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SimoneF

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Insgesamt 432 Bewertungen
Bewertung vom 26.08.2023
Übertretung
Kennedy, Louise

Übertretung


ausgezeichnet

Da ich mir unter dem Titel "Übertretung" zunächst nichts vorstellen konnte, wäre ich an diesem Buch beinahe vorbeigegangen. Glücklicherweise habe ich doch einen Blick auf den Klappentext geworfen, der mich aufgrund der Thematik des Nordirlandkonfliktes sehr ansprach.

Nordirland 1975: Die IRA und protestantische Milizen sorgen für Angst und Schrecken, Bombenanschläge und Attentate sind an der Tagesordnung. Cushla Lavery ist 24 Jahre alt, katholisch und Lehrerin an einer katholischen Grundschule in einem Vorort von Belfast. Der Schüler Davy aus einer ärmeren katholisch-protestantischen Mischfamilie, der in der Klasse gemobbt wird, ist ihr besonders ans Herz gewachsen, und sie unterstützt seine Familie in einer Notlage. Nach Schulschluss kümmert sich Cushla um ihre alkoholkranke Mutter Gina oder hilft ihrem Bruder Eamonn im Pub der Familie. Eines Abends kommt ein Mann in den Pub, zu dem sich Cushla sofort hingezogen fühlt, trotz des großen Altersunterschieds. Michael Agnew ist Protestant, Prozessanwalt und verheiratet, und Cushla beginnt mit ihm eine Affäre, die ihr Leben nachhaltig verändert.

Der Autorin Louise Kennedy gelingt es, die beklemmende Atmosphäre im Nordirland der 1970er Jahre eindrücklich und lebendig einzufangen. Bombenanschläge, Strassensperren und Polizeikontrollen gehören zum Alltag, die Konfessionszugehörigkeit prägt jeden Winkel des gesellschaftlichen und sozialen Lebens, und kleinste Abweichungen - ein unüberlegtes Wort, eine falsche Route auf dem Heimweg, Hilfsbereitschaft gegenüber den "falschen" Menschen - können lebensbedrohliche Folgen haben. Hierin (und auch  durch den Originaltitel "Trespasses") erklärt sich auch der Titel - sichtbare wie unsichtbare Grenzüberschreitungen können fatal sein.

Der Roman zeigt, wie Cushla und ihr Umfeld inmitten des Terrors versuchen, ein normales Leben zu führen, und auch, wie sehr die ständige Bedrohungslage zur Normalität geworden ist. Besonders deutlich wird dies, wenn die Autorin die Unterrichtsstunden schildert, die mit den "Nachrichten" beginnen, und bei denen die 7jährigen Schüler und Schülerinnen ganz selbstverständlich über Attentate, Anschläge und militante Gruppierungen sprechen. Als Katholikin erlebt Cushla Schikanen durch die Polizei, wird Zeugin von Argwohn, Hass und Ausgrenzung und muss selbst immer wieder sowohl unverhohlene als auch unterschwellige verbale Provokationen erdulden.

Die Geschichte um Davy und seine Familie ist mir sehr nahegegangen, und ich habe mit ihnen richtig mitgelitten. Etwas zwiegespalten bin ich bezüglich der Beziehung zwischen Cushla und Michael, da mich der Altersunterschied von 30 Jahren doch sehr gestört und auch etwas abgestoßen hat. Michael blieb mir als Figur bis zum Schluß unsympathisch, und die Anziehung, die er auf Cushla ausübte, war mir unverständlich.

Ich habe durch den Roman einiges über die damalige Situation und das Lebensgefühl in Nordirland erfahren, und war fast traurig, als das Buch zuende war. Ich hätte über einige Figuren gerne noch mehr erfahren, doch auch der Schluß hat, so wie er ist, einen besonderen Reiz. Ein wirklich
tolles Debüt, das ich auf jeden Fall weiterempfehlen möchte.

Bewertung vom 23.08.2023
Die Kälte der Mur
Wieser, Gudrun

Die Kälte der Mur


sehr gut

Ich lese sehr gerne historische Krimis, und so ließ ich mich von Gudrun Wieser in "Die Kälte der Mur" ins späte 19. Jahrhundert in die Steiermark entführen. Der Gendarm Wilhelm Koweindl sieht sich darin mit einer besonders kniffligen Ermittlung konfrontiert. An den Ufern der Mur werden Leichenteile von Frauen angeschwemmt. Zur Lösung des Falls sucht er Rat bei der Hauslehrerin Ida Fichte, deren scharfen Verstand er schätzt und der er auch ansonsten sehr zugeneigt ist. Alsbald tragen sich im Haushalt der Familie, bei der Ida in Stellung ist, merkwürdige Dinge zu, und Wilhelm und Ida haben einen Verdacht...

"Die Kälte der Mur" ist nach "Jenseits der Mur" der zweite Band im Ida Fichte und Wilhelm Koweindl. Auch wenn die Fälle in sich abgeschlossen sind und ich den zweiten Band ohne Kenntnis des ersten problemlos lesen konnte, ist es dennoch ratsam, zunächst Band 1 zu lesen, da immer wieder Anspielungen auf den ersten Fall vorkommen und man dort auch erfährt, wie sich Ida und Wilhelm kennengelernt haben.

Ida und Wilhelm waren mit sofort sympathisch, ebenso der Probegendarm Leopold. Der Schreibstil ist angenehm und passt sehr gut zum historischen Hintergrund der Geschichte. Ich habe mit den beiden mitgefiebert und mitgerätselt, und der Fall blieb spannend bis zum Schluß.

Was mir bei dem Roman etwas fehlte, war der zeitgeschichtliche Hintergrund. Ich mag es sehr, wenn die Krimihandlung eingebettet ist in politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Zusammenhänge und ich nebenbei etwas über die Zeit erfahre, in der der Krimi spielt. Das ist hier leider nicht der Fall, und so wirkt die Geschichte als Ganzes etwas dünn. Auch über die damals üblichen kriminalistischen Methoden erfährt man leider nichts.

Fazit: Ein unterhaltsamer Krimi mit interessanten Wendungen und sympathischen Protagonist*innen, dessen historischer Kontext noch etwas stärker ausgearbeitet sein dürfte.

Bewertung vom 22.08.2023
Joe Country / Jackson Lamb Bd.6
Herron, Mick

Joe Country / Jackson Lamb Bd.6


sehr gut

"Joe Country" ist der 6. Band von Mick Herrons Jackson-Lamb-Reihe um die sogenannten "Slow Horses" aus dem Slough House, der Abteilung für in Ungnade gefallene Agenten des MI5.

Ich hatte aus dieser Reihe bisher nichts gelesen,  aber schon von den Slow Horses gehört und auch von der erfolgreichen Verfilmung auf Apple TV +. Auch wenn es immer wieder Anspielungen auf frühere Bände gibt, werden alle wichtigen Personen ausreichend eingeführt, so dass ich sehr gut in die Geschichte reingefunden habe. Dennoch ist es empfehlenswert, die Bände in der richtigen Reihenfolge zu lesen.

Mick Herron entwirft eine komplexe Geschichte mit vielen losen Enden, die er nach und nach miteinander verknüpft. Alte Seilschaften und Feindschaften in Geheimdienstkreisen, persönliche Rechnungen, politische Ränkespiele, Erpressung, zweifelhafte Wirtschaftsaktivitäten, der Kampf um Macht in verschiedenster Hinsicht - der Autor verquickt alles zu einem spannenden Thriller, wobei er insgesamt zwischen fünfzehn verschiedenen Perspektiven wechselt.

Die Jackson-Lamb-Thriller sind auf jeden Fall sehr ungewöhnlich und stechen aus der Vielzahl an Krimi- und Thrillerreihen heraus. Das liegt vor allem an den außergewöhnlichen Charakteren der Slow Horses. Jede*r von ihnen hat auf irgendeine Art als Agent*in versagt oder wurde aus anderen Gründen vom MI5 kaltgestellt. Alle sind ziemlich kaputt und exzentrisch, empathielos, oft zynisch und nicht gerade Sympathieträger, allen voran der Chef Jackson Lamb, ein feister, schmuddeliger, furzender Säufer und Zyniker ohne jedes Mitgefühl. Das macht es tatsächlich schwer, mit den Figuren mitzufiebern. Auch der Humor ist ziemlich speziell, sehr schwarz und sehr britisch, was ich eigentlich sehr mag. Allerdings wurden mir im Laufe des Buches das betont abgebrühte Sprücheklopfen und der Zynismus etwas zu viel. Es erinnerte mich an amerikanische Mafiafilme wie "Good Fellas", die eine große Fangemeinde haben, aber nicht mein Geschmack sind.

Als ich nach der Lektüre die Geschichte noch einmal genau durchdachte, fielen mir bei der Story um Lech Wicinski einzelne Ungereimtheiten auf. Störend fand ich auch die klischeehafte Darstellung der meisten weiblichen Agentinnen - sehr aufs Äußere bedacht, modebewusst, mit einem Faible für Schuhe (etwa: "Das Aufflackern der Erkenntnis in Flytes Augen war für Taverner mehr wert als ein neues Paar Schuhe"). Selbst in einer Gefahrensituation beklagen sie sich zuerst über eine farblich nicht dem persönlichen Stil entsprechende Jacke (Kapitel 13).

Fazit: Insgesamt ein toll geschriebener, abwechslungsreicher, spannender und sehr spezieller Thriller in der Welt der Geheimdienste, den ich sehr gerne gelesen habe. Dennoch sind der raue Stil und die Figuren nicht ganz mein Fall, so dass ich die Reihe wohl nicht weiter verfolgen werde.

Bewertung vom 22.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

"Es gibt ein altes Sprichwort: Wenn man jemandem alles nimmt, hat er nichts mehr zu verlieren." (Anhang zum Buch, Interview mit Dennis Lehane)

Die irischstämmige Mary Pat lebt mit ihrer Tochter Jules (17) in South Boston. Es ist Sommer 1974, und die Bustransfers, die der Rassentrennung entgegenwirken und Schüler aus mehrheitlich weißen Stadtteilen in Schulen mit überwiegend farbigen Schülern bringen sollen und umgekehrt, sorgen für Aufregung. Der Widerstand ist groß, auch Mary Pat engagiert sich darin. Eines Abends geht Jules mit Freunden aus und kehrt nicht nach Hause zurück. Mary Pat macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter und stößt auf eine Mauer des Schweigens. Nach dem Tod ihres Sohnes Noel ist Jules das einzige, das Mary Pat im Leben geblieben ist, und sie setzt alles daran zu erfahren, was in dieser Nacht passiert ist. Koste es, was es wolle.

Dennis Lehane hätte es sich leicht machen und eine Geschichte aus der Sicht einer farbigen Familie oder einer nicht rassistischen weißen Familie erzählen können, doch er wählt mit Mary Pat und ihrem Umfeld in South Boston eine rassistische Protagonistin mit kurzer Zündschnur, die den Leser/die Leserin herausfordert. Sehr eindrucksvoll beschreibt Lehane die sozialen Strukturen im Stadtteil South Boston, der überwiegend von der ärmeren weißen Arbeiterklasse irischer Abstammung bewohnt wird. Man kennt sich seit Generationen, man hilft sich gegenseitig und hält zusammen. Der Polizei und der Obrigkeit begegnet man mit Misstrauen, für Ordnung sorgen gewachsene Clanstrukturen. Solange man sich an die ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft hält, ist man auf der sicheren Seite, wer ausbricht, wird geächtet, wer den Clans in die Quere kommt, aus dem Weg geräumt.

Schreibstil und Sprache geben die aufgeheizte, explosive Stimmung im Vorfeld der Bustransfers deutlich wieder und unterstreichen Mary Pats Temperament, die auf ihrem Rachefeldzug vor nichts und niemandem Halt macht. Besonders positiv fand ich die nüchterne, klare Erzählweise, die auf lange Showdowns und Pathos verzichtet.

Mich hat die Geschichte bis zum Schluß gefesselt, und ich habe parallel zum Buch einiges zu den Bustransfers und den damit verbundenen Aufständen nachgelesen. Dass diese Transfers in Boston bis 2013 existierten und über viele Jahre zu Unruhen führten, insbesondere in South Boston, wusste ich bisher nicht. Lehane ist es hervorragend gelungen, die historischen Ereignisse und eigene Erinnerungen mit einer spannenden und aufwühlenden fiktiven Geschichte zu verbinden, die tiefe Einblicke in die zerrissene amerikanische Gesellschaft der 1970er Jahre bietet.

Aufgrund der Thematik, einiger gewalttätiger Szenen und des düsteren Settings ist das Buch sicher keine einfache Kost. Wer sich jedoch hierauf einlässt, kann einen echten Ausnahmeroman entdecken, den ich unbedingt weiterempfehlen möchte.

Bewertung vom 22.08.2023
Das Sams und der blaue Drache / Das Sams Bd.9
Maar, Paul

Das Sams und der blaue Drache / Das Sams Bd.9


sehr gut

Wer kennt es nicht, das vorwitzige Sams? Heuer feiert die liebenswerte Schöpfung von Paul Maar ihren 50. Geburtstag, und pünktlich zum Jubiläum erscheint der 10. Band, "Das Sams und der blaue Drache", in neuem Gewand. Nina Dulleck hat die Geschichte neu illustriert. Ihre Zeichnungen sind deutlich moderner und frischer als die Originalillustrationen von Paul Maar, und sie gefallen uns richtig gut.

Die Geschichte ist typisch Sams - voller lustiger Einfälle, fröhlicher Reime und kleiner Streiche, denn auch wenn das Sams immer in bester Absicht handelt, geben eben doch meistens irgendetwas schief.

Die Altersangabe ab 7 Jahren empfinde ich als etwas hoch, ich würde das Buch eher zwischen 5 und 9 Jahren empfehlen, da es doch sehr kindlich ist. Mein Sohn hat das Sams in den letzten Jahren sehr gerne gelesen, bevorzugt nun mit 9 aber schon eher Jugendliteratur.

Bewertung vom 20.08.2023
Leb wohl, Mister Chips
Hilton, James

Leb wohl, Mister Chips


ausgezeichnet

​"Leb wohl, Mister Chips" von James Hilton kannte ich bisher nicht, war aber sehr neugierig darauf, nachdem ich gelesen hatte, dass das Buch in den 1930er Jahren ein großer Erfolg war.


Der ehemalige Schulmeister und Altphilologe Mr "Chips" Chipping bleibt auch nach seiner Pensionierung "seiner" Schule, dem Knabeninternat Brookfield, eng verbunden und zieht gegenüber als Untermieter bei Mrs Wickett ein. Auch im Alter folgt sein Lebensrhythmus dem Takt des Schulalltags, bleibt er Teil der Schulfamilie und ist in Gedanken bei den Generationen an Schülern, die er hat kommen und gehen sehen. Auf wunderbar warmherzige Weise erzählt Hilton von Mister Chips, seinen liebenswerten Schrullen und Eigenheiten, seinen Überzeugungen und den Höhen und Tiefen in seinem Leben. Chips erinnerte mich frappierend an einen Lehrer, den ich selbst vor vielen Jahren in Latein hatte, und der auch an unserer Schule der dienstälteste Pädagoge war, etwas altmodisch und eigen, aber gutmütig, herzlich und ein echtes Unikat.

Besonders berührt hat mich die Art, wie der Autor Mister Chips von einer Erinnerung zur nächsten treiben lässt, sich Ereignisse der Weltgeschichte mit kleinen Anekdoten aus dem Alltag längst vergangener Schülergenerationen mischen, und Chips bewusst wird, dass er der Letzte in Brookfield ist, der all diese Erinnerungen noch in sich trägt. Hilton gelingt es, melancholische und traurige Momente schwebend leicht mit heiteren und humorvollen zu verweben, Lachen und Weinen miteinander zu verbinden.

Fazit: Ein leiser, sehr berührender Roman über die Erinnerungen eines Lebens, über Vergänglichkeit und das, was von uns bleibt, und auch eine
Hommage an all die Lehrer*innen, die mit viel Hingabe im Kleinen wirken und Generationen von Schüler*innen prägen.

Bewertung vom 20.08.2023
Bis wir Wald werden
Mattausch, Birgit

Bis wir Wald werden


sehr gut

Sehr berührend und einfühlsam erzählt Birgit Mattausch in "Bis wir Wald werden" über das Leben in einem Hochhaus, das von Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion bewohnt wird. Das ist umso bemerkenswerter, da die Autorin keinen entsprechenden familiären Hintergrund hat. Allerdings war sie als Pastorin jahrelang in einer schwäbischen Gemeinde tätig, der viele Aussiedler*innen angehörten.

Die Protagonistin Nanush, inzwischen erwachsen, kam mit ihrer Urgroßmutter Babulya als Baby nach Deutschland und lebt noch immer mit ihr im selben Haus, aber in einer eigenen Wohnung. Babulyas Küche ist der Treffpunkt für viele Bewohner aller Generationen des Hochhauses, die wie in einer Großfamilie zusammenleben und Wärme in der Gemeinschaft suchen.

In einer sehr poetischen Sprache beschreibt sie die innere Zerrissenheit der Menschen, die in der Sowjetunion als Deutsche und Fascisti galten und hier in Deutschland als Russen wahrgenommen werden. Immer wieder taucht der Wald mit seinen Tieren als Ort der Sehnsucht für die Entwurzelten auf, die Erinnerung an die endlosen Birkenwälder der Sowjetunion lebt in den Träumen weiter.

Hierbei vermischen sich Realität und Phantasie, Erinnerung und Traum. Einige Abschnitte haben geradezu lyrischen Charakter und sind rechtsbündig formatiert in den Text integriert.

Ich muss gestehen, dass mir der poetische Stil mit teils magischen Elementen nicht liegt, ich bevorzuge eher nüchtern-klare Erzählweisen. Wer diesen jedoch mag, wird hier eine sehr lesenswerte und anrührende Lektüre finden.

Bewertung vom 20.08.2023
Intimleben
Ammaniti, Niccolò

Intimleben


ausgezeichnet

​Kürzlich habe ich eher zufällig "Ich habe keine Angst" von Niccolò Ammaniti gelesen und war begeistert von diesem mir bis dato unbekannten Autor.  Nun war ich sehr gespannt auf sein neuestes Werk "Intimleben".


Auch hier zog mich Ammanitis Schreibstil sofort in seinen Bann. Er schreibt lebendig, klar, direkt und in bisweilen drastischer Sprache, mit immer wieder herrlich spitzer Zunge, messerscharf beobachtend und teils ironisch überhöht. Es macht einfach Spaß, seiner virtuosen Erzählweise zu folgen, in der er  zuweilen den Leser direkt anspricht, und mit Nähe und Distanz zu seinen Figuren spielt. An manchen Stellen fragte ich mich, wie diese wohl im italienischen Original lauteten und welchen Anteil an der bemerkenswerten Wortwahl Verena von Koskulls Übersetzung hat. Da ich bereits einige von ihr übersetzte Bücher gelesen habe, meinte ich, gelegentlich ihre besondere Handschrift zu erkennen.

Durch die Protagonistin Maria Cristina, Gattin des italienischen Ministerpräsidenten, zeigt Ammaniti, welchen teils wahnwitzigen Einfluss soziale Medien heutzutage haben, und welche PR-Maschinerie hinter Personen von öffentlichem Interesse steckt. Dieser enorme Druck, unter ständiger Beobachtung zu stehen und die Gefahr, bloßgestellt oder in einem Shitstorm gegrillt zu werden, verändert Maria Cristina. Sie entwickelt einen Hang zur Paranoia, fühlt sich hilf- und haltlos. Hier spielen auch frühe Traumata eine Rolle, die  im Laufe der Geschichte thematisiert werden, und die ihre Unfähigkeit, tiefe Bindungen einzugehen, und ihr Gefühl der Fremdheit in der Welt erklären. Ihre Entwicklung gegen Ende des Romans, die durch eine schicksalhafte Zufallsbegegnung in Gang kommt, macht Mut, und zeigt nicht nur Maria Cristina, sondern auch dem Leser einen Weg zur Selbstbefreiung. Ich hätte gerne noch mehr gelesen und war beinahe traurig, als das Buch zuende war.

Fazit: Ich liebe Ammanitis Stil, und habe es richtig genossen, diesen meisterhaft und sehr modern erzählten Roman zu lesen. Ich kann ihn nur rundum weiterempfehlen!

Bewertung vom 18.08.2023
Keeper of the Lost Cities - Entschlüsselt (Band 8,5) (Keeper of the Lost Cities)
Messenger, Shannon

Keeper of the Lost Cities - Entschlüsselt (Band 8,5) (Keeper of the Lost Cities)


gut

Bei "Keeper of the Lost Cities 8,5 - Entschlüsselt" von Shannon Messenger handelt es sich, wie die Nummer 8 5 bereits nahelegt, um einen ganz besonderen Band der Reihe.

Er besteht zu ca. 2/3 aus einem sehr umfangreichen Nachschlagewerk, das Signaturkarten zu den wichtigsten Charakteren enthält, ferner eine Weltkarte samt ausführlichen Informationen (leider im ebook nicht dabei), Portraits diverser Figuren (leider ebenfalls nicht im ebook), Wissenswertes zum Leben in den Verlorenen Städten, u.a. zu den Mitgliedern des Hohen Rats, der Foxfire-Akademie, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Elfen, Informationen zu den Neverseen, und, und, und.

Gleich zu Beginn des Buches weist die Autorin darauf hin, dass man vor der Lektüre des Lexikons unbedingt die Bände 1-8 gelesen haben sollte, da Spoiler enthalten sind. Tatsächlich kennt man vieles von dem, was hier aufgeführt wird, bereits aus den vorherigen Büchern. Wer diese erst kürzlich gelesen hat, wird sich also möglicherweise langweilen. Mein Sohn, der eigentlich ein großer Fan der Reihe ist, zeigte an diesem Buchteil wenig Interesse, da es für jüngere Leser*innen doch etwas langatmig ist. Er möchte einfach wissen, wie die Geschichte weitergeht. Andererseits empfand ich den Schreibstil und insbesondere die Anmerkungen der Autorin doch als sehr kindlich, so dass ich als ältere Leserin etwas genervt war. Meiner Ansicht nach ist dieser Teil des Buches nur etwas für absolute Hardcore-Fans, die jedes Detail der Keeper-Welt kennen möchten. Würde es sich hierbei um einen lexikonähnlichen Einzelband handeln, den man auch einfach auslassen könnte, wäre das völlig in Ordnung. Doch leider wurde dieser im letzten Drittel mit einer ca. 260 Seiten langen Fortsetzung der eigentlichen Reihe gekoppelt. Diese Geschichte wird aus der Sicht von Keefe erzählt, schließt nahtlos an Band 8 an und bildet wiederum die Voraussetzung für Band 9. Wer die eigentliche Reihe also weiterlesen möchte, kommt um Band 8,5 nicht herum, selbst wenn ihn das Nachschlagewerk nicht interessiert. Das empfinde ich als ziemlich unglücklich, hier wäre eine saubere Trennung wesentlich kundenfreundlicher gewesen.

Insgesamt hat meinen Sohn und mich Band 8,5 nicht überzeugt, und wir sind nun auf Band 9 gespannt.

Bewertung vom 17.08.2023
Das Mittelalter
Wickham, Chris

Das Mittelalter


sehr gut

Da ich gelegentlich gerne historische Sachbücher lese, wenn auch vor allem über die Antike, war ich sehr gespannt auf Chris Wickhams Werk "Das Mittelalter".

Anders als die meisten Autoren erzählt Chris Wickham die Geschichte des Mittelalters nicht chronologisch linear, sondern anhand von zentralen "Momenten des Wandels", die wichtige Wendepunkte darstellen. Dieser Ansatz klang äußerst vielversprechend, und tatsächlich lieferte er mir völlig neue Sichtweisen und Einblicke, und ermöglichte mir, Zusammenhänge zu erkennen, die mir bisher so nicht bewusst waren.

Dieser Erkenntnisgewinn ist allerdings stellenweise hart erarbeitet, da das Buch doch recht trocken geschrieben ist, und durchgehend aus Fließtext besteht, der nicht durch Diagramme oder Schaubilder aufgelockert wird. Als Nachschlagewerk eignet sich das Buch nicht. Da die Kapitel häufig gegenseitig auf einander verweisen, muss das Buch zumindest beim ersten Mal komplett von Anfang bis Ende gelesen werden, ein "Herauspicken" eines einzelnen Kapitels, das einen gerade besonders interessiert, ist schwierig. Als etwas gewöhnungsbedürftig empfand ich die ständige Verwendung des Wortes "wir" ("Wenn wir uns diesen Fragen stellen,...", "Wie wir gesehen haben"), die für mich nicht recht zu dem trockenen Schreibstil passte, aber im englischen Eprachraum weit verbreitet ist.

Insgesamt hat Wickham ein wirklich neuartiges und sehr anspruchsvolles Werk über das Mittelalter geschaffen, das sich meiner Meinung nach jedoch vor allem für Leser*innen eignet, die bereits einiges an Vorwissen über die Epoche mitbringen.