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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Das halbe Haus
Cynybulk, Gunnar

Das halbe Haus


ausgezeichnet

Der Junge, der mit dem Autor des Romans Geburtsjahr und Wohnort gemeinsam hat, trainiert streng nach Plan für die Aufnahme auf die Sportschule. Als Leichtathlet will er in 7 Jahren Olympiasieger sein. Am Ende der Geschichte werden Jakobs Träume geplatzt sein; denn Sport ist eine politische Angelegenheit. Jakob gehört zu den Menschen, die außer ihrer Muttersprache zusätzlich eine Großmuttersprache haben und einen Wortschatz beherrschen, den andere nur in Büchern finden. Die Mutter des Jungen ist früh gestorben und er wächst in Leipzig bei seinem Vater und seiner Großmutter auf. Als Jakob in der Grundschule schreiben lernen soll, stolpert er darüber, dass er Wörter üben muss, die keinen Bezug zu seinem Leben haben. „Der Vater ist Arbeiter,“ müssen die Schüler schreiben. Jakobs Vater ist jedoch Chemieingenieur und seine Großmutter Polina arbeitet bei der Post. Auch Polina ist mit dem Lehrstoff nicht einverstanden und nimmt es selbst in die Hand, ihrem Enkel Wörter wie „Necessaire“ oder „Trottoir“ beizubringen. Später wird Jakob auch im Kinderlexikon Erklärungen finden, die sich nicht mit dem decken, was er zu Hause hört. Polinas Widerstand gegen die sprachliche Gleichmacherei des DDR-Regimes lässt sich nur aus ihrer Familiengeschichte erklären. Sie wuchs in Oloneschti (westlich Odessa) am Schwarzen Meer auf, als der Ort noch zum Zarenreich zählte, und heiratete einen Mann, dessen Familie Feze für den Export in die Türkei produziert hatte. In Polinas Jugend in Bessarabien hießen Männer Waldemar oder Herrmann und man sprach ein ausdrucksvolles, heute altmodisch klingendes Deutsch. ... Polina mit ihren eigenwilligen Ansprüchen an den Wortschatz ihres Enkels hat mich sofort in diese Familiengeschichte in drei Generationen gezogen. Polina benutzt das friderizianische Vokabular des 18. Jahrhunderts. Ihr Staat jedoch fordert von seinen Untertanen, die er Bürger nennt, dass sie bruchlos zwischen der Muttersprache in den eigenen vier Wänden, der öffentlich akzeptierten Sprache und einer verschleiernden bürokratischen Kunstsprache wechseln können. Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen mit der kaum 30 Jahre vorher gescheiterten Diktatur der Nationalsozialisten, die bereits die deutsche Sprache verhunzte. Geschichten wie die mit den sorbischen Ostereiern müssen spätestens jetzt erzählt werden; denn schon bald werden sie sonst denen, die sie selbst erlebt haben, von der folgenden Generation nicht mehr geglaubt werden. - Gunnar Cynybulk entlarvt mit seinem Roman listig-ironisch sprachliche Feinheiten und damit zugleich den Kontrast zwischen Schein und Sein im damaligen Ostdeutschland, das gern DDR genannt werden wollte. Cynybulk führt seine Leser, die die DDR selbst nicht mehr kennenlernten, in ein (sprachlich gesehen) fremdes Land, das seine Nachbarn im Westen als NSA bezeichnete - Nichtsozialistisches Ausland. Herausgekommen ist ein sprachlich brillianter Familienroman dreier deutscher Generationen. Auch meiner Großmutter mit dem friderizianischen Wortschatz - in sprachlichen Fragen ebenso renitent wie Polina - hätte er unbedingt gefallen.

Bewertung vom 04.01.2017
Alle unter eine Tanne
Malinke, Lo

Alle unter eine Tanne


sehr gut

Elli Berger-Vogts Weihnachtsritual beginnt damit, dass sie im Haus radikal alle Spuren ihres jugendlichen Lebensgefährten Micha tilgt. Sein iPhone verschwindet vom Nachttisch und wird später durch den Radiowecker ersetzt, so als würde Ellis Exmann Robert noch mit ihr leben. Anschließend wird Robert sein verlassenes Revier neu markieren. Elli und Robert haben ihren Kindern bisher verheimlicht, dass beide mit neuen Partnern leben; Robert hat sein neues Glück mit seiner Sprechstundenhilfe Chrissie gefunden. Seit ihrer Trennung spielten Ellie und Robert alle Jahre wieder den erwachsenen Kindern ihr persönliches Weihnachtsmärchen vor, als wären sie noch eine heile Familie. Das Arrangement mit seinen vielen Beteiligten ist so kompliziert, dass es einfach auffliegen muss. In diesem Jahr werden Micha und Chrissie, die beiden neuen Partner, Weihnachten nicht mehr allein verbringen, nur weil die Psychotherapeutin Elli den eigenen Kindern die Realität nicht zumuten will. Auch die Kinder der Bergers werden dieses Mal ihre gewohnten Rollen in Ellis Weihnachtsmärchen nicht spielen können. Die Firma der älteren Tochter Susanna muss Insolvenz anmelden, die jüngere Leonie ist schwanger und auch Sohn Tobias müsste mit seiner Familie längst einmal klaren Tisch machen.

Lo Malinke zeigt in seiner filmreifen Weihnachtsgeschichte vertraute Strukturen einmal aus ungewohnter Perspektive, wie das Verhältnis zwischen erwachsenen Geschwistern oder zwischen Mutter und Tochter. Das Fallen der Masken mitten im Weihnachtsstress kommt für Malinkes Leser nicht unerwartet. Pfiff erhält die Geschichte durch Ellies doppelzüngige Rolle als erfolgreiche Ratgeber-Autorin und Talkshow-Ikone, die anderen Menschen gute Ratschläge gibt, aber selbst nicht lebt, was sie gegen üppige Honorare predigt.

Ellie selbst hält sich für eine Blenderin, verwundert darüber, dass ihr noch niemand auf die Spur gekommen ist. Als käufliches Produkt der Mediengesellschaft verkörpert Elli zusätzlich das wandelnde Klischee einer beruflich erfolgreichen Frau ihrer Generation. Während die Handlung in flottem Tempo auf Ellies Demaskierung zusteuert, vermittelt Lo Malinke seinem Publikum Nachdenkliches über das Altern, über das Selbstbild von Menschen, die mit einem sehr viel jüngeren Partner leben, und über den Umgang mit Erinnerungen in Ellies inszenierter Welt. Mit seinem dezent schadenfrohen Blick hinter die Fassaden gediegener Bürgerlichkeit zeigt er ein wenig Bösartigkeit, aber auch Geschwisterliebe und talentierte Väter.

Lo Malinkes turbulenter Weihnachtsroman kombiniert herrlich widersprüchliche stereotype Filmcharaktere mit einem klug bemessenen Quantum an Weihnachtsgefühlen und lässt das Drehbuch für den kommenden Weihnachtsfilm bereits ahnen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Extinction
Takano, Kazuaki

Extinction


sehr gut

Als Kento Kogas Vater plötzlich an einem Aneurysma stirbt, war der junge Japaner bis dahin ein noch unreifer, antriebsloser Pharmakologie-Student ohne Leidenschaft für sein Fachgebiet. Möglicherweise hat Kento das Studium nur deshalb aufgenommen, um sich nicht mit seinem Vater auseinandersetzen zu müssen. Kento erhält nach dem Tod des Vaters eine Mail, die Seiji Koga für den Fall verfasst hat, dass er ein geheimes Projekt nicht überleben wird, von dem seine Familie nichts ahnte. Der überaus bescheiden lebende Virologe führte als Forscher ein Doppelleben und arbeitete in einem geheim gehaltenen privaten Labor an einem Medikament gegen eine seltene Lungenkrankheit. Kentos Aufgabe ist nun, das Projekt zügig unter größter Geheimhaltung fortzuführen. Mit einem jungen Mann, der in Tokio spurlos untertauchen und gleichzeitig unter Termindruck weiter forschen soll, liefert Takano bereits ein vielversprechendes Ausgangsszenario.

Währenddessen wird der Mitarbeiter einer privaten amerikanischen Sicherheitsfirma im Irak, Jonathan Yeager, zu einer verdeckten Operation im Kongo in Marsch gesetzt. In Zentralafrika soll in einem Pygmäen-Stamm ein ungewöhnlich begabtes Lebewesen einer bisher unbekannten Art geboren worden sein, das in einer vierten Dimension denken kann und dessen Sprache ebenfalls eine weitere Dimension umfasst. Nicht weiter überraschend sieht die amerikanische Regierung darin eine Bedrohung ihres Machtanspruchs, fürchtet die Ausrottung der gesamten Menschheit und hat deshalb die Liquidierung des ganzen Stammes angeordnet. Der Thriller spielt unverkennbar um 2004, in der Amtszeit George Dubbeljuh Bushs; der amerikanische Präsident wird im Buch Gregory Burns genannt. Yeagers Team besteht aus Männern, die nie zuvor miteinander gearbeitet haben und deren Tauglichkeit für den Dschungeleinsatz er nicht überprüfen kann. Die Dynamik innerhalb der Spezialtruppe lässt ebenfalls Hochspannung erwarten.

Nach rund 200 Seiten hat Kazuaki Takano seine Protagonisten vorgestellt und eine Fülle von Informationen aufgeführt, die politisch interessierte Leser zum Verständnis der Handlung in diesem Umfang nicht benötigen und die andere Leser vermutlich einfach nur ermüden. Im mittleren Teil werden weitere Personen eingeführt und die Handlung kommt schließlich doch noch in Gang. Die Dschungelszenen im Kongo im Kampf gegen Rebellenarmee und Kindersoldaten haben mich leider emotional nicht erreicht und hatten auch sprachlich kaum etwas zu bieten. Spannend bleibt der Handlungsfaden in Tokio, wo Kento Koga inzwischen Polizei und Geheimdienst auf der Spur sind. Ohne die Informationen eines anonymen Unterstützers wäre Kento vermutlich längst aufgeflogen.

Kazuaki Takano hat für seinen in Japan ausgezeichneten Thriller eine Vielzahl von höchst interessanten Personen geschaffen, von denen ich Kento und den amerikanischen Mathematiker Rubens am gelungensten finde. Speziell die Entwicklung Kentos habe ich mit großem Interesse gelesen. Der Autor spricht fast schon zu viele Problemkreise an, von der Privatisierung des Krieges, der Manipulation der Weltöffentlichkeit durch die amerikanische Kriegsberichterstattung, über Kindersoldaten, bedrohte Naturvölker und moderne Kommunikationstechnologien. Die über weite Strecken reine Wissensvermittlung finde ich für einen Thriller zu intellektuell, zu kühl, um mit den Protagonisten mit fiebern zu können und sich z. B. im Dschungel mit ihnen so richtig zu ekeln oder zu fürchten. Mag sein, dass Takanos "thrilling Infotainment" für den japanischen Markt ideal zugeschnitten ist, aber selbst für einen Polit- und Wissenschaftsthriller finde ich aus meiner europäischen Sicht "Extinction" im Ganzen zu überladen mit Sachinformationen.

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Bewertung vom 04.01.2017
Der Sandengel
Hollatko, Lizzy

Der Sandengel


ausgezeichnet

Um ein einfaches Häuschen in der Bloekomstraße zu bekommen, muss eine südafrikanische Familie arm sein. Die Österreicherin Alva mit ihren vier kleinen Töchtern scheint so gar nicht in die ungeteerte Straße zu passen, in der sich alle Häuser einen gemeinsamen Wassertank teilen. Alva ist verwitwet und schlägt sich als Malerin mit dem Verkauf ihrer Bilder durch. Ihre zweitälteste Tochter Rut erzählt die Kindheitserinnerungen der Schwestern in der Ichform. Nelson Mandela sitzt zur Zeit der Handlung 1981 noch in Haft auf Robben Island. Die verordnete Rassentrennung reicht direkt mitten ins Familienleben, wenn die Weißen zwar schwarzes Hauspersonal beschäftigen, sonst aber keinen Kontakt zu Schwarzen haben dürfen. Emma, Fee, Liv und Rut spielen zusammen mit anderen Kindern auf der Wiese hinter dem Haus, denken sich ihre Spiele selbst aus und zeichnen auf den Boden, was sie zum Spielen brauchen. Alva findet, dass man in ihrer kleinen Straße viel über das Leben lernen kann und ihre Töchter noch längst nicht genug gelernt haben. Der titelgebenden Sandengel ist ein abgewandelter Schneeengel, den Alva mit ihrem Körper für Rut in den Sand vor dem Haus presst.

Wie arm die Familie ist, erkennt man daran, dass Alva ihren Töchtern zu Weihnachten keine Geschenke kauft, sondern Dinge aus ihrem Besitz verschenkt, die die Mädchen sich mehr oder wenig heimlich gewünscht haben könnten. Der einzige Luxus für die Wanderer-Töchter ist ihr jährlicher Besuch auf der Farm ihrer Nenn-Großeltern. Der Sohn des älteren Paars war der beste Freund von Alvas verstorbenem Ehemann. Kinder brauchen Großeltern jetzt und hier, nicht nur im fernen Europa, haben die älteren Bekannten beschlossen – und genießen die Besuche von Töchtern und Mutter auf der Farm offensichtlich sehr. Wieder zuhause drängt sich den Mädchen die Frage auf, was eigentlich in der ihnen streng verbotenen „Schlucht“ hinter ihrem Haus sein könnte. Es muss sich ja mindestens um gefährliche Schlangen oder Skorpione handeln, wäre eine mögliche Erklärung. Der einfache Sandweg der Bloekomstraße verläuft zwischen Autostraße und Bahngleisen, beides hat die Mutter den Mädchen streng verboten. Auf dem Bahngleis fährt ein Zug nur für Schwarze, der die Bewohner der Townships zur Arbeit in die Großstadt bringt. Die Mädchen wissen, dass für viele andere Schwarze der Weg zur Arbeit aus ihrem abgelegenen Township zu weit ist und sie ihre Familien deshalb nur einmal im Jahr sehen können. Die Suche nach der Schlucht steht hier für etwas zunächst schwer Fassbares außerhalb der behüteten Kindheit. Dass ihre Mutter keine abfälligen Ausdrücke für Schwarze duldet, war den Mädchen schon immer klar. In diesem Sommer werden sie mit den Lebensbedingungen der Schwarzen im Südafrika der Apartheid konfrontiert und müssen lernen, dass Alva mit ihren entschiedenen Werten nicht ungefährlich lebt.

Lizzy Hollatkos Kinderbuch erzählt konsequent aus der Perspektive einer Elfjährigen, deren Eltern aus Österreich nach Südafrika kamen. Ruts Erkundung der Welt außerhalb der schützenden Familie konfrontiert sie mit der Rassentrennung der 80er und der tiefsitzenden Verachtung der weißen Südafrikaner für Schwarze und Farbige. Die Überlegung, ob die weiße Familie Wanderer arm ist und was man selbst unter Armut versteht, zwingt Hollatkos Leser zur Auseinandersetzung mit ihrem bisherigen Afrikabild. Ein stilles Buch über eine Kindheit in Südafrika, deutlich spürbar aus der eigenen Anschauung geschrieben.

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Bewertung vom 04.01.2017
Schöne Bescherung mit Tasso von Welfen
Reider, Katja;Pannen, Kai

Schöne Bescherung mit Tasso von Welfen


ausgezeichnet

Der Dackel Hasso von Welfen hat die tägliche Routine aus Fressen ' Schlafen ' Gassigehen ' Schlafen satt und träumt von fernen Abenteuern. Doch lässt er sich immer wieder durch Herrchens Zuwendung und die malerischen Geruchsbotschaften auf seiner täglichen Gassistrecke von seinen hochfliegenden Plänen ablenken. Nur noch einmal auf Herrchens Pantoffeln ausstrecken, morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Als Hasso mit seinem karierten Schal um den Hals endlich den Absprung in die Freiheit wagt ' stößt er auf einen menschenleeren, verlassenen Weihnachtsmarkt. Hasso ist allein und findet den Rückweg nicht mehr. Rettung naht in Form der Dalmatiner-Dame Viola und ihres Frauchens. Weitere Einzelheiten können hier so öffentlich nicht verraten werden. Die Geschichte im knuffigen Kleinformat, illustriert in den Farben Schwarz, Weiß und Rot, ähnelt in ihrem Text-Bild-Verhältnis einer Bildergeschichte für Erwachsene und hat mitten im beginnenden Weihnacths-Stress gerade den richtigen Umfang für eine Schmunzelpause.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Leben der Rebecca Jones
Price, Angharad

Das Leben der Rebecca Jones


ausgezeichnet

Als Evan Jones 1903 seine Frau Rebecca nach der Hochzeit in sein Tal in Wales holt, wirkt ihre Fahrt in der Kutsche kurz wie eine Entführung. Das Tal ist von beiden Seiten von hohen Bergen umschlossen, aus der Hintertür der Farm blickt man direkt hinunter. Evans Mutter Catrin muss nun in eigenes Haus ziehen und wirft der Schwiegertochter unterschwellig vor, ihr den Sohn weggenommen zu haben. Evans Schwester Sarah bleibt als Arbeitskraft auf dem Hof, ohne sie hätte Rebecca die Arbeit kaum geschafft. In ihrer Erinnerung sieht die Tochter Rebecca ihre Mutter meist dabei, für eine Truppe von Schaf-Scherern zu kochen und zu backen und das viele Geschirr zu spülen. Nach Rebecca werden drei Brüder geboren, die beiden jüngeren blind. Ein dritter Bruder erblindet kurz bevor er eingeschult werden sollte. Die beiden älteren Gruffyd und William werden mit 3 1/2 und 5 Jahren fern von zuhause in eine Vorschule für blinde Kinder gegeben. Gruff studiert später Theologie in Oxford, auch William beendet seine Ausbildung erfolgreich. Dass es schon Anfang des 20. Jahrhunderts Unterricht und Lehrmaterial für Blinde gab, hat sich vermutlich kaum jemand so vorgestellt. Die Kosten trägt die Familie und spart buchstäblich jeden Penny dafür. Die beiden älteren Söhne zahlen für ihre Bildung und Selbstständigkeit den hohen Preis, dass sie die walisische Kultur hinter sich lassen müssen und nur noch in den Ferien in ihr heimatliches Tal zurückkehren. Der erstgeborene Robert gibt seinen Lebenstraum vom Studium auf; denn nur er kann die Farm übernehmen und den Lebensunterhalt der Familie verdienen. William lebt inzwischen wieder mit der Familie und verdient eigenes Geld.

Die Erzählerin der Geschichte ist mittlerweile eine ältere Frau, die offenbar nie das Tal ihrer Kindheit verlassen hat und mit dem Wehmut derer zurückblickt, die kein eigenes Leben führten und sich für die Familie opferten. Die exakten Lebensdaten und Schwarzweiß-Familienfotos lassen die Geschichte authentisch wirken wie eine Biografie. Aufgabe des Lesers ist es, die Verknüpfungen zu suchen zwischen einer sehr jungen walisischen Autorin, einer authentischen Familiengeschichte und dem Schicksal der Rebecca Jones, die diese Geschichte erzählt.

Eine wunderbare, sehr dichte Erzählung, die ihre verzaubernde Wirkung am besten entfalten kann, wenn man der Versuchung widersteht hinten im Buch zu forschen, wie die Geschichte ausgeht.

Bewertung vom 04.01.2017
Nachbarn
Prahs, Madeleine

Nachbarn


sehr gut

Madeleine Prahs macht es ihren Lesern nicht leicht, Zugang zu ihren Figuren zu finden. Versatzstücke aus 17 Jahren, getrennt von einigen Zeitsprüngen, zeigen anfangs nur Ausschnitte der Ereignisse. Eine Mutter flüchtet mit ihren Kindern kurz vor der Wende in den Westen. Naheliegend, dass die Kinder nur schwer begreifen, was geschieht und in welcher Gefahr sie sich befinden könnten. Beobachtet werden die drei Flüchtlinge nach der Ankunft von einem Mann, der sich einst selbst auf einer Studienreise in den Westen absetzte und seine engsten Bezugspersonen in der DDR als Angehörige eines Republikflüchtigen damit in größte Schwierigkeiten brachte. Hans hat sich für eine Seite im kalten Krieg der Systeme entschieden. Seine Frau Hanna verliert in der Folge ihren Arbeitsplatz. In der Haut des Professors, der seinen Doktoranden für die Reise empfohlen hatte, möchte ich nicht stecken. Der simple Wunsch, einmal nach Rom zu fahren, führt durch Hans rücksichtlose Entscheidung zu Verletzungen, die kaum zu heilen sein werden.

Matthias, der enge Freund des Paares, wird von der Wende überrascht und glaubt anfangs noch, dass die ersten Neugierigen wieder zurückkehren werden, nachdem sie sich den Westen mal kurz angesehen haben. Doch die Wende bringt das Recht, die eigene Stasi-Akte einsehen zu können. Wer wen mit welchen Folgen bespitzelt hat, wird zur Bedrohung der eigenen Existenz und trifft vermutlich tiefer als das Verlassen werden durch Flucht.

15 Jahre später kann der alte, gesundheitlich angeschlagene Fritzsche seine Wohnung kaum noch verlassen. Anne, das Kind in dessen Schuh im ersten Kapitel auf der Flucht ein DM-Schein versteckt wurde, arbeitet heute bei dem Pflegedienst, der Fritzsche versorgt. Ihre „Alten“ wollten frei sein von anderen Menschen und deren Nähe, stellt die Pflegerin nüchtern fest. Ob sie zu dieser Einstellung aus freien Stücken kamen oder einfach keine Wahl hatten? Anne, die nach der Flucht in den Westen als Flüchtlingskind verspottet wurde, schlägt sich inzwischen mit mehreren Jobs als alleinerziehende Mutter durch. Ihre Tochter Marie ist wieder ein Kind, das in der Schule und im Hort verspottet wird. Anne kann sich nur wundern über die eigenen Wege, die ihre sechsjährige Tochter geht. Was Hans sein Traum von Rom eingebracht hat, muss jeder für sich selbst bewerten. Die folgende Generation träumt eigene Träume von einer Reise nach Las Vegas oder einem Leben für die Meeresforschung.

An Madeleine Prahs Annäherung an die Zeit vor und nach der Wende haben mich die Zweiteilung der Sprache, die Worthülsen, das Verschleiern und Verschweigen jener Zeit und die persönlichen Motive dafür interessiert. Nach dem eher nüchternen Start ihres Erstlingsromans hat mich die Autorin im letzten Teil um Anne und ihre Tochter Marie überrascht und zum Schmunzeln gebracht.

Bewertung vom 04.01.2017
Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat
Extence, Gavin

Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat


ausgezeichnet

Der Beamte, der Alex Woods mit Geldbeträgen in mehreren Währungen, einer wohl kaum zu ignorierenden Menge Marihuana und der Urne mit der Asche eines Toten an der Einreise nach England hindern will, muss einen guten Riecher gehabt haben. Um schon eine Fahrerlaubnis zu haben, ist der junge Mann definitiv noch zu jung.

Die Eröffnungsszene lässt Gavin Extences Leser zunächst im Dunklen darüber, ob es sich bei seinem jungen Icherzähler um einen Autisten, eine bisher unbekannte Form des britischen Sonderlings handelt oder schlicht um jemanden, der sich dümmer anstellt, als er in Wirklichkeit ist. Alex Woods wusste als Kind wie jeder britische Jugendliche, dass es eine Todsünde ist, anders als andere zu sein. Er würde in der Schule nichts zu lachen haben, wenn er in irgendeiner Form sonderbar, also "schwul", wirken würde. Sonderbarer als der Sohn einer alleinerziehenden Mutter zu sein, die als Kartenlegerin und Hellseherin arbeitet, geht es kaum. Alex legt auf seine bizarre Existenz noch eins drauf, als er zu Hause im Badezimmer von einem Meteoriten am Kopf getroffen wird, der das Dach durchschlagen hat. Die schwere Kopfverletzung löst bei Alex Epilepsie aus. Seine verständliche Angst vor einem epileptischen Anfall in der Öffentlichkeit macht den zur Zeit seines Unfalls 10-Jährigen gezwungenermaßen zum Stubenhocker, der sich kaum noch nach draußen traut. Alex eher unfreiwilliges Zusammentreffen mit dem kriegsversehrten Vietnamveteranen Mr. Isaac Peterson bietet dem Jungen endlich Futter für sein rein analytisch ausgerichtetes Gehirn. Die Beziehung des jungen Sonderlings mit dem alten Mann, dem nur noch eine sehr begrenzte Lebensspanne bleibt, erweist sich als Glücksfall für beide - und als außergewöhnlich komisches wie rührendes Leseerlebnis. Peterson wechselt von der Rolle des Mentors in die Rolle des Umsorgten, während Alex erstaunlich schnell lernt, sein sonderbares Universum anderen verständlich zu machen.

Fazit
Zahlreiche Bücher über Freundschaften zu Sonderlingen, Autisten oder zu schwer Kranken in ihrem letzten Lebensabschnitt füllen bereits meterlange Bücherregale. Mit den Themen Bücher, Buchclub, Gehirn, Krankheit, Sterben, sowie der für ihren einzigen Sohn peinlich hippiehaften Mutter fährt G. Extence ein Feuerwerk an Themen auf. Der noch sehr junge Autor gewinnt dem Thema dennoch einen neuen und trotz Alex bizarrer Lebensumstände absolut glaubwürdigen Blickwinkel ab. Das gelingt ihm sowohl durch seine respektvolle Darstellung der Epilepsie aus Alex Sicht, wie auch durch die Schilderung Alex' exzentrischer, streng wissenschaftlicher Denkweise, die jeden Wissenschaftler in seiner Umgebung glücklich macht. Alex' rührende Freundschaft zu Mr. Peterson lässt den Jungen außergewöhnlich schnell reifen, ein völlig glaubwürdiger Rollenwechsel, wenn man sich die geballte Exzentrik mal kurz wegdenkt.

Lange habe nach dem lesen ich überlegt, ob man als Leser vorher wissen sollte und darf, dass es in diesem Roman um Sterbehilfe durch professionelle Sterbehelfer in der Schweiz geht. Ich habe mich völlig unwissend von dem Buch überraschen lassen und mir keine Gedanken darüber gemacht, auf welche Weise Mr. Peterson ums Leben gekommen sein könnte, dessen Asche Alex nach England zurückbringt. Wenn ich aktuell mit dem Sterben oder dem Todeswunsch eines unheilbar kranken Angehörigen konfrontiert wäre, würde ich mir das Buch vermutlich nicht aussuchen, weil mir das Thema in dem Moment zu nahegehen würde. Für jeden, der sich mit der eigenen Sterblichkeit schon auseinandergesetzt hat, ist "The Universe versus Alex Woods" jedoch ein berührendes und dabei erfrischend unlarmoyantes Buch über die letzten Lebenswochen eines unheilbar Kranken.

Bewertung vom 04.01.2017
Licht scheint auf mein Dach
Ôe, Kenzaburô

Licht scheint auf mein Dach


sehr gut

Als Kenzaburô Ôe 1994/1995 in zwei schmalen Bänden die Bilanz eines Lebens mit seinem körperlich und geistig behinderten Sohn zieht, ist der japanische Literaturnobelpreisträger 60 Jahre alt, Hikari, der tagsüber in einer Behindertenwerkstatt betreut wird, 31. In diesem Alter haben Eltern behinderter Kinder sich meist damit auseinandergesetzt, dass sie vor ihren Kindern sterben werden und das behinderte Familienmitglied spätestens dann in einer Pflegeeinrichtung leben wird. Ôe sinnt u. a. über den Arzt Dr. Moryasu nach, der Hikari operiert hat und der Familie bis zu seinem Tod verbunden blieb. Hikari hat einen einzigartigen Weg gefunden, sich als Komponist durch die Musik auszudrücken, auch wenn ihm im Alltag die Beschreibung von Emotionen stets schwer fiel. Die Fachsprache der Musik lässt sich von Hikari viel konkreter benutzen als die Alltagssprache. Thema dieser Bilanz ist wie schon in 'Stille Tage' auch der Einfluss des Lebens mit einem behinderten Kind auf die Geschwister. Ôe analysiert seine Phasen der Auseinandersetzung mit Hikaris Behinderung und definiert den Vorgang als eine Reifungskrise in einem noch sehr unreifen Lebensalter. Ôes erstes Buch über Hikari 'Eine persönliche Erfahrung' diente ihm zur Überwindung dieser Krise. Auch in dieser Bilanz präsentiert Ôe das Bild der Familie als Astwerk eines Baumes. Bemerkenswert finde ich noch immer die sehr stille, duldsame Rolle, die die Mutter und die Schwester Hikaris in Ôes Werk einnehmen, ganz im Gegensatz zum weltgewandten Vater, der reist und unterrichtet, während Mutter oder Schwester in dieser Zeit zuhause in Japan Hikari betreuen.

Zum Verständnis von Ôes Werk empfehle ich Ihnen, seine Bücher über Hikari in der Reihenfolge der Veröffentlichung zu lesen:
Eine persönliche Erfahrung (1994) (Kojinteki na taiken, 1964)
Stille Tage (1994) (Shizuka na seikatsu, 1964), 1995 verfilmt