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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 22.08.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

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ausgezeichnet

Der Hass ist real

Was ist nur aus diesem Land geworden, fragt sich BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einem Fall der Vergewaltigung der Schülerin Laura Palmer ermittelt, dessen Video zuvor viral gegangen ist. Die darin gezeigten Täter hatten eine dunkle Hautfarbe, was eine Hatz im Netz und in der Realität auf „Ausländer“ auslöste. Angeführt wurde diese von der „Heimatfront“, die mit Hilfe dieses Videos Front macht gegen Überfremdung und im Namen der Selbstverteidigung zur Selbstjustiz aufruft – wieder per Video viral. Doch je weiter Yasira in den Ermittlung vorstößt, desto mehr Fragen tun sich auf, bis hin zu der Frage, wie wirklich die Wirklichkeit denn nun wirklich ist. Und bald gerät Yasira, nicht nur, weil auch sie als „Ausländerin“ zählt, in die Schusslinie von Presse und der „Heimatfront“.
Die Gemüter kochen hoch in dem Roman „Views“ von Marc-Uwe Kling. Ein ungewohnt ernster Roman für einen Autor, der vor allem für seine Komik bekannt ist durch die Känguruh-Trilogie oder die Quality-Bände, die sich auch schon mit dem Thema „Internet“ und die Steuerung der Gesellschaft durch das „Netz“ auseinandersetzten. Allerdings eher auf eine lustige Art. Dass sich der Autor hier weitestgehend jeglichen flapsigen Seitenhieb unterlässt, ist dem Thema auch mehr als angemessen. Denn hier geht es um das ernste und mehr als aktuelle Thema, wie „Fake news“ die öffentliche Meinung manipuliert und zwar ohne Grenze. Ohne hier das Ende verraten zu wollen, eröffnen sich in Klings Roman bisher noch nicht ganz vorstellbare Möglichkeiten der Manipulation durch künstliche Intelligenz, die lediglich über unendliche Fähig- und Fertigkeit, nicht aber über ein Bewusstsein für Richtig oder Falsch verfügt.
Marc-Uwe Kling nutzt das Medium der Literatur, eine mögliche Welt zu erschaffen, in der er modellhaft durchspielen kann, was bereits in Ethikkommissionen auf abstraktem Level diskutiert wird. Ein schon vom Buchcover her intelligent gemachtes Kabinettstück über die Möglichkeiten des Machbaren und deren fehlende Grenzen. Und die Moral von der Geschicht ist, dass, egal, welche „Wahrheiten“ das virtuelle Netz erfindet, die Reaktion der Menschen darauf immer echt und real ist.

Bewertung vom 18.08.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


gut

Merkwürdiges Ende
Die erst Hälfte des Romans „Die Gräfin“ von Irma Nelles habe ich mit großer Begeisterung gelesen. Die Gräfin lebt mit ihrem Knecht und ihrer Haushälterin auf einer Hallig. Dort bietet sie nicht nur ausgemusterten Pferden Obdach, sondern verhilft auch denen, die sich vor den Nazis verbergen müssen, zur Flucht. Es ist das Jahr 1944, als ein englischer Pilot auf der Hallig abstürzt und mit seiner Anwesenheit die Halligbewohner in Gefahr zu bringen droht. Er löst in allen dreien unterschiedliche Gefühle aus.
Die Naturgewalten und das einfache Leben auf der Hallig werden sehr eindringlich und anschaulich beschrieben. Zunächst erscheint die Gräfin als eigenwillige, aber durchaus bewundernswerte Person, die allem Komfort eines adeligen Lebens zugunsten einer einfachen, naturnahen Existenz aufgegeben hat. Ihre beiden Mitbewohner sind schon fast mehr Freunde als Angestellte. Und auch mit einigen Festlandbewohnern gibt es engen Kontakt, zumeist aus der gemeinsamem Ablehnung der Nazis heraus.
Mit dem Auftauchen des Fliegers entsteht eine für mich nicht ganz nachvollziehbare Dynamik. Die Gräfin wird zusehends exzentrischer und ihr Verhalten skurriler. Auch der Pilot ist in seinem Verhalten wenig verstehbar: statt dankbar für seine Rettung zu sein, fühlt er sich von den Vergangenheitsgeschichten der Gräfin zunehmend genervt, auch wenn verständlich ist, dass er die lebensrettende Insel so schnell wie möglich verlassen will.
Das Ende lässt dann wirklich alle Fragen offen. Sie verweist auf eine Beziehungsebene zwischen Gräfin und Piloten, die zuvor auch schon einmal kurz angedeutet wurde, als die Gräfin bedauert, dass sie schon zu alt sei und die Liebe im Alter schwinde und schal werde. Irgendwie aber passt ein möglicher amouröser Zug sogar nicht in die Beziehung der beiden, zumal der Pilot sich mehr für die gleichaltrige Meta zu interessieren scheint.
Warum dann noch eine weitere Person auf die Insel kommt und wie es mit allen weitergeht, bleibt völlig unklar. Ein wenig wird sogar angedeutet, dass der Pilot auf der Insel etwas gefunden haben könnte, von dem er noch nicht einmal wusste, dass er es suchte.
Das Ende lässt etwas ratlos und ziemlich unbefriedigt zurück. Schade.

Bewertung vom 18.08.2024
Nur nachts ist es hell
Taschler, Judith W.

Nur nachts ist es hell


ausgezeichnet

Eine tolle Erzählerin
Am packendsten an dem Roman „Nur nachts ist es hell“ von Judith W. Taschler fand ich den Erzählstil der Autorin. Sie schildert das Leben der Elisabeth Burger, die gegen alle Widerstände der Zeit Medizin studieren und als Ärztin arbeiten kann. Sie muss sich aber nicht nur mit den gesellschaftlichen und politischen der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, sondern auch mit den Geheimnissen ihrer Familie. So birgt fast jedes ihrer Mitglieder sein eigenes Geheimnis, das seinem Leben eine entscheidende Wendung gibt.
Erzählt wird aus Sicht Elisabeths selbst. Sie richtet sich dabei, wie man nach und nach erfährt, rückblickend an die Enkelin ihres Bruders Eugen.
Geschickt beginnt die Autorin mit einer Kurzversion des Lebens von Elisabeth, in der dem Leser blitzlichtartig einige Stationen ihres Lebens vor Augen aufflammen und mehr Fragen hinterlassen als Übersicht zu geben. Damit ist die Neugier geweckt, was sich hinter den Geschehnissen verbirgt, in der Ahnung, dass da noch mehr sein müsse als die Fakten eines Lebenslaufes.
Die Autorin wählt einen Erzählstil, dem ich sehr viel abgewinnen kann. Indem sie die Protagonistin selbst zu Wort kommen lässt, vermittelt sie dem Leser ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Man sieht die Ereignisse der Zeit in den Augen der sympathischen und interessanten Frauenfigur vorüberziehen. Reizvoll daneben stehen die Lebensausschnitte der anderen Familienmitglieder wie der Mutter oder des Bruders Eugen, die über Briefe oder wiedergegebene Gespräche vermittelt werden, sodass trotz der Ich-Perspektive auch die Innensicht in andere Figuren dieser exzeptionellen Familienkonstellation möglich ist.
Dabei enthüllt sich dem Leser oft Ungeheuerliches, das dem Leben der Figuren eine bisweilen grausame Wendung des Lebens zuteil werden lässt. Dabei handelt es sich nur periphär um die zeitgeschichtlichen Gegebenheiten, die die Autorin geschickt, eher en passant in die Geschichte einfließen lässt, mit denen sie aber zugleich mit interessantem Detailswissen ein lebendiges Porträt der Zeit erschafft. Es sind vielmehr die persönlichen Geschicke und Entscheidungen, die auch der Romanhandlung immer wieder unvermutet Wendung geben.
Gerade dadurch, dass die Autorin sehr sparsam mit Gefühlsäußerungen und Wertungen ist, lässt sie dem Leser Raum für eigene Gedanken und dafür, den Gefühlen selbst nachzuspüren. So kann er – insbesondere mit der Hauptfigur – eine zarte Bindung aufbauen und fühlt sich durch die eingestreuten Anreden an die Enkelin des Bruders selbst als Adressat der Erzählung.
Wunderbar zu lesen, mit großer Sympathie für die Figuren und von daher berührend!

Bewertung vom 10.08.2024
Yrsa. Journey of Fate / Yrsa - Eine Wikingerin Bd.1
Bröhm, Alexandra

Yrsa. Journey of Fate / Yrsa - Eine Wikingerin Bd.1


sehr gut

Neue Einblicke in das Leben zur Zeit der Wikinger

Wer bei Wikingern und in Anlehnung an das Cover erwartet, von Seefahrten und Raubzügen zu lesen, der wird enttäuscht. Yrsa, die junge Heldin, hat überwiegend festen Boden unter den Füßen. Sie ist eine beeindruckende junge Frau, die ihren Bruder suchen muss, der entführt wurde. Ganz auf sich allein gestellt macht sie, die Kämpferin werden will, auf den Weg nach Haitabu, um dem Grund für das Verschwinden ihres Bruders auf die Spur zu kommen. Dabei droht ihr ausgerechnet von den Menschen aus ihrem Dorf Verderben, während sie in der Stadt unvermutet helfende Hände findet und auch ihrem Traum, eine Kriegerin zu werden, ein Stück näher kommt.

Anhand der Figur Yrsa führt uns die Autorin des gleichnamigen Romans ein in eine andere Welt zur Zeit der Wikinger. Zum einen ist es eine junge Frau, die sich dem Heiraten verweigert und ihren eigenen Weg gehen will, auch wenn dieser oft schwer und einsam ist. Zum anderen erfahren wir hier neben den Kämpfern etwas über die Leute, die an Land blieben und den Alltag bestritten: die Händler, die Schmiede, die Seherinnen und Heilerinnen. Mit großer Kenntnis lässt Alexandra Bröhm ein lebendiges Bild der damaligen Zeit vor Augen entstehen und führt ein in das Alltagsleben, aber auch in die Religion und Mythologie, die unlösbar mit dem Leben verbunden war und alles Lebendige durchdrang: die Opfergaben an Trolle und Waldelfen, die Schaden abwenden, aber auch herbeiführen konnten. Düstere Seher mit magischen Kräften, die Verwünschungen ausstießen, und Seherinnen, die ihre Gabe in die Gunst der Menschen stellten, stehen miteinander in Konkurrenz. Diese Atmosphäre der Naturmagie und des Wunderglaubens durchdringt das ganze Buch.

Das Nachwort skizziert sehr erhellend den aktuellen Forschungsstand zu den Wikingern und erklärt eben den Umstand, dass die Wikinger, die auf Schiffen auszogen, plünderten und Schrecken verbreiteten, nur ein Teil der damaligen Lebenswelt darstellten. Die Autorin stellt uns einen anderen, nicht ganz so bekannten, sehr anschaulich vor.

Bisweilen hat die sehr umfangreiche Story so ihre Längen und scheint den ein oder anderen Handlungsfaden für kurze Zeit schon einmal aus den Augen zu verlieren. Aber meist macht das der kurzweilige und vorwärtsdrängende Erzählstil der Autorin wieder wett. Auf jeden Fall eine spannende Lektüre!

Bewertung vom 01.08.2024
Das Verrückte Orakel / Die magische Bibliothek der Buks Bd.1
George, Nina;Kramer, Jens J.

Das Verrückte Orakel / Die magische Bibliothek der Buks Bd.1


ausgezeichnet

Rettet die Bücher!
Die Buks sind die letzten Bewahrer der Bücher in einer Welt der absoluten (Gedanken)Kontrolle. Sie wohnen ganz geheim in einem Haus hinter dicken Mauern, umwuchert von dornigem Dickkicht. Wehe, wenn jemand von „Draußen“ von ihrer Existenz und der Existenz der Bücher, die sie in ihrer Bibliothek und in ihrem Keller vor der Menschheit, die nicht mehr liest und das Träumen verlernt hat, bewahren, erfährt! Aber die Buks haben ein Problem: Die Bücher leiden an einer seltsamen Krankheit, ihre Schrift schwindet dahin. Und auch ihre Königin, Queen Buk, scheint immer mehr Wörter zu vergessen. Da kann nur noch das Verrückte Orakel helfen. Aber kann man einem verrückten Orakel trauen, vor allem wenn es Hilfe von „Draußen“ prophezeit in Form von fünf Kindern. Aber dann kommen auf wundersame Weise nur vier von ihnen zu den Buks: Finn, der Finder, Nola, die Kriegerin, Mira, die Wundersame und Thommy, der Doppelgesichtige. Mit ihrer Hilfe sollen die Buks die Bücher retten. Aber sie verbergen einige Geheimnisse und immer mehr Rätsel tun sich den Kindern auf: Wer meint es ernst mit ihnen, wer gehört zu den Bücherfreunden und wer will im Namen des Ministerium die Bücher vernichten, die den Menschen nur dumme Flausen in den Kopf setzen? Als dann noch das Orakel prophezeit, ein Kind gehe verloren und eines werde zur Heldin, scheint klar zu sein, dass der Weg, die Bücher zu retten, ein gefährlicher ist.
Das Buch mit dem tollen Cover, auf dem dem Leser die Augen der Buks aus dem Dunkel der Bibliothek entgegenglühen, ist ein Lesespaß für Klein und Groß. Die Geschichte ist spannend und packend bis zur letzten Seite – und darüber hinaus. Die Figuren könnten vielfältiger nicht sein. Da sind auf der menschlichen Seite die vier Kinder, die in ihrer Welt Fürsprecher und Widersacher finden. Auf der Seite der Buks begegnen uns Gestalten, die wir aus anderen Büchern, aus der Geschichte kennen oder die eine buchspezifische Gabe haben. Neben Queen Buk sicher der bekannteste ist Scherloko-Buk, ein eigensinniger Detektiv. Rebella Buk macht ihrem Namen alle Ehre und erinnert ein wenig an Ronja Räubertochter, Attila Buk ist ein kleiner Kämpfer mit großem Herz, auch wenn er das gut zu verborgen weiß. Dann gibt es z. B. noch Romantika Buk, ihre Eigenschaft ist selbsterklärendd, und die Buchheiler Typografica Buk, um nur noch einige zu erwähnen. Die Figuren zeigen, in welche schillernd phantastische Welt uns dies Buch entführt. Es treibt mit Worten Scherze und spielt auf allerleit bekannte Bücher der Welt-, insbesondere der Kinderbuchliteratur an. Es spricht nicht nur über die Magie des Lesens und die Kraft der Bücher, sondern es stellt sie selbst dar, verzaubert sie doch die Leser mit seiner Geschichte. Und es stellt ihm schmerzlich vor Augen, wie eine Welt ohne Bücher aussehen könnte. Dieses Buch ist eine gelungene Kampfansage gegen eine Welt ohne Imagination, wie sie nur Bücher hervorbringen können. Denn Bücher stehen für „Freiheit mit Flügeln aus Papier“ und „stecken die Menschen mit Möglichkeitssinn an“, denn alles ist möglich in Büchern und in der Welt der Buks.
Das Hörbuch zum Buch wird lebendig und gut vorgelesen von Marian Funk, der insbesondere den vielen verschiedenen Buks eine je eigene Stimme verleiht.

Bewertung vom 01.08.2024
Ada und die Künstliche Blödheit - Ein Roboter auf der Flucht
Gehm, Franziska

Ada und die Künstliche Blödheit - Ein Roboter auf der Flucht


ausgezeichnet

Künstliche Intelligenz, echte Froindschaft
Ada ist ziemlich einsam. Sie ist eine perfekte Schülerin, ernsthaft, verantwortungsbewusst und intelligent. Aber sie hat keine Freunde. Und auch in der Familie dreht sich alles um die kleine Schwester Tiffany. Ada wünscht sich eine Freundin, oder besser gesagt: eine Froindin. Sie hat lange auf einen humanoiden Roboter gespart, eine künstliche Intelligenz, und sich auch genau überlegt, wie sie sein soll: schön, makellos, hypterintelligent und eben immer für sie da. Und dann rast etwas in ihr Leben, das alles andere ist als das. Sie nennt ihn „KB“, für künstliche Blödheit. Er weiß nichts, redet viel Unsinn und ist ziemlich ungelenk. Aber Adas Opa, der eigentlich von all dem neumodischen Zeug einer durchtechnologisierten Welt so gar nichts hält, findet ihn einen Superkumpel. Und alle Mitschüler von Ada sind völlig begeistert: eine KI, die so menschlich, so fehlbar und dabei so nahbar ist. Und es gibt noch jemand, der hinter KB her ist: Biberkopf und die Frau mit den bleichen Haaren und den blauen Lippen. Eine perfekte Gelegenheit für Ada, den Produktionsfehler KB gegen ihre Traum-KI einzutauschen oder?
„Ada und die künstliche Blödheit“ von Franziska Gehm ist nicht nur äußerlich ein buntes, knalliges und lustiges Buch über ein ernstes Thema. Die Geschichte ist unterhaltsam, sehr spannend zu lesen und mit tollen Bildern von Stefanie Jeschke illustriert. Die Figuren sind lustig, auch wenn Adas Opa manchmal ein wenig zu durchgeknallt ist. Und zugleich geht es um so gewichtige Themen wie Freundschaft und die Gefahren von humanoiden Robotern, die die „perfekteren“ Menschen zu sein scheinen. Aber sind sie überhaupt Menschen? Und was machen sie mit den Menschen, denen sie ihre Unzulänglichkeit widerspiegeln? Dagegen stellen KB und Ada den Wert des Unperfekten, der das Menschliche ausmacht und zu wahrer Freundschaft führt. Auf jeden Fall ein kurzweiliges Lesevergnügen mit einer Botschaft!

Bewertung vom 28.07.2024
Artemisia Gentileschi und Der Zorn der Frauen
Jaskulla, Gabriela

Artemisia Gentileschi und Der Zorn der Frauen


ausgezeichnet

Starkes Porträt einer starken Frau
Artemisia Gentileschi ist eine Barockmalerin, deren Bilder noch heute in Museen zu bewundern sind. Doch ist sind die Hinweise auf ihr Leben durchaus lückenhaft. Diese Leerstellen fühlt die Autorin Gabriela Jaskulla in ihrer Romanbiographie über „Artemisia Gentileschi und Der Zorn der Frauen“ mit viel Leben. Sie gewährt uns viele Einblicke in mögliche Gedanken und Gefühle dieser Ausnahmeerscheinung, die in einer von Männern dominierten Welt der Malerei ihren eigenen Ausdruck sucht und immer um ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit kämpft und darum, sich der Kunst widmen zu können.
Dabei ist ihr Weg kein leichter. Sie macht schnell die bittere Erfahrung der Macht und dem Willen der Männer unterworfen zu sein. So wird sie im eigenen Hause von einem Freund des Vaters und künstlerischem Mentor vergewaltigt, in einem anschließenden Prozess um ihre gedemütigt. Sie begibt sich in eine Ehe, um sich eine neue Existenz aufbauen zu können. Sie strebt nach Bildung und Anschluss in gebildete, höhere Zirkel, um ihre Kunst malen, verkaufen und so selbständig leben zu können. Sie nimmt sich Liebhaber, gebiert Kinder, verliert Kinder, wechselt den Wohnort für neue Inspiration, wechselt erneut auf der Flucht vor der Pest und landet so von Rom über Florenz und Venedig in Neapel. Hier ist es der Vesuvausbruch, der ihre Existenz fast vollständig zu vernichten trachtet. Immer wieder muss sie neu anfangen, immer wieder sucht sie Anschluss, trifft auf Menschen, die sie weiterbringen, die ihr wohlgesonnen sind. Und doch muss sie immer wieder kämpfen, kommt nie an, wirkt immer allein und ein wenig einsam: eine Frau in einer Männerdomäne, eine ungebildete Frau in einem belesenen Zirkel, eine Frau, die häufig verschuldet ist, in einem Kreis adeliger Bewunderer. Einzige Konstante ist ihre Tochter Prudenzia, letztlich auch ihr einzig überlebendes Kind.
Gabriela Jaskulla zeichnet ein opulentes Sittengemälde der Zeit: mal dunkel von den Schatten des Aberglauben, der Macht der Kirche und der Gewalttätigkeit der Männer, mal schillernd bunt und aufregend im Licht der Feste, der prachtvollen Bilder und Kunst und im Glanz neuer Ideen und Entdeckungen. Und sie zeichnet ein Bild von Artemisia Gentileschi, von dem Leser in Atem gehalten wird: von ihrer Willenskraft, von ihrem Zorn, der sie antreibt, und von ihrer Schaffenskraft. Mit großer Kennerschaft bindet Gabriela Jaskulla die Bilder von Artemisia Gentileschi in die Handlung ein. Sie ergeht sich nicht in endlosen Beschreibungen, stellt aber trotzdem dem Leser die Darstellungen lebhaft vor Augen und bettet sie in ihren Entstehungskontext.
Bei alldem ist die Autorin stets bemüht, dem Leser zu verdeutlichen, dass die Romanbiographie ein mögliches, aber nicht das Bild der Künstlerin zeigt. Es ist keine Biographie, basierend auf einer dünnen Faktenlage, sondern es ist eine persönliche Hommage an das Bild einer bewundernswerten Frau.
Der mit viel Empathie und Sympathie für die Hauptfigur geschriebene Roman begeistert auf jeden Fall auch Leser abseits der Kunstszene.

Bewertung vom 28.07.2024
Columbusstraße
Dahmen, Tobi

Columbusstraße


ausgezeichnet

Fünf Sterne sind nicht genug!
Ein Wahnsinnsbuch ist das Comic-Epos „Columbusstraße“ von Tobi Dahmen. Über 500 Seiten (!) illustriert er darin die Geschichte seiner Familie von 1935 bis 1945 in Schwarz-Weiß-Bildern, deren Zentrum die „Columbusstraße“ in Düsseldorf ist. Es geht um die Infiltration nationalsozialistischer Ideologie in den Alltag und dann den beginnenden Krieg mit allen Folgen für die Familienmitglieder: die Bombennächte, den Fronteinsatz der älteren Söhne, die Kinderlandverschickung.
Ich bin kein absoluter Fan von Comics oder Graphic Novels, auch wenn diese sehr kunstvoll sein können. Aber mich hat überrascht, wie viel geschichtliches Faktenwissen, und wie viel mehr noch, wie viel Mentalität, Atmosphäre und Stimmungslage man in Schwarz-Weiß-Bildern zum Ausdruck bringen kann! Neben den absolut phantastisch gemalten Bildern, die so viele Details beinhalten, dass man das Buch immer wieder zur Hand nehmen kann und immer wieder Neues entdecken wird, vermittelt das Buch so viel lebendige Geschichte und greift so differenziert so viele schwierige Themen dieser Zeit auf, dass fünf Sterne auf der Bewertungsskala einfach nicht genug sind.
Ich bin absolut begeistert von diesem einzigartigen Buch, das man einfach nicht mehr aus der Hand legen will!! Es sollte nicht nur zur viel beschrieenen Pflichtlektüre in Schulen werden, sondern sei als ernsthaftes Lesevergnügen, so paradox das auch klingt, allen von Klein bis Groß sehr ans Herz gelegt!

Bewertung vom 28.07.2024
Der Raum dazwischen
Seib, Catherin

Der Raum dazwischen


schlecht

Man muss wohl dran glauben
Ich bin schon sehr skeptisch an dieses Buch herangegangen, habe aber versucht, mit vorurteilsfrei auf etwas Neues einzulassen. Allerdings ist es mir schwer gefallen.
Ich hatte mir auch eher ein Buch vorgestellt, in dem es allgemein um „Tierkommunikation“, so der Untertitel, geht. In dem Buch „Der Raum dazwischen“ beschreibt Catherin Seib allerdings eher ihren eigenen Weg mit ihren Pferden, wie sie mit ihnen spricht, welche Entscheidungen sie aufgrund dessen für sich und ihre drei Tiere fällt. Dabei geht es oft sehr persönlich und emotional zu, Traumata werden angedeutet, große Gefühlsdramen entfaltet.
Catherin Seib ist Tierkommunikatorin und entschied sich, ihr Leben in Deutschland hinter sich zu lassen und mit ihren drei Pferden, zwei Hunden und Lebensgefährten nach Costa Rica auszuwandern, weil sie in Deutschland das richtige Leben im falschen führte.
Dabei waren ihre Pferde ihre Wegweiser, sie sieht sich mit ihnen in einem besonderen „Raum dazwischen“ verbunden, in denen ihre Pferde ihre Leiden durchleben und ihr das, was in ihrem Leben falsch oder richtig läuft, durch Krankheit oder Wohlbefinden zurückspiegeln würden.
Das Pferde sehr sensibel Stimmungen „ihrer“ Menschen aufnehmen und spiegeln, ist nichts Neues, dass man mit ihnen wie auf wundersame Art kommunizieren kann, eine umwerfende Erfahrung.
Aber dass man mit ihnen wie in Menschensprache kommunizieren kann, dass sie eine Vorstellung von Lebensplanung und Traumabewältigung haben, dass man sogar mit toten oder noch nicht geborenen Tieren sprechen kann, die einem genau sagen, wie das Leben nach dem Tod ist, die einen in Träumen aufsuchen, um einem mitzuteilen, dass sie zu einem wollen, das klingt doch etwas sehr unglaubwürdig. Mehr als fragwürdig wird es dann, wenn man bei schweren Krankheiten der Pferde mehr auf eine vermeintliche Pferdestimme hört, als auf Tierärzte und die Krankheit dann umdeutet als einen Ausdruck des eigenen psychischen Leidens. Als erlebe das Pferd stellvertretend psychosomatische Leiden. Die Autorin muss davon zweifelsfrei ausgehen, so freimütig, wie sie schildert, dass ihre Stute über Monate hinweg mit offenen Hufen aufgrund einer Rehe, die dann aber doch keine sein soll, leidet, aber keine Behandlung wünsche und es selbst auch nicht für Rehe halte. Oder wenn sie beschreibt, wie ihr 26jährige Wallache am Ende immer wieder aufgrund von Schwäche hinfällt und sich dabei sogar im Stacheldraht – wer bitte hält seine Pferde hinter Stacheldraht? - verletzt, aber das nicht als schmerzhaft empfinde und noch nicht erlöst werden wolle, weil er noch eine Aufgabe zu erledigen habe – bei der es dann natürlich wieder um das Seelenheil der Besitzerin geht.
Ja, es gibt sicherlich Krankheiten, bei denen die Schulmedizin am Ende ist, und es ist richtig und wichtig, dass man sich die Zeit und die Ruhe nimmt, auf die feinen Signale der Pferde zu hören, und ihnen ihren eigenen Willen zugesteht. Und auch die Frage nach dem würdevollen Ende eines kranken, leidenden Tieres ist keine einfache, da sich der Mensch zum Richter über Leben und Tod aufschwingt und sich niemand frei machen kann davon, dass seine eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten ein solches Urteil beeinflussen. Ich finde es auch wichtig, dass es Menschen gibt, die „der Stimme“ der Pferde Ausdruck verleihen und ihr Gehör verschaffen. Aber die Art und Weise, wie das in diesem Buch geschieht, kann ich nicht zum Schluss hin immer weniger nachvollziehen.

Bewertung vom 24.07.2024
Mein drittes Leben
Krien, Daniela

Mein drittes Leben


sehr gut

Trauern muss man sich leisten können
Linda und ihr Mann durchleben den Albtraum jeder Eltern: sie verlieren ihr Kind bei einem Unfall. Nach einer Krebstherapie zieht Linda sich dann in ein kleines Dorf auf einen alten Hof mit einer Hündin und ein paar Hühnern zurück und ergibt sich ganz der Trauer. Lebendig begraben, so sagen es all ihre Verwandten und Freunde und können ihr Verhalten nicht nachvollziehen oder billigen. Ihr Mann gibt irgendwann auf. Er will weiterleben und eine Beziehung führen. Linda findet keinen Sinn mehr im Leben nach dem glücklichen Familiendasein, sie sucht ihn auch nicht. Sie absolviert die Tage und meidet die Nächte durch den Konsum von gedächtnisauslöschenden Schlaf- und Beruhigungstabletten. Als sie ihren Rückzugsort verlassen muss, ist sie gezwungen, sich dem alten Leben wieder ein wenig anzunähern.
Doris Krien schreibt in ihrem gewohnt unprätentiösen Stil, der unpathetisch Menschliches, Existentielles zum Ausdruck bringt und den Leser berührt. Er liest sich immer leicht, auch wenn Schweres gesagt wird. Man fliegt mit ihm über die Seiten. Ihre Figuren sind auch diesmal wieder interessant angelegt, man lässt sich gern auf ihre Geschichte(n) ein. Im ersten Teil konnte ich mich gut in die Protagonistin hineinversetzen. Man fühlt das Hineinbrechen von etwas Unaussprechlichem in ein alltägliches Glück, die Unfähgikeit, diesem zu begegnen, damit umzugehen und sich daraus zu erheben. Man erlebt die Momente mit, in denen Linda versucht, sich selbst zu spüren, indem sie sich auf das existentielle Minimum zurückwirft und sich den Einflüssen der Natur aussetzt. Man kann verstehen, dass sie die Menschen und ihre Hilflosigkeit im Umgang mit ihrer Trauer meidet. Und gleichzeitig scheint dieser Rückzug auch mutig, sich nur auf sich und seinen Schmerz zurückzuziehen. Das Leben steht still und geht doch weiter.
Im zweiten Teil wird mir die Figur etwas fremd bzw. werde ich ihrer zum Ende hin ein wenig überdrüssig. Linda kehrt in die Stadt zurück. Sie nimmt sich eine kleine Wohnung, richtet sie stilvoll, wenn auch minimalistisch ein. Sie arbeitet morgens im Schrebergarten einer Freundin, nachmittags hört sie die Klassiker der Literatur und macht lange Wanderungen. Details aus ihrem langsam erwachenden Leben werden festgehalten: ein Luxusfrühstück, ein Leinenkleid, eine Bronzefigur der Kassandra, Besuche im Museum, bei Konzerten. Der Schmerz ist noch da, aber er tritt langsam in den Hintergrund. Die Genußfähigkeit erwacht wieder. Und dabei führt sie ein privilegiertes Leben, auch wenn gegen Ende einmal der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit fällt. Sie ist frei, sich zu tun und zu lassen. Sie dreht sich um sich, auch wenn sie gemeinnützigen Organisationen spendet und einer alten Frau vorliest. Ihr ganzes Lebensumfeld ist kultiviert: der Mann Künstler, dessen Neue Krimiautorin, die Freundin erst Stimmbildnerin, dann beim Radio, die alte Frau einst Sprachwissenschaftlerin. Per se alles nicht verwerflich, auch wenn man sich fragt, wie jemand, dem es nicht vergönnt ist, nicht arbeiten zu müssen, in seinem Alltag Trauer über einen solchen Verlust wohl unterbringen mag. Was mich aber stört, dass sie – unbewusst, vielleicht auch ungewollt – aus ihrer bildungsbürgerlichen Stellung heraus anfängt, dass Leben ringsum zu bewerten, abzuurteilen: die Konsumgesellschaft, die fettleibigen Leute in einer von Müll verunstalteten Stadt, die nur auf ihr Smartphone glotzen und schlecht gekleidet sind. Ihre alte Freundin Esther ist ihr als schönheitschirurgisch verjüngte Lifestylerin ein Parasit an ihrem Leiden. Die neue Freundin wird zunehmend als mit der behinderten Tochter überfordert und schrill dargestellt. Die Neue des Nochehemannes erscheint mit ihrer Sippschaft dominant, eigensüchtig und ichbezogen. Der Kontrast wird auch deutlich an der Darstellung der Schrebergärten der beiden Parteien, die zufällig nebeneinander liegen: während Linda ganz naturnah dem Werden und Vergehen der Natur beiwohnt, wird der Schrebergarten ihres Mannes und seiner neuen Partnerin professionell von einem Gartenbauteam binnen weniger Tage eher dekoriert und in Szene gesetzt. Danach scheint er nicht mehr interessant und verwahrlost. Wohl ein Sinnbild für die Beziehung der beiden: mehr Schein als Sein. Als der Mann krank wird, ist es nicht die neue Partnerin, die er an seiner Seite wissen will, sondern Linda. Auch wenn das Ende offen ist, deutet sich hier für Linda ein Happy End an.
Ich habe das Buch mit großen Interesse gelesen, aber irgendwie stimmt mich die Entwicklung im zweiten Teil ein wenig ärgerlich. Dieser vor sich hergetragene bildungsbürgerliche Lifestyle überdeckt für mich das allgemein menschliche Ringen dieser Figur mit dem Leben in einer existentiellen Situation. Dieses Trauern und dieses aus der Existenz Geworfensein wird somit zu etwas, was man sich erst einmal leisten können muss – genauso wie der Weg zurück ins Leben. Wie macht das einer, der finanziell nicht in der Lage ist, sich ganz aus dem Leben und ganz auf sich selbst zurücknehmen kann?