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fraedherike

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Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


sehr gut

Von melodischer Leichtigkeit und Poesie sind die Worte, mit denen Valery Tscheplanowa in ihrem autobiographisch inspirierten Debütroman „Das Pferd im Brunnen“ die Bilder dreier Frauen zeichnet, dreier Generationen, die sich vom Zweiten Weltkrieg und der Perestroika bis in die Gegenwart erstrecken, von einem kleinen Dorf in Norddeutschland bis nach Russland - und zwischen den Welten: Walja. Über kurze, keinem zeitlichen Faden folgenden Szenen nähert sie sich ihrer Mutter Lena, der Großmutter Nina und deren Mutter Tanja an, den Frauen, die die Wurzeln pflanzten, aus denen sie heute deren Erinnerungen weiterlebt.

"Für die Menschen ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen wurden, und nun ist Selbstständigkeit gefragt. Woher aber Selbstständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?“ (S. 107)
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Waljas Mutter Lena verließ 1988 das „zerfallende Land“ (vgl. S. 40), um nach Deutschland zu gehen; ihr Bruder Mischa begleitete sie, doch er fühlte sich ratlos in der Fremde, einsam in der Sprache, die er nicht beherrschte, verloren auf den sterilen Gängen des Jobcenters: "Dort im Ausland gab es die erdrückende Selbstverständlichkeit der Unterschied. Ganz so, als gebe es für jeden Menschen eine eigene Realität." (S. 40)
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Sieben Jahre später kehrte er zurück nach Kasan, zurück in die Wohnung seiner Kindheit. Er ist der einzige Mann, der geblieben ist, waren sämtliche Väter aus dem Leben der Frauen verschwunden: „Tanjas Mann war im Krieg gefallen, Ninas Mann hatte sich mit einem Haufen Eier, Brot und Butter in den Herzinfarkt gefressen, und Lenas Mann hatten die Trümmer der Sowjetunion unter sich begraben. Die Gesichter der Väter geisterten fortan in den Köpfen dieser Frauen, und sie fanden die Linien nicht wieder. Die Frauen krempelten die Ärmel hoch. Sie hatten die Kinder zu versorgen, die Tiere zu füttern und die Pflanzen zu gießen." (S. 165) Das war ihnen, diesen so unterschiedlichen Frauen, gemein: ihr Wunsch nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Und doch spielten auch die politischen Umstände, der Zerfall der Sowjetunion und die damit verbundene Armut eine wegweisende Rolle in ihrer aller Leben.
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Berührend und zermürbend, bisweilen bitter-ironisch und humorvoll sind die Bilder, die Valery Tscheplanowa zeichnet, und von einer sepiafarbenen Weichheit. Sie erzählt von der Rolle des Glaubens und Heiligenbildern, vom Verliebtsein und der Angst vor Einsamkeit, von Fürsorge und Mutterliebe – und dem Fehlen derselben –, vom Älterwerden und dem Tod, von Narben, die die Jahre, die Generationen überdauern und fortleben. Und von den blinden Flecken unserer Geschichte, die wir zu füllen versuchen. Während ich die erste Hälfte förmlich inhaliert habe, vollends geborgen in der Sprache und diesen besonderen Figuren, verlor mich die Geschichte zum Ende hin aus mir unerfindlichen Gründen. Ich kann nicht genau sagen, ob es letztlich die fehlende Präsenz der Erzählerin innerhalb der einzelnen Anekdoten ist, der schleichende Wandel der Tonalität, oder doch das zeitliche Setting, in dem ich das Buch las. Davon abgesehen hatte ich nämlich durchaus das Gefühl, dass das ein unbedingtes Highlight werden würde. Und das wünsche ich mir sehr.

Bewertung vom 13.08.2023
Vom Ende der Nacht
Daverley, Claire

Vom Ende der Nacht


ausgezeichnet

"Uns wird beigebracht, dass wir uns um all das einen riesen Kopf machen müssen. Als würde jede Entscheidung, die wir treffen, einen ganz bestimmten Weg vorgeben." (S. 35)

Dunkel liegt die Nacht über ihnen, ihre Gesichter nur erhellt vom sanften Schein des Lagerfeuers. Bis zu diesem Abend war Rosie ihm nicht aufgefallen. Er wusste nur wenig über sie, dieses Mädchen mit den blassen, schmalen Händen, doch als Will sie leise lachen hört, fängt etwas in ihm Feuer. Sie kommen ins Gespräch, zuerst nur Smalltalk, Belangloses, aber ihre Nähe gibt ihm Sicherheit; ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr in der Nähe eines anderen Menschen gespürt hatte – und ihre Stimme hält ihn wach in dieser Nacht.

"Sie existieren im Tandem und verlangen sonst nichts voneinander." (S. 213)

Sie kann nicht aufhören an ihn zu denken. In der Schule wirkt er unnahbar, als sei er zu cool, sich mit anderen Menschen abzugeben, ein Aufreißer. Aber Rosie hat eine andere Seite von ihm kennengelernt, hinter die Fassade geblickt. Für einen Abend. Aus einem Abend wird eine Nacht. Schlaflos sitzen sie in der Küche im Haus von Rosies Eltern, Will hatte ihrem Zwillingsbruder Josh Nachhilfe gegeben, und essen Cornflakes, draußen wirbelt der Schnee. Zaghaft lernen sie einander kennen, tasten sich mit Worten ab, mit Blicken. Aus einer Nacht werden Tage und Wochen, wird: Liebe. Es könnte für immer sein, das spüren sie beide, aber dann passiert ein schlimmes Unglück und nichts ist mehr, wie es vorher war. Sie verlieren einander, doch die Gedanken aneinander niemals. Und Liebe überdauert alles, oder?

"Wie kann Liebe falsch sein? Wie kann irgendeine Form der Liebe schlecht sein?" (S. 156)

Auf den ersten Blick klingt das alles sehr nach Klischee: der hotte, unglaublich coole Typ, der von allen Mädchen angehimmelt wird, und das schüchterne, liebe Mädchen verlieben sich ineinander, aber dann passiert ein Unglück, und dennoch leben sie glücklich bis ans En... Nein, nein. Was Claire Daverley in ihrem Debütroman „Vom Ende der Nacht“, aus dem Englischen von Margarita Ruppel, entspinnt, ist viel mehr als das. Und doch konnte mich das Buch leider nicht abholen.

Es sind vor allem die Momente, in denen Rosie und Will gemeinsam im Bild sind, die mich... genervt ist nicht das richtige Wort dafür, aber kommt dem, was ich gefühlt habe, schon ziemlich nah. Zuckersüß bis cringe, blumige Beschreibungen einer zart entflammenden Liebe; klar, so sah meine Welt vermutlich auch aus, als es mich packte, aber hier war es für meinen Geschmack einfach zu viel. Diesem Gefühl konnte Einhalt geboten werden durch die tieferen Ebenen, die sich auftun – wobei auch das irgendwie gewollt anmutete, weil es musste einen Turning Point geben. Ab da hatte die Geschichte mich wieder, denn es sollte der erste Break der beiden sein: Rosie geht, lässt Will, lässt ihr altes Leben hinter sich, um eine Andere zu werden, während Will seinen Schmerz in Alkohol und Arbeit ertränkt.

Liebevoll zeichnet Daverley die unterschiedlichen Arten des Trauerns, der alten Narben, die sie tragen, und der neuen, die sie verbinden, erzählt von Wills Vergangenheit und seiner Familie, von Rosies neuem Leben an der Universität und dem Gefühl, für immer einen Teil seiner Selbst verloren zu haben; von Abhängigkeit und Schmerz, von Einsamkeit, Sehnsucht und Naivität. Und: von den Launen des Schicksals, das sie voneinander weg und zueinander hin wirbelt. Leider konnten mich weder die Protagonist:innen noch der Plot zu irgendeinem Zeitpunkt abholen, überflog ich ab der zweiten Hälfte die Seiten, in der Hoffnung, noch einmal einen Einstieg zu finden, aber auch am Ende der Nacht fanden wir uns nicht. Schade!

Bewertung vom 10.08.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


ausgezeichnet

Ach, was hat mir diese Reise nach Nincshof Spaß gemacht! Voller Zärtlichkeit und wärmendem Humor erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman „Nincshof“ die Geschichte eines ganz besonderen Sommers für die Bewohner:innen eines kleinen Dorfes im Burgenland, dessen Existenz seit jeher auf Legenden fußt. Es geht um das Erinnern und Vergessen, um das, was im Leben zählt, um das, was Familie und Heimat, Glück für einen Menschen bedeuten. Nach und nach lernen wir die unterschiedlichen Bewohner:innen kennen, allen voran Erna, eine alte Dame, die seit jeher in Nincshof wohnt. Einen jeden Morgen erinnert die erdrückende Stille sie daran, dass sie Witwe ist, einsam, ihr Leben ohne ihren viel zu früh verstorbenen Ehemann sinnlos. Von allen nur „die Neue“ genannt, sucht Isa Bachgasser, die als Regisseurin bereits einige Preise für ihre Filme gewonnen hat, nach einem Burnout Ruhe und hofft sie in Nincshof zu finden. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte die Probleme, sich in der neuen Rolle als Mutter ein, in ihrem neu geformten Körper wiederzufinden, von einem Augenblick auf den anderen nur noch „Vieh im Molkereibetrieb“ (S. 272) zu sein, dem Urteil anderer ausgesetzt.
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Es sind eben diese besondere Atmosphäre, die sich wie eine Glasglocke über einen wölbt und komplett aus der Gegenwart, hinein ins Dorfleben saugt, und die Ausgewogenheit, ja, der fließende Übergang zwischen heiteren, urkomischen Momenten und ernsten Themen, die die Autorin anhand der unterschiedlichen Biografien ihrer Protagonist:innen behandelt, die diese Geschichte so besonders machen. Lachte ich im ersten Augenblick über die schrullige Dreistigkeit Erna Rohdiebls, nächtens im Pool ihrer Nachbarn schwimmen zu gehen, wurden mir im nächsten die Augen feucht, als sie von ihren Verlusten erzählte, von ihren Kindern, ihrer Einsamkeit. Sie alle haben ihre Erfahrungen im Leben gesammelt, versuchen, eine bessere Mutter, Freundin, Ehefrau zu sein, die Stille zu besiegen, das Glück zu finden, vererbte Trauma zu überwinden, auch wenn sie dieses kribbelnde Unwohlsein nicht ganz verstehen. Ach, ich habe sie alle ungemein lieb gewonnen, Nincshof und seine Bewohner:innen, und diesen Sommer werde ich ganz sicher nicht vergessen!

Bewertung vom 07.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

In zwei, sich allmählich annähernden Zeitebenen erzählt Alena Schröder in ihrem neuen Roman "Bei euch ist es immer so unheimlich still" die Geschichte von Silvia und ihrer Mutter Evelyn. Nach all den Jahren treffen sie im Sommer 1989 unverhofft wieder aufeinander, war der Kontakt zwischen Mutter und Tochter nach Silvias Flucht aus dem elterlichen Nest, das keines war, nur ein seidener Faden, der immer wieder zu reißen drohte. Seit dem Tod ihres Mannes Karl vor einigen Jahren war Evelyn alleine, hatte sein Verlust ihr den letzten Meter Boden unter den Füßen geraubt, nachdem sie bereits mit ihrem Ruhestand jene Zielstrebigkeit verloren hatte, die ihr so zu eigen war.
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Beginnend im Jahr Evelyns Hochzeit mit Karl 1940 entwirft Schröder aus verschiedenen Perspektiven, etwa der ihrer Schwägerin Betti oder eben jenem Gatten, ein eindrückliches, wie in Sepiafarben gehülltes Bild der Nachkriegszeit, beschreibt die Wege des Schicksals, die Evelyn ein Teil der Familie Borowski haben werden lassen; die Narben, die der Krieg bei Karl hinterließen und seine Beziehung zu seiner Schwester Betti nachhaltig veränderten; die Schwierigkeiten, mit denen Evelyn als Frau Doktor in einer patriarchalischen Welt umzugehen hat. Am meisten Schwierigkeiten bereitete ihr jedoch die Rolle als Mutter: Nachdem es einige Jahre dauerte, bis sie endlich schwanger war, fühlte sie sich als Mutter so hilflos wie noch nie in ihrem Leben – und entsprechend
distanziert war die Beziehung zu ihrer Tochter. Betti hingegen, ihre Tante und das
Enfant terrible der Familie, sollte für Silvia eine Vertrauensperson in den dunkelsten Stunden ihres jungen Lebens werden. Sie waren einander ähnlicher als Mutter und Tochter, schlugen über die Stränge, suchten die Grenzen, die Freiheit, waren ihrer Zeit weit voraus, doch das Schicksal hatte anderes im Sinn.
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Mitreißend und wärmend offenbart Schröder nach und nach Versatzstücke aus vergangenen Zeiten, aus Silvias Jugend und Kindheit, aus Evelyns Leben als Neigschmeckte, Mutter und Ehefrau, aus zwei unterschiedlichen Lebenswelten. Ihre Entwicklung, wie sie sich miteinander verändern, an der neuerlichen Verbundenheit wachsen, hat mich in Atem gehalten, konnte ich mich von Beginn an in ihrer beider Gedanken und Beweggründe einfühlen. Besonders Betti als handlungsweisende Nebenfigur ist mir auch sehr ans Herz gewachsen, sticht sie doch in der Prinzipientreue der elitären Borowskis heraus. Eine herrlich atmosphärische Geschichte und große Empfehlung!

Bewertung vom 28.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Sie ist wie eines der Rehe in den Hamptons, von denen keiner weiß, wie sie auf ihr Grundstück gekommen sind; eine Wanze in einer scheinbar perfekten Welt, in der das Schicksal sie nicht vorgesehen hat; die Antiheldin, abhängig von Tabletten und der Güte ihrer Sugar Daddys. Emma Cline hat mit Alex eine Protagonistin geschaffen, die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Dabei ist sie eigentlich diejenige, die für ihre Taten – Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung – belangt werden sollte. Es ist diese feine Beobachtungsgabe Clines, der klare Blick auf die Gesellschaft, die Reichen und Schönen, die im System zuoberst stehen, der eine so bittersüße Umkehr von Gut und Böse bewirkt und Alex ihrer Rolle als „Bad Girl“ entheben – teilweise zumindest. Sie bewegt sich auf einem schmalen Grat, aber sie sieht keinen anderen Weg, sind es ihre Obsession zu Simon und ihre Angst vor ihrem Ex-Freund Dom, die ihre Spirale der Verwüstung weiter vorantreiben.
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"Sie kannte Leute wie Jack, Kinder der Reichen oder Berühmten, deren Persönlichkeit verzerrt war durch eine falsche Realität. Kein Mensch reagierte jemals aufrichtig auf sie, kein Mensch gab ihnen sinnvolles soziales Feedback, also hatten sie nie ein vernünftiges Selbstbild kultiviert.“ (S. 201)
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Clines Stil besticht durch den szenenhaften, atmosphärischen Ton, ihre präzisen und demaskierenden Beschreibungen der Rich Kids und alten weißen Männer sowie die grandiose Charakterzeichnung ihrer Protagonistin Alex. Durch bewusst gesetzte blinde Flecken, etwa in Bezug zu Alex und ihre Vergangenheit, öffnet sie Räume, in denen die Geschichte wächst, diese und jene Wege nehmen kann, doch, egal welche Fantasien man spinnt, es bleibt dieses ungute Gefühl, eine Vorahnung, dass das nicht mehr lange gut gehen kann. Ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen mag. Große Empfehlung!
Aus dem Englischen von Monika Baark

Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


gut

Die Erinnerungen an ein Leben verändern sich im Laufe der Zeit, werden blasser, nehmen andere Gestalten an und manifestieren sich als diese Schatten im Gedächtnis, schreiben die Geschichte eines Lebens um. Doch letztlich ändert auch die Frage nach der Wahrhaftigkeit nichts mehr an dem Ist-Zustand, befindet die Protagonistin aus Doris Knechts neuem Roman „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, hat sie schließlich ganz andere Probleme: Sie muss eine neue Wohnung finden. Und sie muss sich daran gewöhnen, alleine zu wohnen. Mit Hund. In lakonischen, anekdotenhaften Kapiteln erzählt Knecht aus der Perspektive ihrer Protagonistin von ihren gegenwärtigen Aufgaben, von den Dingen, die sie ein Leben lang begleiteten und solchen, die sie verloren hat, von Zeiten in ihrem Leben, die sie veränderten und prägten, etwa einem gewalttätigen Exfreund, einer Abtreibung, der Geburt ihrer Zwillinge. Dem ersten Moment in ihrem Leben, in dem sie sich gesehen und umsorgt fühlte. Und flugs fallen gelassen wurde, als sie ihre Aufgabe als Gebärmaschine erledigt hatte, nur noch Hülle war (vgl. S. 141). Es sind immer wieder diese Momente, Schlagwörter eines Lebens, die sie zu umfassenderen Betrachtungen des Lebens und der Gesellschaft, ihrem Wandel mit den Jahren veranlasst, etwa dem gesellschaftlichen Blick auf die Rolle der Frau oder das Familienleben, die Immobilienpreise und das Leben als paradoxes Konstrukt. Dabei hinterfragt sie aber auch immer wieder ihr eigenes Verhalten und das Bild, das sie anhand ihrer Erinnerungen und Wahrnehmung weiterträgt.
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„Möglicherweise tut man den Kindern etwas Gutes, wenn man ihnen eine Rückkehr ins Kindersein, in den Mutterschoß so schwer wie möglich macht, vielleicht werden sie nur so erwachsen.“ (S. 23)
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Das klingt alles ja eigentlich ziemlich fein. Naja, ihr merkt schon, was ich damit sagen möchte. Wirklich übergesprungen ist der Funke nicht, ein bisschen warm wurde mir schon, aber das war es auch. Ich mochte den bilderbuchartigen Aufbau und die Interaktion zwischen der Protagonistin und ihren Kindern, den leicht ironischen Ton sehr, fand mich auch das ein oder andere Mal in Mila und Max wieder (und entschuldigte mich gedanklich bestimmt mehr als einmal bei meinen Eltern für alles, was sie mit mir ertragen mussten). Und: die Reflexion eines Lebens, die melancholischen Gedanken, die bestimmte Gegenstände, sei es der Tisch Modell Ingo oder die Sonnenbrille aus dem Urlaub, auslösen, die Geschichten und Erinnerungen, die daran hängen. Könnte mich den ganzen Tag lang nur in solchen Gedanken verlaufen, das macht ein ganz wohliges Kribbeln unter der Haut. Aber: die Protagonistin hat mich unendlich genervt. Ich verstehe ja, dass sie vor großen Veränderungen steht, dass das aufregend ist und auch und vor allem finanzielle Schwierigkeiten mit sich bringt, aber es ändert auch nichts daran, wenn sie sich alle paar Seiten immer wieder darüber beklagt – zumal sie aber auch drei Immobilien besitzt, hä. Darüber hinaus hat für mich der Spannungsbogen gefehlt, plätschert die Geschichte so mehr oder weniger monoton vor sich hin, bis – das sollte kein Spoiler sein – die Kinder aus dem Haus, der Hund im Körbchen, die alte Wohnung verlassen ist. Einige Gedanken habe ich wirklich gerne weitergesponnen, auf mein Leben übertragen und in Frage gestellt, doch viel mehr konnte mir das Buch leider nicht geben. Schade!

Bewertung vom 16.06.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


gut

Tilda hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Menschen anhand der Dinge, die sie aufs Kassenband legen, zu erraten. Bei mir wären das wohl Brokkoli, Vly-Joghurt, Bananen, vegane Chickenchunks. Und Schokolade, ganz sicher. Ich könnte Stunden im Supermarkt verbringen, im Urlaub immer der erste Suchbegriff bei Google Maps, und entsprechend groß war mein Lächeln, als ich die ersten Seiten von „22 Bahnen“, dem Debütroman von Caroline Wahl, las. Doch die Leichtigkeit wurde bald von Beklemmung abgelöst, dem Blick hinter die Fassade. Eindrücklich beschreibt die Autorin die familiären Umstände, die Tilda zu kitten versucht: die Krankheit ihrer Mutter, die Ungewissheit und Armut, die Gewalt – und wie sie zugunsten ihrer Schwester zurücksteckt. Tilda ist selbstlos, verantwortungsbewusst, liebevoll im Umgang mit Ida, tut alles, im ihr ein sicheres Leben zu ermöglichen. Und wenn es das Geld zulässt, Miracoli statt Gut & Günstig zu kaufen.
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Doch während Ida ihre Schwester und ihre Bilder hat, hat Tilda niemanden. Früher, da gab es Marlene. Sie waren beste Freundinnen, doch die Zeit und ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten hatten sie entzweit. Da ist nur die Vergangenheit, die sie verbindet: wie sie nebeneinander auf dem Feld lagen in diesem letzten Sommer, über die Zukunft nachdachten, wie sie sich an der Hand hielten während der Beerdigung von Ivan, ihrem Freund, gemeinsam lachten und weinten. Marlene war eine Zuflucht für sie, damals, als es Ida noch nicht gab; jeden Tag saß sie bei ihrer Familie am Abendbrottisch, um nur nicht Zuhause zu sein. Eine Nacht vergessen, die Angst, die Aggressionen, nur sie selbst sein - sie kann, darf nicht mehr vor ihrem eigentlichen Zuhause flüchten. Mit Ida hatte sie wieder einen Anker, wieder eine Familie, um die sie sich kümmern musste, damit sie nicht weiter zerbrach.
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Bis dahin war es eine Heldinnengeschichte, der Weg zur Selbstermächtigung zweier Schwestern - und mein Herz war voll. Doch als Viktor kam, war es, als hätte jemand den Stöpsel im Schwimmbecken gezogen. Ich hab's nicht mehr gefühlt. Die Dynamiken veränderten sich, alles wirkte überhastet und aufgesetzt, zu konstruiert; ich war ernüchtert, denn Viktor hätte es nicht gebraucht. Entsprechend genervt war ich von der zweiten Hälfte, dem Hin und Her zwischen Tilda und Viktor, dem vermeintlichen Freiheitsschlag. Einzig Idas Entwicklung hat mich ungemein gefreut: Sie wächst, wird selbstbewusster, kommt aus sich heraus - und stellt sich auch dem Monster, der Mutter, mit klaren Worten gegenüber. Aber ja, das war's leider auch.
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Denken wir uns den zweiten Teil einmal weg, hätte "22 Bahnen" eines meiner liebsten Bücher dieses Frühjahrs werden können. Ich mochte die dynamische, mit unterschiedlichen Stilen spielende Sprache sehr, die gleichermaßen leicht wie schwermütig daherkommt, und der Geschichte an den richtigen Stellen Licht und Schatten gibt. Und: die Thematik. Tilda und Ida sind bei weitem das wunderbarste Geschwisterpaar, das mir seit langem in der Literatur begegnet ist, da ist mir wirklich das Herz aufgegangen. Insbesondere Tilda hat mir sehr imponiert in ihrem Auftreten gegenüber der Mutter, ihrer Selbstlosigkeit und Fürsorge. Ach puh. Und ich meine, natürlich wünsche ich ihr ein Happy End, einen Ritter in goldener Rüstung, der sie aus dem Schloss rettet und in den Sonnenuntergang reitet oder zum Schwimmbad, was weiß ich, aber ach, lassen wir das. Das war nicht der richtige Moment dafür, weder in der Geschichte noch für mich, als ich die Torstraße entlangstolpernd das Buch las. Aber alles davor: total gefühlt, sehr gemocht. Freue mich auf mehr, Caro!

Bewertung vom 06.05.2023
Malibu Rising
Reid, Taylor Jenkins

Malibu Rising


ausgezeichnet

Malibu, 1983. Wenn Nina sich konzentrierte, konnte sie hören, wie das Meer an den Klippen bricht; der Soundtrack ihres Lebens. Sie hatte immer davon geträumt, am Meer zu wohnen, in einem Bungalow, der auf Stelzen über dem Meer schwebte – wie in ihrer Kindheit. Aber Brandon hatte eine Villa auf der Klippe gewollt. Glas und Beton, seelenlos. Und nun war weg, der Verräter: Er hatte sie verlassen für Carrie Soto, den Up-and-Coming-Star der WTA. Am liebsten würde sie im Bett bleiben, die Augen wieder schließen und sich dem Rauschen der Wellen hingeben, einfach niemanden mehr sehen, aber: heute ist die Nacht der Nächte, die jährliche Sommerparty der berühmten Riva Geschwister. Die Party ist DAS Event des Jahres. Von Jahr zu Jahr wird sie immer größer und man bildete sich etwas darauf ein, sagen zu können, dass man dabei gewesen war. Nina möchte ihre Freunde nicht enttäuschen – und sie möchte stark sein, auch wenn in ihr alles zerbrochen ist. Doch nicht nur Nina leidet unter der Trennung von ihrem Mann, auch ihre Geschwister tragen Geheimnisse mit sich, die ihnen jegliche Vorfreude auf die Party nehmen. Und was sie alle noch nicht wissen: Es wird eine Nacht, die sie niemals vergessen werden, und nichts wird jemals wieder so sein, wie es war.

Ein warmer Schauer lief mir über die Arme, als ich das Buch zuklappte; die letzten Strahlen der Sonne Kaliforniens tanzten noch vor meinen Augen, im Ohr die sanften Bässe der Musik, Gläserklirren. Unsanft falle ich zurück in die Realität, draußen regnet es, die Waschmaschine läuft. Aber in meinem Herz, da ist Sommer. Und auch ein bisschen Wehmut, denn mit „Malibu Rising“ endet meine Reise mit Taylor Jenkins Reid und den #fabulousfour in das Amerika der 70er und 80er Jahre.
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Im Mittelpunkt von "Malibu Rising" steht Nina Riva, die als Model und Surferin bekannt geworden ist - und zuletzt als Exfrau von Brandon Randall. Sie ist bekannt für ihre liebevolle, gütige Art, es jedem immer recht machen zu wollen und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintenan zu stellen; nie sagte sie nein, und ihren kleinen Bruder Hud machte es traurig, "dass Nina sich verlor, weil sie die Bedürfnisse anderer immer wichtiger nahm als ihre eigenen.“ (S. 135) Schon früh musste Nina Verantwortung für sich und ihre drei Geschwister übernehmen: Erst, als ihr Vater sie verließ und ihre Mutter unter der Trennung brach, und schließlich, als sie Halbwaisen waren. Nina brach die Schule ab, um zu arbeiten, um sich und ihre Geschwister, die nun ihre einzige Familie waren, über Wasser zu halten; Müdigkeit und Erschöpfung wurden ihre täglichen Begleiter, doch sie kämpfte sich durch. Es ist ihre Vergangenheit, die Geschichte ihrer Familie, die Nina zu dem Menschen machte, der sie gegenwärtig ist, zu dem ihre Geschwister aufsehen; große Schwester, Anker, Retterin.
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Die Geschichte folgt zwei chronologischen Zeitsträngen, springt zwischen dem Tag der Party, von Sonnenaufgang bis Mitternacht, und der Zeit davor, der Riva-Familiengeschichte: vom Kennenlernen von June und Mick über die Geburt ihrer Kinder bis hin zu dem Tag, an dem die Party des Jahres erstmals stattfinden sollte. Gegenwärtig beschreibt TJR einfühlsam und intensiv jeweils aus der Perspektiven der Geschwister, welche Sorgen und Probleme sie beschäftigen und welche Geheimnisse sie voreinander haben. Dabei gibt sie sowohl Hud und Jay als auch Kit und Nina eine ganz eigene Stimme, schafft Ecken und Kanten, die sie so besonders machen, macht sie ungemein nahbar. Ich habe sie alle sofort ins Herz geschlossen, konnte ihre Gedanken nachvollziehen und die Konsequenzen, die sie auf ihr derzeitiges Leben hätten, und doch ist es Nina, der ich mich so nah fühlte, konnte ich mich mit ihr am besten identifizieren, ihrer Selbstlosigkeit, immer zurückzustecken, solange es für alle anderen fein ist. Doch ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen, die hätte ich gerne. Nina, meine Heldin.
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Der Countdown läuft. Die Musik wird lauter, Drinks werden verschüttet, die Luft flimmert; immer schneller wechseln die Szenen, kurze Eindrücke der Partypeople, denen der Alkohol und die Hitze zu Kopf gestiegen ist. Auch mein Herz schlägt schneller, eine unliebsame Überraschung folgt der nächsten, Geheimnisse kommen ans Licht, meine Finger kribbeln auf den Seiten. Und eigentlich möchte ich nicht, dass der Abend, dass dieses Buch zuende geht. Aber alles Gute hat ein Ende - und manchmal ist ein Ende auch ein Neuanfang...
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"Malibu Rising" hat mich vollends begeistert, die Dynamiken zwischen den Charakteren, die Dramatik, die von Beginn an in der Luft liegt, der Vibe der 70er Jahre, der mich sehr an die Essays von Joan Didion erinnerte, die leichte, mitreißende Sprache - und nicht zuletzt die Feinheit, mit der TJR alle vier Welten der #fabulousfour miteinander verbindet. Vier starke Frauen, vier Heldinnen ihrer Zeit - und ein Jahreshighlight!

Bewertung vom 24.04.2023
Morgen und für immer
Meta, Ermal

Morgen und für immer


ausgezeichnet

Mit leisen Tönen beginnt "Morgen und für immer", der Debütroman von Ermal Meta (aus dem Italienischen von Peter Klöss), zärtliche Durtöne plätschern vom Fluss nahe des kleinen Bauernhauses her, ab und an durchdrungen vom kläglichen Versuch des kleinen Kajan, dem Klavier Töne zu entlocken. Schon früh sah sein Großvater etwas in ihm, sah, dass er mit der Musik einmal etwas Großes erschaffen würde. Und er sollte recht behalten.
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Ungemein empathisch und lebendig, zuweilen brutal und schmerzhaft beschreibt Ermal Meta den Weg, den Kajan geht, das Verhältnis zu seinem unerschütterlichen Großvater, der mir sehr ans Herz gewachsen ist, seine Verbindung zu Cornelius, der ihm den Schlüssel in die Hand legen sollte, den Weg zu finden, der für ihn bestimmt scheint - und den er selbst nicht gehen konnte. Die Musik. Sie ist allgegenwärtig, das verbindende Element zwischen Menschen und Zeiten, in Krieg und Frieden; eine Sprache, die keine Worte bedarf. Die Grenzen übertritt und Wege öffnet in eine neue Zukunft. Es ist die Musik, die Kajan den Händen seiner Mutter entriss, einer landesweit bekannten Politikerin, die ihn seiner Freiheit, seiner Liebe entriss, ihn wegschickte, um ihr Ansehen zu wahren. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Kajan wird zum Spielball der Regime, nirgends scheint er sich. Er flüchtet: aus Albanien nach Ostberlin, über die Mauer - und landet schließlich in den USA. Ein Neustart, niemand kennt ihn, niemand weiß um sein Talent. Hier kann er, muss er jemand anders sein, neuer Pass, neues Leben. Doch immer ist es die Musik, die ihn am Leben hält, ihm Hoffnung gibt.
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Mitreißend und gefühlvoll flicht Ermal Meta unterschiedliche Perspektiven um die Coming-of-Age-Geschichte Kajans herum, erzählt vom Schicksal seiner Eltern an der Kriegsfront, seiner Familie, von seinem Großvater; sie sind die Instrumente, die die zarten, immer kräftiger, raumfüllender werdenden Klänge seines Klavier untermalen, ihn an Strahlkraft dazugewinnen lassen - und die Sinfonie abrunden. Dynamisch wechselt das Erzähltempo zwischen lauten und leisen Tönen, folgt jedoch immer der Grundmelodie, chronologisch vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Von Beginn an war ich ungemein gefesselt von der liebevollen, gewitzen Sprache, den Ungewissheiten, die die Zeiten des Kriegs für Kajan und seine Familie bereithalten könnten, von Kajans Reise oder vielmehr Flucht, doch gegen Ende hin zogen sich manche Passagen in die Länge, die Musiker müde ob der Länge des Konzerts - und dennoch hörte ich ihnen noch so gerne zu, auch wenn die Achtel- zu halben Tönen wurden, die Luft allmählich weg war. Ein paar Seiten weniger, ja, das wäre meiner Meinung nach nicht verkehrt gewesen, hier und da ein wenig gekürzt, aber die Geschichte hat auch so keinesfalls an Kraft und Gefühl eingebüßt.
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"Morgen und für immer" ist nicht nur eine Liebeserklärung an die Musik, es ist eine wunderbare Geschichte über einen Jungen, der für seinen Traum kämpft, so hart das Schicksal ihm auch zuzusetzen meint, eine Geschichte über Liebe und Freundschaft. Ein ganz besonderes Buch, das ich nicht vergessen werde.
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Bewertung vom 15.04.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


ausgezeichnet

Erschreckend echt und mitreißend entwirft Jessamine Chan in ihrem Debütroman "Institut für gute Mütter", aus dem Englischen von Friederike Hofert, ein dystopisches Setting, das nachdenklich stimmen lässt. Im Mittelpunkt der Handlung steht Frida: Als Tochter chinesischer Immigranten wurde sie schon seit ihrer Kindheit mit Rassismus konfrontiert, wurde gemobbt, ausgegrenzt, und auch Jahre später noch, als Mutter eines anderthalbjährigen Kindes, erwachsene Frau, Akademikerin, wird sie aufgrund ihres Äußeren bewertet – und damit auch ihre Fähigkeiten als Mutter. Bewusst spielt Chan mit gängigen Klischees, überspitzt sie und verstärkt so noch die dystopische Atmosphäre. Alleine die Vorstellung, rund um die Uhr von Kameras gefilmt zu werden, ständig in Angst, etwas Falsches zu tun, zu sagen, das hat schon etwas von Affen im Zoo, oder einem kruden Forschungsexperiment. Oder einer geheimen Sekte: Es ist den Frauen verboten, jemals über das zu sprechen, was am Institut passierte, ansonsten werden sie niemals wieder Fuß fassen, ein normales Leben führen können. Und: kinderlos bleiben.
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"Nicht jede von ihnen kam als gewalttätige Frau in die Schule, aber jetzt, nach sieben Monaten, wären sie alle dazu fähig jemanden zu erstechen." (S. 289)

Die Geschichte um Frida und das Institut hat mich von der ersten Seite an gefesselt und die moralischen und ethischen Konflikte sowie die immer wieder anklingende Kritik an der patriarchal geprägten Gesellschaft, die Mutterschaft noch immer eindimensional und heterogen sieht, und die Rolle des Frau auf die der Mutter reduziert, nachhaltig beschäftigt. Teilweise zog sich die Handlung ein bisschen, fand dann am Ende für meinen Geschmack zu übereilt zum Ende, ein wenig unbefriedigend vielleicht auch, aber das hat meinen positiven Eindruck nur minimal beeinträchtigt. Das dystopische, gameshowartige Setting, die teilweise stark überzeichneten, simplen Dialoge und Handlungen und das Spiel mit verschiedensten Klischees verleihen der Thematik eine gewisse Lebendigkeit und Brisanz. Ein eindringliches, lange nachhallendes Buch. Große Empfehlung!
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