Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 28.02.2024
Verdunstung in der Randzone
Matusko, Ilija

Verdunstung in der Randzone


ausgezeichnet

Wie riecht Klasse, wie riecht Kunst? Und klettern Aufsteiger:innen nach oben oder nur in einen anderen Raum? Können sie sich in dem neuen Raum frei bewegen? Wie verändert sich ihr Blick auf den Alten? Und können sie die Angst und Scham abstreifen, "fehl am Platz zu sein", ertappt oder deplatziert?

“Aufsteigern sieht man das Klettern an“, zitiert Matusko den Popstar der Soziologie Bourdieu, der alle Diskurse zu kulturellen Codes und Praktiken bestimmt und paradoxerweise selbst zu einem Code geworden ist.
Matusko tastet in seinem räumlich, gegenständlich und sinnlich suchenden Herkunft, Klasse und Aufstieg hinterfragenden Essay dieses Klettern in viele Richtungen ab. Er nimmt seine Eltern, die Mutter bayerische Gastwirtin, der Vater Gastronom, emigriert aus dem ehemaligen Jugoslawien, die bewirtschafteten Wirtshäuser seiner Kindheit, Pommes, Tennis, Lacoste, Quellekatalog und Sperrholz, das Gymnasium, die reicheren Freunde, die Kunst und das Geld. Er baut sich ihm eingebrannte Slogans und Dialoge ein und landet dabei immer wieder bei der sanktionierenden Kraft von Gerüchen und Essen.

»Warum ist der Geruch nach Zwiebeln oder Knoblauch oder Pommes denn so schlimm? Sind es wirklich die Gerüche, die so störend sind für die Angewiderten, oder eigentlich die Menschen und Eigenschaften, die jene mit ihnen assoziieren? Und sind nicht eher sie und ihre empfindlichen Riecher das Problem?« |175

»Verdunstung in der Randzone« geht vom Persönlichen auf das Allgemeine zu und beschreibt das Klettern durch gesellschaftliche Grenzräume, mit dem wahrscheinlich nicht nur Aufsteiger:innen eine Menge anfangen können. Die Unbedarftheit, die Beschämung und die internalisierte Scham, die Überkompensation und eine Neuverortung, die immer brüchig bleiben wird, sind nicht so individuell, wie sie scheinen. »Verdunstung in der Randzone« verändert die Blicke auf uns nahegelegte und verlassene Räume. Es erhellt die Selektionen und Hürden derer, die sich in den neuen Räumen zuhause fühlen. Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, auf der Schwelle stehen zu bleiben, oder sich einen dritten Raum zu erschaffen.

Bewertung vom 28.02.2024
An Rändern
Tijssens, Angelo

An Rändern


ausgezeichnet

»Die sehen schön aus. Wie Zeichnungen. Seine Finger streifen das Narbengewebe. Merkst du das?
Ja, sage ich.
Er sieht mich an und sagt: Trotzdem bist du intakter als früher. Ich sehe ihn an und ergänze: du bist stärker. Auch weniger blaue Flecken.«

Ein Mann zeitlosen Alters fährt zurück in die Kleinstadt, in der er einst mit einer Mutter aufwuchs, die bei jedem Blick, Schritt oder Geräusch explodierte. Die Szenen der Gewalt hallen in ihm, ebenso wie die Zärtlichkeit seiner einzigen Liebe, die aus einer verletzlichen Jungenfreundschaft entstand.

»Draußen wütet immer noch der Sturm. Hier drinnen legt ein junger Mann die Hand auf die Brust eines anderen, dann auch den Kopf. Sie atmen zusammen ein und aus.«

Ab tauchte der Mann in ein haltloses Leben, in dem sich neben flüchtigem Sex mit Fremden, die Vergangenheit hin und zurück spuhlt. Jetzt taucht er auf. Er nimmt den Faden der Liebe vorsichtig in die Hand, wie den Körper, der mit ihm in Extase und zur Ruhe kommt, während seine andere Vergangenheit ein Ende nimmt.

»An Rändern« ist intensive Reduktion. Unwesentliches lässt Tijssens weg, auch die Seitenzahlen, die nur ein linerares Voranschreiten eines Plots vortäuschen und das Kreisen, Fließen und Springen der Geschichte stören würden. Tijssens schafft so eine Essenz mit stillem, dabei vibrierendem Sound. Körperlichkeit und Sexualität erzählen sich intim und pur ohne Prüderie, wie ich es selten las. Dass es sich um eine queere Geschichte handelt, ist dabei nicht wichtig und zur gleichen Zeit das Wichtigste. »An Rändern« dreht sich um Grenzen im Außen und Innen einer suchenden, verletzten, traurigen und leuchtenden Figur, die nur wenig Worte braucht, um die Motive schwuler Literatur, Gewalt, Traumata, Sexualität, des Lebenswillens, der Hoffnung und der Nähe in ihrem Kern zu treffen.

Wer es noch nicht gemerkt hat, ich bin schwer begeistert von diesem Romandebüt des belgischen Autors, der mit dem gefeierten Film »Close« Bekanntheit erlangte. Es ist eins der Bücher, die ich vielen Menschen ans Herz und in die Hand legen möchte. Trotz der Trauer und Schwere der Themen, ist »An Rändern« hell und beglückend.

Bewertung vom 28.02.2024
Kafka
Safranski, Rüdiger

Kafka


ausgezeichnet

Es scheint vergeblich, als Laiin zu einer eindeutigen Aussage über Kafkas Werk kommen zu wollen. Auch über eine Biographie das Schaffen Kafkas zu begreifen, erscheint fast aussichtslos. Kafkas Texte verführen, ebenso wie die mythisch aufgeladene historische Figur Kafkas selbst. Text und Figur sprechen Instinkte an, die danach streben, nahe zu kommen, Intimität zu erleben, sie auch zu empfinden, um dann wieder zurück geworfen zu werden auf einen Echoraum in sich selbst. Naheliegend ist es, in einer Biographie nach Einordnung und Halt zu suchen, nach Bedeutung in der Familie, beim Vater, in der literarischen Tradition, der gesellschaftlichen Situation und Stellung oder in seinen nicht glücklich verlaufenden Beziehungen zu Frauen.

Zum Glück erliegt der souveräne Biograph Safranski dieser Verführung nur in Teilen. Seine auch mit wenig Kafka-Vorbildung flüssig zu lesende und in eine Kafka-Welt ziehende Biographie konzentriert sich auf die Texte, die zur Veröffentlichung bestimmt waren oder schon zu Lebzeiten veröffentlicht wurden und stützt sich auf Briefe sowie Tagebucheinträge, die eine ähnliche Wirkung haben wie das Werk; auch sie sind mehrdeutig, widersprüchlich, Interesse bindend und komplex. Der Familiengeschichte und dem Vater gibt Safranski wenig Raum, philosophische oder kabbalistische Deutungsspuren werden nur gestreift und eine literaturwissenschaftliche Einordnung unterbleibt fast. Der Reiz Safranskis Biographie liegt in den Frauen, bzw. in Kafkas Konzentration auf das Schreiben und in seinem schwankenden Begehren, dem nicht halten und nicht loslassen können von Bindungen. So wie mit den Frauen verhält es sich auch mit den Texten. Kafka sucht zu verführen und einzunehmen. Das Gegenüber sieht sich in einer exklusiven Verbindung, dann hält Kafka etwas zurück, er bleibt in seiner eigenen mit sich selbst beschäftigten Welt und sorgt so für Spannung. Einnehmend ist dieser emotionale Zugang, den Safranski in der Biographie nahelegt; je allgemeiner, desto überzeugender wirkt er. Sucht Safranski konkret nach Ereignissen und Motiven des Lebens im Werk, so beginnt auch diese Deutungsfährte zu verblassen. Denn macht die Stärke von Kafkas Texten nicht das Unbestimmbare, das Paradoxe und das nicht Feste aus? Die Verweigerung eindeutiger Motive, Bezüge und Botschaften nach Außen? Auch mit Hilfe einer Biographie bleibt das auf sich zurück geworfen sein bestehen.

Bewertung vom 28.02.2024
Die lichten Sommer
Kucher, Simone

Die lichten Sommer


sehr gut

»Die lichten Sommer« ist ein Text zum Schütteln. Sehnsucht und Leidenschaft scheinen durch die stille Verbundenheit von zwei Frauen, die sich und uns viel zu erzählen hätten, wenn sie mehr reden könnten. So gehemmt die beiden Figuren sind, so zeigt sich auch ihre Sprache gebremst und befangen.
Liz wünscht sich Bildung, Musik, Liebe, Ermutigung und Halt. Die Enge der Baracken für Vertriebene, eine in Trauer und Erduldung gefangene Mutter, trinkende Brüder, ein schweigender Vater, eine kalte Ehe und die Dorfgemeinschaft verweisen sie auf ihren Platz.
In ihrer Mutter Nevenka lebt das Tschechische Dorf. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs spuhlen sich in ihr vor und zurück, die Rolle der Volksdeutschen, ihre naive Perspektive, das Profitieren von der Deutschen Besatzung, die Geschichten über Lager, die Zwangsarbeit, der jüdische Junge. Sie landet immer wieder bei ihrer mutigen schönen Freundin, deren Vater im Gefängnis saß, bei der Euphorie der Befreiung, die in Verfolgung umschlägt bis zur Vertreibung und der Schuld und Scham, die den Folgen eines einfachen Spiels entspringen.

Im Wechsel deckt »Die lichten Sommer« die isolierten Innenwelten von Mutter und Tochter auf und legt Fährten über die Zusammenhänge beider einsamer Lebenswege. Ich hätte nicht alle Ereignisse auserzählt gebraucht. Wenn dir Schneeflocken wie Feuer von Elfi Conrad oder Hana von Alena Mornštajnová gefallen hat, dann könnte auch »Die lichten Sommer« etwas für dich sein. Sound, Zeit und Themen passen zueinander, auch wenn alle drei Romane in unterschiedliche Richtungen laufen.

Bewertung vom 04.02.2024
Schwachstellen
Sarid, Yishai

Schwachstellen


sehr gut

Bist du sicher, dass dich niemand überwacht? Dich permanent beobachtet? Alle Schritte? Jeden Atemzug? Auch das, was du lieber verbergen möchtest?

Die Möglichkeiten der Überwachung sind unauffällig und groß. Das weiß niemand besser als der Außenseiter Siv, der sich das Infiltrieren von Telefonen selbst beibrachte. Eine geheim operierende Firma wirbt ihn an und bringt Wendung in sein einsames Leben. Es lockt ihn gutes Geld, Reisen und er rechnet sich Chancen aus bei einer wunderschönen Kollegin. Sie datet ihn sogar, doch wie andere Frauen schaut sie durch ihn hindurch. Auch Männer meiden seine Nähe, Siv versteht die Regeln nicht.

Aber als Hacker ist er brillant. Niemand anderes schafft es so schnell, sich in die Privatsphäre anderer einzuloggen, was zu immer aufregenderen und zweifelhafteren Aufträgen führt. Auch privat greift Siv nach der Macht, die ihm das Hacken bietet, bis Kontrolle und Grenzen fallen und er selbst in Gefahr gerät.

Ein Krimi, aufregend, soghaft, selten geht es mir so, dass ich am Text festklebe, so dass ich Verabredungen verpasse, zu spät ins Theater komme und bis tief in die Nacht weiterlese, obwohl ich todmüde bin. Es mag am Genre liegen und mit Sicherheit daran, wie Sarid Figuren aufbaut, einsame Figuren, die eigentlich nicht Sympathieträger sind, die in ihrem Hunger nach Bedeutung und Zugehörigkeit nahe kommen, um dann in unmoralische Konstellationen zu geraten. Auch Schwachstellen landet bei Fragen der Moral und lässt über gesellschaftliche Konfliktthemen nachdenken.

Bewertung vom 04.02.2024
Monster
Sarid, Yishai

Monster


ausgezeichnet

»Sehr geehrter Herr Direktor von Yad Vashem, dies hier ist der Bericht über das, was dort vorgefallen ist. Mir wurde mitgeteilt, dass sie einen solchen erwarten, und ich möchte ihn auch erstatten.« |5

Um Aufrichtigkeit bemüht erzählt ein israelischer Holocaustforscher und Lagertourguide auf eine Eskalation zu. Er holt weit aus, rekapituliert seinen Werdegang mit Aufstieg und Fall. Es führt ihn zu Fragen der Moral, der Erinnerung und des Gedenkens, zu Identifikationen und Zuschreibungen, zu Opfer- und Täterrollen, zu ihrer Wirkung bis in die Gegenwart hinein. Wut, Ohnmacht und Brutalität brechen seinen emotional-distanziert wissenschaftlichen Selbstschutz. Die Zusammenarbeit mit einem deutschen Regisseur führt zu einer radikalen Wendung, die seinen Bericht an den Direktor von Yad Vashem erforderlich macht.

In wenigen Seiten gelingt es Sarid, eine kammerspielartige Intensität aufzubauen. Die moralischen Konflikte seiner Figur spitzt er so zu, dass es kaum möglich ist, sich den aufgeworfenen Fragen und ausgearbeiteten Widersprüchen zu entziehen. Wie geht aufrichtiges Erinnern? Welche Botschaften sind möglich und wie kommen sie bei den Nachkommen an? Wie ist es mit Universalität, mit Universalismus? Was macht Nähe und Distanz zur Shoah mit der jüdisch-israelischen Figur? Wie wirkt eine Identifikation mit den Opfern oder eine Abwehr von Opferrollen, eine Identifikation, Bewunderung oder Abscheu von Tätern, eine Zuwendung zum Militärischen? Wie die eigenen Kinder erziehen? Wie leben mit detailliertem Wissen um die Gewalt der Vergangenheit, die die Figur für ihren Sohn als Monster der Erinnerung benennt?

»"Was arbeitest du denn Papa?", fragte er. "Er erzählt ihnen, was passiert ist", half Ruth mir aus. "Was ist passiert?" Ido sah mich besorgt von unten an. "Es gab mal ein Monster, das Menschen getötet hat" , antwortete ich. "Und du bekämpft es?“, fragte Ido begeistert." Es ist schon tot", versuchte ich ihm zu erklären, "es ist ein Monster der Erinnerung".« |77

Die ganze Lektüre hindurch fragte ich mich, was es verändert, »Monster« in der deutschen Übersetzung durch eine deutsche Perspektive zu lesen und ob es überhaupt passend ist. Ich habe keine Antwort darauf und hätte gern Sarids Gedanken dazu erfahren.

Bewertung vom 04.02.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

»Für ihn war diese Reise ein Aufbruch, für sie ein Übergang, vielleicht sogar Abschluss. Und doch hatten sie sich in diesen gegensätzlichen Bewegungen wiedergefunden.« |10

Der neue Roman von Iris Wolff läuft auf das Band zwischen Kato und Lev zu, das sie in ihrer Kindheit knüpften, zwischendurch fast losließen, das ihr offenes Ende und den Anfang hält.

Der neue Roman von Iris Wolff handelt vom Gehen und Zurückbleiben, von Rumänien, hintergründig von den Rändern der KuK-Monarchie, vom zweiten Weltkrieg, von der Ceauşescu-Zeit und deren Ende, von Zuschreibungen und Zugehörigkeiten, von den Auswirkungen davon.

Der neue Roman von Iris Wolff handelt vom außen vor sein, von Verlust, von der Einsamkeit, vom Phantasieren, von Dunkelheit, von Licht, von der Liebe und dem Bild von ihr, das wir in uns tragen.

Der neue Roman von Iris Wolff handelt von der Erinnerung und spielt mit der Zeit. Er läuft rückwärts, legt Schlüsselmomente aus und lässt sie ohne große Deuterei liegen.

Der neue Roman von Iris Wolff zeigt, wie mit Worten eine Aura der Stille, des Ahnenden und Drängenden entstehen kann, die große Geschichten erst möglich macht.

Den neuen Roman von Iris Wolff zu lesen ist sicherlich kein Fehler.
»Lichtungen« ist der große Wurf.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.02.2024
Nicht ich
Shalev, Zeruya

Nicht ich


ausgezeichnet

»Am nächsten Tag lag ich mit geschlossenen Augen im Bett... Manchmal liege ich bis zum Abend so da, manchmal bis zum nächsten Morgen. Ich habe nicht die Kraft, die Augen aufzumachen.« |30

Mit geschlossen Augen verfängt sich eine Frau in Traumsequenzen, die den Wunsch umkreisen auszubrechen. Oder ist sie schon gefallen? Befreit? Sie hat ihren Mann und ihre Tochter für eine neue Liebe verlassen. Oder ist die Tochter entführt? Eine Puppe? Hat sie eine neue Mama, selbst gewählt? Wartet die Tochter auf die Frau oder dreht sich »Nicht ich« um verschobene regressive Versorgungswünsche der Frau selbst? Liebhaber eins ist auch verlassen, nun gibt es einen neuen, ihre Haare fallen aus, sie pflanzt Teddybären, der Heiler verstummt nach seinem Rat, ihre Gebärmutter in den Exmann zu operieren, der wird vielleicht schwanger, auf jeden Fall dick, die Eltern versperren den Weg in die Regression, der Tod flirtet mit ihr, der Geheimdienst bleibt kühl und alles scheint darauf zu warten, dass die Figur wieder rund läuft oder reifen wird, zurück zur Tochter kehrt, ihre Haare und die Lächerlichkeit der Liebe erkennt.

Klingt schräg? Ist es. Vor dreißig Jahren debütierte die inzwischen etablierte israelische Autorin Shalev mit »Nicht ich«, einem assoziativen, Symbolgeladenen, strömenden Text, der im Titel auch mit den Worten Dazwischen, Flucht oder Übergänge hätte spielen können. Entgegen der konventionellen Form ihrer nachfolgenden Romane, steckt »Nicht ich« im Übergang von surrealer Lyrik in Prosa, flieht durch Gedankenstöme und Szenen und zerfällt immer wieder. Die brennende Intensität ihrer Figuren, die immer etwas an Anna Karenina erinnern, aber weder romantischem Kitsch noch Unterwerfung verfallen oder tragisch sterben, ist in »Nicht ich« pur, wenn auch fragmentiert. Die im Verlauf ihres Werkes immer expliziter ins Textbewusstsein drängenden Andeutungen auf eine permanente Bedrohung in Israel, bleibt im Debüt fast verborgen.
Träume und traumartig strömende Texte überwinden Zensur in Unschärfen. »Nicht ich« fließt durch sexuell explizite, komische, provokante Szenen, driftet in eine Biederkeit und unterwandert dann wieder gesellschaftliche Erwartungen und Regeln. Der dargebotene Bewusstseinsstrom bietet viel Stoff für psychoanalytisch und religionsgeschichtlich interessierte Leser:innen, auch liest sich »Nicht ich« anschlussfähig an aktuelle Diskurse zu Frauenbildern und Mutterschaft. Ist es nicht auch heute ein Tabubruch, dass einer Mutter der Kontakt zu ihrer Tochter abhanden kommt, dass sie ihren Mann betrügt, sich in Liebhaber stürzt, weitertreibt, ihre Eltern anklagt, und eins der Symbole der Weiblichkeit, ihre Haare, verliert?
.
Dennoch ist »Nicht Ich« ein unvollkommener Text, der trotz der erneuten Überarbeitung für die Neuerscheinung und Übersetzung unfertig erscheint. Er ist nur 200 Seiten lang, schafft es aber trotzdem, den Faden zu verlieren in seiner Mitte, um sich dann wieder zu fangen und den Bogen zu schließen. Dass er bei Ersterscheinung 1993 von der männlich dominierten Literaturkritik Israels gemischt aufgenommen wurde und bisher noch nicht ins Deutsche übertragen wurde, obwohl Shalev Bestsellerautorin ist, hat wahrscheinlich nicht nur mit der Form, der traumartig fragmentierten Erzählart und den provokanten Inhalten zu tun.
Doch gerade diese Unvollkommenheit verbunden mit bestechlicher Intensität und Humor macht »Nicht ich« lesenswert.

Bewertung vom 04.02.2024
Weiße Flecken
Albrecht, Lene

Weiße Flecken


ausgezeichnet

»Seit meiner Ankunft wurde ich jeden Tag ein Stück 𝑤eißer« |41

Eine junge Deutsche reist nach Togo. Sie hat den Auftrag dort zu forschen, zu Fluchtgründen und Migration.
Anstatt auf Antworten zu den Anderen trifft sie auf Fragen, Irritationen und Spuren von Weißen, die sie stoßen auf sich selbst und ihr eigenes Weißsein. Begegnungen mit Menschen, Gegenständen und Orten bilden sich in ihr zu Geschichten, die trotz der Einordnungsversuche lose bleiben.

»Immer häufiger fragte ich mich, gab es ein richtiges, ein falsches Zuhören? Wie viele Arten des Zuhörens gab es? Und welche davon beherrschte ich? Manchmal erwischte ich mich dabei, bereits im Hören die Geschichte mit anderen Erzählungen abzugleichen. Wer erzählte sie mir und warum?« |71

Ihre Gedanken und Assoziationen verschieben die Orientierung und Bezugspunkte. Da kommt ihr Onkel in Erinnerung, der in Nigeria arbeitete und rassistische Bilder evoziert, das Kreisen ihrer Freundin um die Leerstelle ihres Vaters, der nach Kanada ging "weil die Scheißglatzen ihn so verprügelt haben, dass er im Krankenhaus lag" (|129) schiebt sich ein. Ihre Gedanken drehen sich um eine neue Bekannte, deren Vater aus Ghana ist, die Mutter aus den Niederlanden, die in Europa Schwarz und in Westafrika Weiß gelesen wird, um das Verhalten eines Weißen Deutschen im Freiwilligendienst, um die Gespräche mit einer togolesischen Familie, die um ihrer Abschiebung zu entgehen, "freiwillig" nach Togo zurückkehrte, um den Bibliothekar, der stets auf Abstand zu Weißen bedacht ist, um die Afroamerikanischen Tourist:innen auf Spurensuche, um die Menschenschauen der Deutschen Vergangenheit, Antiquitätenhandel und um Schwarze Deutsche Biographien, die unvollständig überliefert wurden. Fast obsessiv drehen sich ihre Gedanken um die kolonialen Spuren in ihrer eigenen Familie, weniger um ihren Weißen Ururgroßvater, der als Kolonialist in Panama lebte, denn um ihre Urgroßmutter, sein Kind kolonialer Herkunft, Weiß und Schwarz gelesen, uneindeutig, die als Einzige mit ihm nach Hamburg kam und in Deutschland blieb.
Diese lückenhaften kolonialen Spuren, die Leerstellen und das Schweigen sucht die Figur zu füllen, zur gleichen Zeit weiß sie um die Grenzen ihrer Perspektive und sie hinterfragt ihre widerstreitenden Motive. Rachel Dolezal fällt ihr ein oder die in Deutschland verbreitete Phantasierung von jüdischen Wurzeln, welche sie der internationalen Vermischung und Verwebung aller Identitäten gegenüber stellt, die eindeutige Zugehörigkeiten verwischen.
.
»Weiße Flecken« ist ein suchender Text, der den Motiven der Erkundung einer Deutschen auf koloniale Spuren nachgeht, sich dabei immer wieder an Grenzen stößt. Auch wenn die Figur sich mehr dem zurücktreten und zuhören gewidmet hätte, kann Kohärenz im Kontext dieser Geschichte nicht entsteht. So springt »Weiße Flecken« in Zeiten, Orten und auch in den Perspektiven auf die Weiße Hauptfigur und schwankt zwischen phantasierten Zusammenhängen, losen Identifikationen und dem darauf stoßen, dass Leerstellen bleiben, auch wenn sie mit aller Kraft gefüllt werden wollen.
Romane, die sich mit dem Deutschen kolonialen Erbe auf persönlicher Ebene, den lückenhaften Informationen und dem eigenen Weißsein literarisch auseinandersetzen, sind noch rar. Auch das macht »Weiße Flecken« lesenswert.

Bewertung vom 04.02.2024
Alles Gold
Murasov, Andrej

Alles Gold


ausgezeichnet

»Alles Gold« spielt die Welt einer Jugend in den 90ern durch. Murašov zoomt dabei Artur, Nejla, Kazim, Bobby und Dilek so nahe heran, als würden sie mit ihrer Hoffnung, ihren Problemen, ihren Beats, ihrer Liebe und Freundschaft direkt neben uns stehen.
»Alles Gold« ist Coming of Age, sweet dabei, ein Jugendroman, die Altersempfehlung ist ab 12. Ja ich weiß, gähn, aber Murašov erzählt neben der immer gleichen Geschichte des Erwachsenwerdens in einer Perspektive von fünf Menschen, die Arzt- oder Lehrerkinder wohl als Underdogs bezeichnen würden (so steht es auch auf der Verlagsseite, fünf Underdogs...). Wir wissen alle, wie undurchlässig unser Bildungssystem ist, dazu die Chancen ungleich verteilt sind, auch wenn einige von ihnen den Aufstieg schaffen. Klar, die von Murašov thematisierte Welt ist schon lange in der deutschsprachigen Literatur angekommen, besonders die Aufstiegsgeschichten. Für meinen Geschmack sind sie immer noch zu sehr beeinflusst von Édouard Louis und Co.. Oft sind sie ernst, gefällig dem Blick eines biodeutschen Bildungsbürgertums folgend, das Leidensgeschichten erwartet, das Mitleiden und "neue Perspektiven" bekommt und das ist auch okay. Aber es fehlt, was Murašov mit »Alles Gold« schafft. »Alles Gold« erzählt ein lässiges, undramatisches Heranwachsen in Deutschland der 90er Jahre, mit dem Verve von Figuren, die Hiphop lieben und nebenbei migrantisch, arm und marginalisiert sind, aus der Welt von Gastarbeiterkindern, Spätaussiedlern, Geflüchteten, Stadtkindern mit Popkultur und Freundschaften quer zu alledem. Artur hat russische Eltern, der Papa hat die depressive Mutter zur gleichen Zeit hängen lassen, wie seine Freundin ihn, doch dann findet er die Beats und das Rappen mit Kazim, der an jeder Ecke kurdische Verwandte hat, der noch nicht bereit ist für die Ehe und keine Lust auf die Schwierigkeiten hat, die eine nicht-alevitische Freundin mit sich ziehen würden. Artur findet Nejla, eine coole Bosnierin, die Kunst liebt, die den Krieg, ihren verstorbenen Vater und ihre zurückgekehrte Mutter in sich verschließt. Eine Verwandte hat vielleicht eine Bank ausgeraubt und zieht sie mit rein und der drogenabhängige Cousin macht es nicht besser. Bobbys deutsche Eltern haben sich nie richtig gekümmert, sein Halt ist Artur, Graffiti, die Tiere und seine Hilfsbereitschaft. Er stürzt trotzdem fast ab in Berlin, doch dann trifft er Dilek wieder, die in der Schulzeit vor ihren türkischen Eltern weggelaufen war und seitdem ein verschlossenes Leben in Berlin führt.
Der Sound gleitet entspannt, aber mit Tiefe, die Szenen und Dialoge sind lebendig, drehbuchartig fast und Mehrsprachigkeit fließt ganz natürlich in den Text. Die Figuren gelingen Murašov markant mit Entwicklung, der Blick auf das Geschehen ist aus der Mitte heraus, die Stimmung macht nostalgisch, mitfiebernd und optimistisch mit dem Figuren hoffend. Ich kann mit gut vorstellen, dass genau das auch vielen gefallen könnte, die nicht aus diesen Welten kommen und denen, die so aufgewachsen sind, gerade in den 90ern sowieso. »Alles Gold« eignet sich bestens als Schullektüre, auch als Ausgangspunkt für eine Miniserie erscheint es prädestiniert. Eine begleitende EP ist auch dabei und die Fortsetzung folgt.