hohe Anzahl der Trennungen und untreuen Partner. Aber am Ende: Neue Partnerschaft, frische Mutterschaft, gut zahlende Erzeuger von nicht-ehelichen Kindern, die dann aber doch bei ihren Ehefrauen bleiben wollen, diese sich dann wiederum aber von dem untreuen Mann trennen, Familienversöhnungen, das große Verzeihen und die Realisierung des lang verschobenen, kleinen Lebenstraums. Wie gesagt: nett.

Bewertung vom 25.08.2021
Das Archiv der Gefühle
Stamm, Peter

Das Archiv der Gefühle


ausgezeichnet

Ein wunderbares Buch!
Ich muss ja zugeben: Ich bin schon seit vielen Jahren ein Fan der Bücher von Peter Stamm - wunderbare Sprache, Hintersinn, Sätze, die es auf den Punkt bringen, Nachvollziehbarkeit der Handlung und Geschichten, die nicht erst 800 Seiten zu ihrer wahren Entfaltung benötigen. Und auch mit seinm neuen Roman "Das Archiv der Gefühle" hat er mich nicht enttäuscht. Das Buch ist nicht in Kapiteln sondern lediglich ganz schlicht in Abschnitte unterteilt. So hat es mit seinen knapp 190 Seiten fast schon einen 'Novellen-Charakter' - und ist gleichwohl ein regelrechter Entwicklungsroman. Der Ich-Erzähler, als Archivar einer Zeitung frisch gekündigt und nicht unbedingt ein Menschenfreund, lebt zurückgezogen und übernimmt das kompeltte Archiv der Zeitung in seinen eigenen Keller. Im Leben des (namenlos bleibenden) Ich-Erzählers hat alles seine Ordnung und seinen Platz. Der Ich-Erzähler resümiert sein Leben, seine erste Begegnung mit Franziska, den ersten Kuss und die ausbleibende Liebesbeziehung mit ihr; die Liebe zu ihr wird ihn bis in die erzählte Gegenwart hinein begleiten doch zweifelt er am Ende: "... hatte ich den Alltag mit Franziska teilen wollen, oder brauchte ich sie nicht vielmehr als das, was sie mir ein Leben lang gewesen war, eine unerreichbare Liebe, eine Sehnsucht. Sie hatte mich zugleich glücklich und unglücklich gemacht in ihrer Abwesenheit. Wäre ich glücklicher gewesen mit ihr zusammen? Wovon hätte ich dann geträumt?" Die beiden Lebenswege entwickeln sich auseinander. Der Ich-Erzähler studiert nach der Schule, wird Archivar, hat Beziehungen; Franziska macht unter dem Namen 'Fabienne' Karriere als Sängerin. Er verfolgt ihren Lebensweg und legt im Archiv eine Akte zu ihrem Namen an. Mit der Kündigung seines Jobs beginnt er sein Leben zu bilanzieren, versucht Ordnung hineinzubringen, stellt aber fast schon depressiv gestimmt fest, dass alles nur eine Abfolge von Ereignissen war- ohne Zusammenhang und ohne einen roten Faden. Die 'Archivierung' seines Lebens will nicht so recht gelingen. Und je mehr er sich zurückzieht, seinen Erinnerungen ausgesetzt, je mehr er den Menschen aus dem Weg geht, desto mehr denkt er an Franziska und fantasiert sie in sein Leben hinein. Der Versuch, die Gefühle zu archivieren scheitert. Über seinen Kontakt zur Zeitung kommt er an Franziskas Mailadresse - und sein Leben kommt in Bewegung; aber bis zur Wiederbegegnung nach vielen Jahren wird es noch etwas dauern; aber eins sei verrraten - er entsorgt das Archiv! Die Entwicklung, die der Protagonist durchläuft reicht von ""Ich bin immer nur der Dabeiseiende gewesen. Ich bin, der ich bin. Eine Leerstelle." hin zu "Jetzt gibt es nur noch meine Geschichte, die Akte, die mein Leben ist und die mir plötzlich viel größer, viel wichtiger erscheint, wo alle anderen verschwunden sind. ... Es könnten die ersten Tage meines Lebens sein. Das Archiv ist weg, das Haus geputzt und aufgeräumt,... etwas Altes könnte abgeschlossen werden, etwas Neues beginnen." Unbedingte Leseempfehlung fürs nächste Wochenende! Wunderbar!

Bewertung vom 22.08.2021
Dreieinhalb Stunden
Krause, Robert

Dreieinhalb Stunden


sehr gut

Geschichte erleben!
Der Tag des Mauerbaus am 13.08.1961 - sechzig Jahre vor dem Erscheinen des auch fürs 'Öffentlich-rechtliche TV' umgesetzten Romans 'Dreieinhalb Stunden' von Robert Krause. Das Szenario: Der Interzonenzug von München nach Berlin; Mehrere Schicksale; Menschen, die sich entscheiden müssen - gegen die Heimat oder für die Freiheit, die vermeintliche, zurück in den Osten, oder den Zug vor der Grenze zu verlassen. Da ist der Flugzeugbauer mit seiner Familie, sich im Westen eine bessere Zukunft als Ingenieur erhoffend, nach München gereist, um seiner technisch versierten Tochter einen Motor für ihr Modellflugzeug zu kaufen, mit seiner Frau, die vom geplanten Mauerbau weiß, sich innerlich noch mit der DDR, dem sozialistischen Experiment, verbunden fühlt, zumal bereits 3 Millionen Menschen das Land verlassen haben und es täglich mehr zu werden drohen; ihr Vater, als Offizier im Heimatland aktiv in den Mauerbau involviert, mit zwiespältigem Verhältnis zu seinem Schwiegersohn, dem Flugzeugingenieur. Das alte Ehepaar aus dem Osten, die die Urne des verstorbenen Bruders zur Beisetzung in Dresden aus München abholen; sie, die sie sich bei ihrem Mann nicht mehr aufgehoben fühlt, hätten sie doch die Reise nutzen können, ihren in den Westen geflüchteten Sohn zu besuchen, doch hat ihr Mann mit dem Sohn abgeschlossen und verweigert sich einem Besuch. Die junge Band aus der DDR, die in der Heimat vor 4000 Besuchern spielt, sich bei Auftritten in München aber mit nur 15 Zuhörern begnügen muss. Zwei Polizisten, die dabei sind drei Todesfälle von eigentlich gesunden Menschen aufzuklären, in dem Zug auf der Suche nach Dopingmitteln für den Leistungssport; und die Sporttrainerin mit ihrem 'Erfolgsmädchen'. Und zudem die weibliche Zugführerin in der DDR, die den Interzonenzug an der Grenze übernehmen und zurück in die Heimat fahren soll - mit dem Traum von Amerika, bei der sich aber eine Liebe zu einem heimischen Reporter anbahnt. Kurze Kapitel mit ständig wechselnden Erzählperspektiven und ansteigender Dramatik machen die Geschichte zu einem wahren Pageturner. Es sind die persönlichen Schicksale hinter diesem historischen Datum, die dazu beitragen, Geschichte neu erleben zu können und das längst vergessene wieder zu erinnern.

Bewertung vom 22.08.2021
Der Panzer des Hummers
Minor, Caroline Albertine

Der Panzer des Hummers


gut

Ein Experiment...
Die verstorbenen Eltern der Familie Gabel, deren Kinder in der Welt verteilt sind und sich für unterschiedliche Lebenswege entschieden haben, sich selbst aus der Jenseitsperspektive retospektiv betrachtend und dem 'Lauf der Welt' - ihren Kindern - zuschauend... das ist das interessante Erzählgerüst des Romans 'Der Panzer des Hummers' der dänischen Autorin Caroline Albertine Minor. Eine nicht nur in allen Himmelsrichtungen sondern bis in 'den Himmel hinein' verstreute Familie, und doch symbolisch miteinander verbunden: Sidsel, die restauriert; Ea, die über eine Seherin Kontakt mit ihrer verstorbenen Mutter aufnehmen will; Niels, der nicht sich selbst aber anderen aus der Familie zu helfen weiß. Vergangenes mit Konsequenzen für das Gegenwärtige; ein lose geknüpftes Familienbild mit vielen Nebenfiguren; ein Beziehungsnetz, geschildert für fünf Tage im April. Es passiert nicht wirklich viel; es gelingt der Autorin aber, gerade weil es eigentlich um nichts Besondres sondern nur um das Leben an sich geht, eine ganz besondere Atmosphäre zu kreieren, in der einige existenzielle Lebensthemen ihren Platz finden: Der Tod, das junge Leben, Elternschaft, Sehnsucht und Beziehungswunsch, der Alkohol, Strebsamkeit, Karrierewille und Scheitern, das Jenseits. Das Leben an sich als ein Geflecht aus Ereignissen und Beziehungen. In der Geschichte wachsen alle Figuren auf ihre eigene, zuweilen kaum wahrnehmbare Weise - es ist der Wachstumsschmerz des Hummers, den das Leben von den Figuren einfordert, bis ins Jenseits hinein. Ein Roman wie ein Experiment. Lesenswert.

Bewertung vom 14.08.2021
Weiße Nacht
Suah, Bae

Weiße Nacht


ausgezeichnet

Außerordentlich!
Außerordentlich, weil nichts mehr geordnet ist; alles in Auflösung; surrealistisch anmutende Szenarien; nichts ist, wie es scheint! Was denkt man da als Leser:in? Genialer Text oder das Schreibresultat einer zerrütteten, womöglich unter Drogeneinfluss stehenden Seele. Ich denke: Das Durchhalten bis zur letzten Seite ist absolut lohnenswert! Ist doch der Text auch ein Spiegelbild unserer zerrütteten Welt, in der ja schließlich auch auf nichts & niemanden mehr Verlass ist. Und immer wieder das Radio, welches in unterschiedlichsten Situationen zwischentönt; sich ständig wiederholende Szenarien - der geschirrtuchartige Rock, hochgeblasen durch den Wind; die Menschen sind nicht die, für die man sie hält; das Irreale hält Einzug in eine Welt, die vor Hitze vergeht; Dichter schreiben Kriminalromane; Yoni ist nicht Yoni und zudem noch verschwunden; und die Hörbuchbibliothek schließt, deren letztes Hörstück aber überall auftaucht. Es hat sich etwas verrückt in der Welt - die Seltsamkeit ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Und das große Rätsel kondensiert sich in einem handbeschrifteten Zettel, den ein Nicht-Taschendieb den Passanten in die Taschen schmuggelt: "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?" Ein wunderbar verstörendes Buch - auf dass nam sich aber einlassen muss!