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Benutzername: 
Luisabella
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 174 Bewertungen
Bewertung vom 11.03.2024
wir sind pioniere (eBook, ePUB)
Erdmann, Kaleb

wir sind pioniere (eBook, ePUB)


gut

»why fix it if it isnt broken fragt er
es ist broken sage ich es war von anfang an broken und das war das schöne dran
das klingt grausam sagt keno« Vero & Keno (S. 90) 💔

»wir sind pioniere« ist der Debütroman von Autor Kaleb Erdmann. Es geht darin um die beiden Protagonist*innen Vero und (Quirin) Bruckner, die eine offene Beziehung führen und deren Regeln und Grundsätze durch die Wunsch-Schwangerschaft von Vero neu verhandelt werden müssen. Da es wenig Beispiele in unserer heteronormativen Gesellschaft gibt, sind sie Pioniere in der Ausgestaltung dieser Beziehungsform. Und dies hält natürlich seine Challenges bereit, die sich nicht immer über selbstgekochter Pasta ausschweigen lassen. 🍝

»bruckner sagt dass er die sache mit keno in letzter zeit mehr verdrängt als akzeptiert hat dass es sich für ihn immer stärker nach polyamorie anfühlt was er nie gewollt hat wir seien irgendwie in die polyamorie geschlittert
ich will nicht im dreieck ein kind großziehen sagt bruckner das haut nicht hin
okay sage ich damit kann ich doch schon mal was anfangen das ist besser als nichts das ist besser als klappe halten und nudeln essen« (S. 160)

Der Roman zeichnet sich nicht nur durch die moderne Verhandlung einer offenen Beziehung, sondern auch durch den Stil (keine Groß- & Kleinschreibung und Satzzeichen) und die sich durchziehende Aufeinander-zu-Bewegung der beiden Protagonist*innen räumlich aus. Die Story und auch den ungewohnten Schreibstil fand ich sehr interessant und konnte mich catchen. Dennoch hätte ich mir noch mehr Tiefe gewünscht, mehr Diskussion zwischen den beiden Lovern und damit einhergehend auch gerne noch mehr Storyline.

Insgesamt ein Debüt, durch dessen Seiten ich geflogen bin und erfrischend anders ist. 💙 NICE 🤌🏼

Bewertung vom 11.03.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


sehr gut

»Es sind die Welten, in denen ich mich bewege, die zu mir gehören. Es sind die Verletzungen und der Schmerz, die wie die kleinen weißen Punkte auf unseren Fingernägeln zu mir gehören.« (S. 267) ☁️

In ihrem Debütroman »WEISSE WOLKEN« ☁️ schreibt die Autorin Yandé Seck über die zwei Schwestern Dieynaba (Dieo, Mitdreißigerin) und die 8-Jahre jüngere Zazie, die in Frankfurt als Kind einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters großgeworden sind und unterschiedliche Weltanschauungen und Wünsche entwickelt haben — trotz ihrer vielen Gemeinsamkeiten und Beziehung zueinander. Während Dieo als Mutter von drei Söhnen in der Ehe mit Simon nicht nur das Familienleben managt, sondern sich zusätzlich zu ihrem Job als Psychotherapeutin weiterbildet; setzt sich Zazie intensiv mit Themen wie White Privilege, struktureller Ungerechtigkeit, Rassismus, Macht & Diskrimmierungen uvm., auseinander — nicht nur im Rahmen ihres Studiums und anschließender Promotion, sondern immer:

»Wenn sie ehrlich war, war er im Rahmen des Möglichen perfekt. Es war eher sie, die nicht so recht wusste, was dieses ganze Lieben sollte. Es gab doch so viel anderes, was sie beschäftigte. So viel, was sie noch sehen und durchdenken und bewegen wollte. Dieser ganze Rückzug ins Private ging ihr auf den Senkel […].« Zazie ☁️ (S. 57)

Der Roman ist sehr vielschichtig, einfühlsam, modern und facettenreich: Durch die verschiedenen Protagonist*innen, deren Denkweisen und Argumente verhandelt der Roman so verschiedenen Perspektiven auf Themen: Identität, Zugehörigkeit, Rassismus, Sexismus, Kapitalismus & Patrichariat, Mutterschaft, Sehnsüchte und die Frage, wie wir unser Leben gestalten wollen.

»Warum war Sysiphos eigentlich ein Mann, wenn doch die Erfahrung der sich ewig wiederholenden Überlastung eine typisch weibliche war?« Dieo (S. 104)

Im Gegensatz zum Klappentext finde ich nicht, dass der Tod des Vaters so im Vordergrund steht. Das gedroppte und nicht weiter ausgeführte Thema rund um das Verhalten der Mutter Ulrike wurde jedoch trotz der Ausmaße gar nicht weiter thematisiert. Bei dieser Fülle an Themen des Romans ist dies verständlich, aber wäre für die Storyline sicherlich auch logisch und passend gewesen. Die Darstellung der Beziehung zwischen den beiden Schwestern fand ich dafür umso stärker und mochte ich sehr. Es ist ein starker Familienroman, der viele aktuelle Themen aufgreift, durch die Sicht der drei Protagonist*innen gut verhandelt und dabei einige sympathische Figuren bereit hält (BTW Otis hat mein Herz geklaut ). Das Ende finde ich im Vergleich sehr kurz gehalten und hätte aus meiner Sicht gerade in Bezug auf Mutterschaft differenzierter geschrieben werden können. Es ging mir dann doch etwas zu schnell und zu glatt mit dem Happy End.


Herzensempfehlung für diesen modernen, vielschichtigen, humorvollen und liebevollen Roman.

BTW: Neben vielen wichtigen Perspektiven zu den oben genannten Themen, ist mein Lieblingslearning aus diesem Buch: Jede*r sollte sich regelmäßig ein Croissant für die Seele gönnen.

Bewertung vom 19.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Es klingt so gut: Die seit Kindheitstagen besten Freund*innen Philipp und Faina entschließen sich nach dem Modell Co-Parenting gemeinsam ein Kind großzuziehen, als Faina ungewollt schwanger wird. Was nach einer aktuellen und feministischen Storyline klingt und genügend Stoff für einen Roman bieten würde, wird bei Lana Lux aus einer ganz anderen Richtung brisant. Es sind alles andere als geordnete Verhältnisse, die sich hier auftun und auch das Leben der beiden Protagonist*innen ist weit weniger geordnet, als beide sich wünschen. Dabei wird die Storyline aus der Rückschau von beiden — Philipp und Faina -- erzählt. Angefangen von ihren schwierigen Kindheit und Elternhaus über die Teenager-Zeit bis zum Jetzt als Erwachsene Mittdreißiger, werden in dieser Storyline wichtige, aktuelle wie Themen Philipp’s Asexualität als auch Fainas Bisexualität (was bis zur Hypersexualität ausgedehnt wird) und das Co-Parenting mitgezählt. Leider werden diese queren Themen zum einen sehr extrem dargestellt und zum anderen durch das Setting sehr negativ konnotiert. Da ich nichts vorwegnehmen möchte, stoppe ich an dieser Stelle und kann nur sagen: Es ist ein sehr gut geschriebener, sehr spannender und tiefschichtiger Roman, der eine krasse Sogwirkung entfaltet.

»Es ist verblüffend, wie aus Liebe Hass werden kann, […]. Ich glaube nicht, dass es wahr ist. Ich glaube, dass wir, die davon betroffen sind, bloß von Anfang an Kontrolle mit Liebe verwechselt haben. Ich jedenfalls habe schon von klein auf gelernt, dass Liebe und Schmerz zusammengehören.« Faina, S. 273

Wer Lana Lux Romane kennt, weiß, dass die Autorin mit ihrem fantastischen Schreibstil absolute Pageturner schreibt, die man nicht mehr aus der Hand legen kann. Auch dieser Roman besticht durch die Erzählweise, den Erzählten, den Zynismus und die fein-säuberlich ausgearbeitete Storyline und Protagonistinnen. Ihr neuer, dritter Roman »Geordnete Verhältnisse« ist ein unbequemer und verstörender Roman über fehlgedeutete Liebe, Sexualität, toxische Abhängigkeiten, dysfunktionale Familien, psychische und physische Gewalt, Kindheitstraumata, psychische Erkrankungen.

[CN: Psychische & physische Gewalt, Femizid, psychischer Missbrauch, Drogen, Alkohol]

Bewertung vom 15.02.2024
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


sehr gut

»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Du weißt, was ich will. Ich habe es dir hundertmal gesagt. Ich liebe dich. Ich liebe dich, aber ich kann so nicht mehr weitermachen. Wann immer wir jetzt miteinander sprechen, streiten wir. Es bringt mich um. Du sagst, ich würde dir nicht zuhören, aber du bist es, die nicht zuhört. Bitte, entscheide dich einfach, verdammt noch mal. Tu, was du willst, aber hör bitte, bitte auf,
mich zu verarschen.

Man muss aus eigener Erfahrung lernen, was eine Figur in einer Erzählung von Edna O'Brien feststellt, nämlich dass Liebe deshalb so schmerzhaft ist, weil zwei Menschen mehr wollen, als zwei Menschen geben können.« (S. 123) ❤️‍🩹

In ihrem neuen Roman »Die Verletzlichen« schreibt die Autorin Sigrid Nunez (übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube) über eine namenlose Ich-Erzählerin, die Autorin ist, und während des 1. Lockdowns der Corona Pandemie auf den Papageien Eureka 🦜 ihrer Freundin Iris aufpasst und sich gemeinsam mit einem jungen Familienfreund dieser — Giersch — das luxuriöse Appartement teilen muss. Der Roman ist eine Mischung zwischen der Schilderung dieser Situation einhergehend mit der Reflexion des Erlebten durch die Protagonistin selbst sowie deren Philosophieren und Sinnieren über das Schreiben und Schriftsteller*innen-Sein. Die eingestreuten Anspielungen und Zitate auf andere Autor*innen und Werke empfand ich als sehr gelungen und bereichernd:

»Jetzt kenne ich die Wahrheit: Wichtig ist, was man während des Lesens erlebt, die Gefühlszustände, die eine Geschichte hervorruft, die Fragen, die einem dazu einfallen, und nicht die fiktionalen Ereignisse, die geschildert werden.« (S.9)

Eine sehr schöne, inspirierende, humorvolle und philosophische Lektüre 🩷 Fans von Büchern über das schriftstellerische Schreiben und Gedanken dazu 📖💭 und alle Sigrid Nunez-Fans — you’ll love this lovely novel. 🦜💚

Bewertung vom 15.02.2024
Mutter ohne Kind
Lindner, Eva

Mutter ohne Kind


ausgezeichnet

»Weltweit kommt es jährlich zu 23 Millionen Fehlgeburten. In jeder Minute, die verstreicht, verlieren 44 Frauen auf dieser Welt ihre Schwangerschaft.« (S. 15)

In ihrem Sachbuch »Mutter ohne Kind — Das Tabu Fehlgeburt und was sich daran ändern muss« schreibt die Autorin Eva Lindner über das Tabu zu Fehl- & Totgeburten. In insgesamt 11 Kapiteln, gerandet von Einleitung und Ausblick schreibt die Autorin über verschiedene Aspekte rund um diese Themen. Jede Kapitelüberschrift enthält einen Frauennamen einer Frau, die ihre persönliche Geschichte dazu geteilt hat und die begleitende Unterüberschrift, die das Thema framt. Über die Problematik von fehlender Gender-Medizin, über mangelnde Forschung, Weiterbildung und Schulungen sowie die Zulassung von Medikamenten und Problematik im Umgang mit den Gesetzen (wie bspw. §218 Abtreibung, aber auch dem Mutterschutz) werden hier zahlreiche Aspekte aufgegriffen, an persönlichen Beispielen verdeutlicht und anschließend wissenschaftlich und sachlich erläutert und mit Statistiken belegt.

Bei diesem Thema zeigt sich wieder einmal, wie sehr das Patrichariat Frauen abwertet und schlechter stellt und wie dringend sich Missstände und Tabus ändern müssen in Bezug auf Fehlgeburten.

Als Mutter, die ebenfalls ein Kind in der Schwangerschaft verloren hat, hat die Autorin eine sehr persönlichen Perspektive zu diesem Thema. Es gelingt Ihr hervorragend, dies in den Kontext einzubetten und ein sowohl sachliches als auch sehr einfühlsames Sachbuch zu schreiben. Ich habe großen Respekt vor dieser Leistung! Das Sachbuch finde ich sehr gut formuliert, belegt und ausgearbeitet. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Autorin am Ende 11 Forderungen passend aus jedem Kapitel eine ableitet und damit ganz konkret aufzeigt, wie sich dies verbessern ließe. Das macht Hoffnung — noch mehr, wenn dieses Buch und die Forderungen ganz viele Menschen lesen würden!

Große Leseempfehlung 🩷

Bewertung vom 05.02.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


gut

»In den Spuren und Abwegen kann ich nur vage betrachten, was von der Vernichtung blieb, und das ist eben einerseits ein ganzes Menschenleben und andererseits nicht viel.« Kurt über seinen Vater (169)

Mit 17 Jahren war Kurt’s Vater als Halbjude im Lager Lenne (Niedersachsen) interniert und hat das Zwangsarbeitslager der Nazis überlebt, während andere Familienangehörige durch die Nazis ermordet werden. Mit 58 Jahren wird der Journalist und Politiker Harry Tallert (1927-1997) ein letztes Mal Vater — von Kurt als Jüngstem von vier Kindern — und verstirbt 12 Jahre später. Kurt Tallert hatte also nicht viele gemeinsame Lebensjahre mit seinem Vater und nähert sich diesem mit seinem autobiografische Werk mittels einer literarischen Analyse. Welche Auswirkungen kann das erlittene Leid durch die Nazis auf nachfolgende Generationen haben? Inwiefern prägt dies die Folgegenerationen? Genau diese Fragen greift Kurt Tallert einfühlsam, eindringlich und äußert akribisch in seiner literarischen und gegenwärtigen Spurensuche auf.

»Mein immer gut gekleideter Vater sitzt in einem Büro an einem unscheinbaren Schreibtisch, während sich zu seiner Linken ein Zirkuskrokodil an der Tischkante abstützt. […] Auf dem Foto blickt er dennoch gelassen zu dem mittels Kühlung ruhiggestellten Raubtier, als wäre dieses archaische Reptil ein Stück gezähmter Vergangenheit. Diese Bedeutung konnte das Bild wohl nur für mich haben.« 55f 🐊

In seinem Sachbuch »SPUR UND ABWEG« setzt sich der Autor Kurt Tallert intensiv mit seinem Vater und damit schlussendlich auch sich selbst auseinander. Die Leerstellen, die sein Vater hinterlassen hat, untersucht Kurt in diesem Buch intensiv, indem er Unterlagen, Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe und Karten des Vaters studiert, analysiert und in historische Kontexte setzt. Zudem berichtet er von seinen eigenen Kindheitserinnerungen und setzt diese in den Kontext des Lebens seines Vaters. Mit 6 Jahren betritt Kurt zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald:

»Heute sehe ich das Bild des sechsjährigen Jungen, der auf dem ehemaligen Appellplatz steht, sich umblickt, in sich kehrt und nicht wieder ganz aus sich herauskommt. Oder zumindest nicht als derselbe. Ich glaube, an diesem Tag wurde mir die Skepsis als eine Art Urvertrauen in die Enttäuschung eingepflanzt. Ich lernte, dass es möglich war, jederzeit möglich, dass die Umwelt sich gegen einen kehrte, dass sie mit einem brechen konnte, dass sie einen brechen würde, dass es Situationen gab, in denen ein Mensch aus allen Situationen gerissen werden konnte, und dass er nichts dazu tun musste und nichts dagegen tun konnte, außer - und das ist recht erbärmlich - Glück zu haben.« 37

Dieses sehr persönliche, intensive Zeugnis und Auseinandersetzung mit dem Leben des eigenen Vaters sowie den eigenen Anteilen an der Erinnerung ist sehr interessant und umfangreich. Stellenweise empfand ich die Lektüre so, dass der der Autor abschweift und der roten Faden etwas verloren geht. Nichtsdesto trotz ist es ein sehr wichtiges Zeitzeugnis, das vergegenwärtigt, wie sehr die deutsche Geschichte Generationen nach wie vor prägt; wie wichtig es ist, uns immer wieder zu erinnern: NIE WIEDER IST JETZT.

Ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen!

Bewertung vom 31.01.2024
Klarkommen
Hartmann, Ilona

Klarkommen


sehr gut

»Ich war besessen von coolen Leuten. Es war nicht genug, in ihrer Nähe zu stehen, es war nicht genug, sie zu beobachten, Ich wollte sie verzehren, sie in mich aufnehmen, mich von innen nach außen stülpen und dann endlich so sein wie sie.« (83)

In ihrem neuen Roman »klarkommen« schreibt die Autorin Ilona Hartmann über das Erwachsen werden und, was das eigentlich bedeutet — also mal so ganz konkret. Sie schreibt von den Freuden der neugewonnen Freiheiten, aber auch den Schattenseiten dieser Freiheiten: Geld verdienen, WG-Leben, Studium, Parties, Freund*innen und dabei sich selbst zu finden.

„Ich war gleichzeitig schon erwachsen und trotzdem noch sehr jung, das Leben schien mir zu kurz und zu lang gleichzeitig und jede Entscheidung gleichermaßen lebensverändernd wichtig und vollkommen egal."

Mounia, Leon und die namenlose Ich-Erzählerin sind seit ihrer Schulzeit ein eingeschworenes Trio. Gemeinsam ziehen sie nach dem Abi zusammen in eine WG, beginnen ihr jeweiliges Studium, suchen sich ihre ersten Jobs und vor allem auch sich selbst.

Der Roman ist in (sehr) kurzen Kapiteln geschrieben, die mir kombiniert mit dem zeitweise ironischen, ernsten und auch verbittertem, aber immer sehr ehrlichem Schreibstil, Tagebuch-Vibes gegeben haben. In Momentaufnahmen begleiten wir die Ich-Erzählerin, wie sie ihre erste Liebe verliert, wie sie sich neu verliebt, wie sie ihre beste Freundin ganz neu kennenlernt, wie sie eben ihr Leben lebt. Ilona Hartmann gelingt es mit ihren knackigen Sätzen und Kapiteln den Übergang von Jugend ins Erwachsensein so zu skizzieren, dass Lesende sich in ihre eigenen Anfänge des Erwachsen-Seins rekapituliert werden, und die Angst, die beste Zeit des Lebens nicht richtig auszufüllen, wird spürbar. Die Message wird schnell klar: Wir müssen nicht nach den absurden und nie definierbaren Maßstäben von COOL gerecht werden, um ein unser Leben zu leben und »klar[zu]kommen«.

Ein kurzweiliger, amüsanter, authentischer und toller Roman über eine Zeit im Leben, die ich gern mit mehr Lebenserfahrung viel entspannter gelebt hätte. Aber wer hätte das eben nicht?! Meine einzige Kritik ist, dass ich mir an der ein oder anderen Stelle noch etwas mehr Tiefe gewünscht hätte und manche Dinge für mich zu vage gelassen bzw. nicht auserzählt worden sind.

Leseempfehlung von mir 🖤

[3.5 / 5 ★ ]

Bewertung vom 21.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

»Lev mochte ihre Stimme, ihr Lächeln, und er begann, sich vorzunehmen, sie [Kato] zum Lachen zu bringen. Es gelang fast immer, und einmal fragte sie ihn, nachdem sie gemeinsam über etwas gelacht hatten, warum er nicht mehr laufen könne.« (S. 211)

Wundervoll poetisch erzählt die Autorin Iris Wolff in ihrem neuen Roman »Lichtungen« in neun Kapiteln angefangen in der Gegenwart und von dort immer weiter in die Vergangenheit blickend die Beziehung zwischen Lev und Kato. Ebenso wie ihre vorherigen Romane ist auch das Setting in diesem Roman in Siebenbürgen und erzählt neben der Geschichte um die beiden Protagonist*innen ganz nebenbei von der Kultur, Traditionen und Lebensweisheiten aus dieser Region Rumäniens. Lev und Kato treffen sich als Erwachsene wieder und in Rückblenden erfahren wir als Lesende immer mehr Details über diese wundervolle Freundschaft, die in der gemeinsamen Kindheit begann.

»»Du bist der einzige Freund, den ich habe.« [Kato] »Es würde funktionieren«, sagte er leise. Wie weh es tat, dass sie nicht daran glaubte.« S.120 💔

Der Roman besticht für mich durch die wunderschöne Sprache und Erzählweise der Autorin, die subtile, ruhige und poetische Art und Weise wie alle Details — auch die Schreckliche — erzählt werden und der Zusammenhalt erlebt wird. Nach diesem poetischen, gefühlvollen, sprachgewandten und schönen Roman möchte ich unbedingt noch weitere Bücher der Autorin lesen.

Große Herzensempfehlung für diesen Roman 🐦‍⬛💜

Bewertung vom 20.11.2023
Das Ende der Unsichtbarkeit
Nguyen, Hami

Das Ende der Unsichtbarkeit


ausgezeichnet

»Es gab dieses Wir und die anderen. Unser Anderssein hatten wir uns nie ausgesucht, und doch war es nun mal ein Umstand, den wir nicht ändern konnten. Wir konnten nur unser Bestes geben, um damit zu leben.« (S.63) 💔

Lassen wir das kurz auf uns wirken.

Es tut weh, und das sollte es auch. 💔 Was bedeutet es, wenn mensch sich selbst unsichtbar macht, um nicht aufzufallen?

»Ich war die personifizierte Unsichtbarkeit. Alles war besser, als aufzufallen, denn dann hätten die anderen gemerkt, wie meine Lebensrealität wirklich aussah.« (S. 92) 🧖🏻‍♀️

Hami Nguyễn schreibt in ihrem Sachbuch »Das Ende der Unsichtbarkeit. Warum wir über anti-asiatischen Rassismus sprechen müssen.« über 💥 anti-asiatischen Rassismus 💥: Angefangen damit, dass Menschen eines riesigen Kontinents auf ‚Asiat*innen‘ reduziert werden; über Boatpeople und die Historie der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR und deren Familien; über die ständige Angst vor einer Abschiebung, institutionalisiertem Rassismus in Behören (ja, natürlich auch bei der Ausländerbehörde), Duldungsverlängerungen von 3 Monaten (😢) und Asylanträgen bis hin zu den Progromen (Rostock-Lichtenhagen (1992); Hoyerswerda (1991)) und diversen Gewalt- und Tötungsdelikten. Sie erklärt, wieso Unsichtbarkeit ein Teil der Rassismuserfahrungen ist, die Menschen mit vermeintlich ost- bzw. südostasiatischen Wurzeln erfahren. Und, warum der ‚positive‘ Rassismus mit dem Mythos der Vorzeigeminderheit nicht nur einen enormen psychischen Stress für Betroffene bedeutet, sondern auch, warum es den strukturellen Rassismus, der dahinter steht, so unsichtbar macht. Hami Nguyễn gelingt es hervorragend, die Verbindung zwischen all wissenschaftlichen Aspekten und ihrer persönlichen Geschichte herauszustellen und so dieses Sachbuch nicht nur extrem faktenbasiert und fundiert zu schreiben, sondern die Leserschaft zusätzlich auf einer weiteren emotionalen Ebene zu erreichen.

»Weißt du, wie es ist, immer ein Alien unter euch zu sein?« (S. 237) 👾

Es ist so ein verdammt wichtiges Sachbuch, das Hami Nguyễn verfasst hat. Denn: Wir brauchen sie alle: Die Geschichten, Perspektiven und Lebenserfahrungen aller Menschen unserer Gesellschaft. Es ist so wichtig, zu verstehen, wie Lebensrealitäten differenzieren und wie wir alle unsere Gesellschaft zu einer besseren machen können — für ALLE für UNS ALLE. 🤝🏼

»Representation matters: Damit sind nicht nur Hautfarbe, Herkunft oder das Geschlecht gemeint, sondern auch Traditionen, Geschichten und Lebensrealitäten.« (S.76)

DANKE liebe Hami Nguyễn 🧡💜 für Dein unfassbar kluges, recherchiertes, bereicherndes und wichtiges Sachbuch und Deinen Mut, dies mit uns allen zu teilen. Ich wünsche diesem Buch unfassbar viele Leser*innen.

Mein Sachbuch-Highlight 2023 ! 💜🧡

Bewertung vom 03.11.2023
Tove Ditlevsen
Andersen, Jens

Tove Ditlevsen


sehr gut

Wo sind die T O V E D I T L E V S E N Fans? I’ve got you 🖤

Seit dem internationalen Neu-Entdecken und Erfolg der Kopenhagen-Trilogie (auf Deutsch: Kindheit, Jugend, Abhängigkeit) wird die Schriftstellerin international gefeiert. In einer Deutlichkeit und mit einer Radikalität, wie man sie zu ihren Zeiten nicht gewohnt war - und schon gar nicht von Schriftstellerinnen, schrieb sie u. a. über Sex, Begierde, Geschlechter, Mutterschaft, Zweierbeziehungen, Depression, Missbrauch, psychische Erkrankungen. Auch heute ist sie damit (feministische) Inspiration und Vorbild. 🔥

Tove Ditlevsen (*14.12.1917 | † 07.03.1976) hat viele Leben gelebt, bis sie ihrem ein bewusstes Ende setzte. Mit 21 Jahren erschien ihr Debütroman »Kindheit« und bis zu ihrem Selbstmord 1976 veröffentlichte sie 30 Bücher.

»Zu schreiben heißt, sich selbst auszuliefern. Sonst ist es keine Kunst. Man kann es kaschieren, aber man schreibt immer über sich selbst.« Tove Ditlevsen 1966 (S.15)

Über diese starke, aber auch verletzliche Frau und Autorin schreibt der dänische Literaturkritiker und Biograph (u. a. Astrid Lindgren, Hans C. Andersen) Jens Andersen in seiner neuen Biografie: »Tove Ditlevsen. Ihr Leben.« (Übersetzt 🇩🇰 von Ulrich Sonnenberg). Dabei orientiert er sich sehr nah an ihrem Werk, zieht Parallelen zwischen ihrem Leben und Büchern und baut Zitate aus Interviews, ihren Büchern und Gedichten ein. So entsteht ein umfassendes Porträt einer Frau, die schon immer mit vollstem Herzen Schriftstellerin sein wollte und war. Für ihre Werke verarbeitete sie Ihr dynmaisches Leben: Angefangen bei ihrer Kindheit in Vesterbrø über insgesamt 4 geschiedene Ehen, Muttersein von drei Kindern, Alkohol- und Drogensucht und psychische Erkrankung.

»Fünfzig Jahre, bevor jemand den Begriff »Autofiktion« prägte, behandelte sie Ihr Leben in fiktionalisierter Form, unter Verwendung von realen Orten, Namen, erinnerter Ereignissen und Personen aus dem engsten Familien- und Bekanntenkreis.« (S.14)

Eine starke Biografie, die dieser beeindruckenden Frau mehr als gerecht wird und ein neues Verständnis ihrer Werke schafft. Große Leseempfehlung für alle Tove Ditlevsen Fans. 🖤