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Benutzername: 
Birkatpet
Wohnort: 
Wesseling

Bewertungen

Insgesamt 89 Bewertungen
Bewertung vom 15.04.2020
Wolf
Brunntaler, Marie

Wolf


sehr gut

Es ist der der Silvesterabend 1820 und ein normaler Abend für das Benediktinerkloster hoch oben auf dem Berg im südlichen Schwarzwald, denn Silvester gehört nicht zu den Riten der Mönche. Während sich alle schlafen legen erledigt der Abt noch einige Pflichten, schaut die Abrechnungen des Klosters durch um sich einen Überblick über die wirtschaftliche Lage zu verschaffen. An Schlaf mag Abt Dorian nicht denken, ihm ist nach Gesellschaft und Unterhaltung. Dorian führt der Weg deshalb in den Stall zu den Tieren des Klosters und deren Wärme, er setzt sich zu ihnen und füttert sie, spricht mit ihnen. Es ist sehr kalt, Neuschnee ist gefallen und da das Kloster umgeben ist von einem riesigen dichten Wald ist es umso dunkler und eisiger. Die Stalltüre hinter Dorian öffnet sich und Pater Berengar, ein alter Mönch und Vertrauter des Abtes betritt in Begleitung eines Jungen, ca 15 Jahre alt, den er auf dem Klostergelände entdeckt hat, den Stall. Der Junge spricht zunächst kein Wort, er trägt verschlissene Kleidung und ist umgeben von einer Aura von der sich Dorian sehr angezogen fühlt. Der Junge wird erstmal im Kloster aufgenommen und ihm wird Unterschlupf gewährt. Im Laufe der Zeit beginnt der Junge auch zu sprechen, er gibt an weder seinen Namen zu kennen, noch sich daran zu erinnern woher er kommt. Dorian gibt dem Burschen einen Namen und zwar nennt er ihn Gabriel, nach dem Erzengel und ist nach wie vor sehr angetan von dem Jungen. Eines Tages kommt es zwischen Gabriel und einem anderen Klosterschüler zu einer unschönen Auseinandersetzung und dieser Vorfall hat zur Folge, dass Gabriel das Kloster verlassen muss. Er wird in das Dorf Schrötten gebracht, welches im Tal liegt. Ein kleines armes Dorf, in welchem die Bewohner leben um zu arbeiten, einzig um ein Überleben zu sichern. Die Männer sind alles Holzfäller, denn vom Holz lebt das Dorf. Gabriel wird auf den ‘Steinhauer-Hof’ gebracht und soll fortan als Holzknecht dem Hof dienlich sein. Kaum dort angekommen rettet der Bauerstochter Maria das Leben und das ganze Dorf ist von Gabriel’s Schönheit angetan, sie liegen ihm quasi zu Füßen. Doch mit Gabriel’s Ankunft verändert sich einiges im Dorf, es sterben Menschen, neue Personen kommen ins Dorf, Versuchung, Verrat und Sünden halten Einzug. Ein Wolf im Schafspelz treibt sein Unwesen....welches Geheimnis umgibt Gabriel und weiß er wirklich nicht woher er kommt?

Wolf ist ein spannender Roman mit sehr interessanten Figuren. Alle Figuren sind klar gezeichnet, offenbaren nach und nach ihre Charaktere, Gedanken, Sehnsüchte, Geheimnisse, Neigungen, Träume und Ängste. Alle Personen sind greifbar und die Darstellung sehr bildhaft. Die Dorfgemeinschaft facettenreich. Der Roman hat meine Erwartungen übertroffen und das Verwirrspiel mit dem Leser ist sehr gelungen. Einerseits ein Heimatroman, historisch, ländlich und auch wenn das Kloster eine große Rolle spielt alles andere als heilig, rein, weiß und ohne Sünde und Schuld, andererseits ein Liebesroman und Krimi. In manch einer Seele tun sich Abgründe auf, tief, schmutzig, böse, von Rache getrieben. Der Wolf im Schafspelz spielt ein übles Spiel mit den Dörflern und den Lesern.
Der Roman bleibt spannend bis zum Schluss. Ich bin begeistert von dem Gegensatz zum vorherigen Roman der Autorin. Bereits “Das einfache Leben” hat mir schöne und angenehme Lesestunden geschenkt, auch dort war der Schwarzwald Schauplatz. Die beiden Romane könnten jedoch gegensätzlicher kaum sein. Ihre bildhaft Sprache, der Liebe zur Natur und den lebendig dargestellten Figuren bleibt sie treu. Ich bin gespannt was als nächstes von ihr kommt.

Bewertung vom 10.04.2020
Das Vermächtnis unsrer Väter
Wait, Rebecca

Das Vermächtnis unsrer Väter


sehr gut

“die Vergangenheit war nun mal eine Geschichte, die man sich selbst erzählt.”


Das Vermächtnis unser Väter nimmt uns mit auf eine sehr kleine schottische Insel und erzählt von einer Familientragödie, schrecklich, schwer in Worte zu fassen, nicht greifbar und doch leider alltäglich.
Eines abends, es ist mittlerweile zwanzig Jahre her, greift der Familienvater John zur Schrotflinte und erschießt seine Frau, den älteren seiner Söhne, das Baby und schließlich sich selber. Der zweitjüngste Sohn, Tommy, damals 8 Jahre alt, versteckt sich im Schlafzimmerschrank, der Vater findet ihn nicht und so überlebt er diese Tragödie. Tommy wird anschließend zu seinem Onkel Malcolm, Bruder des Vaters, und dessen Frau gegeben. Lange kann er dort jedoch nicht bleiben, denn ohne professionelle Hilfe ist es ein nahezu unmögliches Unterfangen einem schwerst traumatisierten Kind zu helfen. Nach ca. einem Jahr muss Tommy die Insel verlassen und aufs Festland zu seiner Tante, Schwester der Mutter ziehen. Zwanzig Jahre nach diesem Unglück kehrt Tom zurück auf die Insel. Heute mit fast dreißig Jahren ist aus Tommy ein Mann geworden, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten optisch gleicht und so hat er kaum die Fähre zur Insel betreten wird diese Neuigkeit wie ein Lauffeuer unter den wenigen Insulanern bekannt. Er steht unangemeldet und nach weit über einem Jahrzehnt Kontaktlosigkeit bloß mit einem Rucksack bepackt vor Malcolm’s Türe und bittet einige Tage bleiben zu dürfen. Die Bewohner der Insel, samt Malcolm begegnen Tom mit Vorsicht, denn es ist völlig unklar, was er möchte, was die Intention seines Besuches ist. Niemand traut sich nach dem Grund seines Auftauchens zu fragen, den Argwohn, die Sorge und Angst der Insulaner spürt Tom jedoch deutlich, schlägt ihm förmlich ins Gesicht und die Luft ist atmosphärisch zum Schneiden dick. Nicht nur die Insulaner stellen sich viele Fragen, auch als Leser erfährt man nur sehr wenig über seine Beweggründe auf die Insel zurückzukehren. Was will Tom? Warum hat er überlebt? Hat John ihn übersehen, unbewusst oder bewusst um ihn mit der lebenslangen Frage ‘Warum?’ zu quälen? Was ist an diesem Abend im Haus von John, Katrina und den drei Kindern wirklich passiert? An wessen Händen klebt Blut, außer an John’s? Wie viel ist tatsächliche Erinnerung, wie viel Wunschdenken? Wie wirkt sich solch ein Erlebnis auf einen Menschen aus, noch zwei Jahrzehnte danach, auf die Betroffenen im familiären Umfeld, auf Freunde und Bekannte? Tom stellt sich seiner Vergangenheit und nach und nach entwickelt sich eine Art Freundschaft und Verbundenheit zu seinem Onkel, bei Spaziergängen und Tee kommen sie sich näher, aus anfänglich vielem Schweigen werden Unterhaltungen und es offenbaren sich viele Details,Geschehnisse, Ereignisse, eine Reihe Geschichten vor der Tat offenbaren sich.

Die Atmosphäre dieses Romans habe ich als sehr dicht empfunden. Die düstere, bedrückende Kindheit von Tom, mit dennoch schönen Erinnerungen, die tiefe Traurigkeit um den Verlust, insbesondere die irrationalen Schuldgefühle sind sehr gut dargestellt, spürbar und greifbar. Die triste Umgebung, die Beschreibung der kleinen ruhigen Insel, auf der die Stille doch alles umso lauter macht verstärkt die Darstellung der Emotionen und der Personen. Der verhangene Himmel, der Regen. der Wind, die unruhige See, dies alles ist spürbar. Die Stille und der ruhige Erzählstil der Autorin machen das Buch zu dem was es ist,
ausdrucksstark, gewaltig, mitreißend wie der starke Wind und ein Sog, wie von starken Wellen in die Tiefen des Meeres. Klar und deutlich wird herausgearbeitet, was traumatische Erlebnisse mit einem Menschen machen, was geschieht, wenn die Welt plötzlich still steht und sich irgendwie nicht mehr weiter dreht, erst recht nicht so wie zuvor. Wie weit die Kreise ziehen und wie sehr uns unsere Vergangenheit formt.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2020
Marianengraben
Schreiber, Jasmin

Marianengraben


ausgezeichnet

“Wenn Trauer eine Sprache wäre, hätte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genauso flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt.”


Paula ist Mitte zwanzig, Biologin und studiert in Frankfurt, versucht sich an ihrer Promotion, aber seit dem Tod ihres kleinen Bruders vor zwei Jahren bekommt sie keinen Fuß mehr auf den Boden. Tim war damals zehn Jahre alt und ertrank im Urlaub auf Mallorca. Paula ist inzwischen in Therapie um wieder ins Leben zu finden, ihre Depressionen zu überwinden und mit der Trauer klar zu kommen. Ihr Therapeut rät ihr zunächst das Grab von Tim zu besuchen, wo sie seit der Beerdigung nicht mehr war, sie scheut sich vor den Blicken der anderen Friedhofsbesucher, beschließt Tim zu besuchen, aber nachts.
Eines nachts klettert sie über die Friedhofsmauer, sucht Tim’s Grab, beginnt sich mit ihm zu unterhalten als sie komische Geräusche hört. Die Geräusche verursacht Helmut, der gerade dabei ist seine verstorbene Freundin Helga auszubuddeln, vielmehr das was von ihr in einer Urne übrig ist, denn er hat Helga ein Versprechen gegeben und das will er halten. Helmut ist über siebzig und ein komischer Kauz, der etwas aus der Übung ist, was zwischenmenschliches Miteinander betrifft, mal ist er zugänglich, dann wieder abweisend und dieses Hin und Her ist etwas unberechenbar. Helmut erzählt Paula von seinen Plänen, er möchte mit Helga und seiner Hündin Judy in seinem Wohnmobil nach Südtirol fahren um sein Versprechen einzulösen. Da Paula nichts anderes vorhat beschließt sie Hals über Kopf Helmut zu begleiten und so wird es ein ganz besonderer Roadtrip, ein Stück gemeinsamer Lebensweg zweier ganz unterschiedlicher Menschen, die mehr verbindet als sie anfangs glauben.

“Das Ding mit dem Schmerz ist ja: Er kennt immer erstmal nur Stärke, der Auslöser ist egal. Schmerz fährt hoch, bis er einhundert Prozent hat, und dann steht man da und muss das irgendwie überleben, egal, was der Auslöser ist.”

Depressionen, Trauer und Tod sind zentrale Themen dieses Romans. Der Marianengraben dient als Metapher für die Tiefe Paula’s Depressionen und ihrer Trauer, die sich wie die Arme eines Oktopusses in das Hirn und Herz graben, sie in 11000 Meter Tiefe ziehen. Es geht darum, zu lernen mit Trauer umzugehen, ich habe mich sehr auf den Roman gefreut, hatte jedoch Sorge, dass er allzu sehr auf die Tränendrüse drückt und ich nach wenigen Seiten aussehe wie ein Pandabär. “Marianengraben” ist einerseits sehr traurig, aber viel bunter, fröhlicher und lebhafter, witziger als erwartet. Paula richtet sich im Buch an Tim, es wirkt wie eine Art Tagebuch, in welchem sie Tim von ihren Erlebnissen mit Helmut berichtet. Die gemeinsame Zeit von Paula und Helmut verfliegt, Orte, Situationen ändern sich schnell, aber es kommt auch gar nicht darauf an, wo die beiden gerade anhalten, wie oft Helmut Harndrang hat und ihr Roadtrip pausiert, sondern darauf, was in den beiden Menschen, in deren Seele passiert durch die gemeinsame Zeit, was sie voneinander lernen, denn das Zusammentreffen der beiden hat einen tiefen Sinn.

Der Schreibstil ist sehr variabel, stellenweise recht poetisch und wunderschön, manches Mal jedoch alles andere als gebildet und überlegt. Ich nehme an, es soll so sein um Paula’s schwankende Gemütsverfassung zu spiegeln und ihre Worte sind an Tim gerichtet, der nun mal erst zehn ist und immer bleiben wird.
“Marianengraben” ist ein wirklich schönes Buch, außen wie innen, trotz schwerer Themen leichtfüßig und angenehm zu lesen. Ich habe das Buch mit einem Lächeln geschlossen, zufrieden und entspannt. Das Ende ist vorhersehbar, aber das habe ich nicht als störend empfunden, sondern als sehr positiv, keine schlimmen Überraschungen lauern auf den Seiten.

Bewertung vom 10.04.2020
In Liebe Dein Karl
Noll, Ingrid

In Liebe Dein Karl


ausgezeichnet

Ein neues Buch der großartigen Ingrid Noll.
In diesem Buch wird wieder deutlich, wie wundervoll auch ihre Kurzgeschichten sind und zwar aus den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens. Geordnet sind die 32 Kurzgeschichten in 5 Kapitel, “Diebe und Triebe”, Lust und Laster der Liebe”, Tierische Täter”, “Mörderische Mythen” und “Erinnerungen & Notizen”. Im ‘Nachweis’ findet man zu jeder Kurzgeschichte die Informationen wann diese jeweils erschienen sind und in welchem Rahmen, einige Kurzgeschichten in “In Liebe Dein Karl” sind Erstveröffentlichungen. Nicht nur diese Erstveröffentlichungen machen dieses Buch zu etwas Besonderem, sondern vor allem, dass es sehr autobiografisch und persönlich ist. Sowohl die Kindheit Noll’s in China, ihr Spagat zwischen Muttersein und dem Beruf der Schriftstellerin, die Beziehung zu ihren Eltern und nicht zuletzt Freud und Last des Alters finden darin Platz.

Wieder ist alles dabei, ihr schwarzer, teils makabrer Humor, die Abgründe der menschlichen Psyche, ihre unglaublich gute Beobachtungsgabe und die Beschreibung der kleinen Details, aber auch ihre Fähigkeit zu warmherzigen, liebevollen und witzigen Geschichten.

Bewertung vom 10.04.2020
Wie man Dinge repariert
Peichl, Martin

Wie man Dinge repariert


ausgezeichnet

“BEZIEHUNGSSTATUS: Ich schreibe schon wieder einen Text über dich”

Das Cover dieses Buches ist bereits ein Highlight. Eine zerdrückte, leere und unbrauchbare Dose, in Deutschland wäre sie noch 25 Cent wert, wird hier zur Vase umfunktioniert und bekommt so doch noch eine Aufgabe. Was am Ende jedoch daraus wird, sind knusprige Blumenleichen und rieselnde Rosenblätter. Der Aufdruck der Dose ist genial: ‘Peichl Bräu - Reparaturseidl’ und mit Alkohol wird in diesem Roman tatsächlich vieles versucht zu reparieren, zu löschen, zu konservieren und am Ende scheitern die Versuche doch irgendwie. Was bleibt sind knusprige Leichen und nicht nur Blätter fallen, manch eine Seele bröckelt, manches gerät ins wanken, anderes zerfällt.
Inhaltlich erwartet einen das, was das Cover bereits verrät, Versuche Dinge zu reparieren, ins Lot zu bringen. Manches ist jedoch irreparabel. Der Tod des Vater und das geerbte Stück Wald - annehmen, änderbar ist es nicht. Liebe zu erzwingen ist ebenso unmöglich, kein Kleber hilft, kaputt ist kaputt, dies zu ignorieren kann Kollateralschäden mit sich ziehen und in Masochismus enden. Es wird viel gesoffen, Alkohol fließt in rauen Mengen um die Schäden besser zu ertragen, die Realität auszublenden, sich abzulenken, zu vergessen. Nicht nur Alkohol ist immer wieder Thema, sondern auch Sex zieht sich durch die Seiten, die Suche nach Nähe, Geborgenheit und Wärme. Oft geht es dem Ich-Erzähler um eine bestimmte Frau, eine zerstörerische on-off-Beziehung seit 10 Jahren. Viele Textteile erzählen uns davon, manche richten sich an sie, wie eine Art Brief. An anderen Stellen geht es um weitere Gespielinnen, Lebensabschnittsgefährtinnen, aber auch der Tod des Vaters und eines Jugendfreundes, Abschied und Loslassen findet man an anderen Stellen, auf anderen Seiten. Es sind umfangreiche und universelle Themen, die sich in diesem schmalen Büchlein sammeln. Jedes Kapitel für sich abgeschlossen und doch zusammengehörend. Viele der 33 Kapitel haben ihren eigenen Rhythmus, eine eigene besondere Art. Mal ein Fließtext, mal Strophen, abwechselnd und vielfältig wie das Leben.
Es ist trotz der einen besonderen Frau, um die sich vieles dreht kein Liebesroman. Es ist vielmehr ein Buch über zwischenmenschliche Beziehungen und das schonungslos ehrlich von all dem Schmerz, den Wunden und Narben. Ein gutes Abbild der Gesellschaft Ü30, ein Abbild der Wegwerfgesellschaft, denn wegwerfen und ersetzen wirkt oft wie der leichtere Weg, schneller, unkomplizierter. Doch oft bleibt eine tiefe Leere zurück, man kramt im Müll und versucht vielleicht doch noch ernsthaft eine Reparatur, in Abwägung ob es sich um Liebe oder emotionale Abhängigkeit handelt.

Die Sprache hat mich vom Hocker gehauen und ist der Hammer. Das Spiel zwischen sämtlichen Stilmitteln und -arten der Literatur, die unterschiedlichen Muster der Kapitel, sich wiederholende Strukturen. Teils lyrisch, poetisch und vor allem gefühlsbetont und emotional, ehrlich und authentisch. Keinesfalls kitschig, sondern alltagssprachlich und modern. Fasziniert war ich insbesondere von dem jeweils aktuellen ‘Beziehungsstatus’, welche sich zwischen den einzelnen Kapiteln befinden, sie haben mich an die Bierdeckel-Poesie des Autors erinnert und alleine diese habe ich alle markiert. Großartig! Ich folge Martin Peichl schon lange auf Instagram, eben diese Bierdeckel liebe ich und würde sie als Sammeledition sofort kaufen. Mein Exemplar des Buches hat unzählige Post it’s verschlungen und leuchtet in allen Farben.

Ein Hoch auf dieses Buch, bereits jetzt ein Jahreshighlight, ein Hoch auf diese Sprache, ein Hoch auf die unglaubliche Fülle dieser 155 Seiten,...so anders, so besonders, so saugut. Prost!
Lest es und lasst euch ein auf diesen Rausch, völlig alkohol und -drogenfrei.

Bewertung vom 10.04.2020
Der unsichtbare Roman
Poschenrieder, Christoph

Der unsichtbare Roman


sehr gut

Mitten in einer Séance klopft es an Meyerink’s Türe, gerade als die Apothekerwitwe versucht herauszufinden, wo ihr Liebster den Pfandschein für den Schmuck versteckt hat. Wie so oft kommen die Apothekerrwitwe, ein Bankier, ein Fuhrunternehmer und ein Privatier bei dem Spiritisten Gustav Meyerink im ‘Haus zur letzten Laterne’ am Starnberger See zusammen um mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen,so auch an diesem Tag, was die Störung umso ärgerlicher macht. Vor Meyerink’s Türe steht ein Bote des Auswärtigen Amtes um ihm einen Brief zu überbringen und teilt ihm die Nachricht mit, er solle einen Roman schreiben und zwar darüber, wer am Ausbruch des andauernden Krieges die Schuld und Verantwortung trägt. Meyerink hat in der Vergangenheit bereits einige Romane und Geschichten veröffentlicht, alles phantastische Geschichten wie sein Bestseller ‘Der Golem’, die Realität ist ihm entweder zu langweilig oder zu grässlich, meist sowieso beides, weswegen er sich dieser als Schriftsteller nicht widmen mag. Außerdem, woher soll gerade er wissen, wer schuld ist am I. Weltkrieg?
Viele Wahlmöglichkeiten hat der gute Gustav Meyerink aber nicht, denn zu Papier hat er seit langem nichts mehr gebracht und das Haushaltsbuch spiegelt dieses Desaster wider. Da hilft es auch nicht stundenlang Yogaübungen zu machen. Er muss den Roman also schreiben, denn das Geld wird dringend benötigt. Meyerink nimmt den Auftrag an, erhält einen ordentlichen Vorschuss, womit sein Lebensstil mit Automobil und Segelboot erstmal gesichert ist und beschließt den Freimaurern die schuld am Krieg zu geben. Ein Propagandaroman ist jedoch unvereinbar mit seiner subjektiven Schriftstellerehre und so bleiben die Seiten leer, seinem Bleistift entweicht kein Buchstabe und er beginnt den Auftraggeber geschickt hinzuhalten. Natürlich ist ihm bewusst, dass diese Hinhaltetaktik nicht ewig gut geht, denn am Ende zählen Ergebnisse und leere Blätter dürften nicht ausreichend.

Hauptsächlich berichtet uns Gustav Meyerink als Ich-Erzähler, jedoch sind auch andere Meldungen enthalten, Recherchenotizen, die dem Roman eine gewisse Echtheit verleihen sollen, als hätte Meyerink diesen Roman tatsächlich verfassen sollen. Das Besondere an diesem Roman ist, dass der Autor Fiktion und Realität mischt, denn die Historie, Gustav Meyerink (geb. 19.01.1868 in Wien, gest. 04.01.1932 in Starnberg) und seinen Roman ‘Der Golem’ (1915) gibt bzw. gab es wirklich. Der Leser gerät in einen Strudel um das Dasein des Autors, seiner Geldsorgen, die Hürden und Stolperfallen in seinem Privatleben, die politischen Geschehnisse dieser Zeit in München (und weltweit) und vielem mehr. Durch die Vermischung von Fiktion und Tatsachen ist es ein geniales Verwirrspiel mit uns Lesern, welches ab ca. der Mitte einen wahren Sog entwickelt und irgendwann weiß man gar nicht mehr so recht, was erfunden und was wahr ist. Das Ende ist eine große Überraschung, die Dialoge wahnsinnig gut und voller Wortwitz, eine sehr runde Sache, unterhaltsam, besonders, amüsant und nicht alltäglich.

Bewertung vom 10.04.2020
Der Defekt
Stahlmann, Leona

Der Defekt


ausgezeichnet

“Die beste Liebe ist die, die beiden das Gleiche antut. Die schlechteste die, die keinem etwas tut.”
Das unscheinbare Cover in den angenehmen Farben, die Brennnessel mit Raupe und Fliege auf den Blättern hat meine Aufmerksamkeit geweckt, der Titel und die Inhaltsangabe mein Interesse gesteigert. Doch mit dem was dann kam habe ich nicht gerechnet. Wie ein Wirbelsturm hat mich die Geschichte mitgerissen und irgendwann völlig überwältigt ausgespuckt.
Protagonistin Mina ist zu Beginn des Romans sechzehn Jahre alt und lebt in einem kleinen Dorf. Sie ist klug, tiefsinnig, interessant, zurückhaltend, auf der Suche nach sich Selbst, entdeckt ihren Körper und ihre Sexualität, den Lustschmerz und fragt sich, was und ob es wieder weg geht, wenn sie es versucht zu ignorieren oder zu unterdrücken.
Neben Mina lernen wir auch Vetko kennen, ein Junge in Mina’s Alter, welcher eine große Rolle in ihrem Leben spielt. Ein Außenseiter, Einzelgänger, still und irgendwie dünkelhaft, ebenfalls sehr kug und eigensinnig, Denken und Ansichten des Lebens nicht alterstypisch. Sexualität, Schmerz und Liebe sind die Dinge, welche die beiden verbinden.
Nach der Schulzeit trennen sich ihre Wege, denn wie die meisten anderen ihres Alters schwärmt auch Mina aus, raus aus der Enge des Dorfes, raus aus ihrem Leben, raus um sich zu finden, beruflich Fuß zu fassen, sich erleben in neuem Umfeld.
“Wer weiß, wohin er gehört”, sagt Vetko undurchdringlich, “der muss nicht reisen. Heimat ist : nicht reisen müssen.”
Ein wirklich besonderes Buch, eine Atmosphäre so dicht und eng, wie ich sie lange nicht mehr erlebt habe. Dieser Roman ließ mich Zeit und Raum vergessen, die Sprache so präzise, klar, bewusst und absolut gekonnt eingesetzt. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Das Thema wahrlich kein leichtes, gerade in Anbetracht des Alters von Mina, ein Alter, in welchem man generell mit allem, insbesondere mit sich hadert und sich sucht, Zeit der Identifikation.
Der Defekt hat mich sprachlos hinterlassen, die Einblicke in Minas Gedanken und Gefühle gingen mir unter die Haut und manches Mal habe ich überlegt wie vielen es wohl ähnlich geht, wie viele sich verstecken, ablehnen, anormal fühlen, sich schämen, verurteilen und verzweifelt suchen, was mit ihnen nicht stimmt um es wieder in Ordnung zu bringen.
Keine leichte Kost und gewiss nicht für jedermann geeignet. Ich persönlich bin begeistert von diesem Buch, was zwingt auch über den Tellerrand hinaus zu blicken und sich mit den Dingen zu beschäftigen, die nicht alltäglich sind und doch um und herum. Ein Roman über Heimat, die dort ist, wo Herz und Seele ruhen können, wo nichts fehlt und nichts stört, alles richtig ist ist, so wie es eben ist. Ein Zustand, kein Ort. Ich hoffe mehr von dieser jungen Autorin zu lesen, ich hoffe sie bald in Lesungen erleben zu können und live dieser wahnsinnig guten Sprache zu lauschen.

Bewertung vom 29.12.2019
Das schräge Haus
Bohne, Susanne

Das schräge Haus


sehr gut

Sommer 1986, Ella ist 8 Jahre alt und ihre Welt ist eine Schrebergartenanlage im Ruhrgebiet, wo sie ihre Zeit mit Oma Mina verbringt und diese Verbindung ist so eng, dass nicht mal ein Blatt Papier dazwischen passt, ihr zuhause, Geborgenheit, Liebe, Sicherheit. Ausser Mina gibt es noch Manfred, einen älteren Herrn, den man mal dort vergessen hat, Ella’s beste Freundin Yvonne mit der es sich hervorragend kichern lässt und natürlich ganz viele Glühwürmchen, die sich in Wünsche erfüllende Feen verwandeln können, zumindest in Ella’s Welt, mit 8 Jahren. Mina kann die persönlichen Häuser in den Menschen sehen, jeder trägt in sich ein Haus und Ella’s Haus ist schief und krumm, völlig schräg, klein und bunt. In diesem Sommer passiert allerlei Schräges, wichtiges und unwichtiges, großes und kleines, an einem Sonntag im Juni auch etwas, was Ella’s Welt für immer verändert und prägt. Nicht alles ist bunt, es gibt auch Tage in unendlich tiefem grau. Ella bleibt wie niemand von uns acht Jahre alt, ein Alter in der sich die Zeit noch sehr viel Zeit lässt , in diesem Roman ca 100 Seiten. Ella schläft ein, für lange Zeit und wacht für uns Leser 26 Jahre später wieder auf, ist nun 34 Jahre alt, Psychotherapeutin und ihr Haus ist immer noch schräg, schief, klein und die Dachgiebel krumm. In ihrer Praxis mit einem schönen Dünenbild an der Wand behandelt sie die Schrägheiten ihrer vielen Patienten, Herrn Oebig mit Frau Traurigkeit z.B., der an guten Tagen gerne Krümelmonster-T-Shirts trägt. Ihren Fragenkatalog hat sie verinnerlicht und auch wie diese und jene Krankheit zu behandeln ist weiß sie genau und ist eine sehr gute Therapeutin. Jedoch privat und bei sich selber kommt sie wenig voran, Angst, Zweifel und die unglückliche Suche nach einem Mann für’s Leben drehen sich mit ihr im Kreis.

Dieser Roman ist ein Wohlfühlbuch und dazu ein sehr besonders weises. Nicht alles im Leben geht verloren, manchmal verliert man Dinge im Leben, wie Spielzeugpüppchen in der hintersten Ecke einer Eckbank und findet es erst viele Jahre später wieder, manchmal verliert man aber auch sich selber und findet sich, seine Träume und Wünsche durch Zufälle wieder, auch dies manchmal erst nach vielen Jahren in denen man sich in ein Schneckenhaus verkrochen hat und es nicht wagte nach links und rechts zu schauen, die Dinge und das Leben mal durch eine andere Brille zu sehen. Das sind dann wundersame, besondere und heilende Tage und Erkenntnisse. Mit Schwung und Energie lüftet man sein Leben, sein inneres Haus und vertraut dem Anfang von Neuem. Susanne Bohne erzählt hier von diesen Zaubern des Lebens, von Stürmen, Trauer, Freude, und Glück, den kleinen und großen Wundern. So schräg wie Ella’s Haus sind auch die Figuren in diesem Roman, schief und krumm, mit Ecken und Kanten, aber vor allem liebenswert und lebendig auf die Seiten gebracht. Flüssig und leicht zu lesen, trotz der manchmal traurigen Seiten, sehr leb- und bildhaft geschrieben.

Ich habe geschmunzelt, gelacht, geweint und hatte ein ganz wohliges Gefühl beim Lesen.

Bewertung vom 26.12.2019
Was ist Liebe, Sokrates?
Kreft, Nora

Was ist Liebe, Sokrates?


ausgezeichnet

Nora Kerft hat hier einen wahren Schatz geschaffen. Liebe, das gewaltigste Gefühl, wunderschön und existenziell, ist in diesem Buch Thema und dies in einem fiktiven Treffen von 8 der bekanntesten Philosophen und Philosophinnen, die Liebe als zentrales Thema in ihren Leben und Werken hatten. Immanuel Kant * Königsberg, 1724 – 1804 lädt mit mysteriösen Einladungen folgende philosophische Größen zu sich nach nach Königsberg ein:
Sokrates * Athen, 469 v. Chr. – 399 v. Chr. ; Augustinus * (heutiges Algerien), 354 n. Chr. – 430 n. Chr.; Soren Kierkegaard * Kopenhagen, 1813 – 1855; Sigmund Freud * Freiberg, 1856 – 1939; Max Scheler * München, 1974 – 1928; Simone de Beavoir * Paris, 1908 – 1986 und Iris Murdoch * Dublin, 1919 – 1999

Alle 7 folgen Kant’s Einladung und ein spannendes Treffen, ein interessanter Tag beginnt. Verschiedene Epochen und eine absolute Diversität in manchen Bereichen begegnen sich und diskutieren über die Liebe im Allgemeinen, nicht nur die romantische, erotische und exklusive Liebe, sondern auch tiefe Freundschaft, Elternliebe, Geschwisterliebe und Nächstenliebe, Tierliebe bzw Liebe zu Objekten. Die Fragen, denen sie sich stellen, sind sowohl zeitlose als auch ganz aktuelle Themenbereiche, wie Gefühle und Liebe zu Robotern und Dating – Plattformen im Internet oder als Handyapp. Diese 8 starten jeweils von ihrer persönlichen Position, ihrer Überzeugung, ihrer Erkenntnis und gemeinsam entdecken sie durch regen, respektvollen und kreativem Austausch viele neue, gemeinsame Wege und Ansätze in vielen Themenbereichen.

Dieses Buch war bzw ist eine absolute Bereicherung und Inspiration. Die Lust mitzudenken setzte automatisch ein und hätte ich nicht zwischendurch Denkpausen gebraucht um meine eigenen Überzeugungen, meine Sicht der Dinge zu reflektieren, hätte ich es in einem Rutsch verschlungen. Die Spannung ist groß, der Austausch dieser acht Persönlichkeiten lebhaft und und emotional, als würden sie sich regelmäßig treffen und als lägen nicht mehrere Epochen zwischen ihnen. Großartig!!!!!

Bewertung vom 09.12.2019
Levi
Buttjer, Carmen

Levi


sehr gut

Levi hat mit seinen 11 Jahren schon sehr vieles erlebt, vor allem viel Unbeständigkeit. Geboren ist er in Paris, danach hat er mit seinen Eltern in London und Brüssel gelebt, bis sie nun neu in Berlin sind. Eine Stadt viel zu groß für Levi. Nun geschieht etwas, was seine Welt völlig aus dem Ruder laufen lässt. Seine Mutter stirbt. Sie war Pathologin und als eine Leiche aus der Pathologie gestohlen wird, fällt sie den Dieben zum Opfer. Das Buch beginnt mit der Beerdigung, vielmehr mit der geplanten Beerdigung, denn den Weg in die Erde findet Levi’s Mutter nicht. Levi, der in der Trauerhalle neben seinem Vater sitzt, der ihm fremd ist und immer fremder wird, je mehr Zeit er mit ihm verbringt, steht plötzlich auf, schnappt sich die Urne mit der Asche seiner Mutter und beginnt zu laufen, rennt weg, weg von den Trauergästen, weg von seinem Vater, weg von alldem, was gerade in seinem Leben geschieht. Aber wohin mit 11 Jahren, einer Urne und einem zur Flucht geklauten Fahrrad? Levi fährt erstmal in Richtung „zuhause“ und macht am Kiosk gegenüber des Wohnhauses eine kurze Pause. Der Kiosk gehört Kolja, um die 60, ehemaliger Kriegsfotograf, der seine Erinnerungen versucht in Whiskey zu ertränken und für Levi immer wieder kleine Arbeiten im Kiosk hat, wodurch sie sich schließlich auch vertraut wurden. Doch das ist natürlich nicht der Platz um dort sein Versteck aufzuschlagen. Er geht also in die Wohnung und findet im Schrank ein Zelt, Seile und eine Luftmatratze, diese Dinge und etwas Geschirr, das größte Küchenmesser, falls er sich mal verteidigen muss, packt er in einen Karton, verlässt die Wohnung und steigt hinauf auf das Dach des Wohnhauses. Dabei begegnet er Vincent, ein geheimnisvoller und freundlicher Mann, ca 30 Jahre alt, der in der obersten Etage wohnt und nach kurzer Unterhaltung Levi etwas zu Essen zubereitet und so werden nicht nur Kolja, sondern auch Vincent für Levi Vertraute und Verbündete in dieser schweren Zeit, in der er haltlos, ziellos, alleine in dem Zelt auf dem Dach lebt, mit der Urne, in einem Dschungel mit vielen Tigern.

Levi ist eine sehr besondere Geschichte, was dem Protagonisten geschieht, die Umstände des Todes seiner Mutter und die Beziehung zum Vater sind schwere Themen, aber die Autorin schafft es die Schwere zu nehmen und leichtfüssig, teils poetisch Levi’s Geschichte zu erzählen. Levi hat eine blühende Fantasie und natürlich viele Ängste, seine kindliche Sichtweise, seine fantasiereiche Gedankenwelt und seine Entscheidungen, Handlungen, werden sehr deutlich und tragen seine Geschichte und doch ist es kein Jugendbuch, sondern ein Buch für Erwachsene, die leider oft vergessen, wie kindlich ein fast Pubertierender in seinem Herzen noch ist und wie groß die Welt und wie lang die Zeit erscheint.

Ich habe Levi gerne gelesen und das Trio, Levi, Kolja und Vincent sind jeder auf seine Art gezeichnet vom Leben und finden in dem Wunsch die jeweils eigene Vergangenheit zu verarbeiten zusammen und das auf teils sehr amüsante Weise.