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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 03.05.2016
Skin - Das Lied der Kendra
Tampke, Ilka

Skin - Das Lied der Kendra


sehr gut

Ilsa Tampke ist mit "Skin. Das Lied der Kendra" ein ungewöhnlicher, eindringlicher Debütroman gelungen, der eine fantasievolle Geschichte von Mystik und Magie erzählt, diese aber verwurzelt in einem Abschnitt unserer ganz realen Weltgeschichte: das Buch spielt zur Zeit der Eroberung Britanniens durch das römische Reich, also in der Späten Eisenzeit. Die Autorin verwebt das eine ganz natürlich und nahtlos mit dem anderen. Orte, die tatsächlich existiert haben, und Ereignisse, die historisch belegt sind, bilden eine solide Grundlage, auf deren Basis sich eine dichte Mythologie abseits der Klischees entfaltet.

"Haut" bedeutet für die Menschen Albions alles: Familie, Daseinsberechtigung, Ehre. Damit ist aber nicht die tatsächliche Haut oder Hautfarbe gemeint, sondern die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Totemtier; zum Beispiel gibt es die Haut des Rehs oder die Haut des Hundes. Diese Zugehörigkeit wird mit traditionellen Gesängen von der Mutter an die Tochter weitergegeben, und wenn das aus irgendeinem Grund nicht geschehen ist, gilt das Kind als "hautlos" und "nur halb geboren".

Ailia, die Heldin des Buches, wurde als Baby ausgesetzt und ist daher eine Hautlose. Ihr Glück im Unglück: sie wurde von der Frau, die sie fand, aufgenommen, darf in der Küche arbeiten und sogar der Stammeskönigin aufwarten. Was sie sich am meisten wünscht, darf sie jedoch nicht - ihre Wissbegierde ist unersättlich, aber das Gesetzt der Haut verbietet ihr das Lernen.

Ailias Intelligenz und Wissensdurst haben mich schon nach wenigen Seiten für sie eingenommen. Sie erschien mir wie eine starke junge Heldin, die am Anfang einer großen Reise steht: sie muss ihren eigenen Wert entdecken und zugleich einen Weg finden, einer Bestimmung zu folgen, die den Gesetzen ihrer Welt zu widersprechen scheint.

Allerdings hat sie ihre eigene Wertlosigkeit so verinnerlicht, dass sie immer wieder vor ihrem eigenen Mut erschrickt. Lange Zeit folgt auf jeden zögerlichen Schritt vorwärts stets ein Schritt zurück. Das hat mich beim Lesen manchmal richtig frustriert! Sogar nachdem klar wird, dass die Mütter selbst (die Göttinnen dieser Welt) Ailia eine eine wichtige Rolle bei der Rettung Albions zugedacht haben, kann sie sich nicht vollständig freisagen von den Gesetzen der Haut.

Dennoch handelt sie trotz aller Selbstzweifel manchmal egoistisch, und auch das hat mich beim Lesen immer wieder aufseufzen lassen. Sie versäumt es zum Beispiel, einem Schwerkranken lebensnotwendige Medikamente zu bringen, um sich stattdessen mit einem jungen Mann zu treffen, und später im Buch verbringt sie mit ihm eine Liebesnacht, obwohl sie weiß, dass ein von ihr geliebter Mensch gerade mit dem Tode ringt und jede Minute sterben könnte...

Apropos Liebesnacht: Ailia ist am Anfang der Geschichte zwar erst 14, aber in ihrer Kultur bereits eine erwachsene Frau und sexuell aktiv. Manche der Sexszenen haben zwar viel mit Lust, aber nur wenig mit Liebe zu tun, denn es gibt zwei Männer, die sie begehrt, aber nur für einen davon hat sie wahre Gefühle. Diese sind stark und ehrlich, und ich fand sie eigentlich sehr berührend, aber sie halten Ailia nicht davon ab, auch Sex mit dem anderen zu haben... Ich muss zugeben, das hat die emotionale Wirkung der Liebesgeschichte für mich deutlich geschmälert!

Ilka Tampke hat mit Ailia eine Heldin erschaffen, die gute und schlechte Eigenschaften verbindet, auch mal Fehler macht, nicht immer sympathisch ist und gelegentlich katastrophal scheitert. Gerade das macht sie interessant, aber als Hauptfigur auch schwierig.

Ein Blick ins Geschichtsbuch verrät schon viel darüber, wie das erste Kapitel von Ailias Reise ausgehen wird. Dennoch fand ich den Roman hochspannend und konnte (oder wollte) mich seinem Sog nicht entziehen.
Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen, er ist bildlich und atmosphärisch und vermittelt wunderbar die einzigartige Mythologie dieser Welt.

Bewertung vom 01.05.2016
Die Akademiemorde
Olczak, Martin

Die Akademiemorde


sehr gut

Ein literarisch bewanderter Mörder, der seine Opfer so gerissen wie stilvoll zur Strecke bringt. Die Opfer: Mitglieder der Schwedischen Akademie, die Jahr für Jahr wieder den Gewinner des Nobelpreises für Literatur bestimmen. Passend dazu wird jedem Kapitel der Name eines Preisträgers vorangestellt, mit einem kurzen Auszug aus der Begründung der Akademie. Kann es einen perfekteren Krimi für Leser geben, die an akuter Bibliophilie leiden? Ich sage nein. Es fließen immer wieder Informationen über diverse Autoren ein, sowie faszinierende Blicke hinter die Kulissen der Schwedischen Akademie.

Ich fand das Buch unglaublich spannend, mit vielen unerwarteten Wendungen. Zum einen wollte ich natürlich unbedingt dahinterkommen, wer denn nun der Mörder ist, und zum anderen befindet sich die Polizei in einem ständigen rasanten Wettlauf mit ihm. Denn auch, nachdem die Mitglieder der Schwedischen Akademie unter Schutz gestellt werden, findet der Akademiemörder Mittel und Wege...

Das ist intelligente Spannung, die sich nicht in Litern von Blut messen lässt. Besonders bestechend ist in meinen Augen, mit welcher Genialität der Mörder seine Taten plant. Er ist der Polizei immer mehrere Schritte voraus, jede Spur verläuft im Sande oder erweist sich als Sackgasse... Er inszeniert seine Rache wie ein Schauspiel. Manches fand ich im ersten Moment nicht 100%ig glaubhaft (der Mörder erschien mir gelegentlich fast allmächtig), aber der Autor löst immer auf, wie der Mörder dieses oder jenes möglich gemacht hat.

Meiner Meinung nach lässt die Polizei das naheliegendste Mordmotiv völlig außer acht. Auch wenn es sie nicht unbedingt direkt zum Mörder geführt hätte, hätte dahingehende Recherche sie vielleicht wenigstens auf die richtige Spur gebracht! Aber darüber möchte ich mich gar nicht weiter beschweren, denn die Auflösung stellte sich als wesentlich komplexer und ungewöhnlicher heraus, als ich erwartet hatte. Der naheliegendste Gedanke ist sozusagen gerade mal die Spitze des Eisbergs!

Die Idee, einen Krimi in der literarischen Szene anzusiedeln, ist meiner Auffassung nach sehr originell, denn wann man an Autoren, Literaturagenten, Bibliothekare und Buchhändler denkt, kommen einem sicher eher Begriffe wie "friedlich" oder "Bildungsbürgertum" in den Sinn als solche wie "Serienkiller" oder "Blutrache".

Im Mittelpunkt stehen die Kommissarin Claudia Rodriguez und der Buchantiquar Leo Dorfmann.

Claudia ist eine hervorragende Ermittlerin, die es aber nicht einfach hat, sich auch als solche zu behaupten. An ihrem Namen und Aussehen ist sie direkt als Ausländerin zu erkennen - oder besser gesagt, als Schwedin mit Migrationshintergrund, denn Schweden ist alles, an das sie sich erinnern kann. Obwohl sie perfekt Schwedisch spricht, hat sie es mit Vorurteilen zu tun. In diesem Fall ist sie auch noch gezwungen, mit einem Kommissar zusammenzuarbeiten, der sie darüber hinaus wegen ihres Alters und Geschlechts nicht ernst nimmt - ein sexistischer, selbstherrlicher Platzhirsch mit Macho-Allüren.

Claudia war mir sehr sympathisch, denn sie ist nicht nur intelligent, entschlossen und mutig, sondern auch bereit, für ihre Prinzipien einzustehen.

Auch Leo ist ein interessanter, liebenswerter Protagonist. Er muss heimlich in seinem Antiquariat schlafen, weil er nicht genug damit verdient, um sich eine Wohnung leisten zu können, und dennoch liebt er seine Bücher heiß und innig.

Der Autor schafft es, dem Leser einen Charakter mit wenigen Worten näher zu bringen. Die meisten Charaktere fand ich dreidimensional und überzeugend, nur Claudias unsympathischer Widersacher war mir manchmal zu einseitig widerlich.

Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Besonders die Dialoge lesen sich natürlich und glaubhaft, und der Autor hat meines Erachtens ein gutes Gespür für Szenenaufbau, Erzähltempo und die richtige Balance: bildreich und detailliert, aber nicht überfrachtet. Der Schreibstil ist intelligent, dabei aber lebendig und unterhaltsam.

Bewertung vom 29.04.2016
Die Flüsse von London / Peter Grant Bd.1
Aaronovitch, Ben

Die Flüsse von London / Peter Grant Bd.1


ausgezeichnet

"Die Flüsse von London" ist in meinen Augen ein wunderbares Buch - spannend, einfallsreich und vor allem urkomisch. Für Fantasyfreunde, die auch britischem Humor zu schätzen wissen, definitiv ein Muss!

Der Autor wartet mit einer Vielzahl von übernatürlichen Wesen auf, von Flussgöttern über Vampire bis hin zu Wiedergängern und Geistern. Die magische Welt verbirgt sich sozusagen hinter der Kulisse der normalen Welt, und der Muggl... äh, gewöhnliche Mensch auf der Straße hat nicht den geringsten Schimmer davon, dass es auch bei der Polizei eine Einheit gibt, die sich mit magischen Verbrechen beschäftigt. (Wobei diese Einheit zur Zeit allerdings aus nur zwei Personen besteht.)

Ben Aaronovitch greift augenzwinkernd die üblichen Klischees des Genres auf, indem er Peter Grant zu seinem Helden macht, einen jungen Constable, der quasi über diese magische Welt stolpert und sich unversehens als völlig ahnungsloser Zauberlehrling wiederfindet - was er sich dann doch irgendwie spannender und glamouröser vorgestellt hat als tagelang ohne Erfolg den gleichen Zauberspruch zu üben oder aus Versehen reihenweise Äpfel explodieren zu lassen.

Peter war mir direkt unheimlich sympathisch. Er ist witzig, intelligent, mutig, kann auch mal um die Ecke denken, und er ist der typische Underdog. Zu Beginn des Buches ist er gerade fertig mit der Ausbildung und möchte unbedingt zur Mordkommission, soll aber stattdessen an einem Schreibtisch seinen beruflichen Alltag fristen. Da kommt es ihm eigentlich gerade recht, dass ausgerechnet er einem Geist begegnet, der als Augenzeuge einen Mord beobachtet hat. Ich habe oft gelacht, denn Peter berichtet über seine diversen kleinen und großen Misserfolge mit trockenem Humor.

Zitat:
"Wir übten eine Stunde lang weiter, und am Ende konnte ich tatsächlich Feuerbälle erzeugen und abfeuern, die mit der atemberaubenden Geschwindigkeit einer Hummel durch den Schießstand flogen, die ihr Tagessoll an Nektar gesammelt hat und sich nun auf dem Rückweg ein bisschen die Landschaft anschaut."

Übrigens fand ich auch schön, dass Ben Aaronovitch mit Peter mal einen farbigen Protagonisten erschaffen hat! Das liest man ja doch eher selten.

Auch die anderen Charaktere fand ich wunderbar geschrieben, da hat wirklich noch der unwichtigste Nebencharakter ganz viel Persönlichkeit. Peter, sein neuer Vorgesetzter / Meister Nightingale und seine Kollegin Lesley May geben trotz vieler Pleiten, Pech und Pannen eigentlich das perfekte Team ab, denn sie sind grundverschieden und ihre Stärken und Schwächen ergänzen sich sehr gut.

Zitat:
"Lesley und ich sprangen sofort aus dem Auto, womit wir unter Beweis stellten, dass wir nicht mal die Grundlagen der Beschattung beherrschten. Dann fiel uns doch noch ein, dass unauffälliges Verhalten das Gebot der Stunde war, und wir brachen abrupt in lässiges Geplauder aus."

Meiner Ansicht nach ist es eine hohe Kunst, ein so lustiges Buch zu schreiben und dennoch eine Geschichte zu erzählen, die glaubhaft ist, den Leser dazu einlädt mitzufühlen und dabei auch noch Spannung erzeugt, aber mit "Die Flüsse von London" ist Ben Aaronovitch dieser Geniestreich gelungen, und er braucht sich hinter den Meistern dieser Kunst, wie Douglas Adams oder Terry Pratchett, nicht zu verstecken. Ich konnte das Buch kaum mal weglegen!

Den Schreibstil finde ich fantastisch, denn er hat eine ganz eigene, unverwechselbare Stimme und schildert dem Leser so kunterbunt, was passiert, dass der sich immer alles ohne Probleme bildlich vorstellen kann.

Bewertung vom 24.04.2016
Tag Vier / Die Drei Bd.2
Lotz, Sarah

Tag Vier / Die Drei Bd.2


gut

"Thriller" steht auf dem Cover, und der Klappentext klingt nach atemberaubender Spannung (vielleicht mit einer Spur Grusel). Daher habe ich auch genau das erwartet, aber leider haben sich diese Erwartungen für mich nicht erfüllt.

Ein Schiff, dessen Motoren ohne ersichtlichen Grund ausfallen. Eine junge Frau, die tot in ihrer Kabine aufgefunden wird. Geistererscheinungen in den Fluren. Das Bermudadreieck. Endzeitstimmung. Parallelwelten.
DrogenVerschwörungstheorienRassismusSelbstmordpaktMassenpanik...

Eine enorme Vielzahl an Themen, die an sich eine ungewöhnliche, originelle Mischung ergeben - was aber in meinen Augen letztlich daran scheitert, dass diese Themen leicht konfus und unzusammenhängend nebeneinander herlaufen. Daher wirkte es auf mich überfrachtet, als hätte man schlicht zuviel in ein einziges Buch gepackt! Bonuspunkte für Einfallsreichtum, aber Punktabzug für die Umsetzung... Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass die Autorin noch triumphierend das Kaninchen aus dem Hut zaubert und mit Tusch und Paukenschlag in einem grandiosen Finale alles zusammenführt; stattdessen hatte ich gegen Ende das Gefühl, auf einmal ein ganz anderes Buch zu lesen. Die Erklärung fand ich konstruiert und halbherzig, denn sie lässt vieles auf eine Art und Weise offen, die mir nicht geheimnisvoll und mysteriös erschien, sondern wie eine Ausflucht.

Auch Spannung wollte sich nicht so recht aufbauen, denn genau die Aspekte, von denen ich mir die meiste Spannung erwartet hatte, "funktionierten" für mich bedauerlicherweise nicht. Der Leser weiß zum Beispiel fast von Anfang an, was es mit dem Tod der jungen Frau auf sich hat, der Kleinkrieg zwischen der Seherin und dem Enthüllungsblogger kommt nie aus den Startlöchern, und die Geistererscheinungen sind rar gesät und nicht besonders gruselig. Vieles nimmt seinen Gang genau so, wie es zu erwarten war, und für mein Empfinden wird viel zu oft und viel zu ausführlich über Dinge wie die verstopften Toiletten und die sich überall erbrechenden Passagiere berichtet... (Was war ich froh, dass es noch keine Bücher mit Duft gibt!)

Interessant fand ich prinzipiell die Vielzahl der Charaktere. Da gibt es zum Beispiel zwei alte Witwen, die sich nach einer letzten Reise stilvoll gemeinsam umbringen wollen, einen drogensüchtigen Arzt, der einen folgenschweren Fehler begangen hat, oder eine weltbekannte Seherin, an deren Vorhersagen vielleicht doch mehr dran ist, als Skeptiker glauben. Allerdings beschlich mich im Laufe des Buches das Gefühl, dass hier zwar jeder etwas zu verbergen hat, was ihn in irgendeiner Form verfolgt, dass die Charaktere aber darüber hinaus etwas unfertig und blass wirken. Sie haben alle beträchtliches Potential, in meinen Augen wird dieses Potential aber nicht ausgereizt. Über einige Charaktere und ihre Motivation hätte ich gerne deutlich mehr erfahren!

Der Schreibstil ist eher einfach, liest sich aber flüssig und angenehm.

Fazit:
Trotz aller Kritikpunkte muss ich dem Buch zugute halten, dass es mal was Anderes ist - nämlich eine Kreuzfahrtgeschichte mit Geistern, Selbstmordschwestern, Intrigen beim Servicepersonal, einem Mord aus Versehen und vielen Themen mehr. Die Spannung ist eher verhalten, dennoch liest sich das Buch einigermaßen unterhaltsam - ein einfach zu lesender Roman für nebenher und zwischendurch, wenn man nicht zu viel erwartet. Kein "muss man lesen", aber immerhin ein "kann man lesen".

Wirklich enttäuscht hat mich allerdings das Ende, denn die Erklärung konnte mich überhaupt nicht überzeugen und schien auch nicht so recht zu den ersten drei Vierteln des Buches zu passen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.04.2016
Alles, was wir geben mussten
Ishiguro, Kazuo

Alles, was wir geben mussten


ausgezeichnet

"Alles, was wir geben mussten" ist ein vielfach für Auszeichnungen nominiertes und preisgekröntes Buch. Und dennoch ist es ein Buch, das die Gemüter spaltet. Trotz all der Preise sprachen manche Kritiker sogar von unerträglicher Langeweile und kaum zu überbietender Banalität.

Mich hat die Geschichte sehr zum Nachdenken angeregt, und obwohl ich durchaus nachvollziehen kann, warum es für manche Leser einfach nicht "funktioniert", hat es sich eingereiht in meine persönliche Liste der wichtigsten, herausragendsten Bücher unserer Zeit.

Auch wenn man das erwarten könnte, ist "Alles, was wir geben mussten" keine Zukunftsvision, sondern in unserer näheren Vergangenheit angesiedelt. (Nach der beschriebenen Technologie zu urteilen, würde ich sagen, die Geschichte beginnt in den 70er- oder 80er-Jahren.) Der Autor hat diese Vergangenheit nur leicht verändert, um wissenschaftliche Erkenntnisse und Verfahren, die wir heute tatsächlich kennen und anwenden, in einem beunruhigenden Szenario auf die Spitze zu treiben und zu fragen: was darf Wissenschaft?

Es ist eine ruhige, bedächtige Dystopie. Hier gibt es keine Zombies, und es gibt zwar eine kaltblütig ausgenutzte Minderheit, aber keinen Aufstand, keinen Aufschrei. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber das Buch wird erzählt von Kathy, einem Mädchen, das zu dieser Minderheit gehört - und das dennoch ein aktiver Teil dieses menschenverachtenden Systems ist, weil sie glaubt, dass es eben so sein muss und sogar gut und richtig ist.

Das ist für mich das wahrhaft Erschreckende an diesem Buch: hier werden Kinder in Internaten herangezüchtet, um klaglos ein schreckliches Schicksal anzunehmen. Das wird ganz perfide so gemacht, indem ihnen, während sie heranwachsen, häppchenweise erzählt wird, was sie erwartet - aber immer in einem Alter, in dem sie das jeweilige Häppchen noch gar nicht wirklich verstehen können. Auf diese Art und Weise haben sie es, wenn sie älter sind und es verstehen können, schon als ganz normal verinnerlicht. Ihnen wurde stets unterschwellig vermittelt, dass es sie zu etwas ganz Besonderen macht, es also sogar ein Grund ist, stolz und glücklich zu sein.

Kathy plaudert über Nichtigkeiten: das wunderschöne Federmäppchen, auf das alle Kinder neidisch waren, Teenagerstreitigkeiten, Unsicherheit über Sex und Liebe... Was Kinder und Jugendliche eben so bewegt. Das unvorstellbar Entsetzliche, das die Kinder erwartet, fließt immer nur am Rande mit ein - ganz beiläufig und sogar emotionslos. Für mich machte es das nur umso bestürzender, und ich konnte das Buch kaum weglegen. Hinter der Normalität, der Banalität verbarg sich für mich ein kaltes Grauen, das den Opfern selber aber gänzlich unbewusst ist.

Es geht in meinen Augen nicht nur über die Ethik der Wissenschaft, sondern es ist auch ein prägnantes, eindringliches Sinnbild der Sterblichkeit; auf eine gewisse Art und Weise kann man sich wiederfinden in diesen Kindern. Die Art und Weise, wie Kazuo Ishiguro diese Geschichte erzählt - ohne Drama, ohne großartigen Spannungsbogen - war für mich zwar gewöhnungsbedürftig, aber dennoch erstaunlich fesselnd und originell.

Die Charaktere wirken merkwürdig gedämpft, und als Leser fragt man sich: wie kann man solch ein Schicksal einfach hinnehmen? Wurden diese Kinder in irgendeiner Form manipuliert, um ihre Emotionen zu bremsen, oder ist hier einfach die eben erwähnte schleichende Konditionierung am Werk? Der Leser weiß nur, was Kathy weiß - und da Kathy sich ihrer eigenen Passivität nicht bewusst ist und daher solche Fragen nicht stellt, bleibt vieles ungeklärt.

Auch der Schreibstil ist gedämpft, manchmal beinahe monoton, denn Kathy erzählt stets mit sanfter Gleichmütigkeit. In diesem Buch muss man sorgfältig zwischen den Zeilen lesen, um einen schwachen Eindruck davon zu gewinnen, wer Kathy und ihre Freunde in einer anderen Gesellschaft hätten sein können. Es ist in gewisser Weise auch ein Buch über die Tragik verpasster Chancen.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.04.2016
Protektor
Wiesler, Andre

Protektor


sehr gut

Handlung:
Die meisten Menschen verbringen ihr Leben ganz unbedarft - ohne den leisesten Verdacht, dass sich hinter den Durchschnittsgesichtern ihrer Nachbarn oder Kollegen, ihres Postboten oder Zahnarztes vielleicht wahre Monster verbergen, und das buchstäblich. Geifernde Diener des Bösen lauern überall, der Weltuntergang ist immer nur eine Beschwörung entfernt, aber natürlich stehen diesem die wahren Helden entgegen: die Retter der Unschuldigen, die Beschützer der Ahnungslosen...

Kommt einem bis zu diesem Punkt bekannt vor? Dummerweise ist der erwählte Held dieses Mal Klaus Holger, der bei "Protektor" an Wilkinson denkt und in etwa so athletisch ist wie fünf Pfund Leberwurscht.

Übergewichtiger Langzeitarbeitsloser. Unmotivierter Verlierertyp. Ungepflegter Möchtegern-Weiberheld. Mutiger Monsterjäger. Eines dieser Dinge ist nicht wie die anderen? Ach was. So tapfer wie planlos stürzt sich Klaus mit seiner Kuh Kunigunde in den Kampf gegen das Böse.

Meine Meinung:
Einfach macht es einem Klaus Holger nun wirklich nicht. Er nimmt jeden Fettnapf mit, trifft grundsätzlich die dümmste Entscheidung (obwohl er im Grunde intelligent ist) und zeigt immer wieder, dass er alles andere ist als ein leuchtendes Vorbild. Seinen Job hat er zum Beispiel verloren, weil er illegale Pornos auf den Firmenserver runtergeladen und den Link dann noch aus Versehen per Newsletter verschickt hat. Sagt schon alles, oder?

In Rückblenden werden zahlreiche (meist peinliche!) Anekdoten aus Klaus' Vergangenheit erzählt, die eigentlich nur eines zeigen: Klaus war schon seit frühster Kindheit ein tollpatschiger, vom Pech verfolgter Antiheld. Dennoch drückt man als Hörer (und sicher auch als Leser) gerade deshalb dem Underdog die Pf... äh, Daumen! Er ist trotz allem irgendwie liebenswert, und im Laufe der Geschichte kann er zeigen, dass auch er, tief versteckt, das Zeug zum Helden hat. GANZ tief versteckt.

Mir ist Klaus Holger, Monsterjäger mit Sockenschuss, richtig ans Herz gewachsen. Der absolute Brüller war für mich aber sein Tierbegleiter. Andere Protektoren haben stolze Falken oder majestätische Berglöwen, Klaus hat Kuh Kunigunde. Und die ist einfach großartig, für mich die wahre Heldin dieses ungleichen Duos!

Die Charaktere sind alle hemmungslos überzogen; dennoch habe ich sie dem Autor sozusagen abgekauft, was an sich schon eine stolze Leistung ist. Das Buch zieht das Genre Fantasy mit seinen Klischees und Archetypen gnadenlos durch den Kakao und trifft dabei immer haargenau auf den Punkt. Vieles wird auf den Kopf gestellt und ins Gegenteil verkehrt, und das Ergebnis macht einfach jede Menge Spaß. Deswegen spricht das Buch/Hörbuch sicher besonders eingefleischte Fantasyfans und/oder Rollenspieler an!

Der Schreibstil wartet nicht nur mit urkomischen Sprüchen und Bildern auf, sondern auch mit unzähligen nerdigen Zitaten und Anspielungen. Ich musste oft lachen, und meist gefiel mir der Humor richtig gut, auch wenn er oft... naja, ziemlich platt ist. Für meinen Geschmack zielt er etwas zu oft und genüsslich unter die Gürtellinie - immer wieder geht es um Klöten, Nüsse, Tüten, kleine blaue Pillen... Das finde ich ehrlich gesagt schon seit meinen Teenagerjahren nicht mehr ganz so lustig. Aber dennoch gefiel mir der Schreibstil im Großen und Ganzen gut!

Bei allem Slapstick und Humor ist die Geschichte trotzdem auch sehr spannend, denn man weiß nie, was Klaus und Kunigunde als nächstes tun werden und wie, um Himmels willen, sie die Welt retten wollen, ohne die geringste Ahnung zu haben.