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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Tasha
Wohnort: 
Braunschweig

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Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 29.05.2022
Der Prinz auf der Erbse
Fransman, Karrie;Plackett, Jonathan

Der Prinz auf der Erbse


ausgezeichnet

Ich möchte euch heute einen Märchenschatz der ganz besonderen Art vorstellen. In "Der Prinz auf der Erbse" sind alle Geschlechterrollen vertauscht. So ist es hier Aschenpeterl, der von seinen älteren Brüdern getriezt und schließlich von einer Prinzessin gerettet wird. Der kleine Rotkäppchen begegnet einer Wölfin und der Schöne einer Bestie, die durch seine Liebe erlöst werden kann.
Das Ehepaar Karrie Fransman und Jonathan Plackett hat selbst eine kleine Tochter, die sie frei von Geschlechterstereotypen aufwachsen lassen möchten. Beiden ist dabei bewusst, dass es mehr als zwei dominante Geschlechter gibt, dass genderfluide, nichtbinäre und trans* Menschen existieren, wie sie im Vorwort erwähnen. Dennoch sind sie der Meinung, dass durch das Vertauschen der zwei dominanten Geschlechterrollen interessante Charaktere entstehen, die nicht den gängigen Klischees entsprechen. Und da kann ich nur zustimmen, auch wenn das Umschreiben von Märchen sicher noch weitere Möglichkeiten bieten würde, mit Stereotypen zu brechen. Plackett entwickelte eigens einen Algorithmus der die Geschlechter in Texten vertauscht und Fransman, eigentlich Comic Zeichnerin, steuerte wunderbare Zeichnungen bei.

Bewertung vom 21.04.2022
Das Weiße Schloss
Dittloff, Christian

Das Weiße Schloss


ausgezeichnet

Ada und Yves haben sich ein Leben aufgebaut, das sie erfüllt. Er ist Künstler, sie hat eine anspruchsvolle Position bei der Einwanderungsbehörde. Sie sind glücklich miteinander, haben ein schönes Haus, reisen gern, führen gute Gesprächen und haben großartigen Sex.
Dennoch ist da der Wunsch nach einem Kind. Ada sieht allerdings, wie sehr ihre Schwester, eine zweifache Mutter, gezwungen ist, ihr Leben an ihre Kinder anzupassen. Ada hingegen möchte ihre Unabhängigkeit nicht einbüßen. Eine Lösung scheint das Weiße Schloss zu bieten, eine Institution, die es Paaren und Singles erlaubt, ihre Kinder von Leihmüttern austragen und auch die ersten Jahre aufziehen zu lassen. Diese Leihmütter werden gut für ihre Care Arbeit entlohnt und auf dem Weißen Schloss wird alles für sie und die Kinder getan. Ada hat das Gefühl, dass sie nicht in der Lage wäre, ihrem Kind allein so viel zu bieten. Auch ihre Chefin ist von der Möglichkeit begeistert, bleibt ihr Ada doch so als Mitarbeiterin erhalten.
Dittloff entwirft in seinem Roman ein Gedankenexperiment, dem er mit großem Einfühlungsvermögen nachspürt, immer ganz nah an den Figuren, durch deren Sicht wir die Situation erleben. Ada ist eine einfühlsame und reflektierte Frau, der bewusst ist, welche Doppelrollen Müttern abverlangt werden und die sehr genau überlegt, wie sie ihr eigenes Leben gestalten möchte. " Das weiße Schloss" ist keine Dystopie, regt aber sehr zum Nachdenken an über eine Gesellschaft in der Familien oft an die Grenzen der Überforderung und auch darüber hinaus getrieben werden.
erade zur Zeit von Covid und den damit verbundenen lockdowns wieder ein aktuelles Thema. Ich würde mir wünschen, dass mehr über diesen Roman gesprochen werden würde. Nicht über Adas Entscheidung und deren Berechtigung, sondern eher über die Frage welche Grenzen und Möglichkeiten es für Familien heutzutage gibt, welche Modelle Entlastungbringen könnten. Ein Roman, der wie "Niemehrzeit" zum Reflektieren über die eigene Situation einlädt.
Mitreißend und beeindruckend klug erzählt, lotet Dittloffs erster Roman ganz verschiedene Aspekte des Mutterseins aus. Extrem spannend auch die Einschübe, die sich unter anderem mit Fruchtbarkeitskliniken in der Ukraine oder der Forschung zur Entstehung von Leben beschäftigen.
Sprachlich virtuos und erfrischend lebensnah. Ein Roman, der mich schon sehr lange beschäftigt und den ich mehrmals gelesen habe. Für mich ist der Roman eine große Bereicherung.

Bewertung vom 20.04.2022
Atemhaut
Blauensteiner, Iris

Atemhaut


ausgezeichnet

"Wer bist du, wenn du deine Kraft nicht gibst, nicht geben kannst, weil sie an keinem Ort benötigt wird? Was ist, wenn du diese Kraft nicht mehr hast? Was bist du ohne Arbeit wert?"

"Atemhaut" von Iris Blauensteiner hat mich aufgewühlt.
Edins Welt gerät aus den Fugen als er seinen Arbeitsplatz verliert. Er ist Anfang zwanzig und seit seiner Ausbildung arbeitete er bei einer Packstation. Viel von seiner Identität hing davon ab, dass er sich als zuverlässiger Mitarbeiter sah, jemand auf den man sich verlassen konnte und der gebraucht wurde. All dies wird ihm von einem Tag auf den anderen genommen. Er weiß selbst, dass seine Schnelligkeit, auf die es in seinem Betrieb ankommt auf Grund körperlicher Schmerzen nachgelassen hat, aber die plötzliche Kündigung wirft ihn aus der Bahn.
Nicht nur sein eigenes Selbstwertgefühl leidet darunter, auch die Beziehung zu seiner Freundin Vanessa, mit der er in einer Einzimmerwohnung lebt, bekommt Risse. Sie wurde befördert und Edin hat Angst vor den Veränderungen, die sich dadurch in ihrer Beziehung einstellen werden, vor den Erwartungen, die er vielleicht nicht länger erfüllen kann. Das ruhige Atmen fällt ihm immer schwerer und mehr und mehr wird er zum Gefangenen seiner Gedanken. Immer mehr Wände scheinen vor ihm aufzuragen und sich auch zwischen ihn und Vanessa zu schieben, die an seiner Seite bleiben will. Er zerbricht fast unter dem Druck der Erwartungen, die er selbst und das System an ihn stellen.
Mich hat Blausteiners Sprache von der ersten Seite an eingefangen. Es gelingt ihr gleichzeitig poetisch und realistisch Edins Schicksal einzufangen, das in unserer Gesellschaft so viele ereilt. Jeder Satz trifft es genau auf den Punkt, manche davon haben mir auf Grund ihrer Schönheit Gänsehaut bereitet, und doch klingt die Erzählweise nicht gewollt oder aufgesetzt. Die Kapitalismuskritik ist nie explizit, es gibt keinen erhobenen Zeigefinger. Stattdessen sind wir in jedem Moment nah bei Edin, auch dadurch, dass der Text in der zweiten Person Singular verfasst ist..Die Ansprache mit "du" lässt uns in Edins Haut schlüpfen. Wir erleben seine Spirale aus Ängsten und Unsicherheiten, begleiten ihn auf der Suche nach seiner verlorenen inneren Ruhe. Das ist intensiv und kraftvoll, wirkt lange nach. Eine echte Entdeckung für mich.

Bewertung vom 02.04.2022
Die Hungrigen
Insolia, Mattia

Die Hungrigen


ausgezeichnet

Paolo trägt eine unglaubliche Wut in sich, die ihn aufzufressen droht. Immer wieder sucht diese sich neue Ventile, er lässt sich von ihr tragen und von ihr leiten und hat manchmal das Gefühl, dass sie alles ist, was ihm noch bleibt.
Er ist zweiundzwanzig und wohnt mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Antonio in einer heruntergekommenen Wohnung in einem italienischen Ort, den der Rest der Welt vergessen zu haben scheint. Er arbeitet auf einer Baustelle und sieht für sich keine Perspektive. Die Mutter hat die beiden mit dem gewalttätigen Vater alleingelassen und seit dessen Unfalltod sind die beiden Brüder auf sich gestellt. Im Gegensatz zu seinem Bruder ist Antonio ein sanfter junger Mann, der sich nach Liebe und Geborgenheit sehnt, die er allerdings nur selten findet. Er, der schon unter dem gewaltbereiten Vater extrem litt, muss nun mitansehen, wie sein Bruder in die gleiche Richtung driftet, zu viel trinkt und in Eskapaden mit seinen zwei Freunden abdriftet.
Sehr schnell wird man von der Lebenswelt der beiden ungleichen Brüder gefangen genommen, deren Perspektiven man abwechselnd einnimmt. Paolos rohe, herabwürdigende Sprache, sein Hass auf alles und jeden ist kaum zu ertragen und dennoch kann man sich der Faszination dieses Charakters schwer entziehen. Es ist deutlich, dass er auf einen Abgrund zusteuert, dass er, wie er selbst sagt, zerstören wird, was er liebt. Paolos Hass und Wut treiben ihn zu grausamen Handlungen Tieren und Menschen gegenüber und erst nach und nach wird klar, welche Geheimnisse ihn innerlich zerfressen.
Paolos wachsender Gewaltbereitschaft stehen aber auch Momente der Zärtlichkeit gegenüber, die er vor allem für seinen Bruder empfindet, so dass der Charakter nie eindimensional wirkt. Antonio hingegen ist darum bemüht, Beziehungen aufzubauen, das Band zwischen ihm und seinem Bruder zu stärken und fühlt wie er auch selbst immer mehr in dessen Strudel aus Frustration und Selbsthass hineingezogen wird.
Insolia zeichnet ein mitreißend realistisches Bild zweier Brüder, die unter den Folgen von Gewalt und Vernachlässigung leiden. Es zeigt sich eine tiefe Hingabe zu den Figuren, die er in ihrer ganzen Vielschichtigkeit ausleuchtet. Auch weitere Charaktere bekommen Perspektive, was der Geschichte eine noch größere Tiefe verleiht. Die Ausweglosigkeit, in der Antonio und Paolo gefangen sind, ist beim Lesen beinahe körperlich spürbar, weil Insolios starke, erbarmungslose Sprache sie einem nahe bringt. Das Buch ist eine Wucht und hat mich von der ersten Seite an gefesselt und tief berührt und ich werde noch sehr lange darüber nachdenken. Ich bewundere es, wenn es Autor*innen gelingt, einen so tief in eine andere Lebenswelt eintauchen zu lassen. Eine große Leseempfehlung.

Bewertung vom 01.04.2022
Wir sind das Licht
Blees, Gerda

Wir sind das Licht


ausgezeichnet

Ich lese ja unglaublich gern, aber dennoch kommt es gar nicht so oft vor, dass ich ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite liebe und mich auf jedes neue Kapitel freue. „Wir sind das Licht“ war für mich jedoch so ein Fall. Schon der Plot ist extrem vielversprechend. Elisabeth ist tot. Sie war Angehörige der Wohngruppe Klang und Liebe, der außerdem, Petrus, Muriel und Elisabeths Schwester Melodie angehören. Der hinzugezogene Arzt weigert sich einen natürlichen Tod festzustellen, denn Elisabeth ist eindeutig unterernährt. Außerdem kommt ihm die Atmosphäre in der Wohngruppe seltsam vor.
Elisabeths Mitbewohner*innen werden festgenommen und die Geschichte dreht sich fortan um die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Elisabeth, umgeben von Menschen, verhungern konnte und wer die Schuld an ihrem Tod trägt. Schnell wird klar, dass die Wohngruppe eine Art Sekte ist, die dem Glauben anhängt, man könne sich von Licht ernähren. Angeführt von der redegewandten und manipulativen Melodie streben die Mitglieder einem Zustand völliger Reinheit und Klarheit entgegen. Und dazu gehört, seine Energie ausschließlich aus Licht zu schöpfen und möglichst keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen.
Das wirklich ungewöhnliche an der Geschichte sind jedoch die Erzählperspektiven. So wird zum Beispiel das erste Kapitel aus der Sicht der Nacht erzählt und eines meiner liebsten Kapitel aus der des täglichen Brots.
Dieser Perspektivwechsel ist äußerst eindrucksvoll, denn nicht nur nominell werden die Kapitel aus der Sicht des jeweiligen Gegenstands oder Phänomens erzählt. Hier zeigt sich, Blees‘ starker Stil, denn die jeweiligen Sichtweisen werden greifbar, und so ungewöhnlich die Perspektivträger auch sein mögen, man kann sich in sie hineinversetzen. Wer also immer schonmal wissen wollte, wie sich die Welt aus der Sicht eines Kugelschreibers anfühlt, ist hier an der richtigen Adresse.
Virtuos entwickelt Blees eine Erzählung die einen sehr tief in die Abgründe der Menschen blicken lässt, und zwar nicht nur in die von Elisabeths Mitbewohnern. Schonungslos werden kognitive Dissonanzen auch bei den Nachbarn und Angehörigen der Verstorbenen aufgedeckt. Und folgerichtig bekommt auch die kognitive Dissonanz eine sehr spannende Stimme.
Was Blees unglaublich gut gelungen ist, ist das Zusammenspiel von Erzählweise, Plot und Figurenzeichnung. Nichts kommt hier zu kurz und man hat auch nicht das Gefühl, dass sie sich nur auf ihre ungewöhnliche Idee verlässt. Der Roman war kein leichter Stoff, aber dennoch ein absoluter Lesegenuss, von dem ich mir gewünscht hätte, dass er doppelt so viele Kapitel besäße.

Bewertung vom 01.04.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Kimmy und Sammy verbringen ihre Kindheit wie in einem gläsernen Palast. Auf Schritt und Tritt werden sie von ihrer Mutter Mélanie für deren youtube Channel gefilmt. Die Zuschauer entscheiden, was sie anziehen, was sie essen und nehmen auch sonst ununterbrochen am Leben der Familie teil.
Mélanie, die selbst schon als Jugendliche berühmt sein wollte, ist sich sicher, dass ihre Kinder das genauso genießen, wie sie selbst. Doch dann verschwindet die kleine Kimmy eines Tages und Mélanies perfekte Welt wird auf den Kopf gestellt. Die Ermittlerin Clara ist in der Welt der neuen Medien nicht Zuhause und begreift erst nach und nach, welche Ungeheuerlichkeiten sich hinter dem Fall Kimmy verbergen.
Delphine de Vigans neuer Roman ist jedoch nicht nur auf Grund der Kriminalgeschichte spannend, deren Auflösung man entgegenfiebert. Mich konnten die Darstellungen der zwei sehr unterschiedlichen Frauen Mélanie und Clara ebenso fesseln. De Vigan verurteilt Mélanie nicht als Person, sondern zeigt vielmehr die zerbrechliche Frau, die nach Zuneigung und Anerkennung hungert, welche ihr von ihrer community entgegengebracht wird. Ihr ist nicht bewusst, wie sehr sie das Leben ihrer Kinder ausbeutet und sie will auch nicht wahrhaben, wie sehr Kimmy und letztlich auch ihr Bruder darunter leiden.
Clara hingegen zieht sich mehr und mehr aus dem Mediandschungel zurück, fühlt sich aber dadurch oft fremd in einer Welt, die sie nur zum Teil verstehen kann.
De Vigan schreibt am Puls der Zeit und legt den Finger auf ein Phänomen, das zwar weit bekannt ist, aber dennoch bisher eher wenig Aufsehen erregt hat.

Mit Videos von Kindern, die mit Fremden geteilt werden, lässt sich unglaublich viel Geld verdienen und noch immer sind die Kinder dabei kaum geschützt. Obwohl die Zeit der Drehs und der Vorbereitungen darauf meist viel mehr Zeit beansprucht, als erlaubt wäre. Kinder werden hier zu kleinen Arbeitern, deren Privatsphäre zusätzlich in keinster Weise geachtet wird. De Vigan gibt einen Ausblick auf die Auswirkungen auf die Psyche, die dieses Zurschaustellen haben kann, spricht auch das Thema Burnout und Depressionen an, die durch die hohe Arbeitsbelastung entstehen können. Dabei bleibt ihre Sprache äußerst zugänglich und der Plot mitreißend. Ich hoffe, dass der Roman viele Menschen erreichen wird und das Thema Familienkanäle auf youtube mehr in den Fokus rückt, so dass betroffenen Kindern geholfen werden kann. Hier sind meines Erachtens dringend schützende Gesetze notwendig.
Der Roman und auch der intensive Austausch mit @buchlesenliebe haben mich zum Nachdenken gebracht, auch über mein eigenes Verhältnis zu Social Media. Es ist sicher nicht schlecht, das eigene Verhalten und die eigenen Gefühle dahingehend immer mal wieder zu hinterfragen. Ich gebe hier unbedingt eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 27.02.2022
Paradais
Melchor, Fernanda

Paradais


sehr gut

Polos Wut schlägt einem aus jeder Zeile entgegen. Der Protagonist in Fernanda Melchors Roman „Paradais“ ist in der titelgebenden Luxus-Wohnanlage angestellt und kümmert sich um die Gärten der reichen Bewohner*innen. Er verachtet die Menschen, für die er arbeitet und fühlt sich von ihnen gedemütigt und herabgesetzt. Auch sein Zuhause ist für ihn keine Zuflucht, denn dort wartet seine schimpfende Mutter, die ihn ohne Unterlass beleidigt und seine schwangere Cousine, deren sexuelle Avancen er verabscheut, auch wenn er oft darauf eingeht. Er hat als Schlafplatz nur eine Matte auf einem Boden und ein altes Hemd seines Großvaters. Früher einmal hat er seinen Cousin Milton bewundert, der jetzt für die Bande von Drogenschmugglern arbeitet, die Progreso beherrscht. Aber Milton will nicht, dass Polo auf die gleiche schiefe Bahn gerät, bereut seinen Lebensweg, was Polo nicht nachvollziehen kann. Einziger Ausweg für ihn ist das Trinken bis zur Besinnungslosigkeit mit dem übergewichtigen Franko, dem Enkel eines Ehepaars, das ebenfalls in Paradais wohnt.
Auch für Franco, den er nur „der Dicke“ nennt, hat Polo nur Spott und Verachtung übrig. Dessen groteske Fantasien über Sex und Gewalt, die sich auf seine Nachbarin Señora Marián beziehen, hört er sich nur an, weil er über Franko an Alkohol kommt. Doch Frankos Phantasien nehmen immer mehr Überhand, bis er schließlich auch vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt Und Polo der einen Weg sucht, seinem für ihn unerträglichen Leben zu entkommen, wird zu seinem Komplizen.
„Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen. An allem war Franco Andrade schuld, mit seiner Versessenheit auf Señora Marián.“
Die Sprache, die Melchor benutzt ist roh und hält nichts zurück. Polos Frauenhass, seine Menschenverachtung und seine Frustration schlagen uns ohne Zensur in den langen, verschachtelten Sätzen entgegen. Diese Unmittelbarkeit ist oft schwer zu ertragen, gleichwohl gelingt es so aber, die Perspektive eines Menschen, der innerlich mehr und mehr verroht, deutlich zu machen. Es ist nicht Ziel der Autorin, Verständnis oder gar Mitgefühl für ihre Charaktere zu wecken, denn Polo hat fast nichts an sich, das ihn in den Augen der Lesenden rehabilitieren könnte. Nichts scheint ihm wichtig, außer selbst Anerkennung zu erhalten. Er liebt niemanden, spricht über Andere nur mit der größten Herablassung. Was hier jedoch gelungen ist, ist aufzuzeigen, wie Perspektivlosigkeit und damit verbundene ständige Demütigungen einen Menschen innerlich absterben lassen. Mir fiel es nicht immer leicht, das Buch zu lesen, und obwohl es nur 139 Seiten lang ist, musste ich einige Pausen einlegen. Dennoch habe ich große Achtung vor dem Talent von Melchor und vor der schonungslosen Direktheit, mit der diese Geschichte erzählt ist. Mich wird sie noch lange begleiten.

Bewertung vom 27.02.2022
Am Rand, mit den Füßen im Nichts
Winterstein, Co

Am Rand, mit den Füßen im Nichts


ausgezeichnet

Die melancholischen Kurzgeschichten von Co Winterstein, unter dem Titel " Am Rand mit den Füßen im Nichts" habe ich mit Genuss gelesen. Eine ausgeprägte Beobachtungsgabe der Autorin führt dazu, dass einem die Figuren sehr nahe sind und man das Gefühl hat, sie für eine Weile auf ihrem Lebensweg zu begleiten. Wir erleben einschneidende Erlebnisse mit ihnen, große Verluste und stille Momente. Einsamkeit und Geborgenheit sind Themen die sich durch die Geschichten ziehen. Was bedeutet Vertrauen? Wann gehört man zusammen? Das sind Fragen, denen Winterstein mit großem Feingefühl nachspürt. Ein besonderes Verhältnis zu Kunst spielt in vielen Geschichten eine zentrale Rolle, aber auch Themen wie HIV oder Krebs. Die Charaktere sind lebendig, warm und greifbar, die Sprache unaufgesetzt, leicht und doch tiefgründig.
Ich spreche eine klare Empfehlung aus und würde mich freuen, wenn die Geschichten noch mehr Beachtung fänden.
"Die letzten Zeilen" hat mich zudem daran erinnert, dass ich Herrndorfs "Sand" noch lesen muss.

Bewertung vom 27.02.2022
Torn into Pieces
Schneyder, Mo

Torn into Pieces


ausgezeichnet

Von Anfang an fühlt man, dass in " Torn into Pieces" dem atmosphärischen Schauerroman von @mo.schneyder etwas unter der Oberfläche lauert.
Lailani ist von den Philippinen nach Frankreich gekommen, um dort als Haushaltshilfe Geld für ihre Familie zu verdienen. Sie vermisst ihre zwei Töchter, auch wenn ihre Ehe bröckelt und ihr Mann das verdiente Geld mit vollen Händen ausgibt. Deswegen zögert sie nicht lange als ihr ein gutbezahlter Job in einem Chateau angeboten wird. Auch der junge Comte Elian de Syrah ist ihr sympathisch.
Auf dem Chateau jedoch gibt es von Anfang an merkwürdige Vorgänge. Ganze Trakte dürfen nicht betreten werden und eines Morgens sind alle Hühner geköpft. Aber Lailani hat starke Nerven und nimmt auch ihren Job als Nanny für Elians Kind sehr ernst. Doch bald wird ihr klar, dass auch sie selbst auf dem Chateau nicht sicher ist.
Mir hat es gut gefallen, wie der Horror sich immer mehr einen Weg in die scheinbare Normalität gesucht hat und wie philippinische Mystik in die Geschichte eingewoben ist. Nichts ist wie es zuerst scheint und die Entwicklung einiger Figuren fand ich unglaublich spannend. Der Stil der Autorin konnte mich von Anfang an mitnehmen und ich mochte es sehr, dass auch Nebencharaktere nicht eindimensional waren. Das Finale war dann wirklich fulminant.
Ich freue mich auf weitere Werke der Autorin und von mir gibt es eine ganz klare Empfehlung. Erwähnen möchte ich, dass es mitunter blutig wird und auch Themen wie Missbrauch und Menschenhandel zur Sprache kommen.

Bewertung vom 24.02.2022
Ich, Ellyn
Leyshon, Nell

Ich, Ellyn


ausgezeichnet

England 1573:
Sie weiß, dass am Morgen zuerst die Amsel singt, dann das Rotkehlchen und dann der Zaunkönig. Sie hat Arme, stark wie Äste und Beine, die bis ans Ende der Welt laufen können. Aber die Welt der jungen Ellyn beschränkt sich auf den kleinen Hof ihrer Familie, auf die Kühe, die sie melken muss und die harte Arbeit. Ihr Vater ist seit einem Sturz gelähmt, ihr Bruder traktiert sie und ihre Mutter erlaubt sich fast kein Selbst mehr, da allein die Verantwortung für die Familie hat. Ellyns Lichtblick ist ihre neugeborene Schwester Agnes, die sie sich sehr gewünscht hat und der sie zeigen möchte, dass auch Mädchen wertvoll und besonders sind.
Ellyns enge Welt erweitert sich als sie eines Tages beim Besuch des Marktes den Pfarrer in der Kirche singen hört. Sie weiß, dass auch sie singen muss, ganz erfüllt ist sie von diesem Wunsch. Und tatsächlich hat Ellyn auch großes Talent, so dass einige Dorfbewohner es bedauern, dass sie kein Junge ist, da sie sonst die Singschule der Kirche besuchen könnte.
Ellyn fasst einen Entschluss. Sie verlässt ihr Zuhause, schneidet sich die Haare kurz und zieht die Kleidung ihres Bruders an. In der Singschule stellt sie sich als John Pitcher vor und wird angenommen. Ihr Gesang verzaubert alle, doch ihr Geheimnis darf nicht auffliegen, denn Ellyn kann ihren Traum nur leben, wenn sie ihr Geschlecht verleugnet.
Auf wunderbare Art gelingt es Nell Leyshon wieder einmal, ihre ungewöhnliche Heldin lebendig werden zu lassen. Ellyns Sprache ist am Anfang des Buches sehr reduziert, ihr fehlt es an Wortschatz, es gibt keine Interpunktion und keine Groß- und Kleinschreibung.
Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen spricht aus jedem ihrer Sätze ihre Stärke, ihre Entschlossenheit. Ihr ganz eigener Blick auf die Welt wird deutlich.
„ich will nicht, dass du angst hast denn ich bin deine schwester und so eine schwester hats noch nie gegeben so ein mädchen hats noch nie gegeben dass ihr körper hart und ihr geist noch härter“
Im Verlauf der Geschichte passt sich Ellyns Sprache der Norm an, so wie sich auch ihr Horizont erweitert. Doch ihre tiefsten inneren Überzeugungen bleiben die gleichen.
„Ich, Ellyn“ ist für mich ein wunderbar hoffnungsvolles Gegenstück zu Leyshons „Die Farbe von Milch“. Ich habe mich gefreut, über eine weibliche Hauptfigur im sechzehnten Jahrhundert zu lesen, die nicht in einer Opferrolle gefangen ist, auch wenn Ellyn sich dazu als Mann verkleiden muss. Aber sie wächst innerhalb der Geschichte, reflektiert ihre Situation und hat viele kluge Gedanken, die ihr niemand nehmen kann. Gut gefallen hat es mir auch, dass historische Elemente in die Geschichte eingeflossen sind, so hat zum Beispiel Elisabeth I ein Cameo. Eine große Empfehlung für diesen Roman.