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ulrikerabe
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Österreich

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Insgesamt 195 Bewertungen
Bewertung vom 13.12.2020
Die verschwindende Hälfte
Bennett, Brit

Die verschwindende Hälfte


ausgezeichnet

In einer kleinen Stadt in Louisiana wachsen die Zwillinge Desiree und Stella Vignes auf. Es sind sehr hellhäutige Mädchen, wie wohl alle Bewohner dieses Ortes, dem Gesetz nach gelten sie aber als Schwarze. Eines Tages verlassen die Mädchen heimlich ihren Heimatort, um in New Orleans ein neues Leben zu beginnen. Doch dort trennen sich auch ihre Wege. Während Stella einen weißen Geschäftsmann heiratet und fortan ihr Leben als weiße Frau zu leben versucht, nimmt sich Desiree den dunkelsten Mann, den sie finden konnte, zum Ehemann.
Die afroamerikanische Schriftstellerin Brit Bennett greift in ihrem Roman „Die verschwindende Hälfte“ die große Frage nach Zugehörigkeit und Identität auf. Das Buch erschien genau eine Woche nachdem ein weißer Polizist den schwarzen George Floyd getötet hatte, indem er acht Minuten lang auf seinem Hals kniete und mit diesem Vorfall der Ruf #blacklivematters laut und deutlich um die Welt ging.
Mallard, Louisiana, ist ein fiktiver Ort, der aber so existieren hätte können, so klein, dass er auf keiner Karte zu finden war. Es gab tatsächliche Orte, in denen die Schwarzen darauf achteten, nur andere hellhäutige Ehepartner zu finden, damit ihre Kinder über die Generationen immer hellere Haut haben würden. Als Desiree nach Jahren der Abwesenheit mit einem tief dunklen Kind an der Hand zurückkehrt, sorgt dies unter den Einwohnern von Mallard für große Aufmerksamkeit. Jude, Desirees Tochter, wird in der Schule gemobbt. - „Teerbaby haben sie sie genannt.“ - Der Junge, der sie untertags am schlechtesten behandelt, begehrt sie des Nachts. Jude verlässt Mallard, um in Los Angeles zu studieren, wo sie Reese kennen lernt, der als Theresa Ann geboren wurde und in Kalifornien sich zu seinem eigentlich gefühlten Geschlecht bekennen kann.
Stella hingegen lebt ihr gesamtes Erwachsenenleben in Lüge und Angst, dass ihre wahre Herkunft ans Licht kommt. - „Als Farbige trat sie ein, und als Weiße kam sie wieder heraus. Sie war weiß geworden, einfach weil alle sie dafür hielten.“- Diese Lebenslüge gibt sie auch an ihre Tochter Kennedy weiter. Erst als Jude und Kennedy sich zufällig kennen lernen, beginnt ganz langsam ein Zusammenrücken der beiden „Hälften“.
Zugehörigkeit, biologische und soziale Herkunft, „passing“ und Genderidentität. Worüber Brit Bennett scheinbar so mühelos schreibt, trifft einen existenziellen Kern unserer Zeit.
Schwarz. Weiß. Frau. Mann. Identität und Erwartung. Was sind wir? Was wollen wir sein? Was können wir sein? Mit der Neubestimmung ihrer Identität befassen sich in diesem Roman nahezu alle Personen. Alternative Lebensentwürfe über die Grenzen von Klasse und Geschlecht, wunderbar zusammengefasst in einem Generationenroman, den ich kaum aus der Hand legen wollte.

Bewertung vom 11.12.2020
Mord in Highgate / Hawthorne ermittelt Bd.2
Horowitz, Anthony

Mord in Highgate / Hawthorne ermittelt Bd.2


ausgezeichnet

Ein toter Scheidungsanwalt, eine sehr teure Flasche Rotwein ist die Tatwaffe. Kurz zuvor hatte das Opfer noch einen handfesten Streit mit einer Schriftstellerin, die durch die Gazetten ging. Fall gelöst?

So einfach macht es sich der britische Autor Anthony Horowitz und seinem ständig schlecht gelaunten Privatdetektiv Daniel Hawthorne nicht. Was nach einem biederen englischen Kriminalroman in besserer Gesellschaft klingt, ist ein wunderbarere Schlagabtausch des Ermittlers mit seinem Sidekick, der niemand andere ist als der Autor Horowitz persönlich.

Das Duo Hawthorne und Horowitz klärt den "Mord in Highgate", doch neben der Kriminalhandlung ist vor allem die Vermischung von Fakten und Fiktion höchst amüsant. Wie schon im Vorgänger ist man verleitet ständig ausforschen zu wollen, was echt und was ausschließlich des Phantasie Horowitz' entsprungen ist.

Von dieser Reihe bitte mehr davon!

Bewertung vom 08.12.2020
Die zitternde Welt
Paar, Tanja

Die zitternde Welt


gut

Anatolien, am Ende des 19. Jahrhunderts. Maria folgt von Österreich aus uneingeladen dem Vater ihres ungeborenen Kindes in das fremde Land. Wilhelm hatte sich dorthin davon gemacht, um am Bau der Bahnlinie nach Bagdad mitzuwirken. Maria bleibt und lebt mit Wilhelm ein äußerst unkonventionelles Leben: lange ohne Trauschein, drei Kinder, von denen nur Maria genau weiß, ob sie von Wilhelm oder dem französischen Hauslehrer stammen. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges zerbricht auch die Welt, die sich Maria errichtet hat.
Bis hierher hat die österreichische Schriftsteller Tanja Paar in ihrem Roman „Die zitternde Welt“ ein eindringliche Atmosphäre rund um eine starke, exzentrische Frau aufgebaut. Maria ist der Enge und Provinzialität ihres Heimatortes Leonding entkommen. In Anatolien verspürt sie Freiheit und eine besondere weibliche Autorität. Die Beziehung zu Wilhelm ist durchwachsen, sie nimmt diese aber in Kauf, um dort ihr Leben nach ihrer Fasson leben zu können.
„Maria fühlte sich nicht als etwas Besseres. Im Gegenteil: Sie wusste, dass sie einfach Glück gehabt hatte, unwahrscheinliches Glück. Dass ihr das Osmanische Reich eine Tür geöffnet hatte in ein Leben, das sie als einfache Frau in Wien nie hätte führen können.“
Der Krieg verändert alles. Krieg zerstört Lebenswerke, Lebensträume, zerreißt Familien, macht heimatlos, arbeitslos, entwurzelt. Die Welt wird auf den Kopf gestellt, wie auch das Cover des Buches anschaulich darstellt. Der historische Rahmen, die Veränderung der politischen Gefüge, der Zerfall der Großreiche der Osmanen wie der Habsburger hat Marias Welt erzittern lassen.
Hier setzt ein Bruch in der Geschichte ein, nicht nur inhaltlich. Es verschiebt sich die Perspektive vor allem auf den Sohn Erich. Die Figur der Maria, die es wieder zurück nach Wien verschlagen hat, verläuft im Sande. Unmotivierte Zeitsprünge, Vorgriffe verwirren und lösen sich erst im späteren Text auf. Die Leserin muss sich selbst den zeitlichen Anker erarbeiten. Die Orientierungslosigkeit des männlichen Protagonisten überträgt sich auf die Leserin. Die Atmosphäre aus der ersten Hälfte des Buches fehlte mir dringend.

Bewertung vom 21.11.2020
Gans Ernst von Jimmy Kimmel
Kimmel, Jimmy

Gans Ernst von Jimmy Kimmel


ausgezeichnet

Gans Ernst ist ganz ernst. Nichts an dieser Gans ist lustig. Nichts und niemand kann diese Gans zum Lachen bringen. Oder doch?
Ob groß oder klein, wer kennt das nicht. Tage, an denen nichts lustig ist. Irgendetwas tut weh., bedrückt uns, macht uns zu schaffen. Manchmal wissen wir gar nicht wo der Schuh drückt, sind missmutig, schlecht gelaunt, grantig.
Der amerikanische Moderator und Comedian Jimmy Kimmel hat dieses Buch geschrieben und illustriert als sein eigenes Kind erkrankt war. Die Erlöse aus dem Verkauf dieses Buchs spendet er an Kinderkrankenhäuser, allen voran an das Children’s Hospital Los Angeles.
Gemeinsam kreativ sein und gemeinsam Lachen ist das Ziel dieses Buchs. Wer mag, kann sich auch noch Malvorlagen über einen Downloadlink im Buch holen.
Jimmy Kimmel stellt uns auf eine schwere Probe. Denn sein „Gans Ernst“ ist eine Herausforderung. Hier sind alle gefragt, Eltern und Kinder. Eltern sollten sich auf dieses interaktive Bilderbuch einlassen und mit Mitmach-Kreativität die Gans und vor allem auch ihr Kind zum Lachen bringen. Bei kleineren Kindern (ab etwa drei Jahren) steht und fällt das Buch sicherlich mit der „Vorlesequalität“ des Erwachsenen. Aber dann werden Kinder ihre nicht gans ernst zu nehmenden VorleserInnen und das Buch lieben. Eltern können in dem Buch aber auch sehr schön in den Bildern auch „zwischen den Zeilen lesen“. Ich persönlich habe über das sehr „amerikanische“ Ende laut lachen müssen. Und es tut auch uns Großen gut, sich mal aus der Reserve locken zu lassen.

Bewertung vom 12.10.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


sehr gut

Im isländischen Raufarhöfn lebt Kalmann Óðinsson. Er ist etwas anders, schon seit seiner Geburt. Vermutlich laufen die Räder in seinem Kopf rückwärts, sagt er von sich selbst. Aber er kommt zurecht in seinem Haus, in der Dorfgemeinschaft. Von seinem Großvater hat er alles gelernt, was für das Leben am nördlichsten Zipfel Islands nötig ist. So wurde aus ihm ein Haifischjäger und Kalmanns Gammelhai wird fast so gut wie der seines Großvaters. Auch wenn er wie berufen ist für das Jagen und Schießen, begegnet Kalmann den Tieren an Land und zu Wasser mit Respekt, tötet nicht aus Vergnügen. Jetzt ist sein Großvater selbst pflegebedürftig und es gehört zu Kalmanns wöchentlicher Routine, den alten Mann im Heim zu besuchen. Routine ist ihm wichtig und das Einhalten von Abmachungen.

Viel passiert nicht in dem abgeschiedenen Fischerdorf. „Am Ende der Welt links abbiegen!“, sagt Kalmanns Mutter über den Ort. Seit dem Deal mit den Fischereiquoten ist es still im Hafen, die Schule besteht nur mehr aus einer einzigen Klasse. Der Touristenstrom, für die der „Quotenkönig“ Róbert McKenzie ein Hotel und das Arctic Henge Monument errichten ließ, blieb aus. Doch dann ist eines Tages Róbert verschwunden und Kalmann findet eine große Blutlache im Schnee.

„Denn Schnee ist Schnee, und Blut ist Blut. Und wenn einer spurlos verschwindet, ist das vor allem sein Problem.“

Hätte er nur über seine Entdeckung geschwiegen, überlegt Kalmann, denn damit fingen die Probleme an.

Der Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt lebt schon seit etlichen Jahren mit seiner Familie in Island und hat seinen Roman „Kalmann“ auch dort angesiedelt. Der Kriminalfall Róbert McKenzie – denn dass der Hotelbesitzer wohl tot ist, wird schnell vermutet - ist der äußere Rahmen eines besonderen Romans. Schmidt lässt seinem Ich-Erzähler Kalmann sehr viel Gelegenheit über das Leben in Raufarhöfn zu berichten. Da gibt es diesen Mikrokosmos der Ortsgemeinschaft, in der Kalmann trotz seiner Besonderheit sehr gut zu Rande kommt. Als Kind hatte er es vielleicht etwas schwerer, lachte mit, wenn alle (über ihn) lachten, um nicht der einzige zu sein, der nicht lacht. Mit dem Lernen, dem Lesen und Rechnen da haperte es. Aber beim Lesen von Karten ist er unschlagbar. So kommt es auch dass er heute als selbsternannter Sheriff von Raufarhöfn durch den Ort patrouilliert, alle Ecken und Enden kennt, kleine Aufgaben übernimmt und sich wichtig fühlt. Auch mit seinem Boot auf dem Meer kennt er sich aus.

Allein, er ist vergesslich: „…Und das ist eine meiner Schwächen. Ich kann wichtige Sachen einfach so vergessen. Vor allem, wenn ich aufs Meer fahre. Als würde das Meer alle Erinnerungen schlucken…“

Meiner Ansicht nach braucht Kalmann auch den Vergleich nicht zu Forrest Gump, der immer wieder ins Gespräch geführt, von Schmidt sogar selbst initiiert und von Kalmann zurückgewiesen wird.

„Ich kann nicht schnell laufen und auch nicht Pingpong spielen und früher wusste ich nicht mal, was ein IQ ist.“

Für Schmidt war es wichtig, dass der Behinderung seines Protagonisten nicht allzu viel Bedeutung zu kommen soll. Wenn Kalmann nach außen auftritt wirkt er in seiner Denkweise oft wie ein Kind. Bei seinen inneren Monologen ist er reflektiert und klug. Es braucht keine Schublade, in die Kalmann zu stecken ist. Genauso wenig braucht der Roman eine Schublade der Genrezuteilung. Wer diesen Roman gerne als Krimi lesen möchte, steht nicht allein da. Schließlich findet man das Buch auf so mancher Krimibestenliste wieder.

Ob Krimi oder nicht - so wie Kalmann immer zu sagen pflegt: „Kein Grund zur Sorge!“ Der unzuverlässige Erzähler Kalmann sorgt tatsächlich für genug spannende Momente. Seine besondere Sicht auf die Dinge aber auch seine Auslassungen - den Kalmann erzählt uns lange nicht alles, was ich im Übrigen für zutiefst menschlich und normal ansehen würde – erstaunen immer wieder aufs Neue.

Bewertung vom 12.10.2020
Ihr Königreich
Nesbø, Jo

Ihr Königreich


sehr gut

Os ist eine kleine Gemeinde im ländlichen Norwegen. Dort betreibt Roy Opgard eine Tankstelle. Als nach 15-jähriger Abwesenheit Roys jüngerer Bruder Carl nach Os zurückkehrt, ändert sich Roys beschauliches und eintöniges Leben schlagartig. Denn Carl hat nicht nur seine Ehefrau Shannon mitgebracht, sondern er hat auch Pläne für den Bau eines Hotels im Gepäck. Während Carl noch Investoren für sein Projekt auftreiben will, geraten wieder alte Gerüchte in Umlauf: über den Unfalltod der Eltern der Opgardbrüder vor vielen Jahren und über das rätselhafte Verschwinden des Dorfpolizisten danach.
Der norwegische Schriftsteller Jo Nesbø wird der Leserschaft vor allem durch seine Krimireihe um den abgehalfterten Ermittler Harry Hole bekannt sein. „Ihr Königreich“ ist ein Einzelband, ein Kriminalroman, aber auch wieder nicht. Ungeklärte Todesfälle sind ein elementarer Bestandteil für einen Krimi und die gibt es in diesem Roman auch. Aber das Buch ist noch viel mehr ein tiefer Blick in menschliche Abgründe. Ein Kammerstück um Moral, Gier, Begierde und Liebe.
Nesbø legt sein erzählerisches Können in die Hände von Roy Opgard, dem älteren Bruder. Roy ist wortkarg, ein Eigenbrötler. Ein stilles Wasser, doch die sind bekanntlich tief. Und er ist ein absolut unzuverlässiger Erzähler. Es ist Stückwerk, das nach und nach zusammengesetzt wird. Roy hat Geheimnisse, das ist sehr schnell klar. Aber es dauert, bis er hinter die Fassade blicken lässt.
„Roy ist der Erzähler, der uns sagt, wer wir sind, sagte Carl. Er selbst ist alle und niemand. Der Gebirgsvogel ohne Namen.“
Der Hof der Opgards ist gefährliches Terrain. Am Rande eines Abgrundes. Der Vater bezeichnete ihn als „das Königreich“. Eine Bastion der Familie, die es zu verteidigen gilt.
„Wir sind eine Familie. Wir haben einander und sonst niemanden. Freunde, Geliebte, Nachbarn, die Dorfbewohner und Landsleute, alles Illusion. Wenn es eines Tages darauf ankommt, sind sie nichts wert. Dann heißt es, wir gegen sie, Roy. Wir gegen alle anderen. Absolut alle. Hast du das verstanden?“
Doch Familie ist nicht immer ein sicherer Ort, das mussten die Opgard Brüder schon als Kinder erfahren. Roy, der ältere, stand schon immer tatkräftig für seinen Bruder Carl ein, versteht, was zu tun ist, macht sich auch mal die Hände schmutzig. Es ist ein kleines bisschen wie bei Macbeth, Schuld lässt sich nicht abwaschen. Carl ist charmant, windig, ein charismatischer Verführer. Er weiß um die bedingungslose Liebe seines Bruders und nützt dies aus. Doch auch er scheitert letztlich an Roys Untiefen.
Loyalität auf dem Prüfstand, bis zur Zerreißprobe. Jo Nesbø lässt tief blicken in die Abgründe menschlichen Handelns. Allzu nahe sollte man an diesen Abgrund nicht gehen, denn er schaut zurück.

Bewertung vom 25.09.2020
Das Haus in der Claremont Street
Carolsfeld, Wiebke von

Das Haus in der Claremont Street


gut

Tom ist acht Jahre alt, als sein Vater Russell Mona, Toms Mutter, erschlägt und sich danach selbst tötet. Seither hat Tom kein Wort mehr gesprochen. Das traumatisierte Kind kommt zunächst zu seiner kinderlosen Tante Sonya, die aber bald mit dessen Betreuung überfordert ist. So zieht Tom zu Tante Rose und Onkel Will in die Claremont Street, wo er endlich ein Zuhause finden soll. Nur sehr langsam findet sich Tom in seiner neuen Normalität zurecht.
„Das Haus in der Claremont Street“ ist der Debütroman von Wiebke von Carolsfeld. Ihr beruflicher Werdegang führte die Autorin über die Verlagswelt in Deutschland nach Kanada, wo sie als Filmemacherin tätig ist.
Es ist grundsätzlich ein berührendes Setting, um das es in diesem Buch geht. Der Prolog ist eindringlich, geht unter die Haut. Ein kleiner Junge verliert „auf einen Schlag“ alles, Mutter, Vater, das Zuhause. Tom zieht sich in seiner Trauer in Schweigen zurück, fühlt sich am Tod der Mutter mitschuldig, weil er ihr nicht helfen könnte. Monas Tod ist aber für die gesamte Familie eine ungeheure Zerreißprobe. Denn genaugenommen schwelen schon immer in dieser Familie unausgesprochene Konflikte.
Da ist Sonya, die Perfektionistin in ihrer kleinen sauberen, organisierten Welt. Doch sie leidet an ihrem unerfüllten Kinderwunsch, will Tom zu ihrem „Projekt“ machen an dem sie scheitert.
„Nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen hätte sie sich ausgemalt, dass sie einmal hier enden würde, in dieser Speisekammer, mit diesem Jungen, der kein einziges Wort sprach und nicht weinte, ja der sich nicht einmal berühren lassen wollte. Ein Junge, für den sie von jetzt an verantwortlich war. Ein eigenes Kind, von jetzt auf gleich.“
Rose hingegen kämpft an allen Fronten einer Alleinerzieherin: Geldmangel, Zeitmangel, der Sohn ein Pubertist, das Haus eine Bruchbude. Und zu allem Überfluss muss sie auch nicht mit Will, ihrem Bruder, klarkommen, der sich vor jeder Verantwortung drückt, wo er nur kann.
Das ganze Familiengefüge droht auseinanderzubrechen:
„Was uns nicht umbringt, macht uns stark. Das kann man doch nicht in Gegenwart eines Kindes sagen, das so traumatisiert ist wie Tom!....Und es stimmt nicht einmal. Tom ist nicht stärker, weil er überlebt hat. Keiner von uns ist stärker geworden. Und Mona ist tot. Manchmal bringt einen so eine Scheiße einfach um. Und Tatsache ist, dass keiner von uns irgendetwas unternommen hat, um das zu verhindern.“

Doch anstatt Tom in den Mittelpunkt der Erzählung zu rücken, und damit eine tiefere Beziehung zu dem kleinen Protagonisten aufzubauen, ergeht sich die Geschichte am täglichen Kleinkrieg zwischen den Erwachsenen. Mit derselben Energie, die Rose auf ihre verstopfte Küchenspüle aufwendet, widmet sich die Autorin Nebenschauplätzen der Befindlichkeiten der Geschwister.
„…, dass einem Familie nicht immer Sicherheit bietet…Das sollten Sie doch wohl wissen.“

Hier meine ich, will die Autorin zu viel an Themen unterbringen und verliert dabei an Relevanz. Was ich schade finde.

Bewertung vom 21.08.2020
Omama
Eckhart, Lisa

Omama


sehr gut

Helga ist 11 Jahre alt als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. „Hilfe, die Russen kommen!“, schallt es durch den bäuerlichen Ort Mautern. Helga wächst dort im Schatten ihrer hübschen, aber einfältigen älteren Schwester Inge auf, deren Jungfräulichkeit jedenfalls vor den Besatzern bewahrt werden muss. Der Vater ist ein arbeitsloser Trinker, die Mutter rackert sich ab und verteilt Watschen wie warme Semmeln. Solange Helga unter der Vormundschaft ihrer Eltern steht, wird sie an diverse Stellen vermittelt, hauptsächlich um die Schulden der Eltern abzuarbeiten. Bis sie bei der Wirtin von Freienstein landet…..
„Omama“ ist der Debütroman der österreichischen Kabarettistin, die unter ihrem Künstlernamen Lisa Eckhart bekannt ist.
Es ist nicht ganz einfach unbeeindruckt und unbeeinflusst ein Buch zu lesen, wenn gerade eine Diskussion um die Autorin entbrannt ist. Wie weit muss eine Kunstfigur political correctness einhalten? Ist es schon zwingend nötig, Satire, als solche zu kennzeichnen, um verstanden zu werden? Gilt der Vorwurf Lisa Eckhart fische am rechten Rand oder hält sie einfach der Gesellschaft einen Spiegel vor? Wobei man nicht außer Acht lassen sollte, dass es genug Menschen gibt, die sich gerne im Spiegel betrachten.
Was haben diese Fragen nun mit dem Buch „Omama“ von Lisa Eckhart zu tun. Nichts. Oder alles. Omama ist ein bitterböser Nachruf auf die Großmutter Helga. Vom rechten Rand weit entfernt und noch viel weiter entfernt von einer „Trümmerfrauenromantik“ und Nachkriegssentimentalität. Wenn Kunstfiguren Großmütter haben, dann muss es schon jemand wie die Helga sein. Politisch korrekt läuft hier nichts ab. Lisa Eckhart schwadroniert, derb, laut, ohne Blatt vor dem Mund.
Über die Feinheiten der österreichischen Sprache….
„Sie hat viele Haberer, aber kein Haberer hat sie. Denn Haberer kommt nicht von haben. Ein Haberer ist der, der habert...."
…. und die „unsrigen“ tradierten Werte. Sämtliche gängigen Klischees ruraler Lebensweise und Stammtischparolen aller Art walzt Eckhart aus, bis sie dünner sind als ein Schnitzerl vom Figlmüller.
„Das Wiener Schnitzerl muss so groß und dünn wie möglich sein. Ein Schnitzerl wie ein Jungfernhäutchen. Vom Ausmaß des Wörthersees.“
Das Wirtshaus wird zur Vierten Gewalt im Staate. Überspitzt und pointiert nimmt Lisa Eckhart Abstecher, definiert Mutterliebe neu, erklärt Geheimnisse und ihre Sicht zur Relevanz von Nebenpersonen in Romanen.
„Jeder andere Schriftsteller hätte den Hansi immerzu erwähnt, war er auch niemals von Belang. Der Vollständigkeit halber wird alles beschrieben, weil die Autoren selbst nicht wissen, was davon wahrlich relevant ist. Himmelsfarben, Teppichfransen, Hunderte Zitronenspalten zu einem geschmacklich unrettbaren Schnitzel, und zack, hat man die Buddenbrooks.“
Situationskomisch betritt Lisa Eckhart einen sehr breiten Boulevard der schrägen Anekdoten. Von der „Mautnerschen Adolf-Verwechslung“ zu Nachkriegszeiten, die im Verschwinden eines alten Malers gipfelt, über eine Neudefinition des Pannonischen Picknicks im August 1989 bis hin, wie Helga den politischen Bauernfänger der 1990er mit zweifelhaftem Kultstatus um den Finger wickelt. Die mannstolle Traumschiffepisode war dann schon ein Alzerl zu viel (das phonetische äöüi lässt sich schriftlich nicht festhalten).
Links? Rechts? Helga ist das Zentrum ihres eigenen Universums und so geradeaus, direkt und unverblümt wie möglich. Mit ihrer zynischen Sicht der Dinge, hält Lisa Eckhart den Leser auf Abstand und diesem auch hier einen Spiegel vor.
Spieglein, Spieglein an der Wand… Provokation ist Lisa Eckharts zweiter Vorname, kontrovers ein Kosename für die Autorin.
Und ich möchte mit einem Zitat unseres von mir sehr geschätzten Bundespräsidenten abschließen.
„So sind wir nicht, so ist Österreich nicht.“
So sind wir nicht! Nicht alle!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.08.2020
Verschollen in Palma
Kallentoft, Mons

Verschollen in Palma


sehr gut

Heiße Sommer auf Mallorca. Partys, Sex, Drogen, Alkohol, und mittendrin irgendwo ist die sechzehnjährige Schwedin Emme Blanck. Tot oder lebendig? Emme, die seit drei Jahren in ihrem Urlaub in Palma vermisst wird. Seither sucht ihr Vater Tim unermüdlich nach ihr. Tim hat Stockholm und seine Frau Rebecka verlassen und arbeitet nun auf Mallorca als Privatdetektiv. Er erhält von Peter Kant, einem vermögenden Deutschen, den Auftrag, dessen Ehefrau Natascha zu beschatten und des Ehebruchs zu überführen. Kurz nach dem Tim seine Ermittlungsergebnisse präsentiert ist Natascha verschwunden, der Lover Tot und Peter Kant unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Doch Peter beteuert seine Unschuld. Ein abgekartetes Spiel? Tim gerät in ein dunkles Netzwerk aus Korruption, Gier und Macht.
Wer Mons Kallentoft und seine Bücher kennt, weiß, dass der schwedische Autor nicht zimperlich ist und seine Protagonisten nicht schont. So ergeht es auch Tim Blanck in dem Thriller „Verschollen in Palma“.
Tim Blanck ist ein Getriebener, er trinkt zu viel, hat genug eigenen Dreck am Stecken. Die Ehe mit der Ärztin Rebecka ist gescheitert. Während Rebecka eine neue Beziehung hat, die am Kinderwunsch des neuen Mannes in die Brüche zu gehen droht, hantelt sich Tim auf Mallorca von einem miesen Auftrag zum nächsten. Bei allem was Tim tut, hat er Flashbacks von Emme aus glücklichen Tagen, plagt sich mit Vorwürfen, seiner Tochter Emme eine Reise nach Mallorca erlaubt zu haben.
„Wen sehe ich da? Ist das Tim Blanck? Emmes Vater, Rebeckas Ex-Ehemann. Ist es der Privatdetektiv? Der einsame Mann auf Mallorca.“
Emme wollte eine unbeschwerte Zeit im Urlaub mit zwei Freundinnen verbringen, ohne Eltern. Doch die begehrte Urlaubsinsel besteht nicht nur aus Freude und Sonnenschein. Mons Kallentoft zeigt neben dem biergeschwängerten Ballermann und den Partylocations der reichen Elite auch die Schattenseiten des Urlaubsparadieses, die Armut, die schlechten Wohnverhältnisse, die Wasserknappheit und prekären Arbeitsbedingungen.
„…die armen Schlucker an Spaniern und Mallorquinern, die hier wohnen, kommen von ihrer Arbeit nach Hause, mit hängenden Schultern, gekrümmtem Rücken, müdem Gesicht, dem Gesicht eines Arbeiters, ein zufriedenes Gesicht, wieder ein Tag mit Arbeit, wieder ein Tag im Leben eines mileurista, wieder ein Tag mit Essen auf dem Tisch, wieder ein Tag, an dem man für die Kinder etwas Besseres erhoffen kann als das, was das Leben einem selbst bietet.“
Auf diesem Nährboden gedeiht ein prächtiger Sumpf von Gewalt, Prostitution, Amts- und Machtmissbrauch, der sich aufgrund der Verschwiegenheitskultur derer, die sich an der Macht berauschen, immer weiter wachsen wird. Tim erkennt dass Emmes Verschwinden mit seinem aktuellen Fall zusammenhängen muss….
„Gerade im Moment sind es nur vermisste Gesichter, die miteinander verschmelzen, Begierden, weitere Begierden, Gier und Geld, Geld und noch mehr Geld.“
…und was als verzweifelte Suche eines Vaters nach seiner Tochter beginnt, entlädt sich in einem furiosen Finale.