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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 04.02.2024
Schwachstellen
Sarid, Yishai

Schwachstellen


sehr gut

Bist du sicher, dass dich niemand überwacht? Dich permanent beobachtet? Alle Schritte? Jeden Atemzug? Auch das, was du lieber verbergen möchtest?

Die Möglichkeiten der Überwachung sind unauffällig und groß. Das weiß niemand besser als der Außenseiter Siv, der sich das Infiltrieren von Telefonen selbst beibrachte. Eine geheim operierende Firma wirbt ihn an und bringt Wendung in sein einsames Leben. Es lockt ihn gutes Geld, Reisen und er rechnet sich Chancen aus bei einer wunderschönen Kollegin. Sie datet ihn sogar, doch wie andere Frauen schaut sie durch ihn hindurch. Auch Männer meiden seine Nähe, Siv versteht die Regeln nicht.

Aber als Hacker ist er brillant. Niemand anderes schafft es so schnell, sich in die Privatsphäre anderer einzuloggen, was zu immer aufregenderen und zweifelhafteren Aufträgen führt. Auch privat greift Siv nach der Macht, die ihm das Hacken bietet, bis Kontrolle und Grenzen fallen und er selbst in Gefahr gerät.

Ein Krimi, aufregend, soghaft, selten geht es mir so, dass ich am Text festklebe, so dass ich Verabredungen verpasse, zu spät ins Theater komme und bis tief in die Nacht weiterlese, obwohl ich todmüde bin. Es mag am Genre liegen und mit Sicherheit daran, wie Sarid Figuren aufbaut, einsame Figuren, die eigentlich nicht Sympathieträger sind, die in ihrem Hunger nach Bedeutung und Zugehörigkeit nahe kommen, um dann in unmoralische Konstellationen zu geraten. Auch Schwachstellen landet bei Fragen der Moral und lässt über gesellschaftliche Konfliktthemen nachdenken.

Bewertung vom 04.02.2024
Monster
Sarid, Yishai

Monster


ausgezeichnet

»Sehr geehrter Herr Direktor von Yad Vashem, dies hier ist der Bericht über das, was dort vorgefallen ist. Mir wurde mitgeteilt, dass sie einen solchen erwarten, und ich möchte ihn auch erstatten.« |5

Um Aufrichtigkeit bemüht erzählt ein israelischer Holocaustforscher und Lagertourguide auf eine Eskalation zu. Er holt weit aus, rekapituliert seinen Werdegang mit Aufstieg und Fall. Es führt ihn zu Fragen der Moral, der Erinnerung und des Gedenkens, zu Identifikationen und Zuschreibungen, zu Opfer- und Täterrollen, zu ihrer Wirkung bis in die Gegenwart hinein. Wut, Ohnmacht und Brutalität brechen seinen emotional-distanziert wissenschaftlichen Selbstschutz. Die Zusammenarbeit mit einem deutschen Regisseur führt zu einer radikalen Wendung, die seinen Bericht an den Direktor von Yad Vashem erforderlich macht.

In wenigen Seiten gelingt es Sarid, eine kammerspielartige Intensität aufzubauen. Die moralischen Konflikte seiner Figur spitzt er so zu, dass es kaum möglich ist, sich den aufgeworfenen Fragen und ausgearbeiteten Widersprüchen zu entziehen. Wie geht aufrichtiges Erinnern? Welche Botschaften sind möglich und wie kommen sie bei den Nachkommen an? Wie ist es mit Universalität, mit Universalismus? Was macht Nähe und Distanz zur Shoah mit der jüdisch-israelischen Figur? Wie wirkt eine Identifikation mit den Opfern oder eine Abwehr von Opferrollen, eine Identifikation, Bewunderung oder Abscheu von Tätern, eine Zuwendung zum Militärischen? Wie die eigenen Kinder erziehen? Wie leben mit detailliertem Wissen um die Gewalt der Vergangenheit, die die Figur für ihren Sohn als Monster der Erinnerung benennt?

»"Was arbeitest du denn Papa?", fragte er. "Er erzählt ihnen, was passiert ist", half Ruth mir aus. "Was ist passiert?" Ido sah mich besorgt von unten an. "Es gab mal ein Monster, das Menschen getötet hat" , antwortete ich. "Und du bekämpft es?“, fragte Ido begeistert." Es ist schon tot", versuchte ich ihm zu erklären, "es ist ein Monster der Erinnerung".« |77

Die ganze Lektüre hindurch fragte ich mich, was es verändert, »Monster« in der deutschen Übersetzung durch eine deutsche Perspektive zu lesen und ob es überhaupt passend ist. Ich habe keine Antwort darauf und hätte gern Sarids Gedanken dazu erfahren.

Bewertung vom 04.02.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

»Für ihn war diese Reise ein Aufbruch, für sie ein Übergang, vielleicht sogar Abschluss. Und doch hatten sie sich in diesen gegensätzlichen Bewegungen wiedergefunden.« |10

Der neue Roman von Iris Wolff läuft auf das Band zwischen Kato und Lev zu, das sie in ihrer Kindheit knüpften, zwischendurch fast losließen, das ihr offenes Ende und den Anfang hält.

Der neue Roman von Iris Wolff handelt vom Gehen und Zurückbleiben, von Rumänien, hintergründig von den Rändern der KuK-Monarchie, vom zweiten Weltkrieg, von der Ceauşescu-Zeit und deren Ende, von Zuschreibungen und Zugehörigkeiten, von den Auswirkungen davon.

Der neue Roman von Iris Wolff handelt vom außen vor sein, von Verlust, von der Einsamkeit, vom Phantasieren, von Dunkelheit, von Licht, von der Liebe und dem Bild von ihr, das wir in uns tragen.

Der neue Roman von Iris Wolff handelt von der Erinnerung und spielt mit der Zeit. Er läuft rückwärts, legt Schlüsselmomente aus und lässt sie ohne große Deuterei liegen.

Der neue Roman von Iris Wolff zeigt, wie mit Worten eine Aura der Stille, des Ahnenden und Drängenden entstehen kann, die große Geschichten erst möglich macht.

Den neuen Roman von Iris Wolff zu lesen ist sicherlich kein Fehler.
»Lichtungen« ist der große Wurf.

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Bewertung vom 04.02.2024
Nicht ich
Shalev, Zeruya

Nicht ich


ausgezeichnet

»Am nächsten Tag lag ich mit geschlossenen Augen im Bett... Manchmal liege ich bis zum Abend so da, manchmal bis zum nächsten Morgen. Ich habe nicht die Kraft, die Augen aufzumachen.« |30

Mit geschlossen Augen verfängt sich eine Frau in Traumsequenzen, die den Wunsch umkreisen auszubrechen. Oder ist sie schon gefallen? Befreit? Sie hat ihren Mann und ihre Tochter für eine neue Liebe verlassen. Oder ist die Tochter entführt? Eine Puppe? Hat sie eine neue Mama, selbst gewählt? Wartet die Tochter auf die Frau oder dreht sich »Nicht ich« um verschobene regressive Versorgungswünsche der Frau selbst? Liebhaber eins ist auch verlassen, nun gibt es einen neuen, ihre Haare fallen aus, sie pflanzt Teddybären, der Heiler verstummt nach seinem Rat, ihre Gebärmutter in den Exmann zu operieren, der wird vielleicht schwanger, auf jeden Fall dick, die Eltern versperren den Weg in die Regression, der Tod flirtet mit ihr, der Geheimdienst bleibt kühl und alles scheint darauf zu warten, dass die Figur wieder rund läuft oder reifen wird, zurück zur Tochter kehrt, ihre Haare und die Lächerlichkeit der Liebe erkennt.

Klingt schräg? Ist es. Vor dreißig Jahren debütierte die inzwischen etablierte israelische Autorin Shalev mit »Nicht ich«, einem assoziativen, Symbolgeladenen, strömenden Text, der im Titel auch mit den Worten Dazwischen, Flucht oder Übergänge hätte spielen können. Entgegen der konventionellen Form ihrer nachfolgenden Romane, steckt »Nicht ich« im Übergang von surrealer Lyrik in Prosa, flieht durch Gedankenstöme und Szenen und zerfällt immer wieder. Die brennende Intensität ihrer Figuren, die immer etwas an Anna Karenina erinnern, aber weder romantischem Kitsch noch Unterwerfung verfallen oder tragisch sterben, ist in »Nicht ich« pur, wenn auch fragmentiert. Die im Verlauf ihres Werkes immer expliziter ins Textbewusstsein drängenden Andeutungen auf eine permanente Bedrohung in Israel, bleibt im Debüt fast verborgen.
Träume und traumartig strömende Texte überwinden Zensur in Unschärfen. »Nicht ich« fließt durch sexuell explizite, komische, provokante Szenen, driftet in eine Biederkeit und unterwandert dann wieder gesellschaftliche Erwartungen und Regeln. Der dargebotene Bewusstseinsstrom bietet viel Stoff für psychoanalytisch und religionsgeschichtlich interessierte Leser:innen, auch liest sich »Nicht ich« anschlussfähig an aktuelle Diskurse zu Frauenbildern und Mutterschaft. Ist es nicht auch heute ein Tabubruch, dass einer Mutter der Kontakt zu ihrer Tochter abhanden kommt, dass sie ihren Mann betrügt, sich in Liebhaber stürzt, weitertreibt, ihre Eltern anklagt, und eins der Symbole der Weiblichkeit, ihre Haare, verliert?
.
Dennoch ist »Nicht Ich« ein unvollkommener Text, der trotz der erneuten Überarbeitung für die Neuerscheinung und Übersetzung unfertig erscheint. Er ist nur 200 Seiten lang, schafft es aber trotzdem, den Faden zu verlieren in seiner Mitte, um sich dann wieder zu fangen und den Bogen zu schließen. Dass er bei Ersterscheinung 1993 von der männlich dominierten Literaturkritik Israels gemischt aufgenommen wurde und bisher noch nicht ins Deutsche übertragen wurde, obwohl Shalev Bestsellerautorin ist, hat wahrscheinlich nicht nur mit der Form, der traumartig fragmentierten Erzählart und den provokanten Inhalten zu tun.
Doch gerade diese Unvollkommenheit verbunden mit bestechlicher Intensität und Humor macht »Nicht ich« lesenswert.

Bewertung vom 04.02.2024
Weiße Flecken
Albrecht, Lene

Weiße Flecken


ausgezeichnet

»Seit meiner Ankunft wurde ich jeden Tag ein Stück 𝑤eißer« |41

Eine junge Deutsche reist nach Togo. Sie hat den Auftrag dort zu forschen, zu Fluchtgründen und Migration.
Anstatt auf Antworten zu den Anderen trifft sie auf Fragen, Irritationen und Spuren von Weißen, die sie stoßen auf sich selbst und ihr eigenes Weißsein. Begegnungen mit Menschen, Gegenständen und Orten bilden sich in ihr zu Geschichten, die trotz der Einordnungsversuche lose bleiben.

»Immer häufiger fragte ich mich, gab es ein richtiges, ein falsches Zuhören? Wie viele Arten des Zuhörens gab es? Und welche davon beherrschte ich? Manchmal erwischte ich mich dabei, bereits im Hören die Geschichte mit anderen Erzählungen abzugleichen. Wer erzählte sie mir und warum?« |71

Ihre Gedanken und Assoziationen verschieben die Orientierung und Bezugspunkte. Da kommt ihr Onkel in Erinnerung, der in Nigeria arbeitete und rassistische Bilder evoziert, das Kreisen ihrer Freundin um die Leerstelle ihres Vaters, der nach Kanada ging "weil die Scheißglatzen ihn so verprügelt haben, dass er im Krankenhaus lag" (|129) schiebt sich ein. Ihre Gedanken drehen sich um eine neue Bekannte, deren Vater aus Ghana ist, die Mutter aus den Niederlanden, die in Europa Schwarz und in Westafrika Weiß gelesen wird, um das Verhalten eines Weißen Deutschen im Freiwilligendienst, um die Gespräche mit einer togolesischen Familie, die um ihrer Abschiebung zu entgehen, "freiwillig" nach Togo zurückkehrte, um den Bibliothekar, der stets auf Abstand zu Weißen bedacht ist, um die Afroamerikanischen Tourist:innen auf Spurensuche, um die Menschenschauen der Deutschen Vergangenheit, Antiquitätenhandel und um Schwarze Deutsche Biographien, die unvollständig überliefert wurden. Fast obsessiv drehen sich ihre Gedanken um die kolonialen Spuren in ihrer eigenen Familie, weniger um ihren Weißen Ururgroßvater, der als Kolonialist in Panama lebte, denn um ihre Urgroßmutter, sein Kind kolonialer Herkunft, Weiß und Schwarz gelesen, uneindeutig, die als Einzige mit ihm nach Hamburg kam und in Deutschland blieb.
Diese lückenhaften kolonialen Spuren, die Leerstellen und das Schweigen sucht die Figur zu füllen, zur gleichen Zeit weiß sie um die Grenzen ihrer Perspektive und sie hinterfragt ihre widerstreitenden Motive. Rachel Dolezal fällt ihr ein oder die in Deutschland verbreitete Phantasierung von jüdischen Wurzeln, welche sie der internationalen Vermischung und Verwebung aller Identitäten gegenüber stellt, die eindeutige Zugehörigkeiten verwischen.
.
»Weiße Flecken« ist ein suchender Text, der den Motiven der Erkundung einer Deutschen auf koloniale Spuren nachgeht, sich dabei immer wieder an Grenzen stößt. Auch wenn die Figur sich mehr dem zurücktreten und zuhören gewidmet hätte, kann Kohärenz im Kontext dieser Geschichte nicht entsteht. So springt »Weiße Flecken« in Zeiten, Orten und auch in den Perspektiven auf die Weiße Hauptfigur und schwankt zwischen phantasierten Zusammenhängen, losen Identifikationen und dem darauf stoßen, dass Leerstellen bleiben, auch wenn sie mit aller Kraft gefüllt werden wollen.
Romane, die sich mit dem Deutschen kolonialen Erbe auf persönlicher Ebene, den lückenhaften Informationen und dem eigenen Weißsein literarisch auseinandersetzen, sind noch rar. Auch das macht »Weiße Flecken« lesenswert.

Bewertung vom 04.02.2024
Alles Gold
Murasov, Andrej

Alles Gold


ausgezeichnet

»Alles Gold« spielt die Welt einer Jugend in den 90ern durch. Murašov zoomt dabei Artur, Nejla, Kazim, Bobby und Dilek so nahe heran, als würden sie mit ihrer Hoffnung, ihren Problemen, ihren Beats, ihrer Liebe und Freundschaft direkt neben uns stehen.
»Alles Gold« ist Coming of Age, sweet dabei, ein Jugendroman, die Altersempfehlung ist ab 12. Ja ich weiß, gähn, aber Murašov erzählt neben der immer gleichen Geschichte des Erwachsenwerdens in einer Perspektive von fünf Menschen, die Arzt- oder Lehrerkinder wohl als Underdogs bezeichnen würden (so steht es auch auf der Verlagsseite, fünf Underdogs...). Wir wissen alle, wie undurchlässig unser Bildungssystem ist, dazu die Chancen ungleich verteilt sind, auch wenn einige von ihnen den Aufstieg schaffen. Klar, die von Murašov thematisierte Welt ist schon lange in der deutschsprachigen Literatur angekommen, besonders die Aufstiegsgeschichten. Für meinen Geschmack sind sie immer noch zu sehr beeinflusst von Édouard Louis und Co.. Oft sind sie ernst, gefällig dem Blick eines biodeutschen Bildungsbürgertums folgend, das Leidensgeschichten erwartet, das Mitleiden und "neue Perspektiven" bekommt und das ist auch okay. Aber es fehlt, was Murašov mit »Alles Gold« schafft. »Alles Gold« erzählt ein lässiges, undramatisches Heranwachsen in Deutschland der 90er Jahre, mit dem Verve von Figuren, die Hiphop lieben und nebenbei migrantisch, arm und marginalisiert sind, aus der Welt von Gastarbeiterkindern, Spätaussiedlern, Geflüchteten, Stadtkindern mit Popkultur und Freundschaften quer zu alledem. Artur hat russische Eltern, der Papa hat die depressive Mutter zur gleichen Zeit hängen lassen, wie seine Freundin ihn, doch dann findet er die Beats und das Rappen mit Kazim, der an jeder Ecke kurdische Verwandte hat, der noch nicht bereit ist für die Ehe und keine Lust auf die Schwierigkeiten hat, die eine nicht-alevitische Freundin mit sich ziehen würden. Artur findet Nejla, eine coole Bosnierin, die Kunst liebt, die den Krieg, ihren verstorbenen Vater und ihre zurückgekehrte Mutter in sich verschließt. Eine Verwandte hat vielleicht eine Bank ausgeraubt und zieht sie mit rein und der drogenabhängige Cousin macht es nicht besser. Bobbys deutsche Eltern haben sich nie richtig gekümmert, sein Halt ist Artur, Graffiti, die Tiere und seine Hilfsbereitschaft. Er stürzt trotzdem fast ab in Berlin, doch dann trifft er Dilek wieder, die in der Schulzeit vor ihren türkischen Eltern weggelaufen war und seitdem ein verschlossenes Leben in Berlin führt.
Der Sound gleitet entspannt, aber mit Tiefe, die Szenen und Dialoge sind lebendig, drehbuchartig fast und Mehrsprachigkeit fließt ganz natürlich in den Text. Die Figuren gelingen Murašov markant mit Entwicklung, der Blick auf das Geschehen ist aus der Mitte heraus, die Stimmung macht nostalgisch, mitfiebernd und optimistisch mit dem Figuren hoffend. Ich kann mit gut vorstellen, dass genau das auch vielen gefallen könnte, die nicht aus diesen Welten kommen und denen, die so aufgewachsen sind, gerade in den 90ern sowieso. »Alles Gold« eignet sich bestens als Schullektüre, auch als Ausgangspunkt für eine Miniserie erscheint es prädestiniert. Eine begleitende EP ist auch dabei und die Fortsetzung folgt.

Bewertung vom 10.12.2023
Betrug
Smith, Zadie

Betrug


ausgezeichnet

»Was können wir je über andere wissen? Wie viel vom Geheimnis eines anderen Menschen kann der eigene Scharfsinn ergründen?« |167
»Was für ein unergründliches etwas ein Mensch doch ist!« |396
»Doch kann man nicht auch aufrichtig falsch liegen? Mit anderen Worten: falsch liegen, ohne es zu wissen?« |445
»Menschen belügen sich selbst. Die ganze Zeit über belügen Menschen sich selbst.« |446

Die ingeniose Witwe Touchet, die im Haushalt des sich selbst für virtuos haltenden Schriftstellers Aintsworth untergekommen ist, bildet das Zentrum des historischen Romans von Zadie Smith, der in der viktorianischen Zeit angesiedelt ist. Ihre sich über Jahre erstreckende Suche nach gerechter Wahrheit und ihr Finden der vielen Schichten von »Betrug«, eingeschränkten Perspektiven und Selbsttäuschung umspannen den sich auf 500 Seiten erstreckenden Roman, dessen Figuren aus realhistorischen Vorbildern erschaffen wurden.

Was umfasst den »Betrug«? Die Liebschaften der Hauptfigur Eliza Touchet? Das Geheimnis ihres verstorbenen Mannes? Die Leidenschaften ihres Cousins Aintworth? Ihr Begehren für seine erste Frau Frances? Das Suchen von Geschichten, das Klauen von Romanideen, das Romanschreiben selbst? Die Intrigen und Eitelkeiten der feinen Gesellschaft, die Freundschaft lobt und Loyalitäten löst? Der soziale Aufstieg von Sarah, der zweiten Frau Aintsworths? Die Behauptung eines nahezu offensichtlich aus der Unterschicht stammenden Mannes, der verschollene Sohn der wohlhabenden Lady Tichborne und damit ihr Erbe zu sein? Die leidenschaftliche Verfolgung des Tichborne-Prozesses der Massen, der Wunsch "den Oberen" eins auszuwischen? Der Glaube an die Wahrheit des klar und direkt auftretenden Mr. Bogle, der ein Sklave war und nun an "Tichbornes" Seite für eine Gerechtigkeit kämpft? Die Sehnsucht nach Verbundenheit mit Mr. Bogle? Der Profit von- und der Kampf gegen Sklaverei? Der Kolonialismus, der abseits der Insel stattfindet und alles durchdringt?
Dass er den Reichtum der Oberen begründet, auch derjenigen, die für den Abolismus kämpfen, löst sich auch nicht auf, wenn geschwiegen oder eine Witwenrente nicht abgerufen wird.

»Betrug« ist mit gewohntem Tempo und Witz geschrieben. Die Kapitel sind kurz, die vielen Figuren und Szenerien springen, auch in den Zeiten, was manchmal verwirrt, aber stets in souveränen Fäden wieder auf den Kern der Geschichte geführt wird. Aussparungen und das Einstreuen von Zusammenhängen reichern bis in die heutige Zeit erstreckende Diskurse über Reichtum, Erbschaften, Kolonialismus, Rassismus, Class, Gender, Allyship und Othering an, ohne platt, direkt anklagend oder diskutabel zu sein. Smith arbeitet mit wachsenden Erkenntnissen einer komplexen Weißen wohlhabenden Frauenfigur, ihrem fragenden Rütteln an Gewisstheiten und stellt ihr das gegenüber, was die Schwarze von Sklaverei geprägte Männerfigur Mr. Bogle preisgeben möchte. Smith mutet den Leser:innen eine Nichtlinearität von Geschichten, Lebensläufen, Perspektiven und Positionen zu, die eine romantisch-eindeutige Lesart unterwandert. Jede der vielen Figuren ist mit Bedacht gewählt, zeigt sich in vielschichtigen Facetten, wie die erst dumm und naiv erscheinende Sarah, der manchmal einfältig, manchmal klug erscheinende Ainthsworth, der Stolz und Klugheit ausstrahlende Mr. Bogle und sein ebenso stolzer und kluger Sohn, der das wohltätige Weiße Mitgefühl von sich weist, oder die zentrale Randfigur Charles Dickens, der stets sich selbst im Blick behält und aus einer vampirischen Beobachtungsgabe schöpfen kann. Auch stilistisch erinnerte mich »Betrug« an Dickens, besonders in der Beschreibung der armen Viertel von London, soweit das durch die Übersetzung hindurch beurteilbar ist. Aber ohne seine Moral von Gut und Böse. Ich revidiere mich, denn genauer betrachtet, ist »Betrug« voll von Moral, in einer Smithschen Provinienz, modern, sich niemals sicher seiend, vielschichtig und voller Fallstricke.

Bewertung vom 10.12.2023
Ich?
Flamm, Peter

Ich?


ausgezeichnet

»ɴɪᴄʜᴛ ɪᴄʜ, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.« |5

Mit diesen Worten beginnt eine Konfession eines Angeklagten, die sich in einem verzweifelten Monolog über 120 Seiten ergießt. Wer geständig ist und was gestanden wird, bleibt schwankend. Unscharf ist der Bericht vom ersten Weltkrieg, von Gewalt, die durchbricht, von Isolation, dem Versuch der Liebe, der Normalität, von der erkennenden und heilenden Kraft eines Hundes und der Aussichtslosigkeit der menschlichen Existenz.
Der Proletarier Bettuch klaut dem gefallenen Berliner Chirurgen Stern seinen Ausweis und kehrt in dessen Leben ein. Möglich ist auch, dass Stern zurückkehrt, verändert, entfremdet vom alten Ich. Dass er imaginiert ein Anderer zu sein, der nicht mit seinen Fehltritten in der Vorkriegszeit in Verbindung steht. Der Geständige wandert hinein und hinaus aus dem Ich, wird meist erkannt und oft gezogen von den Motiven der Anderen. Gewalt, Begehren und Verantwortlichkeiten schwappen hoch, werden mit Hilfe des allgegenwärtigen Hundes besänftigt und befeuert, bis der Druck von außen und innen so groß wird, dass er einen Meineid begeht, sich auf eine Reise begibt, mordet und sich auf der innerlichen oder äußerlichen Anklagebank wiederfindet.
Seine ruhelosen Ausführungen über den Hergang, den Sinn, die Triebe und das abhanden gekommene Gewissen bleiben in ihrem Versuch der Aufrichtigkeit diffus, rastlos, vergessend, vermischend und lösen sich auf. Sie sind mit Freuds »seelischen Röntgenbildern« |142 gemalt und lesen sich existentialistisch.

1926 veröffentlichte der publizierende Mediziner Erich Mosse unter dem Pseudonym Peter Flamm sein beachtetes Debüt »Ich?« bei S. Fischer, bevor er aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 zunächst nach Paris, dann nach New York emigrierte. Dort praktizierte er als Psychotherapeut und Psychiater. Zu seinen Patienten zählte u.a. William Falkner, zu seinem Bekanntenkreis Einstein und Chaplin.

Seine bemerkenswerte, vielschichtige und konfrontierende Rede von 1959 bei einem internationalen PEN Kongress in Frankfurt am Main hat der Verlag in die Neuveröffentlichung integriert. Hier thematisiert Flamm|Mosse sein Verhältnis zu Deutschland mit allen Ambivalenzen und Schichten, auch des Schmerzes und der ihm lebenswichtigen Abwehr des Unbewussten. Er betont die auch in seinem Roman »Ich? « verhandelte konstruktive Funktion des "Vergessens" und seine Motivation zu verstehen, das er dem Verurteilen vorziehe.
»Man wirft über Bord, was stört – soweit das möglich ist. Noch einmal denn: je n'accuse personne! Psychiatrie hat mich gelehrt zu verstehen, nicht zu richten.« |140
Das Nachwort von Senthuran Varatharajah fokussiert die sprachliche und metaphorische Tiefe des lesenswerten Werkes, das sich abgesehen von der subtilen Gewalt gegen Frauen und ihrer in meinen Augen mitunter unerträglichen Objekthaftigkeit sehr gegenwärtig liest. Ich empfehle die Lektüre trotz dieser Einschränkung sehr.

Bewertung vom 10.12.2023
Irgendetwas dazwischen
Kennel, Odile

Irgendetwas dazwischen


ausgezeichnet

»Irgendetwas Dazwischen« liegt zwischen Sex und Text, zwischen den Altern, den Straßen, den U-Bahnen, den Betten und den Körpern. Zwischen Sprachen, Formen, Orten, binären Bildern von Weiblichkeit und ihrer Negierung, zwischen der Lust auf und der Liebe zu Frauen, Männern und sich selbst.
Wo gegenwärtliche Lyrik der Vergangenheit sich oft von Kitsch abzugrenzen versuchte, die Liebe, den Kummer in ihr mied, Lust, Körperlichkeit, die Verletzlichkeit darin umschiffte, sucht »Irgendetwas Dazwischen« genau diese Inhalte auf.
Gegen Regeln will »Irgendetwas Dazwischen«. Es liest sich wie ein Tagebuch, ein gekonntes. Es ist Essay, illustrierte Kunst, Lyrik und Prosa. Kennels Gedichte folgen und beziehen sich aufeinander, auch ein Spannungsbogen ist zu finden und - obwohl andersherum gelesen- liegen die Gedanken des Essays »Lust« in einem Vorraum von »Irgendetwas Dazwischen«.

Bewertung vom 10.12.2023
Die liegende Frau
Vogt, Laura

Die liegende Frau


sehr gut

»Nora liegt da, als wäre sie eine Attrappe, und sie selbst ist sonst wo, weit weg; ich fühle mich wie gelähmt. Bleibe einen Moment so stehen. Setze mich dann neben die Matratze auf dem Boden.« |31

Anstatt mit ihren Freundinnen Szibilla und Romi nach Berlin zu verreisen, hat Nora sich hingelegt und schweigt fast den ganzen Roman. Widerstereitende Gefühle zwischen ihrer Mutter Anni und ihr hängen in der Luft und trotzdem ist die um die 30jährige Nora in ihr beklemmendes Jugendzimmer zurück. Hätte Anni Nora besser nicht bekommen sollen? Hätte sie die Freiheit gehabt, das zu entscheiden?
Vier Tage verhandelt der multiperspektivische selbstgespräch- und dialogreiche Debattenroman, in dem vorrangig Szibilla und Romi mit sich selbst und miteinander ringen. Sie reisen zur liegenden Nora und verfangen sich in Diskussionen. Szibilla verteidigt Théophile de Girauds Thesen zum Antinatalismus und Klima. Der zum zweiten Mal schwangeren Romi wirft sie das sich abhängig machen, Vernachlässigung ihrer selbst und der Umwelt vor. Über ihre Einsamkeit, Bindungswünsche und - Ängste schweigt sie lieber, auch wenn sie sich entwickelt und sogar verliebt. Romi verteidigt ihre Suche nach einer Öffnung ihrer Beziehung. Sie sucht nach neuen Modellen, in denen, anders als bei ihren Eltern, auch eine neue Liebe Platz findet. Innerlich hadert sie mit ihren Eltern, mit dem Umzug in die Provinz, dem Wunsch auszubrechen und zu schreiben.

Mitunter wirkt die Konstellation der »Liegenden Frau« sehr absichtsvoll. Der in seinen Brüchen gezeichnete Versuch, Fragen der Lebensentwürfe kategorisch zu verhandeln, strengte an. Doch erscheint mir genau das typisch für die verhandelte Lebensphase, in der sich die Ahnung einschleicht, dass Weichen des Lebens gestellt worden sind, Freiheiten und Verantwortlichkeiten sich setzen, Themen der Eltern nahekommen und nach neuen Wege gesucht wird.