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Zauberberggast
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München

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Insgesamt 168 Bewertungen
Bewertung vom 15.05.2024
Das Gegenteil von Erfolg
Thomas, Eleanor Elliott

Das Gegenteil von Erfolg


weniger gut

In “Das Gegenteil von Erfolg”, dem Debütroman der australischen Autorin Eleanor Elliott Thomas (übersetzt von Claudia Voit) geht es um eine Frau, 39, namens Lorrie. Sie lebt mit ihrem Mann Paul in einer Vorstadt von Melbourne und arbeitet seit vielen Jahren bei der Stadtverwaltung. Sie hat zwei Mädchen (2 und 6 Jahre) und eigentlich könnte ihr Leben glücklich sein. Aber das ist es nicht, denn sie versucht als Working Mom zwischen Job und Familie hin- und her zu jonglieren, wie so viele Frauen um die vierzig das müssen. Bei der Stadtverwaltung leitet sie ein Projekt namens “Green Cities”, wo es um Stadtbegrünung geht und dabei arbeitet sie mit dem zwielichtigen Geschäftsmann Sebastian Gulp zusammen, der das Projekt finanzieren soll. Das wiederum stößt ihrer besten Freundin, der Dokumentarfilmerin und Künstlerin Alex, sauer auf, die Kontakte zu einer radikalen Umweltgruppe hat, die es genau auf diesen Sebastian Gulp abgesehen hat. Und dann kommt es auch noch zu Liebesverwirrungen rund um Ruben, den Anwalt von Gulp und Lorries Ex-Freund und um dessen Frau Zoe…

Die eigentliche Handlung dieses Romans passiert an nur einem einzigen Tag. Allerdings geschieht das hier nicht auf die experimentell-kunstvolle “Ulysses”-Art und Weise. Die sehr karge und unspektakuläre, nach hinten raus auch sehr an den Haaren herbeigezogene, Handlung wird durch erzählte Erinnerungen der beiden Protagonistinnen Lorrie und Alex unterfüttert. Es wird also viel mehr erzählt als gezeigt, was ja eher ein Indikator für Trivialliteratur ist. Mich persönlich hat auch gestört, dass überhaupt nicht auf die Jahreszeit eingegangen wird, in der sich das Ganze abspielt. Aber das ist nur ein persönlicher Spleen von mir. Ich brauche einfach eine jahreszeitliche Einordnung des Geschehens, für andere mag das irrelevant sein.

Die Protagonistin Lorrie hat mich oft an eine australische “Mama-Version” von Bridget Jones denken lassen: Sie kämpft mit ihrem Gewicht, den Ungerechtigkeiten der Lohnarbeit, den Meinungen ihrer Mutter und ganz allgemein den gesellschaftlichen Erwartungen, hat aber anders als die “Ursprungs-Bridget” bereits die perfekte Familie, wie sie es nicht müde wird zu betonen. Ihr Erzählstrang ist bemüht witzig, manchmal habe ich zwar leicht geschmunzelt, oft war mir die versuchte Komik aber einfach unangenehm und eher was zum Fremdschämen (und ich mag Humor eigentlich, wenn er gut ist). Denn es geht ins Slapstickhafte, zum Beispiel wenn sie die ganze Zeit ihren “perfekten” Kollegen Harry wegen seiner “Minihände” bodyshamed - und das obwohl sie selbst von ihrer eigenen Mutter gebodyshamed wird und das gar nicht lustig findet. Außerdem hat mich ihre ganze Charakterisierung gestört: Als Kind hochbegabt (come on…), aber betont ständig, dass sie eine Versagerin ist, weil sie u.a. als Teenie nach kurzer Zeit aus ein paar Jobs geflogen ist, weil sie zu gutmütig und naiv war. Und eben (Spoiler) die Stelle als Teamleiterin bei der Stadtverwaltung nicht bekommt. Andererseits genießt sie es, Mutter zu sein und sagt, dass das ihrem Leben einen kompletten Sinn gäbe. Für mich haben sich ihre Positionen oft widersprochen, so als hätte die Autorin nicht aufgepasst was Lorrie in einem früheren Kapitel von sich gegeben hat.

Alex hingegen ist eher die bisexuelle Melbourne-Version von Carrie Bradshaw aus “Sex & the City” - ein künstlerischer Freigeist, der noch nach der richtigen Beziehung, Berufung und eigenen Identität sucht. Ihre Storyline hat mir etwas besser gefallen, weil sie weniger stark überzeichnet war und ihre Persönlichkeit nicht so widersprüchlich rüberkam wie Lorries.

Ich habe das Gefühl, in diesem Roman wurden Themenkomplexe wie Queerness und Klimawandel als Aufhänger benutzt, um im Grunde die Geschichte einer frustrierten “Normalo-Frau” (nichts gegen “Normalo-Frauen”) zu erzählen. Ich möchte jetzt nicht direkt Greenwashing und Queerbaiting unterstellen, aber das Ganze hat so ein “Gschmäckle”, wie man im Schwäbischen sagt. Leider kann ich euch den Roman nicht empfehlen. Selbst als leichte Chicklit, die ich früher durchaus öfter gelesen habe, hat es für mich nicht funktioniert, da im Ganzen zu bemüht und gewollt und literarisch eben einfach nicht gut.

Ein Wort muss ich leider noch über die Goldfolierung des Buchcovers verlieren. Leider hat sich diese bei mir sowohl vorne, als auch hinten, als auch am Buchrücken abgelöst. Deshalb die Warnung, das Lesen dieses Buches kann zu “goldenen Händen” führen, muss aber nicht (ich habe jetzt sowohl von mehreren Leser:innen gehört, bei denen es auch so war, als auch bei solchen, bei denen es nicht so war). Ein sehr freundlicher und positiver Austausch mit dem Dumont-Verlag zu diesem Thema fand ebenfalls statt. Herzlichen Dank dafür.

Bewertung vom 07.05.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

"Hoch über ihren Köpfen gleitet geräuschlos eine weiße Eule über den schwarzen Himmel. Ein Schatten. Ein Geist. Ein Vorbote des Todes. Niemand bemerkt sie.” (S. 158) - Gänsehaut!

Es wird schwierig, diesen außergewöhnlichen Roman “Trophäe” von Gaea Schoeters (aus dem Niederländischen von Lisa Mensing) zu besprechen. Nicht nur hat die halbe Buchwelt ihn bereits gelesen und gefeiert, sondern ich war auch bei einer Lesung der Autorin und habe ihre Worte dazu noch sehr genau im Ohr. Sich ganz davon zu lösen scheint mir nahezu unmöglich - und vielleicht auch nicht nötig - aber ich möchte gern hauptsächlich eigene Worte finden, um dieses ganz besondere Buch zu rezensieren.

Hunter White, der Name ist Programm und Parabel zugleich, ist gefährlich. Er ist gefährlich, weil er sich seinen eigenen moralischen Kodex zusammengestellt hat. Eine Sicht der Dinge, die mit einer humanen Ethikvorstellung nicht mehr viel zu tun hat: “ Wenn Ranger Wilderer erschießen, ist das [...] erlaubte Notwehr; wenn Wilderer auf Ranger schießen, ist das Mord.” (S. 57). Er glaubt, nur er habe die Lizenz zum Töten, zumindest zum Töten des von ihm mit einem 6-stelligen Betrag “bezahlten” Nashorns. Der Jäger aus der westlichen Welt, der eigentlich Börsenspekulant und Immobilienmagnat ist, kommt nach Afrika und erkauft sich beim zwielichtigen Ranger Van Heeren schlicht und einfach das Recht, eines der in Afrika heimischen Tiere, ein Spitzmaulnashorn, zu jagen. Er will seine “Big Five” vollmachen. Doch der Schuss geht im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Um seine Frustration zu bekämpfen, sucht er sich ein neues Ziel aus und zwar eines, das noch viel fragwürdiger erscheint: einen indigenen Jäger…

Obwohl ich seit Kindheit Vegetarierin bin und mit Jagd nichts am Hut habe, bin ich schlicht und einfach fasziniert von diesem Buch, in dem es eigentlich nur ums Töten geht. Obwohl ich an manchen Stellen den Würgereiz kaum unterdrücken konnte, konnte ich das Buch dennoch kaum aus der Hand legen. Paradox, aber genau das leistet gute Literatur, nämlich dass man plötzlich eine völlig andere Position einnehmen kann als die eigene. Wie die Autorin es geschafft hat, den afrikanischen Busch und die dortigen Vorgänge von ihrem belgischen Schreibtisch aus zum Leben zu erwecken, ist aller Ehren wert. Sie hat, so sagt sie und so wird es in “Trophäe” mehr als deutlich, sehr viel und gründlich recherchiert: Wann jagen Skorpione (nicht bei Vollmond), können Laufkäfer rückwärts laufen (nein), welche Savannengeräusche sind zu welcher Tages- und Nachzeit hörbar, wie greifen die bestimmten Tierarten an und wie gefährlich sind sie. Die Liste ist beliebig erweiterbar.

Die Welt der indigenen Jäger zu “erlesen” war eine ganz besondere Erfahrung, die wohl wenig Außenstehende in der Realität wirklich zu sehen bekommen. Sie tanzen im Buch andere Tänze als für die zahlenden weißen Touris. Die metaphysische Komponente des Romans hat mich gleichermaßen irritiert und fasziniert, wenn auch aus einer sehr nüchternen Beobachter-Perspektive heraus. Tanz, Trance und Träume: “Niemand ist noch jemand, niemand ist noch er selbst, jeder ist jeder und alle sind eins.” (S. 158) Auch Hunter wird von Erinnerungen heimgesucht, vor allem an seinen Vater und Großvater, die selbst Jäger waren. Ihre Erfahrungen und Jagd-Geschichten vermischen sich mit der afrikanischen Realität und Umwelt vor seinen Augen: Tagträume, Halluzinationen.

Hunter ist, so sagte die Autorin, eher eine Parabel als ein realitätsnaher Protagonist. Deswegen auch der plakative Name Hunter White. Er steht für etwas, für den “White Gaze”, also die weiße Sicht auf Afrika, natürlich extrem zugespitzt. Auch seine Frau, die als Charakter nur ganz am Ende kurz auftaucht, aber in Hunters Gedankenwelt eine größere Rolle spielt, kommt mir sehr überzeichnet vor. Ihre Schrumpfkopfsammlung und Vorliebe für Mumien ist schon sehr bizarr und ich kann mir keinen weiblichen (vernünftigen) Menschen vorstellen, der wirklich so einer morbiden Leidenschaft nachgeht.

Als mir die Autorin nach der Lesung das signierte Buch überreichte, sagte sie mit einem Augenzwinkern: “Ich würde ja sagen ‘viel Spaß’, aber…”. Nein, Spaß im herkömmlichen Sinne hat man beim Lesen dieses Buches sicher nicht. Schoeters spielt mit unseren Moralvorstellungen und bringt uns an die Grenzen des Erträglichen. All das in einer glasklaren Erzählweise, in der kein Wort überflüssig ist. Ein faszinierender Roman, den sicher keiner, der ihn liest, je vergessen wird.

Bewertung vom 28.04.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


sehr gut

Es gibt zwei Gründe warum ich “Treibgut” von Adrienne Brodeur (aus dem Englischen von Karen Witthuhn, erschienen bei Kindler) gelesen habe: Zum einen wurde in der Leseprobe einer der Protagonisten des Romans vorgestellt und zwar am genauen Geburtstag meiner 8-jährigen Tochter (Tag/Monat/Jahr). Zum anderen spielt der Roman in Cape Cod und an diesem einzigartigen Fleckchen Erde durfte ich vor ca. 10 Jahren einen wundervollen Urlaub verbringen.

Was Adrienne Brodeur wirklich meisterhaft macht in diesem Roman, ist, die Stimmung eines Jahres, das Lebensgefühl der USA und teilweise der ganzen Welt im Jahr 2016 festzuhalten. Ein Jahr, in dem die Menschheit zwischen Aufbruchsstimmung und Zukunftsangst hin- und her changierte. Ein Jahr, in dem viele die Hoffnung hatten, dass eine Frau zum ersten Mal an der Spitze der freien Welt stehen und viele männlich gemachte Konflikte auslöschen würde. Es ist leider nicht dazu gekommen.

Der Makrokosmos wird im Mikrokosmos widergespiegelt: Die unruhige Situation in der Familie Gardner ist ein Sinnbild für die Lage der Nation und der Welt. Der Patriarch und Meeresbiologe mit Spezialgebiet Wale, Adam Gardner, Ph.D. aus Cape Cod, steht kurz vor der Verrentung und seinem 70. Geburtstag am 18. August - die Feier ist das Ereignis, auf das die ganze Handlung zusteuert. Adam kämpft mit Depressionen und lässt sein ganzes Leben Revue passieren. Ein Leben, in dem er bahnbrechende Erfolge auf dem Gebiet der Meeresbiologie einstreichen konnte, aber privat auch mehrere Rückschläge. Der schlimmste Schicksalsschlag war der Verlust seiner Frau mit 30 Jahren, nur wenige Stunden nach der Geburt seiner Tochter Abby. Er musste sie und deren dreieinhalb Jahre älteren Bruder Ken allein großziehen, zwei weitere Ehen sind gescheitert.
Adam hadert mit seiner eigenen Vergänglichkeit: “Das war das ultimative Paradox des Menschseins: die Sehnsucht nach Vitalität in einer Welt, die der Verwesung unterlag.” (S. 395)
Die nächste Generation der Familie hingegen befindet sich in einer Art angespannten Aufbruchsstimmung: Die erfolgreiche Künstlerin Abby Gardner ist mit 38 Jahren zum ersten Mal schwanger - von ihrem verheirateten Jugendfreund David, einem Wahlkampfhelfer von Hillary Clinton. Ken wiederum befindet sich in einer Ehekrise mit Jenny, der besten Freundin von Abby, mit der er zwei zwölfjährige Zwillingstöchter hat. Der finanziell erfolgreiche Immobilienunternehmer, der für die Republikaner in den Kongress einziehen möchte, kämpft vor allem gegen seine eigene Psyche und die Traumata der Vergangenheit…Und dann wäre da noch Steph, ebenfalls 38 und gerade von ihrem Sohn Jonah entbunden. Die in einer glücklichen Beziehung mit ihrer Partnerin Toni lebende Polizistin erfährt, dass sie Adam Gardners uneheliche Tochter ist und möchte jetzt ihre eigenen Wurzeln kennenlernen. Doch wie viel Aufregung verträgt das fragile familiäre Konstrukt der Gardners? Kommt es zur Jubiläums-Eskalation?

Da es sich bei “Treibgut” um einen klassischen Familienroman handelt, in dem die Innensicht der verschiedenen Familienmitglieder erzählt wird, hat sich Brodeur für die multiperspektivische Erzählweise entschieden. Die Kapitel sind jeweils abwechselnd aus der Sicht von Adam, Abby, Ken, Jenny und Steph erzählt. Die Handlung beginnt im April 2016 und endet im Oktober.

Natürlich könnte man bei diesem Roman kritisch einwenden, dass die Figurenzeichnung leicht ins Klischeehafte abdriftet: Der Patriarch ist der “verträumte” Wissenschaftler bzw. Meeresbiologe. Meeresbiologe ist für mich so ein klassischer “Roman-Beruf”, ich glaube wenn es in Wirklichkeit viele Meeresbiologen gäbe wie in der Literatur, dann wäre dieser Berufszweig ziemlich “überschwemmt”, oder? Und dann die jüngere Generation: Die lesbische Polizistin aus der irisch-katholischen Arbeiterfamilie, die feministische Künstler-Tochter vs. der republikanische Immobilienmogul-Bruder, der mit der anderen (ehemaligen) Künstlerin/Feministin verheiratet ist, die jetzt im goldenen Käfig als Hausfrau und Politikergattin lebt. Schon leicht schematisch für meine Begriffe, aber gut, vielleicht wurde hier bereits an eine Verfilmung gedacht und dafür passen all diese Charaktere perfekt.

Da die Garners in Cape Cod direkt an der Küste leben, Abby für ihre Kunst Treibgut sammelt und Adam eben Meeresbiologe ist, ist die ganze Stimmung dieses Romans sehr maritim. Biodiversität, Nachhaltigkeit, Umwelt-, Tier- und Klimaschutz sind Themen, die immer wieder zwischen den auf die familiäre Situation bezogenen Plot-Elementen hervorleuchten, ohne dass es aufdringlich erscheint. Wer also Romane mit ökologischem Bewusstsein mag, die am Meer spielen und in denen es allerlei maritime Metaphorik gibt, ist hier genau richtig.

Dieser Familienroman ist mit Sicherheit kein literarisches ”must read”-Meisterwerk, aber er ist auch keinesfalls seicht oder gar schlecht. Sicher versetzt er einen total zurück ins Jahr 2016 und das ist für meine Begriffe schon mal eine sehr lobenswerte Leistung.

Bewertung vom 10.04.2024
Die Schattenmacherin
Gollackner, Lilly

Die Schattenmacherin


ausgezeichnet

Feministische Dystopie


Obwohl ich keine Biologin bin, habe ich einmal aufgeschnappt, dass Männer Mangelwesen seien und dass das ihnen eigene Y-Chromosom quasi nur ein kaputtes X sei. Die weitaus geringere Lebenserwartung von Männern und die höhere Sterblichkeit männlicher Säuglinge unterstreichen diese These. Dass es einmal keine Männer mehr geben könnte, weil sie quasi einer biologischen Auslese zum Opfer gefallen sind, ist dennoch eine seltsam groteske Überlegung - aber ist sie wirklich so weit hergeholt? Genau ein solches Szenario - eine Welt, die nur noch aus weiblichen Wesen besteht - entwirft Lilly Gollackner in ihrem Roman “Die Schattenmacherin”, erschienen im März 2024.

Die Welt im Jahr 2068 ist eine andere, wie wir sie heute kennen. Männer gibt es schon lange nicht mehr, im Jahr 2034 wurden alle “androtoken Homo Sapiens” von einer mysteriösen Seuche hinweggerafft. Eine Welt, die durch Klimawandel, Verdichtungskriege und Umweltzerstörung ziemlich klein und fast unbewohnbar geworden ist, in der Pflanzen ein Vermögen kosten und man sich ohne “Protektionscreme” und Schutzmaßnahmen keinesfalls der unbarmherzig brennenden Sonne aussetzen darf - ein Horrorszenario. Eine Welt, in der nur noch 283 469 Menschen leben…

Im Mittelpunkt der Handlung steht zum einen Ruth, seit 2036 “die Präsidentin” der noch bewohnbaren Welt, die mit ihren 70 Jahren von einer Jüngeren, Ania, abgelöst werden soll. Die Präsidentin hat in dieser potenziellen Zukunftswelt die Entscheidungsgewalt über “die fünf Bereiche, auf denen unsere Gemeinschaft fußt: Versorgung, Technologie, Wasser, Fortpflanzung und Sicherheit” (S. 66). Ruth hat Probleme mit ihrer Absetzung, mit ihrem “zukunftslosen” Dasein: “Was sie nicht akzeptieren kann, ist der emotionale Kontrollverlust. Dieses Fallen, Stürzen in die Erinnerung, ausgelöst durch Blicke und Gerüche. Als würde sich das Hier und Jetzt zersetzen in den Nebelgranaten des gelebten Lebens.” (S. 42)

Mir hat diese Klima-Dystopie literarisch sehr gefallen und mich thematisch gleichzeitig schockiert. Sie holt uns aus unserer gedanklichen Komfortzone und führt uns mit erschreckend nüchterner Präzision die möglichen Folgen eines menschengemachten Klimawandels vor Augen. Natürlich können nicht mal Zukunftsforscher:innen voraussagen, wie genau die Zukunft tatsächlich wird, aber Gollackner zeichnet in ihrem Roman eine mögliche Version derselben: Die freie Natur ist aufgrund der unbarmherzigen Sonneneinstrahlung ohne Schutzmaßnahmen unbetretbar geworden, die verbliebenen (weiblichen) Menschen leben unter gläsernen Kuppeln, Wälder sind absolute Schutzzonen, Wasser ein seltenes Gut. Ruth erinnert sich wie sie vor 40 Jahren (also etwa in unserer Gegenwart) Pola kennenlernte und diese damals schon vor der Wasserknappheit gewarnt hatte: “Versiegelung, trockene Böden, ausbleibende Regenphasen. Leergepumpte Grundwasserreservoirs.” (S. 48) Außerdem wird der Menschheit in dieser Phase klar, dass das “Patriarchat als Mittäter an der Vernichtung der Lebensgrundlagen” (S. 48) anzusehen ist: “Eine Frau zu sein, war das schon ein politischer Akt?” (S. 48)

“Die Schattenmacherin” ist ein feministisches Manifest, das für Vielfalt - auch menschliche - plädiert. Außerdem werden moralisch-ethische Fragen und der menschliche Umgang mit schweren Verlusten anhand der Protagonistin Ruth thematisiert. Das Buch macht außerdem mehr als deutlich, dass wir unsere Zukunft letztlich selbst in der Hand haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass es eine solche Horror-Zukunft wie in “Die Schattenmacherin” sein wird und deswegen sollten wir sofort alles dafür tun, unseren Planeten zu retten. Wenn das nur so einfach getan wäre wie gesagt und nicht die größte Kollektivaufgabe, vor der die Menschheit vermutlich jemals gestanden ist…

Ich muss die Lektüre dieses Romans wohl etwas länger sacken lassen. Wenn einem eine solch erschreckende Zukunftsvision in so klaren und eindrücklichen Bilder vorgezeichnet wird, dann macht das etwas mit einem. Auch bin ich mir sicher, dass der Terminus “Androtoke” niemals mehr aus meinem passiven Wortschatz verschwinden wird. Schwere Themen auf relativ wenig Seiten sehr gekonnt umgesetzt - ich bin begeistert, bedrückt und bezaubert von diesem Buch. Letzteres vor allem von seinem Ende, das Hoffnung macht, Hoffnung auf eine bessere Zukunft!

Bewertung vom 23.03.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


ausgezeichnet

Schein und Sein im Wattenmeer

Untergegangene Inseln tragen immer gerne zur Mythenbildung einer Kultur bei. In der Nordsee ist es die Insel Strand mit dem legendären untergegangenen Ort Rungholt, der die Menschen an der Künste und darüber hinaus noch bis heute fasziniert. Obwohl es die Insel Strand heute nicht mehr als Ganzes gibt (die Reste der Insel sind heute die Inseln Nordstrand, Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor), bezeichnet Kristin Höller ihren Schauplatz in “Leute von Früher” schlichtweg als Insel “Strand”.
Auf Strand heuert die 29-jährige Marlene aus Hamburg als Saisonkraft in einem Museumsdorf an. Schnell wird das Leben zwischen Containerunterkunft und Kostümgrenze mit ihrem Arbeitsplatz im Kramladen bei Arno zur eingespielten Routine. Ihr Leben in Hamburg, die noch junge Beziehung zu Paul, ihre besten Freund:innen Luzia und Robert, die Eltern, die einen Prozess am Laufen haben - alles nur noch eine ferne Erinnerung. Dazu trägt auch die geheimnisvolle Janne bei, die in der Fischräucherei arbeitet. Die Frauen kommen sich näher, doch was ist auf der Insel im Wattermeer überhaupt echt und was nur Kulisse?

Dieser Roman ist Eskapismus pur. Ich möchte nach der Lektüre jetzt bitte auch gerne ganz dringend nach Strand, um kostümiert in diesem Dorf zu arbeiten. Ich will mit den Bewohner:innen der Insel das Johannisfest feiern, ich möchte eine Janne und ihren Räucherduft kennenlernen, ich will diesen älteren Kollegen beobachten, der immer die Sportschau auf dem Handy schaut. Natürlich möchte ich auch mit Arno und seinen Kindern einen Auflauf essen und mir von Barbara die Karten legen lassen. Aber wenn ich dann so darüber nachdenke: Vielleicht möchte ich es auch wieder nicht - und das hat nicht nur mit den Geistern der Insel zu tun, sondern auch mit dem steigenden Meeresspiegel…

Erzählweise und Sprachstil dieses auch optisch wunderschön gestalteten Buches sind unaufgeregt, bildhaft und gleichzeitig schnörkellos modern. Es wird in jedem Fall eine bestechend maritime und mystische Atmosphäre erzeugt, ohne dass es jemals “drüber” ist. Wer Freude an metaphorischen Umschreibungen für das lesbische Liebesspiel hat, wird hier auch einige finden, ich sage nur Austern und Orangenschale. Man sollte auch für magischen Realismus etwas übrig haben, denn ganz ohne ihn kommt dieses Buch nicht aus.

Was mir besonders gefallen hat, ist die Topographie der Insel. Hier wird eine sehr spannende erzählerische Welt erschaffen, die einem schon nach kurzer Zeit sehr vertraut vorkommt. Obwohl dem Buch keine “Landkarte” beigegeben ist, baut sich die Insel im Kopf der Leser:innen zu einem perfekten Mikrokosmos auf - vom reetgedeckten Edeka, über den “Friedhof der Namenlosen” bis hin zur Fischräucherei und Jannes Zuhause in der ehemaligen Vogelwarte. Auch die ganze Mystik und Legendenbildung, um die sich alles dreht, hat mich hier nicht abgeschreckt, sondern zur Spannung des Plots beigetragen. Die erzählerische Detailverliebtheit hat mir ebenfalls sehr gefallen, vor allem wenn es um die genaue Beschreibung der Nahrungsmittel, das Umetikettieren, die Fischereiprodukte, etc. ging. Das Thema Schein und Sein wurde jedenfalls für meine Begriffe perfekt umgesetzt.

Was soll ich noch sagen, außer: Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es allen empfehlen, die gute Geschichten zu schätzen wissen.

Bewertung vom 20.03.2024
Die Entflammten
Meier, Simone

Die Entflammten


sehr gut

Wenn man über ein Gericht sagt, es wäre “interessant” gewesen, dann ist das meistens kein Kompliment für die Köchin oder den Koch. Mir will allerdings vor allem das Adjektiv “interessant” in den Kopf kommen, wenn ich an den Roman “Die Entflammten” von Simone Meier denke, der momentan gefühlt in aller Hände und Köpfe ist. Formulieren wir es aber anders, denn dieses Buch ist keineswegs mit einem schlecht schmeckenden Essen zu vergleichen. Ich bin froh, dass mir diese Geschichte erzählt wurde, die ich so noch nicht kannte.

Es ist einerseits die Geschichte der historischen Johanna van Gogh-Bonger (1862-1925). Sie war die Witwe von Vincent van Goghs Bruder Theo van Gogh und machte die Werke ihres Schwagers durch geschicktes Kunstmanagement und Marketing posthum weltberühmt. Und genau über diese ihre zentrale Lebensleistung wurde mir leider zu wenig berichtet. Es wird so anerzählt, wie in etwa der Vertrieb der Kunstwerke und die Logistik des Verschickens war, dass die Bilder schlecht verpackt wurden und Beschädigungen erlitten, aber nur ganz kurz. Und dass sie ja die geniale Idee hatte, das Werk Vincents durch den Vertrieb von Postkarten niederschwellig zugänglich zu machen, das wird nur von einem ihrer späten Freunde lobend eingeworfen. Ich hätte sie gerne erlebt, wie ihr das alles eingefallen ist, aber letztendlich wird aus diesem Lebenswerk der Johanna van Gogh-Bonger, weswegen sie heute in die Kunstgeschichte eingeschrieben und unvergessen ist, nur eine kleine Episode gemacht. Und das ist schade.

Aber nun kommen alle Aspekte, die mir gefallen haben und die ich positiv hervorheben möchte: Das Buch hat zwei Erzählstränge, die zwar getrennt sind, aber sich an manchen Stellen berühren bzw. ineinanderfließen. Durch die beiden Erzählstränge ist der Roman sehr abwechslungsreich. Die Geschichte von Jo wird einmal aus ihrer Perspektive und einmal aus der Zukunftsperspektive von Gina beleuchtet. Gina ist die junge Autorin aus der Gegenwart, die Johanna van Gogh-Bongers Geschichte aufschreibt. Sehr metatextuell, denn wir lesen quasi Ginas Buch. Die junge Frau stolpert etwas orientierungslos durch ihr Kunstgeschichte-Studium, bis sie auf Johannas Geschichte aufmerksam wird. Gina sagt über Jo: “Eine junge Frau wie ein Stück Brot, unscheinbar und zugleich lebensnotwendig” (S. 100). Jo ist eine sehr pragmatische, geschäftstüchtig auftretende Protagonistin, heute würde man sagen eine “Macherin”. Wahrscheinlich ist es diese “no nonsense”-Einstellung, die ihr letztlich den Erfolg gebracht hat. Bemerkenswert war für mich: Jo machte als Frau bereits Ende des 19. Jahrhunderts einen Abschluss in englischer Literaturgeschichte. Die Abhängigkeit von einem Mann wollte sie nie und nach der nur sehr kurzen Ehe ist sie ihr auch entkommen. Johanna wurde zwar durch einen anderen Mann reich, aber das kam durch ihre eigene Initiative.

Es geht in diesem Roman nicht nur um den Vertrieb und die Vermarktung von Kunst, sondern auch darum, was Kunstrezeption mit uns machen kann, was Kunst in der Lage ist, in uns auszulösen. Gina erlebt folgendes, als sie vor Vincents blühendem Mandelzweig steht: “Ich stand davor, ich wollte meine Hand ausstrecken, wollte sie in den Blüten kühlen [...] das Bild wühlte mich ungewöhnlich auf, die Endzeit der Schönheit, dachte ich, und brach mitten in einem nüchternen Museumssaal in Tränen aus.” (S. 157)

Gina sagt, ihr Schreiben sei “impressionistisch”, das ihres Vaters, der bislang aber nur ein Buch veröffentlichen konnte, wäre es auch und letztlich kann man auch Simone Meiers Art und Weise einen Text zu formulieren als “impressionistisch” bezeichnen. Ihre Wortwahl ist bildhaft, ihre Szenen und Zeitebenen fließen ineinander über, alles wirkt ein bisschen verschwommen.
Sehr interessant und originell finde ich, dass Gina und Jo an ein paar Stellen miteinander in einen Dialog treten. Hier berühren sich und verschwimmen die Zeiten, die Plotstränge und letztlich die beiden Protagonistinnen zu einer.

Das Buch selbst will ein sprachliches Gemälde sein und schafft dies auch an manchen Stellen. Sprache und Ausdrucksweise sind intellektuell gehoben, was angesichts des Themas zwar passend erscheint, was man aber als Leser:in auch mögen muss.

Fazit: Ein wirklich sehr gut erzählter Roman, in dem ich mir ein Weniger an “
Männern in Särgen” und ein Mehr an historischen Frauen im Kunst-Business gewünscht hätte.

Triggerwarnungen: Tod/Sterben/(exhumierte) Leichen, (psychische) Krankheiten

Bewertung vom 14.03.2024
Der Wald
Catton, Eleanor

Der Wald


ausgezeichnet

Was sind die tragischen Figuren unserer Gegenwart? In Shakespeares Dramen waren es die Herrscher und die Usurpatoren, die sich nicht selten eine Schlacht um den Thron lieferten. Heutzutage sind es immer mehr die Weltpolitiker, Tech-Magnaten und Großindustriellen und auf der anderen Seite Klimaschützer:innen wie Greta Thunberg und ihre Bewegung “Fridays for Future”. Die einen kämpfen für sich selbst bzw. ihr Image, die anderen für nichts weniger als die Zukunft unseres Planeten. Eleanor Catton, die jüngste Booker-Prize-Trägerin aller Zeiten (sie gewann den Preis 2013 für “The Luminaries”) hat sich in ihrem Roman “Birnam Wood” (auf Deutsch schlicht “Der Wald”, übersetzt von Meredith Barth und Melanie Walz) ebenfalls mit dem Kampf Gut gegen Böse, Wirtschaft vs. Umwelt, Kapital vs. Moral auseinandergesetzt. Nicht umsonst heißt das Kollektiv, das die Protagonistin Mira gegründet hat, “Birnam Wood”, ein Begriff der Shakespeares Tragödie “Macbeth” entnommen ist.

In ihrem Roman wirft Catton viele Fragen auf, die wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts stellen müssen. Zum Beispiel, wie weit Digitalisierung und Selbstoptimierung gehen dürfen. Ob es nicht zutiefst menschlich ist, Fehler machen zu dürfen und nicht perfekt zu sein. Was wären Kunst und Kultur, wenn sie nicht das menschlich Fehlerhafte zum Thema hätten? Was macht dieses Streben nach Perfektion und Unsterblichkeit mit uns? Tony ist die Figur im Roman, die den Selbstoptimierungswahn, die Skrupellosigkeit und Amoralität, die in der Figur des Lemoine auf die Spritze getrieben wird, anprangert. Mira, die Gründern von Birnam Wood, ist hin- und hergerissen zwischen dem charismatischen Multimillionär, der sich Unsterblichkeit erkaufen will und dem erfolglosen Gelegenheitsjournalisten, der das menschlich Fehlerhafte, aber auch das uns Menschen inhärente Streben nach moralischem Handeln verkörpert. Wer wird am Ende mit seinen Positionen reüssieren? Oder kann niemand gewinnen, weil wir am Ende alle in einem Boot sitzen? Zentral ist auch die Frage, wie weit Überwachung gehen darf. Sind Drohnen nicht zutiefst unmoralisch und wird uns diese Technik nicht letztlich mehr Schaden als Nutzen bringen?

Ich betonte immer wieder gerne in meinen Rezensionen, wie sehr ich es mag, wenn ein Roman durch Originalität besticht. “Der Wald” ist mal wieder so ein Buch. Die Konstellation Guerilla-Gardening-Kollektiv trifft shady Multimilliardär-Prepper ist definitiv eine, die mir so noch nie erzählt wurde. Außerdem ist mir Neuseeland als literarischer Schauplatz auch relativ neu.

Für einen literarischen Roman ist “Der Wald” ungeheuer fesselnd. Der Plot ist einfach spannend im klassischen Sinne. Man will unbedingt wissen, welchen Schachzug die handelnden Personen bzw. Parteien als nächstes ausführen. Die berühmte “Sogwirkung” ist meiner Meinung nach voll gegeben. Es wechseln sich Phasen der eingehenden Charakterisierung der einzelnen Personen mit solchen der Plotentwicklung ab, wobei im letzten Drittel die Handlung erst richtig an Fahrt aufnimmt. Ab diesem Zeitpunkt kann man wegen der Spannung und des rasanten Erzähltempos das Buch nur noch schwer aus der Hand legen. Ökothriller ist meines Erachtens wirklich die richtige Gattungsbezeichnug.

Die Übersetzung ist zu Beginn etwas holprig und gestelzt, wird dann aber zunehmend besser. Manchmal gibt es aber nach wie vor kleine Ungereimtheiten. Zum Beispiel bezeichnet eine Person eine andere als “du Dreck” (S. 480). Würde man das so sagen? Ich kenne das Original nicht, könnte man aber vorstellen dass so etwas gesagt wurde wie “you piece of shit”, was ich dann eher als “Du Drecksack”, “Du Abschaum” oder “Du Dreckstück” übersetzt hätte. Was ich ebenfalls nicht ganz nachvollziehen kann, ist die Entscheidung des Verlags, das Buch “Der Wald” statt “Birnam Wood” zu nennen. Selbst wenn einem der Begriff Birnam Wood nichts sagt und man nicht weiß dass es ein Zitat aus “Macbeth” ist, so kann man das erstens googeln und zweitens wird es im Text ausführlich erklärt. Finde ich etwas schade dass man hier den deutschen Leser*innen so wenig zutraut, zumal ja nicht wirklich ein “Wald” eine Rolle spielt im Roman. Dann hätte man eher sowas wie “Das Kollektiv” nehmen sollen.

Ein weiteres Manko ist meines Erachtens, dass es den Charakteren oft an Tiefe fehlt. Vor allem Lemoine ist sehr klischeehaft gezeichnet und Mira und Shelley sind als Persönlichkeiten zu flach und austauschbar. Alles in allem ist das Buch dennoch ein sehr spannender literarischer Gegenwartsroman, der viele Fragen unserer Zeit aufwirft und mit einem der krassesten Enden schockiert, die ich seit Langem gelesen habe, welches ich mir aber trotzdem etwas anders gewünscht hätte.

Bewertung vom 02.03.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


sehr gut

Marilyn Monroe sagte einst “Neid ist der Schatten, den der Erfolg wirft”. Neid gibt es überall, wo Menschen in gesellschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Neid gibt es auch in einer Branche, mit der wir Leser:innen es tagtäglich indirekt zu tun haben: der Buchbranche. Selten ist es allerdings, dass dieser Neid offen thematisiert wird. Meistens findet er nur hinter verschlossenen Türen der Verlage und Autor:innenaccounts statt. Wirklich niemand möchte gerne zugeben, dass er/sie neidisch ist. Neid lässt einen schlecht und missgünstig wirken und keine/r möchte am Ende des Tages überhaupt neidisch sein, wenn er/sie in den Spiegel schaut.

Auch June, die Protagonistin von Rebecca Kuangs Roman “Yellowface” (übersetzt von Jasmin Humburg, auf Deutsch erschienen bei @eichborn) möchte nicht neidisch sein auf ihre Freundin Athena Liu - und ist es trotzdem. Athena, die wunderschöne Schriftstellerin mit asiatischem Migrationshintergrund, die es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft hat. Athena ist alles, was ihre Collegefreundin June gerne wäre, vor allem aber lebt sie als erfolgreiche Schriftstellern ihren Traum, während Junes Romandebüt floppte und sie einem Brotjob nachgehen muss. Doch als Athena bei einem Treffen der beiden, in Washington D.C. lebenden Freundinnen, stirbt, bietet sich June die Gelegenheit ihres Lebens: Sie klaut das gerade fertiggestellte Manuskript von Athenas Geheimprojekt “Die letzte Front”. Ob sie damit durchkommt oder nicht, darum geht es in “Yellowface”.

Kuang karikiert in ihrem Roman die US-amerikanische Buchbranche und seziert ihre Mechanismen und Praktiken, die mitunter alles andere als einwandfrei sind. Er führt einem die Tatsache vor Augen, dass diese Branche vor allem eins ist: schnelllebig. Selbst die Halbwertszeit von Bestsellern ist gering und sollten Bücher nicht zu Klassikern mutieren, werden sie schnell von Neuheiten verdrängt. Eine oberflächliche Branche wie so viele andere auch, die seit der Existenz des Internets allerdings genau beäugt wird. Autor:innen sind transparenter geworden und werden nicht selten zur Zielscheibe von Trollen. Wenn natürlich einem Autor/einer Autorin ein schwerwiegendes Vergehen anzulasten ist, wie im Fall von June das Plagiat, dann sind Shitstorms hausgemacht:
Der Diebstahl von geistigem Eigentum ist kein Kavaliersdelikt. Urheberrecht und Autor:innenschaft sind nicht verhandelbar.

Ein weiteres Thema bringt der Roman zur Sprache: Darf man als weiße Autor:in überhaupt etwas über chinesische Zwangsarbeiter während des Ersten Weltkriegs schreiben oder ist das kulturelle Aneignung? Kein einfaches Thema und sicher ist es nicht eindeutig zu beantworten, wo die Grenzen zwischen Kunstfreiheit und kultureller Aneignung liegen. June jedenfalls ist der Meinung, dass die Verlagswelt heutzutage vor allem auf Autor:innen setzen würde, die queer sind und/oder über einen Migrationshintergrund verfügen würden - und dadurch würde sie als weiße heteronormative Frau ins Hintertreffen geraten. Letztlich gibt sie der Gesellschaft die Schuld für ihre Erfolglosigkeit und stellt das eigene Talent dabei nie wirklich in Frage. June belügt sich selbst und stellt ihren eigenen moralischen Kodex auf stumm.

June ist süchtig nach der Magie des Schreibens: “Schreiben heißt, etwas aus dem Nichts zu erschaffen, Türen zu anderen Welten zu öffnen. Schreiben gibt dir die Kraft dein eigenes Reich zu formen, wenn die Realität zu sehr schmerzt.” Das ist einer der wenigen Sätze, bei denen man eine Art Mitgefühl für June aufbringen kann. Die meiste Zeit gingen mir aber ihre Selbstgerechtigkeit und ihr Selbstmitleid auf die Nerven.

“Yellowface” ist ein oberflächlich perfekter Roman über die Entstehung eines Romans, über das Schreiben eines Schlüsselromans und auch ein “Roman im Roman”. Meta- und Intertextualität lauern hier also überall. Die Geschichte ist unterhaltsam, der Stil ist geschliffen und passt perfekt zum Plot. Warum habe ich dann keine 5 Sterne gegeben? Ich kann nur eine vage Erklärung geben: Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht benennen kann. Bei Menschen sagt man, es gibt “das gewisse Etwas”, also dieses bisschen Mehr, das uns jenseits aller Perfektion in den Bann zieht. Vielleicht kann man auch sagen: Charisma, dem Roman fehlt Charisma. Außerdem fehlt ihm eine sympathische und vielschichtige Protagonistin. Aber das mag vielleicht nur ich so sehen. Unterhalten wird einen dieser Roman auf jeden Fall, wenn man mal hinter die - überspitzt dargestellten - Kulissen der Verlagsbranche blicken will.

PS: Ach ja, ich kann jetzt wahrscheinlich nie wieder (amerikanische) Pancakes essen, ohne an eine gewisse Szene aus “Yellowface” zu denken. Also wenn ihr die Dinger mögt, lest das Buch lieber nicht.

Triggerwarnung: Cybermobbing, Rassismus, Tod

Bewertung vom 16.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

Neulich habe ich in einem Feuilleton-Artikel gelesen, dass Romane, deren Handlung in einer ländlichen Gegend bzw. der Provinz angesiedelt ist, derzeit einen Boom erfahren würden. Erzähler:innen hätten die Natur und die rurale Umgebung als Schauplatz wiederentdeckt. Das Stichwort Heimatroman ist seit jeher eher negativ behaftet, erlebt aber im Bereich der Belletristik eine intellektuelle Umwidmung. Die Probleme und Traumata, die ein Aufwachsen auf dem Land neben der räumlichen Weite, die es bietet, auch bedeuten können, sind dann oft Gegenstand solcher Romane. Auch Julja Linhof hat sich in ihrem Debütroman "Krummes Holz (benannt nach einem Zitat von Kant, das sie ihrem Buch voranstellt), an das Thema Land herangewagt.

Die Handlung spielt völlig im ländlichen Nordrhein-Westfalen. Zum erzählten Zeitraum später mehr. Es geht um den 19-jährigen Jirka (eigentlich Georg). Der Internatsschüler war seit fünf Jahren nicht auf dem elterlichen Hof, auf dem sein Vater Georg, die demente Großmutter Agnes und die Schwester Malene leben. Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb von Jirkas Familie wird vor allem Getreide angebaut, das Anbauen von Obst im großen Stil ist allerdings gescheitert.
Neben Georg, Malene und - zumindest früher- wechselnden Saisonarbeitern, arbeitet auch der knapp zehn Jahre ältere Leander auf dem Hof, der Sohn des ehemaligen Verwalters. Was zwischen Jirka und Leander in der Vergangenheit vorgefallen ist, erfahren wir stückchenweise. Auch die jeweils mit großen Problemen und gegenseitigen Verletzungen behaftete Beziehung Jirkas zu seinen Familienmitgliedern wird nach und nach deutlich. Erzählt wird die Geschichte einzig aus der Perspektive Jirkas. Die Gegenwartshandlung wird unterbrochen von Flashbacks, in denen der Protagonist gedanklich die Vergangenheit heraufbeschwört. Es sind Dinge, Orte, Räume und die Umgebung rund um das elterliche Haus, die diese Erinnerungen jeweils triggern und zum Vorschein bringen. Zeit wird fluide und was gestern oder heute ist und war wird immer mehr zu einem Ganzen: “Ich starre in den offenen Kühlschrank, während Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und eins werden.” (S. 203)

Was mich etwas stört, sind die nicht vorhandenen Zeitangaben bzw. der kryptische Umgang damit. Ich bin kein großer Fan davon, wenn man sich in Romanen als Leser*in mühsam erarbeiten muss, in welchem Jahr oder gar Jahrzehnt man sich befindet. Natürlich gibt es versteckte Hinweise im Setting, die auf die 1980er Jahre hindeuten: Walkman, Wählscheibentelefone, Neue Deutsche Welle im Radio, Zwanzigmarkscheine im Geldbeutel. Aber es wird nicht eine Jahreszahl direkt genannt. Die demente Großmutter wird einmal von Jirka gefragt, welches Jahr wir haben, aber sie antwortet nicht. Warum solche Infos, die den Lesenden zur Orientierung dienen würden, ausgelassen werden, verstehe ich nicht. Warum um den Zeitpunkt der Handlung so ein Geheimnis machen? Thematisiert wird, dass Jirkas Vater im Krieg war und damit die Generation der Kriegsheimkehrer, die ihre Traumata nicht aufarbeiten konnten oder durften und stattdessen ihre Familie tyrannisierten. Gegessen darf nur, solange der Hausherr isst. Solche Sachen, die heute jeder als Psychoterror erkennt.

Dass mit Jirka ein queerer Protagonist erzählt wird, ist ein großes Plus dieses Romans. Auch hier wäre es interessant gewesen, etwas näher auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Zeit einzugehen, schließlich wurden homosexuelle Beziehungen auf dem Land vor 30,40 Jahren noch anders gelebt als heute.

Bildgewaltig ist dieser Roman, auch wenn die Metaphorik manchmal etwas über das Ziel hinausschießt, was bei einem Debütroman nicht unüblich ist. Die Atmosphäre auf dem Land zur Erntezeit im Sommer wird sehr schön wiedergegeben, auch die Spannungen unter den Charakteren werden anschaulich ausgearbeitet.

Das Buch hat einen spröden Charme, der sich für mich erst im letzten Drittel vollends entfalten konnte. Vor allem die Beziehung zwischen Jirka und Leander hat mir sehr gut gefallen, leider endet der Roman genau an dem Punkt, wo es interessant geworden wäre. Das Ende in Bezug auf Georg hat dem ganzen Roman einen leicht grotesk-unrealistischen Anstrich verliehen, den ich nicht unbedingt gebraucht hätte.

Im Ganzen hat mir die Geschichte aber etwas gegeben und ich kann sie allen empfehlen, denen die Themen queere Liebe, Heimkehr und Provinzsetting am Herzen liegen.

Bewertung vom 13.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Kafka - sein Tod jährt sich dieses Jahr ja zum 100sten mal - schrieb in einem seiner Briefe, “man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen [...] [und] mit einem Faustschlag auf den Schädel” wecken. Ich weiß nicht, ob sich Lana Lux dieses Zitat besonders zu Herzen genommen hat, als sie ihren dritten Roman “Geordnete Verhältnisse” geschrieben hat. Jedenfalls musste ich an diese Worte denken, als ich den Roman beendet hatte. Das Buch ist nämlich eines, das bei manchen Lesenden eine solche drastische Wirkung zu haben vermag. Es ist ein unbequemer und verstörender Roman über zwei Menschen, die eine neue Form des Zusammenlebens, der zwischenmenschlichen Koexistenz ausprobieren und letztlich an ihren eigenen Persönlichkeiten, die von Kindheitstraumata und psychischen Krankheiten beherrscht werden, scheitern.

Es geht um die beiden Protagonist:innen Philipp und Faina, die einander seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit alles bedeuten. Vor allem Philipp ist auf Faina bis zur Obsession fixiert. Philipp wächst zunächst in Gelsenkirchen bei seiner Tante und deren Familie auf, da seine eigene Mutter alkoholkrank ist und nicht für ihn sorgen kann. Als er sechs Jahre alt wird, holt ihn diese zu sich und die gemeinsame Zeit mit ihr ist von Höhen, aber noch weitaus mehr von Tiefen geprägt. In der dritten Klasse lernt er Faina kennen, die aus der Ukraine stammt und seit wenigen Monaten mit ihrer jüdischen Familie in Deutschland lebt.
Nicht nur eine imminente Seelenverwandtschaft und der jeweils bei beiden unterschiedlich ausgeprägte dysfunktionale Familienhintergrund ist es, der die Außenseiter:innen miteinander verbindet, sondern auch ihr äußeres marginalisiertes Erscheinungsbild: Sie sind beide von Natur aus rothaarig, sommersprossig und extrem hellhäutig, eine Steilvorlage für Mobbing seitens der Mitschüler:innen und in Philipps Fall sogar der eigenen katholischen Tante, die in ihm den reinkarnierten Satan zu erkennen vermag. Philipp und Faina beginnen eine Freundschaft, die mit zunehmendem Alter der beiden in eine Schieflage gerät, sprich: Aus der Freundschaft wird eine toxische Abhängigkeit voneinander, die zusammen mit Philipps Hang zur Aggressivität eine fatale Mixtur ergeben. Als die bisexuelle Faina nach einem Auslandsaufenthalt von einer Affäre schwanger wird und sich von ihrer Lebensgefährtin trennt, bietet sich für den asexuellen Philipp die Möglichkeit, mit Faina eine Familie nach dem Modell des Co-Parenting zu gründen. Wird sich sein Wunsch nach “geordneten Verhältnissen” erfüllen? Wer die Autorin Lana Lux und ihre Werke kennt, kann sich sicher sein, dass die Antwort auf diese Frage nur “nein” lauten kann.

Die Story ist hoch interessant und originell, weil sie Aspekte in sich vereint, die für mich in der aktuellen Belletristik noch nicht sehr prominent stattfinden. Zum Beispiel einen männlichen Protagonisten zu präsentieren, der asexuell ist. Es wird im Buch leider - anders als bei Fainas Bisexualität - nicht explizit so genannt, aber aus Philipps Gedankenstrom und seinen Handlungen kann man das ganz klar so herauslesen. Sexualität ist für ihn ein Graus und eine niedere widerwärtige Handlung, die er nicht mal mit Faina möchte, der einzigen Person, die er auf Dauer ertragen kann. Er “liebt” sie auf einer Ebene, die jenseits aller Körperlichkeit liegt. Er sagt einmal so in etwa, er sieht sie als externalisierten Teil von sich selbst. Im Grunde liebt er also wahrscheinlich nur sich selbst, was auch sein aggressives Verhalten gegenüber Faina erklären würde. Schließlich hat er auch für alle anderen Menschen meist nur Verachtung übrig.
Das Thema Co-Parenting ist auch eines, über das ich noch nicht oft etwas gelesen habe.

Man könnte sagen, “Geordnete Verhältnisse” ist ein utopischer Roman, denn er erzählt von einer Utopie, der Utopie der Normalität und ihrer gewaltsamen Dekonstruktion. Wir moderne Menschen des 21. Jahrhunderts wünschen uns manchmal nichts mehr als ein Leben, das sich durch Ordnung und Klarheit auszeichnet. Allzu oft wird uns dieser Wunsch aber verwehrt, sei es durch eine traumatische Kindheit oder toxische Beziehungen im Erwachsenenalter. Ein feministischer Roman ist dieses Buch ganz klar, denn es erzählt von einer Frau, die in einer sozialen, psychischen und materiellen Abhängigkeit zu einem Mann gefangen ist. Das Machtgefälle zwischen Frau und Mann wurde von Lana Lux’ präziser Prosa, die nicht selten auch Momente des Komischen enthält, gekonnt eingefangen. Zudem geht es darum, wie unsere Herkunft uns determiniert sowie um Fragen der Integration. Ein wirklich sehr gelungener Roman, den ich allen ans Herz legen möchte, die auch etwas härteren Lesestoff gut aushalten können.