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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2020
Von hier bis ans Meer
Cazon, Christine

Von hier bis ans Meer


sehr gut

Als Christine Cazon auf WDR4 in einem Interview Werbung für ihr neues Buch „Von hier bis ans Meer“ machte, habe ich es mehr zufällig gehört. Und so habe ich es direkt im Anschluss an ihr Buch „Zwischen Boule und Bettenmachen“ gelesen.
In ihrem neuen Buch schlägt Christine Cazon sehr persönliche Töne an. Sie schreibt ganz offen darüber, was die Gründe für ihr Sabbatjahr in Frankreich waren, erzählt über Depressionen, Burn-out und Ess-Störungen, über private und berufliche Höhen und Tiefen. Und natürlich schreibt sie über ihre erste Zeit in Frankreich und die Probleme, die sie mit der neuen Heimat hatte. Mutig, dass sie sich mit eher eingestaubten Französischkenntnissen auf dieses Unterfangen eingelassen hat! Sie schreibt über Verlust, Ausgrenzung und über Liebe, die sie in Frankreich gleich zweimal gefunden hat. Außerdem hat sie sich als Autorin und Erfinderin des Krimikommissars Léon Duval einen Namen gemacht und dadurch als Schriftstellerin Fuß fassen können.
Es ist ein persönliches Buch mit vielen sehr intimen Einblicken in ihr Leben und ihre Seele, ein Buch über die Suche nach dem Glück. Wie in „Zwischen Boule und Bettenmachen“ beschreibt die Autorin auch in diesem Buch die kulturellen Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland und wie selbstverständlich von ihr erwartet wurde, sich anzupassen. Sei es beim feiertäglichen Kochen für die ganze Familie oder die Tatsache, dass in Frankreich Paare immer gemeinsam auftreten – daran musste sie sich gewöhnen und tat sie es nicht, bekam sie ein „On est en France“ zur Antwort. In manchem setzte sie sich durch (sowohl sie, als auch ihr Mann „dürfen“ manchmal etwas alleine unternehmen, ohne, dass sofort von Trennung gemunkelt wird), in manchem passte sie sich an. Und inzwischen kann sie sowohl französisch sprechen, als auch kochen.
Stilistisch ist das Buch locker und flüssig zu lesen, lustig finde ich, dass sie ihren Mann im Buch immer nur „Monsieur“ nennt. Allerdings, so perfektionistisch die Autorin sonst wohl ist, so wenig ist sie es bezüglich Rechtschreibung und Zeichensetzung. Groß- und Kleinschreibung und Kommas stimmen manchmal nicht ganz, auch bei einem französischen Zitat hörte ich meinen Franszösischlehrer ob meines ständigen Fehlers aufstöhnen („Tu n’a pas de choix!“, da braucht das Verb ein „s“). Aber abgesehen davon hat die Autorin ein unterhaltsames, tiefgründig-nachdenkliches Buch über (Nachkriegs-)Völkerverständigung, Culture-Clash, Liebe, Schwiegermütter (die man in Frankreich höflich siezt) und die Suche nach dem Glück. Ob sie inzwischen ihr Glück gefunden hat? Vielleicht nicht, aber das Buch beschreibt mit einer Prise Selbstkritik und Selbstironie eine Frau, die sich selbst und eine Art innere Zufriedenheit gefunden hat, und das ist ja auch viel wert. Von mir dafür 4 Sterne.

Bewertung vom 15.09.2020
Zwischen Boule und Bettenmachen
Cazon, Christine

Zwischen Boule und Bettenmachen


gut

2005 nahm sich Christine Cazon ein Jahr Auszeit. In ihrem Sabbatical wollte sie zur Ruhe kommen und sich neu finden, so verwirklichte sie ihren Traum und zog nach Frankreich. In ihrem Buch „Zwischen Boule und Bettenmachen“ beschreibt sie, was sie in der Zeit erlebte und vor allem, wieso sie nach dem einen Jahr (außer zu Besuchen) nicht mehr zurück nach Deutschland kam. Am Ende der Kapitel spricht sie die Leser oft direkt an, was deutlich macht, dass ihr erstes Buch kein zusammenhängender Roman ist, sondern eine Zusammenstellung aus kleinen Geschichten und Blogbeiträgen, die sie in ihrer ersten Zeit in Frankreich verfasst hat.
Sie beschreibt, wie sie sich an Land, Leute, und vor allem die Sprache, angenähert und gewöhnt hat. Daran, dass zweimal am Tag gekocht wird, dass Essen in Gesellschaft wirklich so sind, wie in französischen Filmen und natürlich die Sache mit den Küssen, den bises. Zwar ist das Buch auf Deutsch, es ist aber hilfreich, wenn man Französisch wenigstens in den Grundzügen beherrscht, denn manches ist im Buch nicht übersetzt.
Alles in allem ist das Buch leicht zu lesen, manchmal etwas zu seicht für meinen Geschmack und auch manche Formulierungen fand ich eher holprig und unpassend. „Und ich esse – seit wie vielen Jahren wieder? – süße Kirschen direkt vom Baum in den Mund.“ – natürlich, wohin denn sonst? Auch für den Mammutsatz „Immerhin gibt es Milka Alpenmilch-Schokolade in einem ansonsten zartbitter dominierten Frankreich, zwar nicht immer und überall, aber selbst in Guillaumes kriege ich sie hin und wieder, bin aber wohl die einzige Kundin, ich sehe den Bestand abnehmen, genau so wie ich die Schokolade kaufe, immer zwei Tafeln weniger.“, hätte es eventuell eine leserfreundlichere Alternative gegeben. Und auf das Bild des abgetrennten Schweinekopfes hätte ich wirklich gut verzichten können.
Aber sonst war das Buch unterhaltsam, an manchen Stellen auch ziemlich lustig. Auf jeden Fall ist es die Geschichte einer mutigen Frau, die auf der Suche nach sich selbst oft über ihren Schatten springt. Schon allein die Tatsache, dass sie trotz Tierhaar-Allergien auf einem Bauernhof arbeitet, ringt mir wirklich Bewunderung ab.
Das Buch kommt allerdings nicht wirklich über den Unterhaltungsroman hinaus, anders, als der Titel erwarten lässt, beinhaltet das Buch eher wenig Bettenmachen und noch viel weniger Boule. Als jemand, der selbst mit Schulfranzösisch so seine Probleme hatte, fand ich ihre sprachlichen „Fehltritte“ amüsant, beispielsweise den mit den „drei kleinen cerveaux“, die nämlich keine drei kleinen Hirsche, sondern drei kleine Gehirne sind. Und auch die Lautschrift, in der sie ihrem Mann ihre Telefonnummer auf Deutsch aufgeschrieben hat, fand ich richtig gut. So war das Buch zwar anders, als ich es erwartet hatte und die Autorin schöpft das Potenzial leider nicht voll aus. Aber dennoch von mir 3 Punkte.

Bewertung vom 15.09.2020
Wer auf dich wartet / DCI Jonah Sheens Bd.2 (eBook, ePUB)
Lodge, Gytha

Wer auf dich wartet / DCI Jonah Sheens Bd.2 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Der verheiratete Dozent Aidan Poole hat ein heimliches Verhältnis mit seiner viel jüngeren Studentin Zoe und muss per Internet-Video-Chat zusehen, wie sie überfallen wird. Weil er die Beziehung geheim halten will, ruft er nicht die Polizei. Tags darauf wird Zoe in der Badewanne ihrer Wohnung tot aufgefunden. Selbstmord oder Mord?
Das ist der Auftakt zu Gytha Lodges Thriller „Wer auf dich wartet“, nach „Bis ihr sie findet“ der zweite Teil der Reihe um Detective Chief Inspector Jonah Sheens. Nachdem ich mit dem Debut der Autorin so meine Schwierigkeiten hatte, war ich auf ihr neues Buch sehr gespannt.
Das Buch spielt in verschiedenen Zeit-Ebenen über einen Zeitraum von etwa 20 Monaten. Die Autorin wechselt immer hin und her, sodass der Leser die Beziehung zwischen Aidan und Zoe von Anfang an mitbekommt, parallel dazu aber die Mord-Ermittlungen. Das Buch bietet eine Menge Verdächtige und einen ruhigen und unaufgeregten, leider aber auch eher unspektakulären Ermittler. Manchmal, vor allem im mittleren Teil, hat das Buch einen leichten Durchhänger und zieht sich etwas, aber alles in allem ist der Spannungsbogen ziemlich hoch. Allerdings muss ich gestehen, dass mich die Auflösung des Falls nicht überrascht hat, trotz der falschen Fährten, auf die die Autorin mich mit einigen Wirrungen und Intrigen führen wollte, habe ich schon sehr früh auf die richtige Person getippt. Aber die Tätersuche ist trotzdem spannend gestaltet.
Sprachlich ist das Buch angenehm geschrieben, passend zu den Personen ist die Sprache bodenständig und „anständig“. Anders als in vielen anderen Büchern dieses Genres steht der Fall stets im Mittelpunkt, die Ermittler und ihr Privatleben kommen nur am Rand vor. Für mich war das Buch nicht nur ein Krimi/Thriller. Die psychologische Komponente zwischen den Zeilen fand ich beachtlich. Zoe war eine liebenswerte und gutmütige junge Frau, die für ihre Freunde alles tat und eigentlich nur das wollte, was wir alle wollen: einen Partner fürs Leben finden und glücklich werden. Für mich war das Buch um Klassen besser als sein Vorgänger und ich vergebe 5 Sterne.

Bewertung vom 14.09.2020
Nebelkinder
Gregg, Stefanie

Nebelkinder


ausgezeichnet

Stefanie Greggs Buch „Nebelkinder“ erzählt die Geschichte einer Familie, festgemacht an drei Frauen aus drei Generationen, Käthe, ihre Tochter Anastasia und deren Tochter Lilith. Käthe stammt aus Schlesien, war in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen, hatte gut geheiratet und dann mit der Familie gebrochen, als sie von einem anderen Mann mit Anastasia schwanger war. 1945 schafft Käthe es mit ihren Kindern Anastasia und Helene und ihrer Schwester Selma samt deren Sohn Wolfi auf einen der letzten Züge in Richtung Deutschland. Sie landen erst auf einem Bauernhof in Bayern, dann in München, Anastasias Mann kehrt aus dem Krieg zurück und in der Familie kehrt Ruhe ein. 2017 macht sich Lilith mit ihrer Mutter auf nach Breslau, um deren Heimat, und damit auch ihre Mutter und deren Geschichte und auch ihre eigene Vergangenheit und sich selbst ein bisschen kennenzulernen.
Es ist eine bewegende Geschichte über Frauen in patriarchischen Gesellschaften (Käthe durfte nicht studieren, weil ihr Mann es nicht wollte), Kinder, die viel zu schnell und zu früh erwachsen werden müssen (Anastasia übernahm auf der Flucht und auch später praktisch die Mutter-Rolle für ihre jüngere Schwester) und über Frauen, die große Traumata mit sich herumtragen. Die Nachwehen von Krieg und Flucht werden über die Generationen weitergegeben, denn zwischenmenschliche Beziehungen sind durch sie geprägt.
Das Buch spielt in mehreren Zeitebenen. Der Leser wird sowohl mit auf die Flucht genommen, erlebt eine kurze Zeit auf dem Bauernhof, die Rückkehr von Käthes Mann Ludwig und die Zeit, in der manche Wunden zu heilen beginnen. Ludwig bekommt eine Stelle als Richter, verdient gut, die Familie kann sich nach und nach wieder etwas leisten und dennoch wird Käthe nie wieder wirklich glücklich. Der zweite Handlungsstrang dreht sich um Lilith, ihr Verhältnis zu ihrer Mutter, ihr Unverständnis der Mutter gegenüber und alles gipfelt dann in der gemeinsamen Fahrt nach Breslau.
Nebelkinder ist die Bezeichnung für „Kriegsenkel“. Das ist die Generation von Lilith und die der Autorin, die den Krieg nicht selbst miterlebt haben, deren Eltern im Krieg selbst noch Kinder oder Jugendliche waren. Sie wurden durch die Erlebnisse ihrer Eltern, also quasi aus zweiter Hand geprägt, müssen mit den Traumata ihrer Eltern leben und umgehen und werden dadurch selbst traumatisiert. „Im Zug verlor Mutti ihr Lachen“, „Anastasia wurde erwachsen im Zug. Sie kümmerte sich um Lenchen. Mutti tat es nicht mehr. Sie war irgendwie nicht mehr da.“ – das liegt nicht nur an den Strapazen der Flucht, denn Käthe muss einem Volkssturmmann zu Willen sein. Sie ist in der Folge nicht mehr in der Lage, ihren Kindern eine Mutter zu sein, ihre Tochter ist später ebenfalls nicht in der Lage, eine liebende Mutter für ihre Tochter zu sein. „Ich habe alles für dich getan. Und das ist das Einzige, was am Ende im Leben einer Frau wirklich zählt.“, sagt Anastasia zu Lilith. Sie sorgt dafür, dass es ihrem Kind an nichts fehlt. Aber ihm sagen, dass sie es liebt, kann sie nicht. „„Du hast nie gesagt, dass du mich liebst.“ Eine Träne floss aus Anas Auge. „Warum sollte man so etwas sagen?““ Hier musste ich innehalten und durchatmen.
Das Buch ist eine Geschichte von Verstehen und Verständnis. Verständnis ist aber in der Geschichte keine Einbahnstraße. Lilith muss verstehen, was ihre Mutter erlebt und durchgemacht hat, was sie zu der werden ließ, die sie ist. Andererseits muss aber auch Anastasia verstehen, dass ihre Tochter sich von ihr abseits von Materiellem ein „ich liebe dich“ wünschen würde. So gibt es ein Kennenlernen, aneinander Annähern, ein aufeinander Zugehen und am Schluss ein Verstehen.
Sprachlich fand ich das Buch manchmal ein bisschen holprig, was aber zur Geschichte gut passt. Für ein wundervolles Buch, das nachdenklich, betroffen und traurig macht, Verständnis für die Generationen vorher schafft (aber auch für Opfer und Vertriebene der Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg!) von mir von ganzem Herzen 5 Sterne.

Bewertung vom 09.09.2020
Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt
Fohl, Dagmar

Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt


ausgezeichnet

„Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“, ist die Inschrift auf dem Grabstein von Aristides de Susa Mendes. Wer der Mann war, was er geleistet hat und wie es dazu kam, dass er oftmals als „Oskar Schindler von Portugal“ bezeichnet wird, beschreibt Dagmar Fohl in ihrem Buch, das als Titel eben diese Grabsteininschrift trägt.
Aristides de Susa Mendes war studierter Jurist, Ehemann, Geliebter, Vater von 14 ehelichen und mehreren unehelichen Kindern und unter dem portugiesischen Diktator António de Oliveira Salazar im Auswärtigen Dienst. So war er unter anderem in Sansibar, Brasilien, Belgien und den USA als Konsul tätig. Seine letzte Station in dieser Funktion war die französische Stadt Bordeaux, wo er ab 1938 tätig war. In Deutschland herrschten zu der Zeit die Nazis, in Portugal herrschte ebenfalls ein Diktator und Juden waren nirgendwo gern gesehen. Daher versuchen die Vertriebenen, irgendwie in die USA ausreisen zu können. Viele suchen den Weg über Spanien und Portugal, letzteres ist zwar politisch neutral, erlaubt dennoch keine Visa für Juden. Diesem Befehl widersetzt sich Mendes und stellt zigtausende Visa aus, was unzähligen Menschen (die genaue Zahl ist bis heute unbekannt) das Leben rettet. Ihm selbst wird es zum Verhängnis, er verliert alles: seine Arbeit, seinen Ruf, seine Gesundheit und so gut wie allen Besitz. Rehabilitiert wurde er in seinem Heimatland erst lange nach seinem Tod, als er in anderen Ländern bereits als Held gefeiert wurde.
Das Buch hat mich wirklich beeindruckt. Es ist eine in Ich-Form geschriebene Biografie, eingearbeitet in eine von Tatsachen gestützte, aber fiktive Geschichte. Eine Geschichte von Mut, Verzweiflung, Zivilcourage, Diktatur und einem Fitzelchen Hoffnung. Mendes war ein mutiger Mann, getrieben vom Wunsch zu helfen, gestützt von der Hoffnung, etwas bewegen zu können und Menschen zu retten. Komme, was wolle. Er hat nicht nur sein Leben damit aufs Spiel gesetzt, sondern auch das seiner ganzen Familie, denn der Diktator Salazar versuchte noch lange, die Familie zu zerstören. Tatsächlich verlor Mendes alles Materielle und die posthume Rehabilitierung bezahlte seine Rechnungen auch nicht.
Sprachlich und formal ist das Buch eines der am rasantesten geschriebenen Bücher, die ich je gelesen habe. Man fühlt sich beim Lesen wie in einem Schnellzug oder einem Strudel aus Ereignissen, gefangen, mitgerissen und bewegt. Aristides de Susa Mendes war mir vorher kein Begriff, er ist für mich ein viel zu wenig besungener Held seiner Zeit. Ich hoffe, dass dieses unglaublich gute Buch gegen das Vergessen und für mehr Menschlichkeit und Zivilcourage dies ändern kann und vergebe 5 Sterne.

Bewertung vom 09.09.2020
Hass. Macht. Gewalt.
Schlaffer, Philip

Hass. Macht. Gewalt.


sehr gut

Vom Saulus zum Paulus – Geschichte einer Läuterung zur Abschreckung und Warnung
Nach vielen Jahren als Neonazi und Rocker fand Philip Schlaffer zurück in ein bürgerliches Leben. Darüber, wie er in die Szene geriet schreibt er in seinem Buch „Hass. Macht. Gewalt.“ Er schreibt über seine späten Kinderjahre in Newcastle (die Familie zog für vier Jahre nach Großbritannien, als er zehn Jahre alt war), seine Jugend in Lübeck und seine Verwandlung vom leidlich braven Sohn zu einem Rechtsrock hörenden (und später produzierenden) Schläger und Hooligan. Von einem, der Alf und Newcastle United mochte und später anderen Menschen Colaflaschen über den Schädel zog oder aus reiner Lust an der Gewalt einfach so in den Rücken trat. Erst eine Haftstrafe rüttelte ihn auf und inzwischen ist er im Internet, aber auch im realen Leben, unterwegs, um Jugendliche davon abzuhalten, seinen Weg in den Extremismus nachzugehen.
Das Buch beschreibt den Werdegang eines verblendeten Menschen. Eines Menschen, der Macht, Geld und Gewalt im Kopf hatte, sonst nichts. Hass, Macht und Gewalt bestimmten sein Leben, aber irgendwann erkannte er, dass Hass Gewalt macht, also erzeugt. Es ist die Geschichte von einem, der irgendwann falsch abgebogen ist, lange gebraucht hat, dann aber seinen Weg gefunden hat. Er suchte Halt und fand ihn in der Naziwelt, in Verschwörungstheoretiker-Kreisen und in Macht, Geld und Gewalt. Zwar schreibt er bei einigen seiner Aktionen, es sei ihm nicht bewusst gewesen, was er da überhaupt getan habe – oft kommt aber ein „und wenn doch, wäre es mir egal gewesen“ hinterher. Insgesamt hat er so viele Straftaten verübt, dass er wohl selbst den Überblick verloren hat. „Ich hab das Colaflaschenopfer später mal wiedergetroffen und mich entschuldigt […] Er hat das Ganze wohl auch einigermaßen verkraftet. Es gibt andere Opfer aus jenen Jahren, die mehr gelitten haben.“ Ob ihm diese Einschätzung zusteht, wage ich zu bezweifeln, selbst dann, wenn „das Colaflaschenofper“ ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt ist.
Sprachlich ist das Buch so geschrieben, wie der Verfasser redet. Derbe, manchmal grob und reine Umgangssprache. Das muss man mögen, sonst hat man bei der Lektüre keine Freude. Man stolpert darüber, dass die Freundin „horny“ ist und ein „F***“ angesagt ist. Inhaltlich nährt er jedes Klischee, das über Rechtsextremisten und Rocker kursiert (ich habe unter anderem die Biografien der dänischen Rocker Torben C-Bonhardt und Brian Sandberg gelesen): viel Alkohol, American-Staffordshire-Terrier, Kameradschaft, Begeisterung für nordische Mythologie und so weiter.
Das Buch ist interessant, aufrüttelnd und manches ist erschreckend. Vor allem schockierte es mich, dass Philip Schlaffers Eltern ihrem damals schon offen rechtsradikalen Sohn aus dem Urlaub eine Kalaschnikow mitbrachten. Insgesamt fand ich die ersten vier Teile des Buchs eine runde Sache, beim letzten Teil fehlt mir der wirkliche Schluss – der Autor hat die Kurve gekriegt, das Buch für mich nicht wirklich. Die Motivation, wieso er ausgestiegen ist, der tatsächliche Weg, alles in allem fehlt mir ein „danach“ und ein „jetzt“. Was ich über seinen Verein „Extremislos“ weiß, weiß ich nicht aus dem Buch, sondern aus dem Internet. Daher ist der Schluss für mich nicht rund, bietet allerdings natürlich Potenzial für ein weiteres Buch. Trotzdem: es ist eine beeindruckende Wandlung, die er durchgemacht hat, er hat sein Leben in einem lesenswerten Buch verarbeitet. Für mich hat es ein paar Schönheitsfehler und ich vergebe 4 Sterne.

Bewertung vom 08.09.2020
#BlackLivesMatter
Khan-Cullors, Patrisse;bandele, asha

#BlackLivesMatter


ausgezeichnet

Patrisse Khan-Cullors, die Co-Autorin des Buchs „#blacklivesmatter“ ist die Mitbegründerin der gleichnamigen Bewegung, die es nicht erst seit der Ermordung von George Floyd im Mai 2020 gibt, sondern die schon 2013, nach der Ermordung des 17jährigen Schülers Trayvon Martin, ins Leben gerufen wurde. Schon damals hatten sich Menschen vernetzt, die die Zustände nicht länger hinnehmen wollten, einen fairen, gleichberechtigen Umgang zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben forderten.
Das Leben von Patrisse Khan-Cullors war seit ihrer Kindheit geprägt von (strukturellem) Rassismus. Ihre Familie wurde (wie so viele andere) immer wieder Opfer von Rassismus, Polizeigewalt und Polizeiwillkür, in der Folge musste die Familie mit den Traumata ihrer Lieben klarkommen. Wie vermutlich die meisten Menschen, hatte ich keine Ahnung, was Rassismus wirklich bedeutet. Was Polizeiwillkür wirklich heißt. Erschossen werden zu können, wenn man falsch abbiegt. Oder einfach so verhaftet werden zu dürfen, im Gefängnis Folter und Brutalität zu erleben. Wieso? Weil die Polizisten Lust darauf und Spaß daran hatten.
Dass es Rassismus gibt, was Rassismus dem Wortlaut nach ist – das wusste ich alles. Was Rassismus aber wirklich für Betroffene, Freunde und Familie bedeutet und bedeuten kann, das schildert die Autorin sehr deutlich, vor allem den „Umgang“ weißer Polizisten mit schwarzen Mitbürgern. Ja, denn eigentlich sind sie das auf dem Papier: MITbürger. Behandelt werden sie außerhalb der Gefängnisse oftmals wie Freiwild und, erst mal hinter Gittern, oft auch wie Sklaven und werden, zum Beispiel, als Feuerwehrleute in vorderster Front an die Flammen geschickt. Psychologische und psychiatrische Probleme, wie sie oft bei ehemaligen Soldaten auftreten (PTBS, Suchterkrankungen usw.) werden in Gefängnissen oft nur sehr unzureichend behandelt und bei schwarzen Straftätern nicht als Haftmilderungs- oder Haftausschlussgrund anerkannt.
Willkürliche Angriffe auf Schwarze, die viel zu oft tödlich enden, Folter und Misshandlungen auch in Gefängnissen und allgemeine Diskriminierung beispielsweise bei Arbeitsplätzen, Wohnungen und auch den Bildungschancen sind Themen, die Patrisse Khan-Cullors in ihrem Buch aufgreift. Vieles aus zweiter Hand, vieles hat sie aber selbst erlebt, nicht zuletzt durch die Erfahrungen ihres Bruders Monte und ihres (leiblichen) Vaters Gabriel. Und Diskriminierung gibt es nicht nur Menschen anderer Hautfarbe gegenüber – auch LGBTQ+-Menschen werden diskriminiert. Das greift die Autorin, die selbst queer ist, ebenfalls auf.
Ein schreckliches Buch, aber ein sehr gutes und wichtiges Buch. Pflichtlektüre für jeden, den die Bewegung #blm interessiert und der wissen möchte, was dahintersteckt. Eindrücklich und bedrückend geschrieben und nicht nur einmal musste ich es beiseitelegen und durchatmen, manchmal musste ich mir auch übers Gesicht wischen. Es rüttelt auf, macht wütend und traurig. Selbst im Jahr 2020 müssen Menschen um Leib und Leben fürchten, weil andere sich für überlegen und „besser“ halten? Für mich unfassbar! Das Buch hinterließ bei mir einen tiefen und bleibenden Eindruck – und leider auch eine gewissen Angst vor der Zukunft und um meine Freunde und Bekannte. Denn nicht nur in den USA läuft etwas grundlegend schief. Black lives matter! All lives matter! Die Opfer brauchen eine Stimme, denn, wie die Autorin schreibt: „Sie werden auf eine Weise schweigen, wie man das von Vergewaltigungsopfern kennt.“ Von mir klare 5 Sterne und keine Lese-Empfehlung, sondern sogar eine Aufforderung.

Bewertung vom 04.09.2020
Patient Null - Wer wird überleben?
Kalla, Daniel

Patient Null - Wer wird überleben?


ausgezeichnet

Daniel Kalla, Autor von „Patient Null“, weiß, wovon er schreibt. Er ist selbst studierter Mediziner und ausgebildeter Notarzt. Sein Thriller ist daher erschreckend realistisch, fachlich einwandfrei – und dazu auch noch packend und gut geschrieben.
Aber von vorn. In Italien wird eine baufällige Abtei abgerissen und noch während die Bauarbeiten in Gange sind, werden Menschen krank. Schwer krank. Todkrank. Sie haben die Pest. Alana Vaughn der Expertin für Infektionskrankheiten bei der NATO, der italienische Arzt Nico Oliva versuchen, der Seuche mithilfe des WHO-Epidemiologien Byron Menke und der Zoologin Justine Williams Herr zu werden. Eines ist von Anfang an klar: wie vor Hunderten von Jahren wird auch hier die Krankheit durch Rattenflöhe verursacht. Und wie damals ist sie tödlich, denn der aktuelle Pest-Stamm yersinia pestis orientalis scheint gegen Antibiotika teilweise resistent zu sein. Und die Krankheit breitet sich schnell aus. Und nach und nach wird klar, dass jemand ganz gezielt die Erreger „verteilt“.
Vor allem wegen der aktuellen Corona-Pandemie ist dieses Buch mehr als nur ein Medizin-Thriller. Er zeigt auch die psychologische Komponente (wenn auch nicht allzu vertieft) einer solchen Krankheitswelle. Waren es damals die Juden, die für die Pest verantwortlich gemacht wurden, so sind es heute Muslime, die in den Augen „besorgter Bürger“ die Schuld tragen. Kommt mir sehr bekannt vor, dieses Szenario.
Die Charaktere fand ich allesamt sehr gut gezeichnet, die Schauplätze sind ebenfalls anschaulich beschrieben und ich konnte ich mir alles ziemlich gut vorstellen. Die Geschichte an sich ist erschreckend realistisch und aktuell, sehr spannend und gut geschrieben. Durch die Verflechtung des Jetzt-Handlungsstranges mit Tagebüchern von der Pestepidemie im 14. Jahrhundert am selben Ort schafft der Autor eine ganz spezielle Atmosphäre – man fühlt sich als Leser in beiden Zeitebenen ein bisschen zuhause.
Mich hat das Buch von der ersten Zeile an gefesselt, wie schon seinerzeit „Outbreak“ oder „Toxin“ von Robin Cook oder natürlich „Die Pest“ von Albert Camus. Von mir eine absolute Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

Bewertung vom 04.09.2020
Wings of Silver. Die Rache einer Frau endet nie / Golden Cage Bd.2
Läckberg, Camilla

Wings of Silver. Die Rache einer Frau endet nie / Golden Cage Bd.2


ausgezeichnet

Nachdem mich der Vorgänger-Band „Golden Cage“ enttäuscht hatte, habe ich „Wings of silver. Die Rache einer Frau ist schön und brutal“ von Camilla Läckberg eine Chance gegeben. Faye lebt, nachdem sie im ersten Teil ihren ex-Mann ins Gefängnis gebracht hat, mit Mutter, Tochter und bester Freundin in Italien, hält 10% an der aus Rache gegründeten Firma „Revenge“ und könnte eigentlich ein sorgenfreies und unentdecktes Leben abseits von allem, vor allem weit weg von schwedischen Touristen, führen. Aber jetzt versucht jemand, den Spieß umzudrehen: just in dem Moment, als Faye mit ihrer Firma expandieren will, werden große Mengen ihrer Aktien verkauft und Revenge droht plötzlich eine feindliche Übernahme. Und damit nicht genug, denn Fayes ex-Mann Jack ist aus dem Gefängnis ausgebrochen.
Im Vergleich zum ersten Band fand ich den zweiten um Klassen besser. Ich habe ihn in kürzester Zeit verschlungen und fand ihn zum Teil atemberaubend spannend. Interessant (und eigentlich für das Verständnis des ersten Teils eigentlich nicht unwichtig) fand ich die Rückblicke auf Fayes Kindheit und Jugend, denn sie lassen den Leser ein bisschen hinter die Fassade schauen. Faye ist ein interessanter Charakter, wenn auch mir nicht sehr sympathisch. Ihre (ebenfalls aus dem ersten Band bekannte) Freundin Kerstin bekommt in diesem Teil etwas weniger Raum, sie scheint aber wesentlich netter. Aber alles in allem sind die Hauptcharaktere klar dargestellt, die Nebencharaktere bleiben allerdings eher blass.
Sprachlich fand ich das Buch dicht und rasant geschrieben, flott zu lesen und den Spannungsbogen nahezu konstant hoch. Für mich verlor die Geschichte nur bei den Sex-Szenen an Spannung, die hätte es meiner Meinung nach nicht gebraucht. Im Gegensatz zum ersten Teil fand ich das Buch enorm spannend, richtig gut zu lesen und es machte mir Lust auf mehr. Das eigentliche Ende der Geschichte ist stimmig und setzt einen passenden Schlusspunkt, aber eine Kleinigkeit bleibt offen, was auf eine weitere Fortsetzung schließen lässt. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 02.09.2020
Hypochonder leben länger
Hein, Jakob

Hypochonder leben länger


weniger gut

Ein unterhaltsames Buch über sein Leben als Psychiater zu schreiben, das war wohl die Intention von Jakob Hein mit seinem Buch „Hypochonder leben länger“. Teilweise hat er es auch geschafft, teilweise aber auch nicht. Er schildert, unterfüttert mit Geschichten aus seinem professionellen Alltag, seine Arbeit, die Probleme und Freuden, die sie mit sich bringt, vom Studium angefangen bis hin zur Selbstständigkeit. Außerdem schreibt er über einige fachtheoretische Aspekte seiner Arbeit. So weit, so interessant. Aber leider schafft der Autor für mich den Spagat zwischen Fach- und Unterhaltungsbuch nicht wirklich, er rutscht mal in die eine, mal in die andere Richtung, was mich als Leser manchmal etwas unbefriedigt zurückließ. Zwar spricht er den Leser immer wieder direkt an (er siezt ihn auch sehr höflich), aber trotzdem fand ich mich bei dem Buch außen vor.
So befindet er sich beruflich ebenfalls in einem Spagat aus Arzt, Zauberkünstler und Orakel. Seit über 20 Jahren ist er als Kinder- und Jugendpsychiater selbstständig und scheint, so kann man es aus dem Buch herauslesen, mit seinem Beruf zufrieden und glücklich zu sein. Allerdings werden auch kritische Zwischentöne laut und immer wieder kam bei mir während der Lektüre die Frage auf, was mir der Autor mit dem Buch eigentlich sagen will. Wie schwer sein Beruf ist? Ja, es ist an manchen Stellen schon ein bisschen Gejammer herauszulesen. Und dazwischen für mich leider kaum Neues, außer vielleicht, dass er als Psychiater auch Zahnschmerzen behandeln dürfte („Interessanterweise dürften wir Psychiater aufgrund der sogenannten Kurierfreiheit auch zahnärztliche Behandlungen vornehmen“). Das gruselte mich dann doch sehr.
Interessant fand ich seinen (leider sehr kurzen) Exkurs zu Hochbegabung und Hypersensibilität, seine Ausführungen über Placebo und Nocebo und die Tatsache, dass Psychiater oft auf Vorurteile und Ressentiments stoßen (dass sie alle „einen an der Klatsche haben“), Hypochonder tatsächlich länger leben (weil sie öfter zum Arzt gehen) und in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Menschen „wie Sie und ich“ herumlaufen, war mir alles nicht neu. „In jedem Fall finde ich meine Patientinnen und Patienten nicht unnormal“ – das will ich doch wohl hoffen! Schließlich wird seit Jahrzehnten gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen gekämpft! Aber seine Abneigung gegen Prominente bringt er auf jeden Fall sehr deutlich und mehrfach zum Ausdruck.
Das Buch zeigt ehrlich die Probleme, aber auch die Chancen der Psychiatrie auf. Allerdings fand ich es nur leidlich interessant, aber weder unterhaltsam oder gar lustig. Als Grundlage für interessierte Leser sicher geeignet, für diejenigen, die schon grundlegendes Wissen haben ist es zu seicht und zu kurz gegriffen. Sprachlich fand ich das Buch nicht schlecht, aber ganz sicher auch nicht gut. „In den Zeitschriften gab es Berichte von Experten, die allein aus der Körperhaltung, in welcher ein Mensch im Bett schläft oder wie er sich einen Kaffeekrümel von der Lippe zupft, ablesen konnten, welche sexuellen Fantasien der Krümelzupfer zu verbergen suchte“ – was muss man beim Kaffeekochen denn alles falsch gemacht haben, damit man Kaffeekrümel an der Lippe hat? Und das war leider nicht die einzige unlogische Passage. Wenn das Buch abgesehen von diesen Holprigkeiten wenigstens Informationswert gehabt hätte, hätte ich von Herzen gern mehr als 2 Punkte gegeben, so bleibt es aber leider dabei.