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frau pelikan
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Rostock

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Insgesamt 51 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2023
Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat
Boks, Aron

Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat


ausgezeichnet

Jahrelang bin ich mehrfach am Tag am Tafelbild „Rock-Sänger“ von Willi Sitte im Neuen Gewandhaus zu Leipzig vorbeigelaufen. Ich war auf dem Weg von Büro zu Büro, von Büro zu Saal, von Büro zur Kantine. Beim Lesen von „Nackt in die DDR“ ist er mir wieder in den Sinn gekommen, und ich habe gelernt, dass das Werk nach der ersten Präsentation gleich mal nach vier Wochen wieder abgehängt wurde, weil es Öbersten der ehemaligen DDR nicht konvenierte. Heute hängt er wieder, im Verein mit den anderen Großen der Maler-Quadriga Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig. Meister Heisig hatte sogar die Ehre, den Gewandhauskapellmeister Kurt Masur zu porträtieren.

Aus welchen Gründen Masurs Wahl damals nicht auf Sitte gefallen ist, keine Ahnung. Ob Sitte den Auftrag der Stadt Leipzig angenommen hätte, keine Ahnung. Aber die Beiden hätten sich etwas zu erzählen gehabt. Doch dazu später.

Aron Boks, Slammer, Journalist, Schriftsteller, ist jung. Für das Sujet, dass er sich gesucht hat, ist das ein Vorteil. Er ist der Urgroßneffe von Willi Sitte (1921 – 2013), und er hat sich entschieden, die Geschichte seiner Familie mit dem Schwerpunkt „Urgroßonkel“ zu schreiben. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt ein kluger Move. Denn:

Es ist ausreichend Zeit vergangen, und der Abstand hilft vielleicht, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten.
Es gibt eine ausgezeichnete Quellenlage in und um die Familie Sitte. Die Archive quellen über. Viele Akteure, die beitragen können, besitzen Briefe und Notizen. Zahlreiche Familienmitglieder haben selbst Tagebuch geführt oder Unterlagen gesammelt, die sie nun, auf Nachfrage des Autors, in Koffern oder Pappkisten unter Schränken oder Betten hervorziehen. Und die letzten Augen- und Ohrenzeugen leben noch.

Aron Broks entgeht der Versuchung, eine subjektive Familiengeschichte zu schreiben. Kein Voyeurismus wird befriedigt. Das hat sicherlich nicht nur mit der psychologischen Finesse des Autors tun sondern hängt auch am sagenhaft pragmatischen Umgang der noch lebenden Verwandten mit der Familien- und überhaupt der ganzen Geschichte. Wie sagen Großmutter oder Tante, wenn Aron sie nach ihren Reaktionen auf das ein oder andere Großereignis der deutschen Geschichte, Mauerfall, Wiedervereinigung, befragt: Dazu waren wir doch viel zu sehr mit unseren Dingen beschäftigt.

Zahlreiche erklärende Fußnoten und ein ausführlicher Literaturapparat rekonstruieren die Familiengeschichte von 1921 bis kurz nach der Wende. Immer den Fakten nach. Es gibt viel Wissenswertes, bisher vielleicht nicht Bekanntes, nicht nur aus der Familien- sondern auch anderen Quellen. Schüler, Zöglinge, Weggefährten, Freunde, Feinde, Parteifreunde. Die Personnage ist zeitbedingt deutlich herrenlastig.

Broks unterzieht sich mühsamen und langwierigen Recherchen. Stöbert Menschen auf, bringt sie zum Sprechen, führt Interviews. Was wir lesen, ist der Kampf und letztendlich das Scheitern des Kommunisten im Sozialismus. Wir lesen die Tragödie des Künstlers im Kampf mit der Obrigkeit. Wir lesen eine Spielart des ewigen Konflikts, Freiheit gegen Macht. Der Wissenschaftler Galileo Galilei gegen die Kirche, J. Robert Oppenheimer gegen die US Regierung. Heinrich Faust gegen den lieben Gott.

Willi Sitte selbst bleibt schillernd und uneindeutig. Mit Bezug zu Macht und Privilegien, eitel und gern im Mittelpunkt. Glühender Kämpfer für seine Schützlinge, Mahner an die Adresse der Mächtigen. Als Künstler selbst zu Beginn seiner Karriere unter „Formalismusverdacht“. Geführt als Informator in den Akten der Staatssicherheit. Bewahrer der Freiheit der Kunst? Und da schließt sich der Kreis nach Leipzig. Auch der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur kannte diesen Spagat nur zu gut.

Boks gelingt die Fusion von Geschichtsbuch und Tagebuch, zwischen Weltgeschichte und Familiengeschichte. Lehrreich und anrührend – und immer sehr respektvoll.

Ach ja, und das Finale spielt natürlich wo? In Ahrenshoop, wo sonst.

Bewertung vom 28.02.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


gut

Männer sterben bei uns nicht …

aber Frauen. Und die, die nicht sterben, verschwinden. Physisch, psychisch, emotional. Annika Reich baut ihre Geschichte auf wie ein Versuchslabor. Ein Anwesen am See, nicht verortet, mit fünf Häusern und sogar dem obligaten Garagenhäuschen, in dessen erstem Obergeschoss die Hauswirtschafterin lebt. Dazu die Personnage der Gegenwart: Großmutter, die Matriarchin und Großmutter Vera, Luise, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, Enkelin der Matriarchin und deren Mutter. Marianna, Tochter der Matriarchin und deren Tochter Olga. Und die offensichtlich Unsichtbaren: Leni, Schwester von Luise, wegen unbotmäßigen Verhaltens Knall auf Fall vom Anwesen in ein englisches Eliteinternat verbannt. Alice, Schwester der Patriarchin, die als Kind vor den Augen ihrer Schwester in das Eis des Sees einbrach und starb.

Zu guter Letzt: zwei anonyme tote Frauen, die eines Sommers kurz hintereinander am Seeufer angeschwemmt werden. Luise findet sie beide. Was es nicht gibt, sind Männer. Sie scheinen da gewesen zu sein, sind den Frauen aber nach und nach abhanden gekommen. Und so spinnt die Autorin unter ihrem Mikroskop ein Netz von Schuld und Abhängigkeit, Neugier und Spannung, Demut und Demütigung, dass Großmutter seit Jahrzehnten fein, aber beinhart dirigiert.

Luise ist die Lieblingsenkelin. Die von Großmutter auserkorene. Sie wird das alles hier erben. Keine andere, die auf dem Anwesen lebt, scheint Großmutters Ansprüchen zu genügen. Auch gegen sich selbst ist die alte Dame unerbittlich. Immer im Kostüm, immer im Schnallenschuh, frisiert und parfümiert. Stundenlang sitzt die kleine Luise an Großmutters (nie Omas) Mahagonitisch und paust historische Baudenkmale aus großen Bildbänden ab. Die Stifte sind immer gespitzt.

Annika Reich lässt uns nach und nach in die Seelen dieser Frauen. Großmutter überrascht alle, als sie verfügt, in einem kargen Sarg im kleinsten Kreis ohne Zeremonie beerdigt zu werden. Nur die ewige Hauswirtschafterin und scheinbar Vertraute war eingeweiht. Haben wir bisher die Geschichte aus der kindlichen Sicht Luises erzählt bekommen, tritt nun ein Strang in der Gegenwart hinzu. Nach und nach trudeln alle Protagonistinnen auf dem Friedhof ein. Und auch unerwartete Gäste stellen sich ein. Und wieder stellt sich heraus: jede von Ihnen trägt intimste Geheimnisse, Verletzungen und Annahmen über die anderen mit sich herum. Und was nun?

Die Autorin hat bereits eine Reihe von Romanen geschrieben, hat aber auch Kinderbücher verfasst und arbeitet journalistisch. Und das kommt uns als Leser:innen in diesem Buch nun zugute. Die ganze Schwere dieser Geschichte schildert Reich in einer unauffälligen, teilweise leichten Sprache. Es gibt es fast kabarettistische Wortspiele, die keinen Sarkasmus fehlen lassen, und kindliche Szenen, zum Beispiel als Luise und ihre Freundin Ruth in das geheimnisvolle fünfte Haus auf dem Anwesen einbrechen.

Dazu geistert eine Reihe von emotional aufgeladenen Gegenständen durch die Geschichte: ein paar Perlenohrringe, eine Brosche in Form eines Panthers, ein großes Motorrad. Und auch der See könnte einiges erzählen, wenn er nur könnte.

Bewertung vom 19.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


sehr gut

Neuankömmling – Containerdorf – Krähenclan – Östlichkeit – Fremdsein – Kasachstan – Zivilgefangene - Buran – Colt-Revolver – Steppe – Kasachischkeit - Zahngold

Was soll man schreiben über ein Buch, das das „Buch des Monats“ im NDR ist, und über dem die guten Kritiken hageln. Und diese Kritikerinnen und Kritiker haben aus ihrer eigenen Sicht recht.

Die Autorin ist ein preisgekrönter Profi. Sie ist in der tiefsten niedersächsischen Provinz geboren und aufgewachsen und hat heute ihren Lebensmittelpunkt nur ein paar hundert Kilometer entfernt. Zwischendurch war sie Stipendiatin des Ledig House in New York und Stadtschreiberin von Danzig.

Janesch erzählt diesen Roman auf zwei Zeitebenen:1945 und 1990. Sie wählt dazu zwei Schwerpunkte. Die sich wiederholende Geschichte von Flucht, Vertreibung und der Suche nach Heimat und die Rolle von Familie in solchen Situationen, präziser formuliert, sie erzählt eine Familien-Vater-Tochter Geschichte.

1945 lernen wir Josef Ambacher kennen: der zehnjährige Junge wird mit seiner Familie und vielen anderen Menschen aus Galizien, seiner Heimat, von den Sowjets nach Kasachstan verschleppt. Nach tagelanger Reise unter menschenunwürdigen Umständen wird seine kleine Gruppe an einer Haltestelle im Nirgendwo aus dem Zug in den Schneesturm geworfen, versehen mit einer groben Richtungsangabe, wohin zu laufen sei. Nach einem Marsch durch Schnee, Sturm und Kälte kommt die Gruppe in einem Dorf an, in dem die Menschen selbst in bitterster Armut leben. Josefs Mutter Emma, geschwächt von Hunger und Entbehrungen während der Fahrt läuft ihren Halluzinationen in den Schnee hinterher und verschwindet für immer.
Die Familien fügen sich ängstlich in die Regeln der Dorfgemeinschaft ein, Überleben ist das einzige Ziel. Josef findet bald einen Freund, mit Tachawi zusammen geht er immer wieder auf die Suche nach seiner Mutter. Erlebt die Steppe. Und die Geister der Steppe.

Bei dem Angriff eines Rudels Schneewölfe auf das Dorf, zögert ein Bewohner, dem Deutschen eine Waffe in die Hand zu geben, um ebenfalls gegen die Tiere zu kämpfen. Ein Deutscher auf russischem Boden mit einer Waffe in der Hand?

Nach ungefähr zehn Jahren werden diese Menschen in die Bundesrepublik Deutschland geholt. Sie sind Zivilgefangene. Ein Wort, das die wenigsten von uns kennen werden. Nach der „Heimkehr der Zehntausend“, des diplomatischen Erfolgs Konrad Adenauers Mitte der 50er Jahre zur Rückführung Tausender russischer Kriegsgefangener, kommen auch diese deutschsprachigen Verschleppungsopfer aus Russland nach Deutschland. Die meisten kommen in das Auffanglager „Friedland“, werden von dort aus weiter verteilt. Josefs Vater kennt eine Familie, die jemanden kennt, der jemanden kennt, der in Niedersachsen wohnt. Da gehen sie erst mal hin. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Duplizität der Ereignisse: 1990 ist Josef Ambacher selbst Vater. Die Familie lebt in einem Stadtteil, in dem es sich die Community notgedrungen „gemütlich“ gemacht hat. Die Menschen haben viele Dinge aus der Steppe und der Zeit der Vertreibung mit nach Deutschland gebracht. Jeder trägt sein Päckchen. Das eine sind die Geschichten, die Josef oft und gern seiner Tochter Leila erzählt. Das andere sind die bösen Erinnerungen, die Alpträume und Angstzustände, die die Menschen nicht verlassen. Der Vater ist Leilas Held und Vertrauter. Der Vater ist auch der Dreh- und Angelpunkt in der Gemeinschaft, die sich plötzlich einer neuen „Bedrohung“ ausgesetzt sieht.

Mit dem Ende des Eisernen Vorhangs und der Sowjetunion kommen zahlreiche Russlanddeutsche, Menschen jüdischen Glaubens und andere Kontingentflüchtlinge in das frisch geborene Gesamtdeutschland. Und so, wie Josef und seine Familie 1945 in der Steppe standen, steht nun eine Gruppe „frisch Geflüchteter“ in der Siedlung.

All dies erfahren wir durch die Brille Leilas, die zusammen mit ihrem besten Freund Arnold und bald auch mit Pascha, eigentlich Pawel, versucht, mit ihren eigentlichen kindlichen Problemen fertig zu werden und gleichzeitig die Dinge zu verstehen, die die Erwachsenen umtreibt. So hüten auch Arnold und sie an verschiedenen Stellen „Schätze“, um im Ernstfall fliehen oder sich wehren zu können. Und trotzdem prallen Erinnerung und Gegenwart immer wieder schmerzhaft aufeinander.

Janeschs große Kunst ist die Beschreibung von Erinnerung und Atmosphäre. Ohne großes TamTam. Einzelne Worte, halbe Sätze. Und schon kann die Phantasie der Leserin oder des Lesers losfliegen.

In einem Interview findet sich die Erklärung. Der Roman besteht teilweise aus autobiographischen Versatzstücken. Die Autorin dazu: „“Sibir” ist mein fünfter Roman, und das ist kein Zufall. Ich wusste schon sehr lange – eigentlich seit meinem Debütroman –, dass ich mich mit diesem Thema beschäftigen wollte. Gleichzeitig ahnte ich, dass ich für das Schreiben, für diese jahrelange Beschäftigung, einen kühlen Kopf und ein ruhiges Herz brauchen würde.“

Wie gut, dass Sabine Janesch sich ein Herz gefasst hat.

Bewertung vom 08.02.2023
Malvenflug
Wiegele, Ursula

Malvenflug


gut

Ursula Wiegele ist in Klagenfurt geboren und lebt in Graz. So ist der Ton ihres neuen Romans auch spürbar sprachlich österreichisch gefärbt. Man lebt eben „am Land“.

Die Autorin war mir bisher nicht bekannt, nach etwas Recherche habe ich folgende Informationen gefunden (kurz zusammengefasst): vier Romane, Beiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften und ziemlich viele Preise und Stipendien. Ich bin gespannt.

Der erste Teil spielt in den Jahren 1940 bis 1945 und glücklicherweise gibt es vorn im Buch ein Personenregister. Emma Prochazka hat vier Kinder: Helga, die Älteste. Alfred, acht Jahre jünger als seine Schwester, und gleich im folgenden Jahr geboren: die Zwillinge Lotte und Fritz. Der Vater der Kinderschar ist Pavel Prochazka. Der Mann war Emmas „böhmisches Unglück“. Betrogen hat er sie, Geld hat er keines rangeschafft. Bis Emma der Kragen geplatzt ist und sie ihm in einer zusammengeliehenen Verkleidung auf dem Weg zu einer seiner kleinen Eskapaden gefolgt ist. Und im „Inflagranti“ hat sie ihn dann erwischt – mit der anderen.

Dies alles ist schon eine Weile her. Seit fünf Jahren arbeitet Emma nunmehr in der Schweiz als Köchin. In der Davoser Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen isst man vor allem ihr süßen Backwaren gern. Die Kinder sind derweil untergebracht, auf Koststellen, bei Oma und Opa, im Internat. Helga ist in ein Kloster eingetreten, ein Maul weniger zu stopfen. Emma vermisst ihre Kinder und die Kinder sie, aber sie kommt selten nach Österreich. Da sind natürlich die Unruhen des Krieges, der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, die Rolle der Schweiz angesichts der Ströme von Geld und Menschen, die gleichermaßen in das offiziell neutrale Land fließen. Vor allem aber will sie Geld verdienen und spart eisern. Sie hat die Schulden abzubezahlen, die der Bohèmien und Faulpelz Pavel ihr hinterlassen hat, und sie spart, um später eine Wohnung zu kaufen. Eine große Wohnung, in der die ganze Familie zusammenkommen kann.

Die Erzählstimmen des ersten Teils sind breit verteilt. Die Leserschaft folgt dem Briefwechsel der verschiedenen Kinder mit ihrer Mutter, nimmt teil an den Gedanken des geschiedenen Gatten auf der Suche nach jungen Witwen. Das Leben ist hart und verlangt viel von allen Familienmitgliedern und trotz der kunstvollen Sprache und den sorgfältig gesetzten Worten bleibt eine spürbare Distanz. Eine Distanz zwischen Emma und den Kindern, die sie teilweise jahrelang nicht sieht. Eine Distanz zwischen der Leserin oder dem Leser und Emma. Ist ihr nicht klar, dass sie Gefahr läuft, durch ihre Abwesenheit die Familie zu gefährden? Dann bleibt die große Eigentumswohnung leer. Da bleibt viel Raum für Interpretation und psychologische Deutung.

Der zweite Teil schwingt in einer ganz anderen Atmosphäre. Die Erzählperspektive wechselt zur ältesten Tochter. Sie hat das Kloster nach Kriegsende verlassen und in Italien ein neues Leben aufgebaut. Aus Anlass eines anstehenden Familientreffens erzählt Helga den Fortgang der Ereignisse nach dem Krieg. Mit der mediterranen Wärme zieht nun auch ein wärmerer, zugewandterer Ton in den Text. Und wir erfahren, was es mit den Malven auf sich hat, als eine Mahnung, nie zu vergessen, was war.

Der Verlagstext sagt: “„Malvenflug“ ist ein großes Familienpanorama, getragen von starken Frauenfiguren.“ Ja, eine Familiengeschichte, aber auf 220 Seiten schreiben sich keine „Buddenbrooks“ und starke Frauen können eben auch harte Frauen sein.

Bewertung vom 01.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


gut

Dieses Buch duftet, riecht und stinkt. Es tönt aus einem Konzertsaal und aus einer Moschee. Es wimmelt wie ein Basar. Es ist bildhaft und zum Anfassen. Es jubelt und weint. Es plätschert, saust und braust. Es ist uralt und gegenwärtig. Es ist voll der Liebe und starrt vor Gewalt. Es ist kitschig und faktisch.

Während der Lektüre habe ich überlegt, an welches Genre, welche Form der Text mich erinnert. Wo ich diesen Rhythmus und diese Mystik gespürt habe. Am Ende war ich in Gedanken entweder bei der Homer’schen Odyssee oder den Hexen des Hamlet. Gefühlsmäßig nah dran, aber noch kein so richtiger Treffer. Ein Blick auf die Homepage des Autors hätte das Rätsel raten gespart. Dieser Text ist Musik, Marc Sinan im „richtigen Leben“ auch Musiker, Komponist und vielseitiger Künstler, in dessen Werk häufig das Leben zwischen den Kulturen thematisiert wird. „Gleißendes Licht“ ist ein Oratorium, dieses hier zwischen zwei Buchdeckeln.

Der Rahmen der Geschichte trägt autobiographische Züge. Der junge Gitarrist Kaan, auf dem Sprung zu einer großen Karriere, ist plötzlich gezwungen, sich mit der Geschichte seiner Familie auseinanderzusetzen. Seine Mutter ist Türkin, er ist in Deutschland aufgewachsen. Und Mama hat ihm immer wieder eingebläut: Du musst besser sein als die anderen, du musst die Scharte deiner Herkunft durch Leistung, Leistung, Leistung auswetzen. Dem Jungen Kaan kommen seine, durch eine Laune der Natur?, blonden Locken zur Hilfe. Mama heißt mit Vornamen „Nur“, übersetzt: gleißendes Licht.

Sinan erzählt die Geschichte dieser Familie über die Dauer des 20. Jahrhunderts stark fragmentiert bis über die Gegenwart hinaus. Die vergebliche Liebe zu Zizi, einer Schulfreundin, mit der er selbst eine Familie gegründet hat: die Stimme der Realität. Er erinnert sich an die Geschichte des Großvaters, der Großmutter und ihrem Tod. Damit eng verbunden ist die Geschichte des Genozids der Türken am armenischen Volk. In den Jahren 1915/1916 deportierte die türkische Armee hunderttausende von Armeniern und Armenierinnen. Auch die Eltern und der Bruder der Großmutter mussten fliehen und das kleine Mädchen als Waisenkind zurücklassen.

Zwischen den Textblöcken finden sich immer wieder Gedichtzeilen oder Liedtexte, sowie Schilderungen der tranceartigen Zustände, in die Kaan sich immer wieder verliert und an denen er die Leserinnen und Leser in totaler Introspektion teilhaben lässt. Und es finden sich große topoi, die Sinan wie Kopfthemen durch den ganzen Text führt: das Meer, die Musik, die Urgewalt des Mythischen, die Religion, die Familie, Haselnüsse.

Am Ende fasst Kaan einen Plan zur Vergeltung.

Bewertung vom 15.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Das hätte auch schief gehen können. Ganz ehrlich.
Man erinnere sich – Thomas Glavinic, „Das bin doch ich“, ein ebenfalls österreichischer Versuch dieser Erzählperspektive.

Geiger ist ein Fleißiger, wir alle haben bereits etliche seiner Bücher und Texte auf dem Regal und in der Seele. Nun kommt etwas Neues. Was? Eine Autobiographie? Biographical Fiction? Ein „Coming-of-Artist“-Roman? Ein „armer Poet“ der Gegenwart?

Die Leserin, der Leser lernt den Autor, das Alter Ego des Autors kennen. Der junge Mann hat seine Studien abgeschlossen, lebt in Wien in einer Ein-Zimmer-Wohnung, arbeitet an seiner schriftstellerischen Karriere und geht ein oder mehrfach in der Woche containern. Doch weder bräunliche Bananen, noch angeditschte Äpfel noch abgelaufene Nudeln landen in seinem Rucksack. Er sammelt Bücher, Tagebücher, Zeitschriften, Zeitungen, Briefe und Photos – Papier aller Art. „Ich war ein Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler...“, zuerst aus monetären Gründen, finden sich doch anfangs viele Fundstücke zum Verkauf in Antiquariaten und auf dem Flohmarkt, dann mehr und mehr als „geistige Nahrung“. Denn: zum Schreiben muss man Lesen. Bereits zu diesem Zeitpunkt sind die oben gestellten Fragen für mich irrelevant.

Eine andere drängt sich in den Vordergrund: Aus welchem Grund beschreibt der Klappentext, der Autor führe „ein Doppelleben“? Weil er auf der einen Seite bis zur Hüfte im Altpapier hängt und auf der anderen erste schriftstellerische Erfolge feiert und Preise entgegen nimmt? Das muss ich doch nicht verstehen, oder? Natürlich beschreibt Geiger diesen vermeintlichen Gegensatz, abends Parkett, am nächsten Morgen Parka, aber bis zum einem „Doppelleben“ ?

Gemeinsam arbeiten wir uns mit dem Autor auf gut 200 Seiten unaufgeregt durch eine aufregende Karriere, ein nie komplikationsloses Leben. Mit großem Vergnügen nimmt die Laiin, der Laie die Bösartigkeiten im Verlagsgeschäft zur Kenntnis. Mit innerer Anspannung verfolgen wir das amouröse Auf und Ab über die Jahrzehnte. Und an solchen Textstellen, an denen Rutschgefahr durch Kitsch oder Kitschgefahr durch Rutschen entstehen könnte, ist die trockene, extrem präzise und distanzierte Sprache die Schneekette, die genau das verhindert. Außerdem hat Geiger zumindest im Rückblick auf die Jahrzehnte die Größe, seine eigenen Defizite, seine Labilitäten ungeschönt mit in die Rotation zu werfen.

Für die von uns, denen manchmal der Stift in der Hand juckt, und die ewig überlegen, was sie der Welt eigentlich mitzuteilen haben, bewahrheitet sich hier das Credo aus Doris Dörries‘ Buch: „Leben Schreiben Atmen“: Sieh‘ Dich um und schreib‘. Hör‘ nicht auf. Denke nicht. Beobachte. Schreib‘ weiter. So argumentiert Geiger gegen diejenigen, die ihm das Buch über seinen in die Demenz verschwindenden Vater „Der alte König in seinem Exil“ wegen Persönlichkeitsdiebstahls zum Vorwurf machen. „ … denn ich bin nicht Schriftsteller, weil ich krampfhaft nach einem Beruf gesucht habe, sondern weil das genaue Hinsehen und Nachdenken und Schreiben meinem Wesen entsprechen. Sohn und Schriftsteller sind nicht zwei Personen, … .

Was für ein Glück.

Bewertung vom 08.01.2023
Ginsterhöhe
Caspari, Anna-Maria

Ginsterhöhe


sehr gut

Da sitzt Leser oder Leserin gemütlich im Sessel oder in der Leseecke und schmökert fast 400 Seiten einen historischen Roman. „Toll recherchiert“, denkt man sich das ein oder andere Mal, fiebert mit einzelnen Figuren, hofft für die Liebe, heult mit den Angehörigen von Kranken, Verletzten und Verstorbenen. Wie immer, wenn ich über einen Text schreiben will, mache ich mir Notizen und recherchiere hinterher über Autor*in, Sujet und mögliche Zusammenhänge. So auch hier für den neuen Titel von Anna-Maria Caspari „Ginsterhöhe“. Und bin dabei auf den Hintergrund dieses Buches gestoßen, der mindestens so spannend ist wie der Roman selbst.
Die Autorin lebt in der Nähe des Ortes des Geschehens. Das Dorf Wollseifen gab es wirklich. Die Entscheidung der Nazis, in dessen Nähe, auf dem so genannten Vogelsang, eine Ordensburg der Nationalsozialisten und eine weit reichende Ausbildungs- und Versorgungsinfrastruktur zu errichten, war letztendlich sein Todesurteil. In der Eifel gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg erste Ansätze von Tourismus. In den 20er Jahren bekam Wollseifen als erster Ort in der Gegend eine elektrische Strom- und eine eigene Wasserleitung. Es gab ein reiches und lebendiges gesellschaftliches Leben.
Nach der Machergreifung wurden der Vogelsang zum Dorf und damit auch die Gemeinde Wollseifen nach und nach auf- und ausgebaut. Neben der „Ordensburg“, zur Erziehung der 1000% Nazis, nah bei Wollseifen, entstand eine „Wohnanlage“ für die zivilen Beschäftigten auf der Ordensburg.
In den letzten Monaten des Jahres 1944, als der Krieg im Westen Europas begann, zugunsten der Alliierten zu kippen, nahmen diese blutige Rache und bombardierten den Vogelsang, die Gemeinde und den ganzen Landstrich in Grund und Boden. Die Geschichte geht weiter, das will ich hier nicht ausführen, - ich hoffe auf eine Fortsetzung. Das Buch endet mit der „Evakuierung“?, „Verbringung“?, „Vertreibung“? der verbliebenen Bewohner aus ihren Häusern von ihren Feldern. Manche von Ihnen lassen die Schlüssel in den Haustüren stecken. Sie kommen ja bald wieder.
Nun zum Roman, denn Geschichte braucht Gesichter:
Am Beispiel der Familie Lintermann tauchen wir tief in die Geschichte des Ortes und seiner Menschen ein. Im Winter 1919 holt der alte Bauer Lintermann seinen Sohn vom Bauernhof ab. Albert hat gemeinsam mit seinem besten Freund Hennes für König- und Kaiserreich gekämpft. Albert hat dabei einen Wangendurchschuss erlitten, sieht nur noch auf einem Auge und hat Monate im Lazarett gelegen; Hennes ist auf dem Feld geblieben.
Zuhause erwarten auf Albert ein heruntergekommener Hof, weil Brüder, Freunde und Knechte nach und nach zum Dienst an der Front gezogen wurden, die quasi „verwitwete“ Verlobte von Hennes, die mit einem fast zweijährigen Kind im Hause des Lehrers täglich der Rückkehr ihres Bräutigam entgegensieht und Alberts eigene Frau Bertha, die ihrem Mann monatelang nicht ins Gesicht sehen kann. Nicht aus Liebe oder Mitgefühlt sondern aus Ekel. Doch Albert greift dem Schicksal ins Maul und packt an. Er schluckt die Schmerzen herunter und baut Haus und Hof wieder auf. Er streitet sich mit dem Vater über „Neuerungen“, die seinerseits dringend nötig wären und geht abends zum Bier in die Wirtschaft zu seinem Freund, dem Wirt Silvio. Sollen die anderen doch starren.
Bald glauben wir uns in einer Geschichte von Erfolg und Aufstieg, bis bereits Mitte der 20er Jahre die ersten schwarzen und braunen Uniformen auf dem Tableau erscheinen, und die ersten Zeichen drohenden Unheils am Horizont erscheinen.

Bewertung vom 05.12.2022
Labyrinth der Freiheit / Wege der Zeit Bd.3
Izquierdo, Andreas

Labyrinth der Freiheit / Wege der Zeit Bd.3


weniger gut

Als ich, als noch nicht Izquierdo-Fan, das Buch in die Hände bekam und feststellte, dass ich da Nr. 3 von drei, also das Ende einer Trilogie hatte, war ich ziemlich skeptisch. Nicht nur, weil ich Steinbock bin, und die Dinge gern von vorne beginne, sondern, weil ich natürlich auch die Befürchtung hatte, nicht alles richtig mit zu bekommen. Nun war aber Zeitdruck, also: Rein ins Vergnügen.
Das Setting ist das Berlin der 20er Jahre. Das scheint gerade Mode zu sein, siehe Kutscher und Co. Aber, die historischen Daten sind gut recherchiert, die Atmo ist stimmungsvoll eingefangen, warum also nicht. Wir treffen im Jahr 1922 auf drei junge Leute, die verschiedener nicht sein könnten. Da ist Carl, der auch die Erzählerrolle übernimmt. Ein zurückhaltender, besonnener Charakter. Carl ist Kameramann. Erst beim lustigen Lubitsch, nun bei dem förmlich besessenen Fritz Lang. In Babelsberg entsteht Dr. Mabuse. Vorbei ist es mit guter Laune während der Arbeit.
Dazu gesellt sich Luise von Torstayn, kurz Isi. Sie ist Anwältin und setzt mit Vorliebe für die Belange der kleinen Leute ein. Dies auch durchaus mal unkonventionell, um es vorsichtig auszudrücken. In diesem Band fällt ihr die Hauptrolle zu, denn bei einem Überfall, der sich offensichtlich gegen Freund Artur, den Dritten im Bunde richtet, verliert sie ihr ungeborenes Kind. Das birgt für einen Moment Courths-Mahler-Gefahr, aber der Autor rettet uns und stattet Isi mit einem mehr als gesunden Rachebedürfnis aus.
Artur ist ein in Berlin mehr als gefürchteter Gangster und nimmt diesen Anschlag äußerst persönlich. Und da ist sie wieder, die Personnage der Großstadt in den vermeintlich Goldenen Zwanzigern: Nutten, Dealer, Schläger, Nazis auf dem Vormarsch, Ringvereine, kriminelle Banden, geheime Verschwörungen und Netzwerke. In diesem Fall kommt Artur der Organisation Consul in die Quere.
Notgedrungen ist Izquierdo sparsam mit Bemerkungen über die Vergangenheit der drei; die einen wissen ja schon alles; den anderen will er die nachträgliche Lektüre nicht verderben. So bleibt bei den zum Leserkreis neu Hinzugekommenen manchmal ein Fragezeichen zurück. Ein ?, das schnell auftaucht und genau so schnell wieder verschwindet, denn der Autor schreibt auch für‘s TV im Comedy- und Seriensegment, und das ist deutlich zu spüren. Der Text ist sehr szenisch, das Tempo ist immer etwas rastlos, die Charaktere sind häufig entweder was drunter oder, das eher, deutlich was drüber.

Im Großen und Ganzen ein spannender, gut gebauter und süffig zu lesender Schmöker, der uns zu dieser Jahreszeit im Sessel oder auf dem Sofa festhält.

Bewertung vom 19.11.2022
Agent Sonja
Macintyre, Ben

Agent Sonja


ausgezeichnet

Da hat man, mit gar nicht so schlechter Note, seinen Geschichtsleistungskurs absolviert, hatte die Nase in vielen Büchern und hält sich für mählich allgemein gebildet und interessiert. Dann bekommt man dieses Buch auf den Tisch und denkt sich: „Aha, von diesem Themenfeld hast Du in der Tat noch nie etwas gehört oder gelesen. Ein riesiger blinder Fleck in der bürgerlichen Bildung. Kann ja fast nicht sein.“ Ist aber so.

Auch der Autor. Ben Macintyre? Who? Um dann aus dem schlauen Netz zu lernen, das er der Autor von millionenfach verkauften Spionagebüchern ist. Er ist Kolumnist, als stellvertretender Redakteur bei der Times tätig und hat als Korrespondent der Zeitung in New York, Paris und Washington gearbeitet. Außerdem ist er regelmäßig in der BBC präsent.

Der Autor beschreibt in „Agent Sonja“ das Leben und „die Arbeit“ von Ursula Kuczynski. Und jetzt noch einen für das „Phrasenschwein“: Dieses ist ein historisches Sachbuch, auf das Präziseste recherchiert, das sich liest wie ein Krimi. Immer wieder während der Lektüre habe ich im Stoff und in der Erzählweise Macintyres Anklänge an John Le Carré gefunden.

Zur Handlung sollte an dieser Stelle nicht allzu viel verraten werden, s.o. Der ganze Text, das komplette Setting dreht sich um das Leben der Heldin Ursula Kuczynski. Sie wird 1907 in eine wohlhabende, im akademischen Milieu fest verankerte, deutsche jüdische Familie geboren. Sie wächst mit ihren Geschwistern, mehr Schwestern als Brüder, in nahezu idyllischen Verhältnissen in Berlin auf. Ursula ist immer der Wildfang, die Querdenkerin. Schon als Teenagerin sympathisiert sie mit der kommunistischen Gesellschaftsidee, so bald wie möglich tritt sie in die Partei ein. Ihre Eltern nehmen sie derweil von der Schule, die Mutter kauft ein Kostüm, Schuhe und Handschuhe passend und steckt sie als Gehilfin in eine Buchhandlung – warten auf den Ehemann ist die Direktive. Und es findet sich auch einer. Einer, der die perfekte Tarnung ist für Ursulas Umtriebe. Denn in Shanghai lernt sie einen Mann kennen, der ihr Leben komplett verändert.

Ben Macintyre wendet sich in einem Aspekt sehr konzentriert seiner Protagonistin zu. Ursula wird Mutter, bleibt aber immer zerrissen zwischen ihren (vermeintlichen) Pflichten als Mutter und ihrer Spionagetätigkeit, der Arbeit und der damit verbundenen Gefahr, in die sie sich immer wieder, auch lustvoll, begibt.

Eine Konzentration liegt im Gegensatz dazu sehr im außen. Er beschreibt akribisch und sehr anschaulich die Milieus, in denen Ursula lebt und das gesellschaftliche Leben, das sie führt. Shanghai, New York, Oxford. Die Lesenden sind immer dabei.

Bewertung vom 19.10.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Ein neuer Mc Ewan. Angekündigt in den Vorschauen des Verlages und der Vertriebler. Da habe ich bestimmt als eine der ersten in den Startblöcken gesessen. Und dabei ist McEwan ein fleißiger Autor. In der Regel lässt er die Fangemeinde nicht länger als zwei Jahre auf einen neuen Titel warten. Und jedes Mal öffnet sich ein anderes Universum, manchmal stilistisch, immer inhaltlich. Von „Amsterdam“ über „Solar“, „Kindeswohl“ bis hin „Die Kakerlake“. Und nun 700 Seiten „Lektionen“.
Und wieder eine vollständige Überraschung.
Protagonist des Textes ist Roland Baines, in all seinen Lebensphasen. Als kleiner Junge, der in Libyen groß wird. Als Soldatensohn. Als Internatsschüler. Als Ehemann von Alissa und Vater von Lawrence. Als Gehörnter, der allein in seinem heruntergekommenen und vermüllten Londoner Haus sitzt, sich um Baby Lawrence kümmert und auf eine weitere Postkarte seiner durchgebrannten Gattin wartet. Ein Poet, der nach Inspiration sucht, wenn der Säugling schläft. Sein Geld bekommt er entweder vom Amt, durch Lohnschreiberei oder das Dichten von Knittelversen für die wachsende Grußkartenindustrie.
McEwan nimmt uns mit zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Führt uns Phänomene der Zeitgeschichte vor Augen, die wir lange hinter uns glauben. Die Kuba-Krise, die die Internatsschüler in große Aufruhr versetzt und zu Atomwaffenexperten werden lässt, die Tschernobylkatastrophe, gegen die Roland Lawrence und sich entgegen der eigenen Skepsis mit dem Abkleben der Fensterritzen versucht zu schützen und nicht zuletzt die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik, dem einzigen Land der Welt, in dem der Kommunismus erfolgreich als Staatsform gelebt werde.
Doch diesen langen, einer Meditation gleichenden, stetig fließenden Erzählfluss lesen wir immer unter dem Brennglas seiner Begegnung mit der Klavierlehrerin im Internat, Miriam Cornell. Ist es eine Erweckung, ein Missbrauch, eine Vergewaltigung? Die „erfahrene Frau Mitte zwanzig“, die Frau Lehrerin, lehrt ihn viele Spielarten des körperlichen Miteinanders und Zusammenseins. Unterwerfung, Ekstase, Zärtlichkeit. Roland wird Miriam-süchtig; Frauen und die sexuelle Begegnung mit ihnen werden ein Fixpunkt in seinem Leben.
Und wenn wir zu Beginn der Lektüre noch unsere Nasen wie literarische Trüffelschweinchen in die Seiten halten, um herauszufinden, was denn nun autobiografisch und was erfunden sei; nach spätestens 40 Seiten spielt die Antwort auf diese Frage keine Rolle mehr.
Aus der Rückschau sehen Roland und seine Leserschaft klar: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh‘n tun sie beide nicht.“

(„Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ aus „Die Dreigroschenoper“. Brecht/Weill).