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Zauberberggast
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München

Bewertungen

Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 26.08.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


gut

“Manchmal frage ich mich, warum wir so viel zurückblicken, warum wir die alten Geschichten erzählen”, Marius grub die Hände tief in den sandigen Boden. “Und an anderen Tagen denke ich, dass es Dinge gibt, die erzählt werden müssen, wir haben so vieles nicht in der Schule gelernt. Für die nächste Generation soll es anders sein.” (S. 147)

Wie das Zitat schon sagt, in Maria Bidians Roman “Das Pfauengemälde” geht es um die Vergangenheit und deren Bewältigung. Topografisch ist diese Vergangenheit für die Ich-Erzählerin Ana in Rumänien verortet. Aus diesem Land stammen sie und ihre Vorfahren väterlicherseits. Anders als meine Vorfahren mütterlicherseits, für die das ebenfalls zutrifft, gehören sie aber nicht der deutschen Minderheit, den Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben, an, sondern sind - wie meine Oma es formulieren würde - “echte Rumänen”. Aber auch sie waren von den Enteignungen des kommunistischen Regimes betroffen, mussten Hab und Gut an den Staat abgeben. Heutzutage kann man anscheinend Prozesse führen, um das Weggenommene wieder zurückzubekommen. Aber was will man mit einem alten verfallenen Haus in einem Land, das schon seit Jahrzehnten “ausblutet”?

Die Familie der Ich-Erzählerin hat so einen Prozess geführt und gewonnen, das “Rumänische Haus” ist wieder in Familienbesitz und das will gefeiert werden. Also reist Ana aus Deutschland nach Rumänien, um ihre Verwandten zu treffen, vor allem die zahlreichen Geschwister ihres Vaters und deren Familien. Sie soll außerdem ihr Erbe in Anspruch nehmen, das titelgebende Pfauengemälde, den wertvollsten Besitz ihres vor zwei Jahren in Rumänien verstorbenen Vaters.

Die Familie ist im Dorf sehr angesehen, hat sie doch allerlei für die dort lebenden Menschen getan. Anastasias Vater Nicu, der Patriarch, starb vor zwei Jahren einsam in einer rumänischen Berghütte - Ana macht sich deswegen Vorwürfe.
Die Zerrissenheit, die sich in der Figur des Vaters bündelt, hat eine eigene Tragik. Er verließ seine Heimat wegen gegen des kommunistischen Regimes. Als Intellektueller mit rumänischem Doktoritel musste er in Deutschland bei Null anfangen und Gelgenheitsjobs nachgehen. Das Problem vieler Geflüchteter, die im eigenen Land einen weit höheren gesellschaftlichen Status innehatten als in der neuen fremden Heimat. Die deutsche Familie seiner Frau weiß nichts mit ihm anzufangen und er nichts mit ihr. Zumal war er fast 30 Jahre älter als Anas Mutter.

Die bürokratischen Zurückweisungen auf dem Passamt, der verlängerte “Zwangsaufenthalt” in Rumänien, die teilweise grotesken Träume, die seltsamen Flashbacks - das alles erinnert an die Literatur von Franz Kafka. Ana begegnet der Uneinsichtigkeit der Behörden mit einer Reaktion, die auch viele Figuren Kafkas an den Tag legen: “Die ganze Situation auf dem Passamt kam mir so absurd vor, dass ich anfing zu lachen.” (S. 95)
Leider wird dieses Absurde nur anerzählt und nicht konsequent ausgeführt. Vielmehr wird das Buch vom Geschreckgespenst Kommunismus überlagert. Ana besucht eine Ausstellung über die rumänische Revolution und die sowjetischen Gefangenenlager, in denen tausende Menschen gefoltert und getötet wurden. In der Gegenwartshandlung, die sich etwa 2017 abspielt, gibt es auch Demonstrationen gehen wieder aufkommende kommunistische Bestrebungen. Auch in die Erzählungen der Verwandten von Ana haben sich der Freiheitsgedanke und die Schrecken der Vergangenheit tief eingeschrieben.

Das Buch ist vom Gesamteindruck her also mehr Geschichtsstunde als literarischer Roman. Natürlich ist dies ein Verdienst an sich, denn hier im “freien Westen” verbinden wir Rumänien oft nur mit dem Dracula-Mythos, den Kirchenburgen, den Bettler:innnen. Mich zumindest müssen Romane aber auch unterhalten, um mich komplett zu überzeugen. Es reicht nicht, nur mit der geschichtlichen Thematik zu beeindrucken, denn dann kann ich auch zum Sachbuch greifen. Eine literarische Geschichte muss fesseln, einen Spannungsbogen aufweisen, mit Inhalt und Form überzeugen. Die Versuche, mit der Andeutung einer Dreiecksbeziehung so etwas wie Spannung aufzubauen, sind meiner Meinung nach gescheitert und in eine seltsame Richtung abgedriftet. Es werden zu viele Figuren eingeführt und dann quasi am Wegesrand der Handlung stehengelassen. Ich hätte einen Stammbaum oder ein Personenverzeichnis gebraucht, um die komplizierten Familienverhältnisse zu überblicken. Ana wird zunehmend naiver im Laufe des Plots, das Ende driftet ins Märchenhafte ab.

Weil mich aber die Geschichte des Vaters berührt hat und die historische Dokumentation sehr erhellend war, kann ich das Buch allen empfehlen, die sich für die Geschichte Rumäniens interessieren und die “Trockenheit” eines Sachbuches scheuen.

Bewertung vom 03.08.2024
Glück
Thomae, Jackie

Glück


sehr gut

Jackie Thomae hat sich in ihrem neuen Roman dem Problemfeld “K(inder)-Frage” angenommen. Sie schreibt über erwachsene Frauen im Deutschland der Gegenwart und was diese Frage mit bzw. aus ihnen gemacht hat. Die Lebenswege der Frauen, die Thomae erzählt, kreuzen sich in diesem Roman. Wir haben also einen multiperspektivischen Erzählansatz, bei dem die Figuren abwechselnd aus deren Sicht das Geschehen schildern. Im Fokus steht dabei Marie-Claire (MC) Sturm, sie ist die Hauptfigur, zu der alle anderen Frauen, aus deren Sicht erzählt wird, in irgendeiner Beziehung stehen. Ihren Lebenslauf bekommen wir ziemlich detailgetreu geschildert. Zum Zeitpunkt des Beginns der Handlung ist sie 39, kinderlos und mit wechselnden Männern liiert bzw. Single. Sie steht als Radio-Moderatorin und Podcasterin mitten im Leben und setzt sich - nun langsam am Ende ihrer fruchtbaren Phase - mit der “K-Frage” auseinander. Ihr Problem ist vor allem die fehlende Beziehung kombiniert mit dem unbarmherzigen Nahen der Menopause, die sie von einem Wunschkind trennen: "Alles andere musste warten, bis dieser Felsbrocken aus dem Weg geräumt war. Doch was machte man, wenn man dafür einen anderen Menschen brauchte? Wo bekam man den her?” (81) Außerdem belasten sie die beiden Abtreibungen, die sie mit 17 und 29 hatte. Was wäre wenn? Welche Alternativleben geistern im eigenen Leben herum und blockieren einen?

Ebenfalls als Hauptfigur könnte man Anahita Martini bezeichnen, weil wir von ihr nach MC am meisten erfahren. Die ebenfalls zu Beginn 39-jährige ist Senatorin für Bildung, Jugend und Familie in der Berliner Stadtregierung und wird in dieser Funktion von MC fürs Radio interviewt. Auch sie steht als kinderlose Geschiedene vor einem Scheideweg: “Sie stand an einer Weggabelung, beide Wege führen in die Angst. Mutter zu werden. Keine Mutter zu werden.” (S. 129) Dies führt bei Anahita zu einer Art Paralyse. Bei ihr kommt der Druck vor allem von außen. Ihr älterer Bruder Reza ist gerade mit Ende 40 zum dritten Mal Vater geworden und von Seiten der Öffentlichkeit werden ebenfalls bestimmte Erwartungen an eine Familienpolitikerin gestellt.

Auch Rezas Frau Lydia kommt in einem Kapitel zu Wort. Sie hat ihren Job in der Werbebranche aufgegeben und mit Mitte Vierzig noch das dritte Kind bekommen. Sie bringt die Perspektive einer Mutter kleiner Kinder ins Spiel und illustriert auf humorvolle Weise, dass Muttersein nicht die einzig heilbringende Daseinsform ist, obwohl sie ihre Kinder abgöttisch liebt. Ihre innerliche Auflehnung gegen die perfekte und gesunde Welt der “AllesrichtigmacherMütter” liest sich so authentisch und unverblümt wie man es sich nur vorstellen kann. Eine Tirade gegen die Perfektion, frei von der Leber weg.

Coach Maren, eine Freundin von MC, leitet ein Selbstfindungs-Retreat zum Thema "unerfüllter Kinderwunsch - Muss auch ich Mutter werden?” und ist nicht wenig überrascht, als sich eine der Teilnehmerinnen als Mann herausstellt. Auch sie ist im beginnenden mittleren Alter und kinderlos. Außerdem kommt noch die Perspektive von Dr. Henriette Nonnenmacher ins Spiel, der Gynäkologin von Anahita und MC sowie die von Rebekka, MCs ebenfalls kinderloser jüngerer Schwester.

Für mich ist das, was in diesem Roman geschrieben steht und wie die unterschiedlichen Frauen nachdenken und sich selbst ausführlich reflektieren, unglaublich nah am Puls der Zeit. Jackie Thomae hat ein weibliches Gesellschaftsportrait gezeichnet, das lebensecht und nahbar ist und mit dem sich die allermeisten Frauen - ob Mutter oder nicht - werden identifizieren können. Die Konzepte Muttersein und Kinderlosigkeit werden nicht gegeneinander ausgespielt, beides ist richtig und wichtig und so soll es auch sein. Das ist sehr versöhnlich und ich meine zwischen den Zeilen die Botschaft durchzulesen, dass Frauen - ob Mütter oder nicht - mehr zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen sollten.

Die Erzählweise mit dem Verzicht auf Anführungszeichen bei direkter Rede finde ich angenehm und zeitgemäß, wird aber nicht jedem gefallen. Das einzige, was ich bemängeln muss, ist, dass mir manches doch zu sehr in die Tiefe geht und ich auch mit weniger Seiten glücklich gewesen wäre. Insgesamt ein sehr empfehlenswerter und schöner Roman, für alle, die gebären könnten, sowieso.

Bewertung vom 27.07.2024
Mitte des Lebens
Bleisch, Barbara

Mitte des Lebens


sehr gut

Als ich dies hier schreibe, bin ich 42 Jahre alt. Wenn ich Glück habe und die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen in Deutschland von etwa 82 Jahren erreiche, habe ich die Hälfte meines Lebens bereits hinter mir. Ein Gedanke, der sich immer wieder anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht und ich denke ihn in letzter Zeit ziemlich oft. Immerhin steht die zweite Halbzeit an - und danach: Schluss, Ende, Aus, Micky Maus. Und keiner weiß ja, ob ich sie bis zum Ende "durchspielen" werde, das kommt ja noch hinzu. Puh, ich kann nur sagen “Midlife Crisis” kicks hard. Es stellen sich halt so Fragen wie: Hat man genug erlebt? Passt man zu dem Leben, das man jetzt führt? Wie ist der Status Quo und was kriegt man in der nächsten und - OMG - letzten Hälfte noch unter? Eine deprimierende Halbzeitpause. Andererseits: Ich war eigentlich auch noch nie glücklicher in meinem Leben als ich es derzeit bin, irgendwie ist man angekommen.

Dieses Gefühlswirrwarr in einer rationalen Weise aufgedröselt zu bekommen, erhoffte ich mir von “Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre” von Barbara Bleisch. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Reise durch die “Lebensmitte”, die, natürlich nur im Durchschnitt, mit etwa 40 Jahren beginnt und irgendwo mit 60plus endet.
Philosophisch wurde bislang wohl eher wenig explizit über diese mittleren Jahre nachgedacht und “Mitte des Lebens” ist insofern etwas Neues. Die Autorin möchte Versuche präsentieren, diese “Lebensphase zu verstehen, die allzu oft nur als düster und verworren dargestellt” (37) werde, und doch die “potentiell beste Zeit unseres Lebens” (37) sein könne. Barbara Bleisch möchte nicht nur über die “Krisenanfälligkeit” (33) der mittleren Jahre nachdenken, sondern auch über das Potenzial der “reichen Fülle” (33), die diese Jahre zu bieten haben.

Der Angang mit Literatur- und Quellenverzeichnis beträgt 28 kleingeschriebene Seiten. Dementsprechend kann man sich vorstellen, wie sehr dieses Buch aus Zitaten und sekundären Gedanken anderer besteht, die die Autorin für ihre eigene Argumentationslinie zusammenkleistert. Der Ton ist dezidiert ein wissenschaftlicher und das muss man als Leser:in freilich mögen. Hier nimmt uns nicht eine ebenfalls von den mittleren Jahren “betroffene” Freundin an die Hand, sondern eine waschechte Philosophin, die ihre Sekundärliteratur aber auch zahlreiche Filme und belletristische Bücher kennt und gar nicht so viele “originäre” Tipps zu geben vermag: Alles ist schon irgendwie irgendwo gedacht, gezeigt und geschrieben worden, man muss es nur thematisch ordnen und zusammentragen können. Das kann Barbara Bleisch hervorragend.

Ich habe viele positive Impulse mitgenommen aus diesem Buch. Zum Beispiel hat mich das Kapitel über die “Wunder des Lebens” bzw. den “fehlenden Glanz” (210ff.) besonders beeindruckt. Leben im und für den einzigartigen Moment, das ist doch das, was wir in jeder Lebensphase machen sollten. Dennoch sollte man diesem Buch mit einem gewissen gefertigten Geist begegnen, um es richtig schätzen zu können. Allzu orientierungslos sollte man nicht gerade sein, auch als leichte Bettlektüre kann ich es nicht empfehlen. Man braucht definitiv alle Sinne, es ist keine sogenannte “leichte Lektüre”. Auch kann es durch die häufige Erwähnung des Themas Tod etwas deprimierend sein.

Ein sehr gutes Sachbuch, das definitiv zum Nachdenken anregt über den eigenen Lebensweg und vor allem darüber, wie wir die “mittleren Jahre” für uns gewinnbringend gestalten.

Bewertung vom 22.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

“Sie sieht, wie das Pferd ein Ohr rotieren lässt, ohne den Kopf zu drehen, anscheinend horcht es auf etwas jenseits der beklommenen Stille [...] es hört den Tod, der in der ganzen Stadt mit offenen Armen wartet, den Tod, der darauf wartet, vom Himmel abgeworfen zu werden.” (S. 193)

“Prophet Song” ist der Roman, mit dem Paul Lynch 2023 den Booker Prize gewonnen hat. Jetzt wurde er als “Das Lied des Propheten” vom renommierten Übersetzer Eike Schönfeld für Klett Cotta kongenial ins Deutsche übersetzt. Obwohl ich den auch auf der Shortlist gewesenen Roman “The Bee Sting” von Lynchs irischem Landsmann Paul Murray sehr liebe, bin ich nach der Lektüre der Meinung, dass Paul Lynch absolut zurecht gewonnen hat. Warum?

Mit “Prophet Song” hat Lynch einen Horrorroman geschrieben, der ganz ohne übertriebenen Gore, Killer-Clowns und Untote auskommt und dennoch den Lesenden eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt. Der Schrecken eines totalitären Regimes ist die Horrorvorstellung, mit der wir es in diesem Roman zu tun haben. Die Protagonistin Eilish, Mutter von vier Kindern und promovierte Mikrobiologin, die seit 20 Jahren in einem Bio-Tech-Unternehmen arbeitet, steht im Mittelpunkt des Geschehens. Wir haben es in dieser fiktiven - und doch erschreckend realistischen - Version von Irland mit einem Land zu tun, das von einer totalitären Partei beherrscht wird und versucht, alle Gegner des Regimes mundtot zu machen bzw. auszulöschen. Auch Eilishs Mann, Lehrer und Gewerkschafter, wird eines Tages aus heiterem Himmel verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht. Eilish steht vom heute auf morgen alleine da mit ihrem 17-jährigen Sohn Mark, der Teenager-Tochter Molly, dem 12-jährigen Bailey und dem Nachzügler-Baby Ben. Außerdem muss sie sich um ihren an zunehmender Demenz leidenden Vater betreuen. Als die Umstände immer schlimmer werden und es zu kriegerischen Kämpfen zwischen den Rebellen und dem System kommt, stellt sich für Eilish die Frage: Gehen oder bleiben?

An der Protagonistin Eilish wird exemplarisch ausgeführt, was ein Mensch in einem Ausnahmezustand vollbringen kann. Leider ist das keine allzu dystopische Vorstellung, denn tagtäglich gibt es nach wie vor Tausende, die in Kriegsgebieten einer ähnlichen Situation ausgesetzt sind. Eilish muss Unmenschliches vollbringen - sie muss in einem absoluten Ausnahmezustand, in dem sie um ihrem Mann und ihren ältesten Sohn bangt, den Alltag für ihre jüngeren Kinder aufrechterhalten, muss Geld, Nahrung und soviel Normalität wie irgend möglich herbeischaffen.

Die enigmatisch-kafkaeske Erzählweise - für manche durch den Wegfall der wörtlichen Rede vielleicht gewöhnungsbedürftig, mir hat das sehr gefallen - fährt einem ohne Umwege in Mark und Bein. Wie ein mäandernder Singsang bohrt sich das Geschriebene erbarmungslos in unseren Kopf, um sich dort festzuklammern. Und von dort aus breitet sich so etwas wie Panik in unserem ganzen Körper aus, wenn man einen Moment zu lange über das Gelesene nachdenkt: Was, wenn so etwas Realität werden könnte - auch für uns?

“Das Lied des Propheten” ist ein Roman über die Unbarmherzigkeit der Zeit und ihr Vergehen. Eine Trauermelodie in Prosa über das, was wir mal hatten und das Wenige, das uns davon geblieben ist sowie das noch Wenigere, das die Zeit überdauern wird.

Das fiktive Konstrukt stellt die existenziellen philosophischen Fragen: Was ist Wirklichkeit? Worauf beruhen unsere Vorstellungen von ihr? Gibt es eine allgemeingültige Realität und wie finden wir uns in ihr zurecht? Und was ist Wahrheit? Kann sie sich in einem totalitären Staat überhaupt offenbaren? “...zur Zeit gibt's keine Wahrheit, du weißt nichts, niemand weiß was, von nichts lässt sich die Wahrheit kennen.” (199)

Dass der plötzliche Verlust eines Menschen vor allem eins bedeutet, Stille, das wird im Roman immer wieder mantraartig wiederholt. Eine Leerstelle, ein Platzhalter dort wo vorher ein Mensch gelebt und geliebt und gelacht hat, ist jetzt ausgefüllt mit Stille und dem Schmerz der Hinterbliebenen.

Paul Lynchs Prosa ist voller Allegorien und Metaphern, das Stilmittel der Personifikation benutzt er überdurchschnittlich häufig.
So werden die Natur, abstrakte Begriffe und Dinge in seinem Schreiben vermenschlicht bzw. lebendig. Ich bringe nur ein paar Beispiele: “wie die Bäume die Jahre mitfühlen, indem sie die Zeit zu Ringen in ihrem Holz machen” (140), “Der Lärm sprießt in den Schlaf, er treibt aufwärts durch zwei Welten” (141), “...der Tag [...] fällt in geblümter Farbe auf Carole” (168), “die Stimme flüstert.” (199)

Wenn man diesen Roman einmal gelesen hat, dann wird man ihn mit absoluter Sicherheit nie wieder vergessen. Ein intensives Leseerlebnis und Meisterwerk der Literatur unserer Zeit.

Triggerwarnungen: Krieg, Tod, Zerstörung, leidende Kinder

Bewertung vom 04.07.2024
Die Sache mit Rachel
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel


gut

Die Freundschaft zwischen einer heterosexuellen Frau und einem homosexuellen Mann ist ein beliebtes Motiv in der zeitgenössischen Popkultur, vor allem in Fernsehserien. Man denke nur an “Will & Grace” (die Serie wird im Buch zitiert) oder die Freundschaft zwischen Carrie Bradshaw und Stanford in “Sex and the City”. Daraus hätte man auch literarisch viel machen können, meines Erachtens ist das aber in “Die Sache mit Rachel” nicht geschehen.

Ich weiß nicht, was die anderen Rezensent:innen für ein grandioses Buch gelesen haben. Ich habe Folgendes gelesen: einen mittelmäßig geschriebenen, an manchen Stellen bemüht humorvollen Coming-of-Age-Roman, dessen Handlung an mantrahafter Kreisförmigkeit und bleierner Spannungsarmut kaum zu überbieten ist. Dessen Charaktere so klischeehaft, promiskuitiv und persönlichkeitslos oder bemüht übertrieben merkwürdig sind, dass es in einem Schreibseminar wunderbar als Negativbeispiel in der Charakterentwicklung herangezogen werden könnte. Ich hatte wirklich große Schwierigkeiten dieses Buch zu beenden, denn nach der Szene mit der Lesung zog es sich wie der berühmte Kaugummi.

Rachel Murray, die Hauptfigur und Ich-Erzählerin, hat kaum nennenswerte Charakterzüge. Sie ist einfach nur jung und blickt als schwangere 31-jährige zurück auf die Jahre 2010/2011, in denen sie um die 21 war. Sie ist für mich definitiv keine vielschichtige Protagonistin, sondern eher total austauschbar. Sie definiert sich nur über ihre Anziehungskraft auf Männer und hat keinerlei Eigenschaften, die sie besonders machen. Sie weiß nicht, warum sie eigentlich Anglistik studiert, bildet sich aber dennoch etwas auf ihre Intelligenz ein. Ich ahne aufgrund des Nachwortes, dass das Buch autofiktionale Züge haben könnte, was es irgendwie nicht besser macht. James wirkt noch mehr wie auf dem Reißbrett entworfen: ein homosexueller, ständig sexuell aktiver Mann, der am liebsten zweideutige Witze reißt, mit denen er letztlich als Drehbuchautor in Amerika groß rauskommt. Und Dr. Byrne der verträumte Englischprofessor mit Geheimnis, den alle Studentinnen anhimmeln - ja, noch nie von ihm gelesen (*ironieoff*).

Nochmal zum Inhalt: Es gibt also Rachel Murray aus Cork, die Anglistik studiert und in einem Buchladen arbeitet, wo sie die Aushilfe James Devlin kennenlernt. Er wird ihr bester Freund und irgendwann outet er sich ihr gegenüber als homosexuell. Rachel steht auf ihren Englischprofessor Dr. Fred Byrne und will mit ihm schlafen. Dafür fädeln die beiden Freunde ein Komplott ein, der das ersehnte Ereignis herbeiführen soll. Es soll nämlich nach einer Lesung von Dr. Byrne im Buchladen soweit sein, denn dieser hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch über die irische Hungersnot geschrieben, das er unter die Lesenden bringen will. Natürlich gibt es dann schon recht früh im Buch den Plot Twist, den man leicht erahnen kann und Rachels und James’ Leben ändert sich - ein bisschen zumindest. Von da an dreht sich der Plot für mein Empfinden nur noch in Kreis: Sie haben Sex, sie waschen ihre Laken oder auch nicht, sie trinken teuren Wein, den sie sich eigentlich nicht leisten können, arbeiten in ihren prekären Jobs, träumen vom Auswandern und wieder von vorne.

Wer etwas für irische Themen übrig hat, wird definitiv in diesem Buch fündig. Die Handlung hängt sich an der finanziellen Schieflage des Landes um 2010 auf, die zu einer Rezession geführt hat. Es wird ständig thematisiert, wie wenig Geld alle zur Verfügung haben: James, der sowieso aus einer britischen Arbeiterfamilie kommt; Rachel, deren Zahnarzt-Eltern nicht mehr so viel verdienen wie früher und sie deswegen nicht mehr unterstützen können; die Buchbranche an sich; Universitäten; etc. pp. Dann geht es natürlich um kulturell in der irischen Geschichte verankerte Themen wie den Katholizismus und das Abtreibungsverbot (Triggerwarnung!), die Hungersnot, die von Dr. Barnes in seinem Buch behandelt wird, Homophobie (aber nur sehr am Rande) und die Beziehung zwischen Irland und Großbritannien bzw. deren Bewohner:innen.

Sprachlich ist das Ganze auch kein Hexenwerk, sondern bestenfalls Durchschnitt, der gelegentlich prätentiös rüberkommt. Bei manchen Metaphern habe ich einfach nur mit den Augen gerollt, wie z.B.: “Nach dem sechzehnten ‘Cecilia’ hatten James und ich unsere Beziehung zur Welt gebracht, und sie wanderte durchs Haus wie ein verklebtes, neugieriges Fohlen.” (37) So nach dem Motto: Hey, schaut her, wie kreativ ich mit Sprache umgehen kann, aber im Endeffekt ist es nur heiße Luft. Mehrere Beispiele würden die ohnehin viel zu lange Rezension zu diesem belanglosen Roman sprengen.

Noch gut gemeinte 3 Sterne, eher 2,5, weil der Anfang (auf den ich reingefallen bin) ganz okay war.

Bewertung vom 11.06.2024
Experienced. Die Liebe bietet unbegrenzte Möglichkeiten
Young, Kate

Experienced. Die Liebe bietet unbegrenzte Möglichkeiten


sehr gut

“Experienced” von Kate Young mit dem etwas kitschigen deutschen Untertitel “Die Liebe bietet unbegrenzte Möglichkeiten” (Übersetzung: Christiane Sipeer) ist eine queere “Rom Com” - romantische Komödie - und will auch nichts anderes sein. Dauernd gibt es im Text Referenzen zum Thema “Rom Com”, vor allem zu den romantischen Komödien der späten 90er Jahre von Nora Ephron, wie “Email für dich”. Die fiktionale “Realität” des Romans wird dabei oftmals mit der Fiktion dieser Filme verglichen, also nach dem Motto “in der romantischen Komödie würde jetzt das und das passieren”. Wer also einen Text mit literarischem Anspruch erwartet, wird hier nicht fündig. Wer allerdings eine locker-leichte queere Lovestory sucht, vielleicht für den Urlaub, darf hier getrost zugreifen.

Um was geht es? Der Roman spielt hauptsächlich im englischen Bristol. Die 30-jährige Anglo-Italienerin Elisabetta (genannt Bette) hat sich gerade erst von ihrem Hetero-Dasein verabschiedet und erlebt die ersten Monate ihrer ersten Beziehung mit einer Frau (Mae). Bette könnte glücklicher nicht sein, denn Mae ist die perfekte Freundin. Bis diese eines Morgens eine mehrmonatige Beziehungspause vorschlägt, in der Bette sich mit anderen Frauen treffen und Erfahrungen machen soll. Widerwillig stimmt Bette dem Vorschlag zu und begibt sich per Dating-App und mit mentaler Unterstützung Ihrer Mitbewohnerin Ash auf die Suche nach Abenteuern. Natürlich gestaltet sich das alles schwieriger als es ist und am Ende muss sich Bette die Frage stellen, ob Mae wirklich die Richtige für sie ist.

Der Roman spiegelt sehr gut unseren aktuellen Zeitgeist in Hinblick auf das Thema Dating und Beziehungen wider. Er bildet dabei die Generation der späten Millenials/frühen Gen Z ab, die heute so um die 30 sind. Diese Generation ist quasi mit Dating-Apps ins erwachsene Beziehungsleben gestartet und damit ist es auch die “Kontaktanbahnungsmethode” Nummer 1 für sie. Dating-Apps versprechen Unverbindlichkeit und die Erfüllung schneller Bedürfnisse, wobei das “Nach-rechts-swipen” immer auch die Möglichkeit einer potenziellen Beziehung am Horizont erscheinen lässt. Letztlich sind es scheinbar unendliche Möglichkeiten, die uns die heutige Dating-Welt suggerieren möchte. Schwierig, da nicht den Überblick zu verlieren. Auch Bette merkt schnell, dass man nach der perfekten Partnerin suchen muss wie nach der berühmten Nadel im Heuhafen - oder hat sie sie mit Mae vielleicht eben doch schon gefunden?

Auch wenn der Roman kaum zitierwürdige Sätze oder bemerkenswerte Prosa bieten kann, so strahlt er doch eine gewisse queere Warmherzigkeit aus, die bei mir gepunktet hat. Ich mochte das Feeling dieses Buches, die Protagonistin war auch sehr in Ordnung, fast möchte ich sagen, sympathisch. Ihre Gefühle waren oft nachvollziehbar und wenn es um das Zwischenmenschliche geht, sind wir doch alle nur Menschen - egal ob wir uns im queeren oder heteronormativen Spektrum nach Partner:innen umsehen. Auch die “spice Szenen” waren hier nicht unangenehm, sondern haben sich gut in den restlichen Plot eingefügt.

Ein wirklich angenehmer “Zwischendurchroman”, übrigens von der britischen Food-Autorin, die auch die tollen “Little Library Cookbooks” herausgegeben hat.

Bewertung vom 23.05.2024
Mord stand nicht im Drehbuch
Horowitz, Anthony

Mord stand nicht im Drehbuch


sehr gut

Für alle, die die Serie nicht kennen, ein kurzer Überblick: Der in London lebende Schriftsteller Anthony Horowitz (geboren 1956) gehört zu den kommerziell erfolgreichsten und produktivsten Autor:innen Großbritanniens. Er hat zahlreiche Romane, Krimis, Kinder- und Jugendbücher sowie auch Drehbücher für Film- und Fernsehen und Theaterstücke geschrieben. Seine Ehefrau Jill Green besitzt eine Produktionsfirma. Sie haben zwei erwachsene Söhne, von denen der eine als Berater für den britischen Premier Rishi Sunak arbeitet.

Warum erwähne ich die Biographie des Autors so ausführlich? Nun, der Roman “Mord stand nicht im Drehbuch” ist der vierte Band der Hawthorne/Horowitz-Reihe, in die Horowitz sich selbst als Figur hineingeschrieben hat. Zusammen mit dem - natürlich fiktiven - und sehr mysteriösen Privatdetektiv Nathaniel Hawthorne ermittelt er in verschiedenen Mordfällen. Im ersten Band “Ein perfider Plan” bittet Hawthorne den renommierten Schriftsteller Horowitz ein Buch über seine Arbeit mit ihm als Ermittler im Zentrum zu schreiben. Horowitz wird sozusagen zum Watson, denn Hawthorne schleppt ihn zu den Ermittlungen mit, damit dieser wiederum darüber schreiben kann. So geht das nun schon seit drei Bänden und der vierte beginnt damit, dass Horowitz kein weiteres Buch mehr über Hawthorne und sich selbst schreiben möchte: “Tut mir leid, Hawthorne. Die Antwort ist nein. Unsere Vereinbarung ist beendet.” Ein Running-Gang, denn Horowitz möchte nach jedem - für ihn selbst meist sehr riskanten - Fall aufhören. Als kurz nach der London-Premiere von Horowitz’ Krimikomödie “Mindgame” genau die Theaterkritikerin erstochen wird, die die erste schlechte Kritik über das Stück geschrieben hat, wird es aber brenzlig für Horowitz: Er gerät unter Mordverdacht und alle Indizien sprechen gegen ihn. Da kann ihm nur noch der eine helfen, den er kurz zuvor zurückgewiesen hat: Hawthorne.

Bei den Hawthorne/Horowitz-Romanen denke ich mir immer, wie schwierig es doch sein muss - selbst für einen so versierten, erfolgreichen Autor wie Horowitz - sich selbst als literarische Figur darzustellen. Wie viel von meiner Persönlichkeit möchte ich wirklich preisgeben, wie transparent möchte ich für meine Leserschaft werden? Zumal ist Horwitz auch ein sehr erfolgreicher Autor von Jugendbüchern, viele junge Menschen lesen und verehren ihn. Und bei Horowitz ist es ja extrem, denn er spricht neben seiner Familie - seine Frau Jill tritt ja sogar als handelnde Figur auf, die beiden Söhne bleiben nur Statisten - über seine Erfolge und Misserfolge sowie auch nicht so positive Charakterzüge seiner selbst. Ein Schriftsteller zum Anfassen. Ob er wirklich in der real existierenden Cowcross Street im Londoner Stadtteil Farringdon in einer Penthouse Wohnung lebt, wie im Buch behauptet? Kann gut möglich sein. Ich wäre schon verblüfft, wenn die Adresse wirklich stimmt, aber ich traue es ihm zu. Realität und Fiktion vermischen sich hier auf eine ungewöhnliche Art und Weise, die wohl wirklich Erfolg bei seiner Leserschaft zu haben scheint, wie es seine Agentin zum Schluss nochmal betont: “Dass Sie selbst in den Büchern auftauchen, ist wirklich ungewöhnlich. Die Reaktionen auf ‘Ein perfider Plan’ waren sehr positiv. Viereinhalb Sterne bei ‘Goodreads’ und eine tolle Besprechung in der ‘Mail on Sunday’.” (S. 322)

Der Fall hat mir diesmal wieder ausgesprochen gut gefallen. Man kann wunderbar miträtseln wer der/die wahre Täter/in ist, denn Verdächtige gibt es wirklich zu Hauf. Auch dass es diesmal um das Theatermilieu - “the play within the novel” sozusagen - geht, hat mich persönlich sehr angesprochen da ich Romane über Schauspieler:innen, die meist einen extravaganten Charakter haben und dementsprechend literarisch viel zu bieten, sehr mag.

Jetzt kommt aber doch noch ein Kritikpunkt. Und zwar ist mir in diesem Band ein ziemlicher “Ageism” aufgefallen, sprich, wie Horowitz das Alter von manchen Charakteren einstuft bzw. was er damit assoziiert. Und zwar bezeichnet er einmal eine “ungefähr vierzig Jahre” (S. 282) alte Person, die er für einen Immobilienmakler gehalten hat, als “zu alt” um diesen Beruf auszuüben. What? Immobilienmakler:innen sind mit vierzig also zu alt für ihren Beruf - wieder was gelernt! An anderer Stelle heißt es über einen Anfang sechzig Jahre alten Lehrer, er wäre ein “alter Mann”. Und eine ca. siebzigjährige Frau ist eine “sehr alte Frau”. Da frage ich mich doch, ob der auf Fotos agil und fit wirkende Horowitz, der auch bald siebzig wird, sich selbst als “sehr alten Mann” bezeichnen würde. Irgendwie ist dieses Alterskonzept doch strange bzw. wirkt wie aus der Zeit gefallen. “Alt” beginnt für mich bei 80, “sehr alt” bei 90 und Immobilienmakler:innen würde ich durchaus auch mit 40 als fähig halten, ihren Job auszuüben, ohne dass ihnen die Exposés aus der zittrigen Hand fallen.

Ein Wermutstropfen in einem durchaus ansprechenden und erfrischenden Krimi-Cocktail! Übersetzt von Lutz-W. Wolff.

Bewertung vom 21.05.2024
Die Tage des Wals
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


ausgezeichnet

“Die Tage des Wals”, der Debütroman der britischen Autorin Elizabeth O'Connor, für den Blessing-Verlag übersetzt von Astrid Finke, ist etwas ganz Besonderes. Es ist ein historischer Roman, der im Jahr 1938 auf einer fiktiven, acht Kilometer vor der walisischen Küste gelegenen Insel spielt. Er erzählt uns einen Ausschnitt aus dem Leben der 18-jährigen Ich-Erzählerin Manod Llan. Sie lebt mit ihrem Vater (der durchgehend “Tad” genannt wird), einem Küstenfischer und ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester Llinos in einer der wenigen bewohnbaren Steinhütten der Insel, die Mutter ist vor Jahren verstorben. Insgesamt setzt sich die spärliche Insel-Bevölkerung aus 15 Männern, 20 Frauen und 12 Kindern zusammen. Sie leben vor allem von der Fischerei. Das Leben geht seinen gewohnten Gang, bis im Herbst 1938 ein Wal strandet und die abergläubischen Bewohner:innen der Insel in Aufruhr versetzt. Auch für Manod, die von einem Leben auf dem Festland träumt, aber ihrer Schwester zuliebe noch auf der Insel bleibt, verändert sich etwas in dieser Zeit: Die englischen Forschenden Edward und Joan kommen für einige Monate auf die Insel, um für ein Buch ethnologische Studien zu betreiben. Manod soll ihnen als Assistentin und Übersetzerin aus dem Walisischen dienen. Doch die beiden Fremden werden bald mehr als nur Arbeitgebende für Manod. Wird sie mit ihnen zusammen ihre Heimat für immer verlassen?

Dieser Roman ist Eskapismus pur! Ein anspruchsvoller Urlaub im Kopf, der uns in eine geografische und historische Abgeschiedenheit versetzt, die ihresgleichen sucht. Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, der derart stark Szenerien und das gesamte Setting in meinem Kopf hat lebendig werden lassen, wie dieser hier. Also nicht in dieser Intensität. Nach und nach lernen wir die Topographie der Insel kennen. Ihre Mythen und Geheimnisse, ihre Gerüche und Geschmäcker, die maritime Flora und Fauna. Was auch absolut passend und für mich sehr angenehm war, war der “collageartig-episodenhafte” Erzählstil. Die anekdotenhaft geschilderten Erinnerungen von Manod werden immer wieder von den Aufzeichnungen von Joan und Edward unterbrochen. Außerdem von den Berichten der Insulaner zu verschiedenen Begebenheiten, Erinnerungen, Märchen und Sagen sowie sonstigen die Insel betreffenden Themen. Diese sind im Berichtsstil (mit Datum und erzählender Person) zwischengeschoben und unterfüttern bzw. unterbrechen quasi die von Manod erzählte Handlung.

Wer gerne in literarischer Symbolik schwelgt, ist hier ebenfalls nicht fehl am Platz. Llinos verkörpert die Natur, sie ist eins mit ihr. Sie spricht nur Insel-Walisisch, weigert sich zunächst sogar, Englisch zu lernen. “Llinos liebte die Insel anders als ich.” Während die jüngere Schwester also für die Ursprünglichkeit steht, vertritt Manod die Fortschrittlichkeit und Modernität, also letztlich die Zugewandtheit zur Welt außerhalb der Insel. Sie möchte auch kein traditionelles Dasein als Fischerehefrau führen, weswegen sie die Verkupplungsversuche ihres Vaters mit den wenigen heiratsfähigen Männern der Insel ablehnt. Edward und Joan bringen die Kultiviertheit des Festlandes, aber auch seine Probleme (Faschismus, drohender Krieg) sowie Wissenschaft und Technik mit auf die Insel. Und dann ist da natürlich noch der riesige Wal, der nach der Strandung sehr schnell kein lebendiges Wesen mehr ist. Im Laufe der Handlung wird immer wieder über den Zustand des Walkadavers berichtet, der nach und nach verwest und immer mehr eins mit der ihn umgebenden Natur wird. Sein Verfall zeigt möglicherweise auch, dass das Einssein der Insulaner mit der Natur ihrem Ende entgegen geht und sie bald evakuiert werden müssen.

In diesem Roman geht Nature Writing eine perfekte Symbiose mit einer berührenden Coming-of-Age Geschichte ein, in der es um falsche Erwartungen und schmerzhafte Zurückweisung geht. Und am Ende steht doch die Hoffnung, die uns leben und weitermachen lässt.
Ich habe schon einige andere Eindrücke gelesen, die mangelnden Tiefgang oder eine unspannende Handlung kritisieren. Beides kann ich persönlich nicht bestätigen, für meinen Geschmack ist dieser Roman einzigartig und perfekt. Ein wunderbares maritimes Buch, das ich euch allen von Herzen empfehlen kann.

Bewertung vom 15.05.2024
Das Gegenteil von Erfolg
Thomas, Eleanor Elliott

Das Gegenteil von Erfolg


weniger gut

In “Das Gegenteil von Erfolg”, dem Debütroman der australischen Autorin Eleanor Elliott Thomas (übersetzt von Claudia Voit) geht es um eine Frau, 39, namens Lorrie. Sie lebt mit ihrem Mann Paul in einer Vorstadt von Melbourne und arbeitet seit vielen Jahren bei der Stadtverwaltung. Sie hat zwei Mädchen (2 und 6 Jahre) und eigentlich könnte ihr Leben glücklich sein. Aber das ist es nicht, denn sie versucht als Working Mom zwischen Job und Familie hin- und her zu jonglieren, wie so viele Frauen um die vierzig das müssen. Bei der Stadtverwaltung leitet sie ein Projekt namens “Green Cities”, wo es um Stadtbegrünung geht und dabei arbeitet sie mit dem zwielichtigen Geschäftsmann Sebastian Gulp zusammen, der das Projekt finanzieren soll. Das wiederum stößt ihrer besten Freundin, der Dokumentarfilmerin und Künstlerin Alex, sauer auf, die Kontakte zu einer radikalen Umweltgruppe hat, die es genau auf diesen Sebastian Gulp abgesehen hat. Und dann kommt es auch noch zu Liebesverwirrungen rund um Ruben, den Anwalt von Gulp und Lorries Ex-Freund und um dessen Frau Zoe…

Die eigentliche Handlung dieses Romans passiert an nur einem einzigen Tag. Allerdings geschieht das hier nicht auf die experimentell-kunstvolle “Ulysses”-Art und Weise. Die sehr karge und unspektakuläre, nach hinten raus auch sehr an den Haaren herbeigezogene, Handlung wird durch erzählte Erinnerungen der beiden Protagonistinnen Lorrie und Alex unterfüttert. Es wird also viel mehr erzählt als gezeigt, was ja eher ein Indikator für Trivialliteratur ist. Mich persönlich hat auch gestört, dass überhaupt nicht auf die Jahreszeit eingegangen wird, in der sich das Ganze abspielt. Aber das ist nur ein persönlicher Spleen von mir. Ich brauche einfach eine jahreszeitliche Einordnung des Geschehens, für andere mag das irrelevant sein.

Die Protagonistin Lorrie hat mich oft an eine australische “Mama-Version” von Bridget Jones denken lassen: Sie kämpft mit ihrem Gewicht, den Ungerechtigkeiten der Lohnarbeit, den Meinungen ihrer Mutter und ganz allgemein den gesellschaftlichen Erwartungen, hat aber anders als die “Ursprungs-Bridget” bereits die perfekte Familie, wie sie es nicht müde wird zu betonen. Ihr Erzählstrang ist bemüht witzig, manchmal habe ich zwar leicht geschmunzelt, oft war mir die versuchte Komik aber einfach unangenehm und eher was zum Fremdschämen (und ich mag Humor eigentlich, wenn er gut ist). Denn es geht ins Slapstickhafte, zum Beispiel wenn sie die ganze Zeit ihren “perfekten” Kollegen Harry wegen seiner “Minihände” bodyshamed - und das obwohl sie selbst von ihrer eigenen Mutter gebodyshamed wird und das gar nicht lustig findet. Außerdem hat mich ihre ganze Charakterisierung gestört: Als Kind hochbegabt (come on…), aber betont ständig, dass sie eine Versagerin ist, weil sie u.a. als Teenie nach kurzer Zeit aus ein paar Jobs geflogen ist, weil sie zu gutmütig und naiv war. Und eben (Spoiler) die Stelle als Teamleiterin bei der Stadtverwaltung nicht bekommt. Andererseits genießt sie es, Mutter zu sein und sagt, dass das ihrem Leben einen kompletten Sinn gäbe. Für mich haben sich ihre Positionen oft widersprochen, so als hätte die Autorin nicht aufgepasst was Lorrie in einem früheren Kapitel von sich gegeben hat.

Alex hingegen ist eher die bisexuelle Melbourne-Version von Carrie Bradshaw aus “Sex & the City” - ein künstlerischer Freigeist, der noch nach der richtigen Beziehung, Berufung und eigenen Identität sucht. Ihre Storyline hat mir etwas besser gefallen, weil sie weniger stark überzeichnet war und ihre Persönlichkeit nicht so widersprüchlich rüberkam wie Lorries.

Ich habe das Gefühl, in diesem Roman wurden Themenkomplexe wie Queerness und Klimawandel als Aufhänger benutzt, um im Grunde die Geschichte einer frustrierten “Normalo-Frau” (nichts gegen “Normalo-Frauen”) zu erzählen. Ich möchte jetzt nicht direkt Greenwashing und Queerbaiting unterstellen, aber das Ganze hat so ein “Gschmäckle”, wie man im Schwäbischen sagt. Leider kann ich euch den Roman nicht empfehlen. Selbst als leichte Chicklit, die ich früher durchaus öfter gelesen habe, hat es für mich nicht funktioniert, da im Ganzen zu bemüht und gewollt und literarisch eben einfach nicht gut.

Ein Wort muss ich leider noch über die Goldfolierung des Buchcovers verlieren. Leider hat sich diese bei mir sowohl vorne, als auch hinten, als auch am Buchrücken abgelöst. Deshalb die Warnung, das Lesen dieses Buches kann zu “goldenen Händen” führen, muss aber nicht (ich habe jetzt sowohl von mehreren Leser:innen gehört, bei denen es auch so war, als auch bei solchen, bei denen es nicht so war). Ein sehr freundlicher und positiver Austausch mit dem Dumont-Verlag zu diesem Thema fand ebenfalls statt. Herzlichen Dank dafür.

Bewertung vom 07.05.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

"Hoch über ihren Köpfen gleitet geräuschlos eine weiße Eule über den schwarzen Himmel. Ein Schatten. Ein Geist. Ein Vorbote des Todes. Niemand bemerkt sie.” (S. 158) - Gänsehaut!

Es wird schwierig, diesen außergewöhnlichen Roman “Trophäe” von Gaea Schoeters (aus dem Niederländischen von Lisa Mensing) zu besprechen. Nicht nur hat die halbe Buchwelt ihn bereits gelesen und gefeiert, sondern ich war auch bei einer Lesung der Autorin und habe ihre Worte dazu noch sehr genau im Ohr. Sich ganz davon zu lösen scheint mir nahezu unmöglich - und vielleicht auch nicht nötig - aber ich möchte gern hauptsächlich eigene Worte finden, um dieses ganz besondere Buch zu rezensieren.

Hunter White, der Name ist Programm und Parabel zugleich, ist gefährlich. Er ist gefährlich, weil er sich seinen eigenen moralischen Kodex zusammengestellt hat. Eine Sicht der Dinge, die mit einer humanen Ethikvorstellung nicht mehr viel zu tun hat: “ Wenn Ranger Wilderer erschießen, ist das [...] erlaubte Notwehr; wenn Wilderer auf Ranger schießen, ist das Mord.” (S. 57). Er glaubt, nur er habe die Lizenz zum Töten, zumindest zum Töten des von ihm mit einem 6-stelligen Betrag “bezahlten” Nashorns. Der Jäger aus der westlichen Welt, der eigentlich Börsenspekulant und Immobilienmagnat ist, kommt nach Afrika und erkauft sich beim zwielichtigen Ranger Van Heeren schlicht und einfach das Recht, eines der in Afrika heimischen Tiere, ein Spitzmaulnashorn, zu jagen. Er will seine “Big Five” vollmachen. Doch der Schuss geht im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Um seine Frustration zu bekämpfen, sucht er sich ein neues Ziel aus und zwar eines, das noch viel fragwürdiger erscheint: einen indigenen Jäger…

Obwohl ich seit Kindheit Vegetarierin bin und mit Jagd nichts am Hut habe, bin ich schlicht und einfach fasziniert von diesem Buch, in dem es eigentlich nur ums Töten geht. Obwohl ich an manchen Stellen den Würgereiz kaum unterdrücken konnte, konnte ich das Buch dennoch kaum aus der Hand legen. Paradox, aber genau das leistet gute Literatur, nämlich dass man plötzlich eine völlig andere Position einnehmen kann als die eigene. Wie die Autorin es geschafft hat, den afrikanischen Busch und die dortigen Vorgänge von ihrem belgischen Schreibtisch aus zum Leben zu erwecken, ist aller Ehren wert. Sie hat, so sagt sie und so wird es in “Trophäe” mehr als deutlich, sehr viel und gründlich recherchiert: Wann jagen Skorpione (nicht bei Vollmond), können Laufkäfer rückwärts laufen (nein), welche Savannengeräusche sind zu welcher Tages- und Nachzeit hörbar, wie greifen die bestimmten Tierarten an und wie gefährlich sind sie. Die Liste ist beliebig erweiterbar.

Die Welt der indigenen Jäger zu “erlesen” war eine ganz besondere Erfahrung, die wohl wenig Außenstehende in der Realität wirklich zu sehen bekommen. Sie tanzen im Buch andere Tänze als für die zahlenden weißen Touris. Die metaphysische Komponente des Romans hat mich gleichermaßen irritiert und fasziniert, wenn auch aus einer sehr nüchternen Beobachter-Perspektive heraus. Tanz, Trance und Träume: “Niemand ist noch jemand, niemand ist noch er selbst, jeder ist jeder und alle sind eins.” (S. 158) Auch Hunter wird von Erinnerungen heimgesucht, vor allem an seinen Vater und Großvater, die selbst Jäger waren. Ihre Erfahrungen und Jagd-Geschichten vermischen sich mit der afrikanischen Realität und Umwelt vor seinen Augen: Tagträume, Halluzinationen.

Hunter ist, so sagte die Autorin, eher eine Parabel als ein realitätsnaher Protagonist. Deswegen auch der plakative Name Hunter White. Er steht für etwas, für den “White Gaze”, also die weiße Sicht auf Afrika, natürlich extrem zugespitzt. Auch seine Frau, die als Charakter nur ganz am Ende kurz auftaucht, aber in Hunters Gedankenwelt eine größere Rolle spielt, kommt mir sehr überzeichnet vor. Ihre Schrumpfkopfsammlung und Vorliebe für Mumien ist schon sehr bizarr und ich kann mir keinen weiblichen (vernünftigen) Menschen vorstellen, der wirklich so einer morbiden Leidenschaft nachgeht.

Als mir die Autorin nach der Lesung das signierte Buch überreichte, sagte sie mit einem Augenzwinkern: “Ich würde ja sagen ‘viel Spaß’, aber…”. Nein, Spaß im herkömmlichen Sinne hat man beim Lesen dieses Buches sicher nicht. Schoeters spielt mit unseren Moralvorstellungen und bringt uns an die Grenzen des Erträglichen. All das in einer glasklaren Erzählweise, in der kein Wort überflüssig ist. Ein faszinierender Roman, den sicher keiner, der ihn liest, je vergessen wird.