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Nico aus dem Buchwinkel
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Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 06.12.2021
Im Spiegelsaal
Strömquist, Liv

Im Spiegelsaal


sehr gut

Laut Klappentext gehören Liv Strömquists Sachcomics zu den meist verkauften Graphic Novels weltweit. Was soll ich sagen, auch in meinen Regalen stehen alle Werke von ihr, die bisher auf Deutsch erschienen sind. Selbstverständlich darf da auch ihr neuester Comic “Im Spiegelsaal” nicht fehlen. Auf den ersten und zweiten Blick ähnelt der den vorhergehenden Bänden – und das ist Fluch und Segen zugleich.

n den fünf gesammelten Sachcomics von Strömquist geht es dieses Mal um Schönheitsideale. Welchen Einfluss hat Kylie Jenners Instagram Account auf die Jugend? Was war los mit Kaiserin Sisis Zähnen? Welche Schönheitsideale vermitteln Märchen? Wie werden Frauen in verschiedenen Gesellschaftssystemen dargestellt? Wie funktioniert Schönheit als Kapital?

Und natürlich: Was hat Schönheit mit unserem heutigen Konzept von “Liebe” zu tun? Hier mal ein Auszug aus der Antwort:
"Es hat gewissermaßen keine PRAKTISCHE BEDEUTUNG oder FUNKTION mehr, sich mit jemandem zusammenzutun, außer dass man Liebe/sexuelle Anziehung füreinander empfindet. Und deshalb ist, wie hübsch/sexy/fuckable man ist, heute WICHTIGER, weil es quasi der einzige Grund für eine Beziehung ist!"

Ein bisschen radikal vielleicht die Antwort, aber auch dieses mal sind viele Standpunkte wieder mit Quellen unterfüttert.

Das “auch dieses Mal” ist, was mir an “Im Spiegelsaal” ein wenig sauer aufstößt. Weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick unterscheidet sich Strömquists neuer Comic von älteren Veröffentlichungen, wie zum Beispiel “Ich fühl’s nicht” oder “I’m every woman“. Ja, vielleicht ist der inhaltliche Schwerpunkt ein wenig verschoben und vielleicht sind die Texte stellenweise schärfer formuliert. Aber davon abgesehen beschlich mich immer wieder das Gefühl, das Ganze schon einmal (bzw. mehrmals) gelesen und vor allem gesehen zu haben.

Gerade hinsichtlich der Zeichnungen war ich zwiegespalten. Auf der einen Seite: Unverkennbar Liv Strömquist. Auf der anderen Seite fiel mir das teilweise mangelnde Zusammenspiel zwischen Text und Bild auf. Oft unterstreicht das Bild (oder die Sprechblase) den Text, ergänzt ihn aber nicht um weitere Bedeutungsebenen. Das habe ich bei “Unerschrocken” zum Beispiel deutlich besser gesehen.

So bleibt mir als Fazit: Wer mehr von Liv Strömquist lesen möchte, der bekommt beim “Im Spiegelsaal” mehr vom Gewohnten, und das auch wieder unterhaltsam aufbereitet. Aber in meinen Augen ist das nicht ihr stärkster Comic, was vielleicht daran liegt, dass er sich zu wenig von den Vorgängern abhebt. Für Einsteiger*innen kann ich Strömquists andere Werke mehr empfehlen, vor allem den Doppelband “Der Ursprung der Welt & Der Ursprung der Liebe”.

Bewertung vom 15.11.2021
Celestia
Fior, Manuele

Celestia


ausgezeichnet

Manuele Fior wird als extrem wandelbarer Star der europäischen Graphic-Novel-Künstler*innen beschrieben. Er wechselt Zeichenstil und Arbeitsmaterial für jedes seiner Projekte. Auf Deutsch sind von ihm unter anderem “Fünftausend Kilometer in der Sekunde” und “Die Übertragung” im avant-verlag erschienen. Nun gibt es ganz frisch einen thematischen Nachfolger von “Übertragung”, und zwar “Celestia”, ein Riesenwerk mit fast 300 Seiten.

Was war?
“Celestia” spielt in der näheren oder ferneren Zukunft, nachdem eine mysteriöse “große Invasion” die Welt verwüstet hat. Einige fanden Zuflucht auf einer vom Festland abgeschnittenen Insel in Italien, die ein wenig an Venedig erinnert. Der Umgang zwischen den Überlebenden ist rauh, auch die Telepath*innen Pierrot und Dora haben wenig zu lachen. Nach einem Zwischenfall müssen die beiden aufs Festland fliehen, das jedoch nicht ganz so verlassen ist, wie erwartet.

Die Geschichte erklärt wenig und lässt Lücken zum Ausfüllen durch die Leser*innen. Auch das Setting lässt Raum zur Interpretation zu. Stadt und Kleidungsstil der Figuren erinnern eher an die 70er oder 80er, futuristische Technik kommt fast nicht vor. Auf jeden Fall ein unverbrauchtes postapokalyptisches Setting.

Was wird?
Die Illustrationen machen einen aquarellartigen Eindruck und unterscheiden sich auf jeden Fall von Fiors bisherigen Werken. Die Panels sind zwar sehr traditionell angeordnet, allerdings erinnern manche Bilder eher an Gemälde und könnten auch für sich stehen, statt Teil einer fortlaufenden Geschichte zu sein. Visuell passiert in “Celestia” sehr viel und auch viel Spannendes.

Die Texte und Unterhaltungen sind reduziert, teilweise poetisch. Einzelne Seiten kommen komplett ohne Worte aus. Das Ende der Geschichte bleibt… offen. Auch diese Leerstelle will vom Lesenden (oder vielleicht von einer weiteren Geschichte?) ausgefüllt werden.

Bewertung vom 09.11.2021
Unerschrocken
Bagieu, Pénélope

Unerschrocken


ausgezeichnet

Im Blick hatte ich die zwei “Unerschrocken”-Bände von Pénélope Bagieu schon länger. Wenn ich mich recht erinnere, waren sie zwischendurch vergriffen. Das ist zumindest die einzige logische Erklärung, warum die Reihe nicht längst in meinen Besitz gewandert ist. Feminismus und Comics, da stehe ich einfach drauf. Naja, im Nachhinein ist das gar nicht schlimm, denn Reprodukt hat eine glorreiche Gesamtausgabe der Portraits von Bagieu veröffentlicht. Glorreich, weil das Cover glänzend ins Auge sticht und die ganze Aufmachung sehr hochwertig ist. Die Dicke des Papiers – herrlich! Und die glänzende Prägung auf dem Cover…

Um ehrlich zu sein, ich hätte mir die Gesamtausgabe auch zugelegt, wenn die Einzelbände bereits in meinem Besitz gewesen wären. Schließlich versteckt sich ein ziemlicher Schatz zwischen diesen prächtigen Buchdeckeln (trage ich ein wenig zu dick auf? Ich denke nicht).

Unbekannt
CN: Misogynie, physische und psychische Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung, Femizid, Auftragsmord

In “Unerschrocken” finden sich die Kurzbiografien von 30 Frauen, darunter bekanntere Namen wie Josephine Baker oder Hedy Lamarr, aber auch mir bislang unbekannte wie Leymah Gbowee, Clémentine Delait oder Wu Zetian. Die Biografien erstrecken sich jeweils über etwa sechs Seiten und werden in liebevoll gezeichneten Comicpanels erzählt. Die einzelnen Panels sind recht textlastig, der Erzählweise von Liv Strömquist zum Beispiel nicht unähnlich.

Nicht alle Geschichten sind dabei so humorvoll wie die der Leuchtturmretterin Giorgina Reid. Dass Peggy Guggenheim Zeit ihres Lebens ausgenutzt wird, ist noch recht leicht zu lesen. Die multiplen Massenvergewaltigungen von Phoolan Devi deutlich weniger. Brüche in den Biografien werden nicht ausgespart und die Frauen werden nicht nur auf ihre Errungenschaften reduziert. Trotzdem bleiben natürlich Leerstellen, schließlich lässt sich ein Leben nicht auf sechs Seiten reduzieren. Aber bei Interesse kann mensch sich ja über einzelne Personen anderweitig informieren.

Die selbstbewusst lächelnde Frau auf dem Cover ist übrigens Nellie Bly (1846-1922) aus Pittsburgh. Warum ihre Biografie erwähnenswert ist, das lest ihr am besten selbst in “Unerschrocken” nach.

Unerhört
Besonders gut gefallen hat mir das subtile Zusammenspiel aus Bild und Text. In den Panels finden sich oft gezeichnete Zusatzinformationen, die die Texte ergänzen. Dass Betty Davis die einzige schwarze Frau in ihrem Studiengang ist, wird zwar nicht explizit erwähnt, lässt sich aber gut erahnen (siehe Bild rechts).

Erwähnenswert finde ich auch das Bemühen um Diversität bei der Auswahl der Biografien. Auch wenn gefühlt ein Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert liegt, finden sich Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Teilen der Erde in “Unerschrocken”. Mit Christine Jorgensen hat es auch eine trans Frau ins Buch geschafft. Für die Zukunft wünsche ich mir noch viel mehr Sichtbarkeit von queeren Personen! Aber an “Unerschrocken” gibt es trotzdem unerhört wenig auszusetzen. Ein rundum gelungener visueller, haptischer und informativ feministischer Genuss. Ich kann Reprodukt nur zu dieser tollen Gesamtausgabe gratulieren (und euch auch, denn sie steht bald auch in euren Regalen, oder?)

Bewertung vom 31.08.2021
Der Mauersegler
Schreiber, Jasmin

Der Mauersegler


ausgezeichnet

Ohne zu flunkern kann ich sagen, dass ich alle bisher veröffentlichten Bücher von Jasmin Schreiber gelesen und sogar rezensiert habe: Sowohl ihr Erstlingswerk „Marianengraben“, wie auch ihr Sachbuch „Abschied von Hermine“. Mensch könnte mich also als kleinen Fan bezeichnen. Ungeduldig habe ich daher auf die Veröffentlichung von Schreibers zweitem Roman „Der Mauersegler“ erwartet, der letzten Monat endlich in meinen Briefkasten segelte.

„Der Mauersegler“ ist voller Bilder, Analogien und Verweise, besonders auf die griechische Mythologie. Da wäre zum Beispiel die Sage von Prometheus. Das ist der Typ, der den Menschen verbotenerweise das Feuer bringt und dafür von Göttervater Zeus aufs Schwerste bestraft wird: An einen Felsen gekettet kommt täglich ein Adler vorbei, der Prometheus wieder nachwachsende Leber auffrisst.

Auch in „Der Mauersegler“ gibt es einen Prometheus. Marvin Prometheus Grabow, der aber nur bei seinem (zugegebenermaßen seltsamen) Zweitnamen genannt werden möchte und sich ebenso wie der mythische Namensvetter als Heilbringer der Menschheit sieht. Immerhin ist er Arzt. Dass das mit dem Messiaskomplex nicht so gut funktioniert hat, ist gleich zu Beginn der Geschichte klar. Sein bester Freund Jakob ist tot und Prometheus ist irgendwie dafür verantwortlich. Nun ist sein Leben ein riesiger Kollateralschaden und er auf der Flucht vor Schuld, Vorwürfen und Strafe.

Er flüchtet nach Dänemark und versucht, sich das Leben zu nehmen. Das klappt aber nicht und das Schicksal führt ihn auf einen dänischen Pferdehof und in die Armer zweier alter Frauen, Helle und Aslaug. Hier prallen griechische und nordische Mythologie aufeinander, schließlich haben Namen in diesem Roman ein prophetisches Gewicht.

Im Buch wird Prometheus einmal mit dem Helden Herkules verwechselt (über dessen „Heldentaten“ sich allerdings streiten lässt), aber seine Geschichte bleibt eine tragische. Mich erinnerte der Protagonist nicht nur der namensgebenden Mauersegler wegen auch an Ikarus, der immer weiter und höher hinaus will, bis er der Sonne zu nahe kommt und abstürzt. Vielleicht ist Prometheus selbst ein solcher Mauersegler, zu denen Aslaug im Buch bemerkt: „Ein geschwächter Mauersegler kommt allein nicht mehr hoch, ist er einmal abgestürzt.“ (S. 223)

Im Gegensatz zu Schreibers erstem Roman „Marianengraben“ schlägt „Der Mauersegler“ eine andere Gangart ein. „Marianengraben“ ist in seiner Erzählweise vorsichtig, Humor und Trauer halten sich die Waage. „Der Mauersegler“ ist gewagter, voll nervöser Energie. Das Ergebnis ist von vornherein klar: Prometheus hat es verkackt. Aber wie kam es dazu? Wo ist er falsch abgebogen? Wie endet die Geschichte? Endet die Geschichte überhaupt?

Über diese Fragen entwickelt der Roman einen unheimlichen Drive, ein „Wissen-Wollen“. Meine Augen sind teilweise wie manisch über die Seiten geflogen weil ich immer schneller immer mehr wollte, bis hin zum großen Knall. Wie eine startende Rakete in einem langen Tunnel. Und ganz am Ende, da gibt es auch wieder Licht. Und Tränen. Bei Prometheus und bei mir. Ganz klar 5 von 5 Sterne.

Bewertung vom 23.08.2021
Das Inferno
Meier, Michael

Das Inferno


sehr gut

Die „Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri wird laut Wikipedia als eines der größten Werke der Weltliteratur angesehen. In jüngeren Jahren habe ich mich einmal ambitionierterweise daran versucht. Allerdings merkt mensch dem Text seine 700 Jahre deutlich an. Die unzugängliche Sprache zwang mich dazu, den Schinken schnell wieder zu vergessen – trotz der eigentlich ziemlich coolen Idee von der Reise durch die neun Kreise der Hölle. Bis heute finden sich Spuren der Göttlichen Komödie in der modernen Popkultur, zum Beispiel in Videospielen. Wie gut also, dass Michael Meier sich in seinem Comic „Inferno“ aufmacht und den Stoff aktualisiert und gleichzeitig zugänglicher macht.

Die Aktualisierung der Geschichte beginnt schon beim Helden: Meiers Dante ist ein bärtiger Typ in Unterhemd und Midlife-Crisis, der mehr durch Zufall als gewollt in die Unterwelt stolpert und dort auf seinen Begleiter, den Schakal Vergil stößt. Gemeinsam müssen die beiden die neun Kreise der Hölle durchqueren, was für Dante, der ja noch lebendig ist, durchaus eine Herausforderung darstellt. Unterwegs begegnen den beiden sowohl Figuren aus der originalen göttlichen Komödie, wie dem Höllenhund Zerberus oder dem Fährmann Charon, aber auch aktuelleren Persönlichkeiten, etwa Silvio Berlusconi, Walter Ulbricht oder Nikola Tesla.

Auch die Höllenqualen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Hier müssen wissenschaftliche Dissertationen auf Handydisplays getippt, andernorts die Bilder für Anti-Raucher-Kampagnen retuschiert werden (selbstverständlich inklusive chronischer Sehnenscheidenentzündung). Zum Glück sind Dantes stinkende Schuhe eine echte Geheimwaffe.

„Das Inferno“ ist stellenweise gesellschaftskritisch, vor allem aber: witzig. Der Comic steckt voller Wortwitz und Anspielungen. Der Gleichmut, mit dem der Protagonist Dante seine Situation erträgt und die Interaktion zwischen ihm und Vergil tun ihr übriges: Der Comic macht großen Spaß zu Lesen und Anzuschauen und hat mich an vielen Stellen zum Grinsen gebracht.

Da verzeihe ich gern den etwas holprigen Einsteig mit einem Wolf, der nur anfangs als Aufhänger für die Reise dient und den Gastauftritt von Beatrice, die Vergil um Hilfe für ihren Freund/Gatten(?) Dante bittet. Den Start empfand ich als etwas zusammenhanglos, das war allerdings schnell vergessen, sobald die beiden Gefährten in der Vorhölle ankamen.

Eventuell hängen diese Startschwierigkeiten damit zusammen, dass der Comic ursprünglich als täglicher Comicstrip in der „Frankfurter Rundschau“ erschien? Das ist sicher auch der Grund für die strenge und ordentliche Verteilung der Panels pro Seite sowie das lineare Erzählformat. Ich habe es eigentlich gern, wenn Panelgrenzen und die Aufteilung der Panels auch mal durchbrochen werden, allerdings hat mir die generelle graphische Darstellung in „Das Inferno“ gut gefallen.

Wer sich beim Comiclesen also mal wieder ordentlich amüsieren möchte, liegt mit dieser Neuinterpretation der göttlichen Komödie sicher nicht falsch. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt und gebe vier von fünf Sterne.

Bewertung vom 15.08.2021
Die zehntausend Türen
Harrow, Alix E.

Die zehntausend Türen


ausgezeichnet

Die Originalfassung „The Ten Thousand Doors of January“ habe ich bereits vor einem halben Jahr gelesen und sie ist direkt in mein Highlight-Regal gewandert. Dort steht mittlerweile auch „The Once and Future Witches“ von Harrow und es wird auch Platz für alle zukünftigen Bücher von ihr geben, ihr Schreibstil und die behandelten Themen begeistern mich nämlich auf besondere Art und Weise.

Worum gehts? Es ist der Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und die junge January ist ein besonderes Kuriosum in dem weitläufigen Herrenhaus des Kunstsammlers/Kulturdiebes Mr. Locke. Mit ihrer kupferroten Haut und den hellen Augen wird sie von ihm als „eine Art Zwischenwesen“ bezeichnet. Sie selbst weiß nicht, wozu sie gehört. Als nicht weißes Mädchen in einer extrem weißen und patriarchalen Umgebung hat sie es unheimlich schwer. Im Verlauf der Geschichte wird sie immer wieder mit Rassismus und Frauenhass konfrontiert.

January lebt auf dem Anwesen, weil ihr Vater im Auftrag Mr. Lockes durch die Welt reisen und diesem Kunstschätze beschaffen muss. January beschreibt ihren Gemütszustand selbst so: „Manchmal war ich so einsam, dass ich glaubte, ich müsste zu Asche zerfallen, die sodann vom nächsten Windstoß davongetragen werden würde.“

Januarys Lage ändert sich aber grundlegend an ihrem 17. Geburtstag, als sie ein seltsames Buch findet und lernt, dass es Türen und TÜREN gibt. Die einen führen in Gebäude, die anderen in fremde Welten. Die magischen Erzählungen in dem Buch offenbaren mehr und mehr Verbindungen zu Januarys eigenem Leben und so muss sie alles zurücklassen, was sie kennt, um die Wahrheit über sich selbst herauszufinden.

Januarys Geschichte an sich ist schon sehr lesenswert und auch außer ihr steckt „Die zehntausend Türen“ voller interessanter, diverser und sympathischer Figuren, etwas der Krämerjunge Samuel, Januarys geheimnisvolle Beschützerin Jane oder der Mischlingshund „Bad“. Die Handlung lebt in guten Teilen von den Figuren und der Interaktion zwischen ihnen. Actionszenen gibt es zwar, aber der generelle Ton des Buches ist ruhiger, wenngleich nicht weniger spannend.

Obwohl es zwischendurch düster wird und die Themen nicht immer leicht sind (siehe Content Notifications oben), ist der generelle Ton optimistisch und die Geschichte liest sich wie ein Liebesbrief an Vorstellungskraft, Kreativität und das geschriebene Wort, das die Macht hat, Dinge zu verändern. Diese Liebe zu Schrift und Sprache ist dem Buch in vielen Passagen deutlich anzumerken, die blumige Ausdrucksweise entfaltet ihre ganz eigene Magie (neben der Magie der TÜREN und der fremden Welten). In dieser Hinsicht hat mich das Buch auch immer wieder an „Das sternenlose Meer“ von Erin Morgenstern erinnert. Stellenweise wird es für die deutsche Übersetzung aber ganz schön tricky.

Nach der Lektüre kann ich feststellen: Die Übersetzung ist stellenweise zwar nicht so elegant wie das Original, aber dennoch deutlich besser als befürchtet. Es rettet sich einiges von der sprachlichen Magie auch in die deutsche Übersetzung – keine einfache Leistung und deshalb ein besonderes Lob an die Übersetzerin Aimée de Bruyn Ouboter. Falls ihr könnt, empfehle ich euch die englische Ausgabe, aber auch die Übersetzung kann ich mit 5 von 5 Sternen und einer fetten Leseempfehlung prämieren!

Bewertung vom 09.08.2021
The Impure
Singh, Ralf

The Impure


ausgezeichnet

Bis vor kurzem waren mir Ralf Singh und Hannes Radke noch kein Begriff. Obwohl beide schon seit mehreren Jahren (nicht nur) in der deutschsprachigen Comicbranche aktiv sind, waren sie bisher unter meinem Radar geblieben. Als ich dann aber zum ersten Mal von „The Impure“ hörte, war ich sofort neugierig. Das Cover und die Sci-Fi-Geschichte um zwei Geschwister auf unterschiedlichen Seiten eines Krieges haben definitiv mein Interesse geweckt. Nach einer wohl sehr erfolgreichen Kickstarter-Kampagne ist nun Band 1 (von 4) bei Cross Cult erschienen und da stellt sich mir die Frage: Hält der Comic, was er verspricht?

„The Impure“ handelt von den Geschwistern Nero (der Name ruft einige „Devil May Cry“-Assoziationen bei mir hervor) und Minerva, deren Heimatwelt von Aliens zerstört wird, was sie gleichzeitig zu Waisen machte. Sie schließen sich den ITO an, von den Menschen geschaffenen Spezialstreitkräfte, die mit Unterstützung mächtiger Wesen unheimlich mächtige Krieger*innen sind. Ihre Gedanken werden streng kontrolliert, damit diese Waffen sich niemals gegen die Menschheit erheben.

Die ITO werden von den Menschen gleichzeitig gefürchtet, benutzt und verachtet, denn sie sind nicht mehr ganz Mensch und damit in den Augen vieler minderwertig. Minerva, die ältere Schwester, kann der Gedankenkontrolle entfliehen und hinter die Propaganda der Terraner blicken. Sie wendet sich von den Menschen ab. Ihr Bruder Nero wird ausgesendet, um sie auszuschalten. Dabei folgt die Geschichte Neros Blickwinkel – eine Heldenreise also, die Nero als Schurke der Geschichte beginnt.

„The Impure“ ist nicht einfach nur ein SciFi-Comic. Das Besondere sind die Themen, die in der Geschichte aufgegriffen werden. „Impure“ bedeutet übersetzt „Unrein“ und wird im Comic als Beleidigung für Personen verwendet, die teils Mensch teils Alien sind. Autor Ralf Singh kennt das Gefühl, nirgends so recht dazuzugehören, seine Mutter stammt aus Deutschland und sein Vater aus Indien.

Im Comic müssen sich Nero und Minerva ebenfalls mit ihrer Herkunft auseinandersetzen. Beide werden von denselben Ereignissen geprägt, ziehen für sich aber unterschiedliche Schlüsse daraus. So finden sich die beiden trotz ihrer Liebe füreinander auf unterschiedlichen Seiten des Konflikts wieder.

Außerdem geht es auch um Kolonialismus. Die Menschheit bemüht sich um ein Narrativ, das eine außerirdische Bedrohung beinhaltet, auf die geantwortet werden muss. Allerdings wird schnell deutlich, dass in Wahrheit die Menschen diejenigen sind, die andere Völker versklaven wollen. Nero ist also ein Streiter für die „Bösen“. Ich bin sehr gespannt, wie diese Themen in den weiteren Bänden (vier sind geplant, vielleicht entsteht sogar ein fünfter) behandelt werden und sich entwickeln. Aktuell bleiben auch viele Fragen offen, einiges wird nur angedeutet. Ich hoffe, die zukünftigen Bände nehmen die offenen Fäden auf und spinnen sie weiter.

Die Zeichnungen sind geprägt von dicker skizzenhafter Lineart, die manchmal Details vermissen ließ. Stellenweise waren die Pinselstriche für meinen persönlichen Geschmack einfach zu dick, die Gestaltung hat mir also nicht uneingeschränkt gefallen. Gut fand ich aber die Dynamik in den Kämpfen und Actionszenen, da hat das Hinschauen viel Spaß gemacht. Apropos Hinschauen: Durch das relativ kleine Format bei der Cross Cult-Veröffentlichung (16×24) sind einzelne Panels sehr klein geraten. Da wird die Aufmachung dem Inhalt nicht gerecht. Das Ganze hätte ein deutlich größeres Format und ein Hardcover! verdient gehabt. Das Cover ist so schön und würde auf einem größeren festen Einband sicher noch mehr Anziehungskraft entwickeln.

Egal. Ich hab jedenfalls total Bock auf den zweiten Band. Dieser erste Comic erhält von mir 5 von 5 Sternen und eine klare Leseempfehlung. Ich will unbedingt mehr solcher Themen in Comics!

Bewertung vom 19.06.2021
Papa - 1. Lehrjahr
Opalka, Melanie Amélie

Papa - 1. Lehrjahr


ausgezeichnet

Nach ihrem ersten Buch „Mach mir‘n Kind“, der sich mit dem (mitunter schwierigen) Versuch befasste, ein Kind zu bekommen, schlägt Autorin Melanie Amélie Opalka in ihrem zweiten Roman „Papa - 1. Lehrjahr“ einen lockereren Ton an. Schließlich geht es um ein freudiges Thema: Vater sein! Einen Sohn großziehen!

Der Protagonist geht ein wenig blauäugig an die ganze Sache heran und muss schnell feststellen, dass seine Erwartungen wohl an der Realität vorbeigehen:

„Also ich meine, wer hätte denn ahnen können, dass 24/7 so richtig und total auch 24/7 heißt? Also nonstop auf Baby-Bereitschaft? Ich bin einem Burnout nahe – und das wie gesagt binnen der ersten vierzehn Tage.“
Papa - 1. Lehrjahr, S. 11

Zu Kämpfen hat Papa aber nicht nur mit dem Baby selbst und seinen Launen und Verhaltensweisen, sondern auch mit Selbstzweifeln ob der eigenen Vatertauglichkeit und Übervorsicht, die auch vom dem langen Weg bis zum Baby rührt. Der Weg des frischgebackenen Papas hält allerlei Hindernisse parat, etwa den Pipistrahl beim Wickeln oder die erste Erkältung des Sohnes. Die Situationen werden zwar nicht immer mit Bravour, aber dafür immer mit Humor gemeistert.

„Papa – 1. Lehrjahr“ war aber nicht nur Spaß, sondern hielt für mich als Noch-Nicht-Vater auch allerhand neues Wissen parat, das ich hoffentlich bald auch in der Praxis erproben kann. Vielleicht gelingt es mir ja, dem Baby rechtzeitig ein Kissen unterzuschieben, bevor es aus dem Sitzen wieder umfällt. Ich berichte dann.

Das neue Buch von Melanie Amélie Opalka war für mich also ein kurzweiliges und bereicherndes Lesevergnügen, fünf von fünf Sterne von mir!