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jr17

Bewertungen

Insgesamt 37 Bewertungen
Bewertung vom 25.08.2022
Beifang
Simons, Martin

Beifang


sehr gut

Frank ist neugierig. Worauf, das scheint er selbst nicht so genau zu wissen. Was er weiß ist, dass er mehr über das Leben, vor allem aber die Kindheit seines Vaters Otto herausfinden möchte. Doch der Vater schweigt. Frank wendet sich deshalb an einige der 11 Geschwister Ottos. Was sie erzählen, ist grausam.
Sehr erfolgreich baut Martin Simons seine Charaktere auf. Sie sind häufig unnahbar und trotzdem klar gezeichnet. Auf seine schlichte Art bekommt man beim Lesen das Gefühl, nur das Wesentliche wird erzählt. Aber was ist eigentlich das Wesentliche? Ich selbst wurde gedanklich erst gegen Ende dazu herausgefordert, Franks Wahrheiten in Frage zu stellen.
Ohne auf ein bestimmtes Ziel hinzuarbeiten bewegt sich die Handlung des Romans durch die Generationen. Fängt Stimmungen und Geschichten auf, zeichnet eine grausame Nachkriegszeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts und arbeitet heraus, woran es zwischenmenschlich ankommt. Sehr zu empfehlen!

Bewertung vom 25.08.2022
Die Familie
Krupitsky, Naomi

Die Familie


gut

Antonia und Sofia sind beste Freundinnen. Vielmehr: Sie sind auch Verbündete. Verbündete in einer Welt der Mafia. Es ist der Kosmos ihrer Väter im New York der 30er, in dem der Roman einsetzt. Joey und Carlo sind Teil der New Yorker Mafia und wissen beide nicht so recht, wie sie dort gelandet sind. Doch eines ist klar: Die Familie, die in diesem Fall die ganze Mafia ist, verlässt man nicht. Es sind authentische Figuren, mit denen Naomi Krupitsky ihre Geschichte aufzieht. Vor allem Antonia möchte man als Leser beistehen. Doch ab einem gewissen Punkt wirkt die Geschichte repetitiv über den Grad dessen hinaus, was es bräuchte, um die Eintönigkeit und Wiederholbarkeit der beiden Frauenleben zu zeigen. Sprachlich ist der Roman solide, gerade am Anfang tut die detailreiche Beschreibung von Gefühlen und Regungen gut. Gegen Ende wirkt die Art, Umgebung und Gedanken zu beschreiben, doch teilweise etwas lang.

Bewertung vom 26.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


sehr gut

Tamar Noort hat einen Roman geschrieben über den Sinn des Lebens. Es ist ein zurückhaltender Roman, der die richtigen Fragen stellt, vielschichtige Charaktere zeichnet und gut unterhält - was will man mehr? Als Elke, irgendwo zwischen Theologie Studium und Arbeit Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und dabei plötzlich Gott wortwörtlich verliert, steht sie vor einer großen Leere. Mit der Zeit lernt sie, was sie vom Leben möchte, aber das geschieht langsam und behutsam. Sie lernt neue Menschen kennen, entfremdet sich von anderen und lernt dann wieder Schritt für Schritt, sich anzunähern. Dabei beweist Tamar Noort nicht nur Feingefühl für die Tiefen und Abgründe der Trauer, sondern auch viel Humor, der das Blättern von Seite zu Seite ganz leicht macht.
Elke macht Fehler. Sie zweifelt und muss Vertrauen neu lernen. Aber genau das macht sie so sympathisch und lässt den Roman so nah an uns heran.

Bewertung vom 25.07.2022
Violeta
Allende, Isabel

Violeta


gut

Violeta ist 100 Jahre alt, als sie auf ihr Leben zurückblickt und ihrem Enkel Camilo schildert, was ihr in all der Zeit passiert ist. Sie berichtet. Doch genau das ist die Schwäche des Romans: Sehr sachlich schildert die 100-Jährige von Flucht, Armut, Tod, neuer und alter Liebe und ihren Kindern. Am emotionalsten wird sie beim Berichten über die eigene Tochter, doch bereits wenn es um ihren Sohn geht, ist sie wieder distanziert.
Violeta hatte ein spannendes Leben, keine Frage. Eine emanzipierte Frau, ist sie früh selbstständig, sorgt für sich und ihre Familie und unterstützt andere, wo sie kann. Doch etwas zu häufig scheint alles zusammenzupassen, ein paar mal zu oft habe ich mich beim Lesen gefragt, ob ich ihr die Schilderung der Ereignisse nun abnehme oder nicht.
Allein die Perspektive macht sie selbstverständlich zur unzuverlässigen Erzählerin. Dann hätte ich mir jedoch eine passioniertere Erzählerin gewünscht.

Bewertung vom 11.06.2022
Nachtschwärmerin
Mottley, Leila

Nachtschwärmerin


sehr gut

Kiara ist 17, als sie ihre Miete nicht mehr bezahlen kann. Ihr Vater ist gestorben, die Mutter in der Reha, der Bruder will Rapper werden. Deshalb sieht sie keinen anderen Ausweg, als sich zu prostituieren. Nach kurzer Zeit schon fällt sie dabei der Polizei in die Hände. Doch anstatt sie zu beschützen, nutzt eine Reihe von Polizisten die Teenagerin zum eigenen Vergnügen. Sie kann nicht mehr zählen, wie oft sie mit den Männern schlafen muss, auf ihre Parties geht und wie oft sie dabei noch nicht einmal bezahlt wird. Es ist der Kampf einer verzweifelten jungen Frau um die Kontrolle in ihrem eigenen Leben. Eigentlich noch eher der Kampf eines Kindes, das zur Erwachsenen werden muss, viel zu früh. Leila Mottley legt ein brutales und gleichzeitig mitfühlendes Debut vor. Über die Realität in ihrer Heimatstadt Oakland. Über die Realität junger (schwarzer) Frauen. Über die Realität.

Bewertung vom 23.05.2022
Das rätselhafte Universum
Bohnet, Ilja;Naumann, Thomas

Das rätselhafte Universum


sehr gut

Dieses Buch bietet einen wunderbar philosophisch-physikalischen Einblick in die Beschaffenheit der Welt. Ganz viele spannende Themen werden aufgemacht, spannende Fragen aufgeworfen. Allerdings fehlt dem Physik-Neuling immer wieder die allgemeine Einführung in den entsprechenden Themenbereich. Das führt dazu, dass es manchmal schwer wird, neue Informationen dann in bestehendes Wissen einzuordnen. Trotz allem: Die Gedankengänge, die Physik zu nutzen, um die Grundfragen der Welt zu klären, sind spannend. Woher kommt die Gravitationskraft? Gibt es eine Ur-Kraft, aus der ganz verschiedene Kräfte hervorgegangen sind? Auch die Einordnung von Relativitäts-, Quanten- und Stringtheorie sind sehr aufschlussreich und helfen dabei, Konzepte zu verstehen, die der modernen Wissenschaft zu Grunde liegen. Dieses Buch kann die Wahrnehmung des Alltäglichen verändern!

Bewertung vom 30.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


ausgezeichnet

Lucy Fricke beweist erneut, was sie kann: Mit Humor und einer bestechenden Beobachtungsgabe begibt sie sich mit "Die Diplomatin" auf das Parkett der internationalen Politik. Dabei ist ihre Hauptperson, eine knapp 50-jährige Diplomatin namens Fred, ebenso nahbar, wie amüsant. Während sich Fred zunächst in Uruguay zu Tode langweilt, einzig die Feier zur deutschen Einheit ist zu planen, scheint sie in dieser sonst so ruhigen Umgebung kein Glück mit der Ruhe zu haben. Auch zwei Jahre später, in Istanbul, ist es alles andere als ruhig im Umfeld der Konsulin. Etwa die erste Hälfte des Romans überzeugt mit besagtem Witz und dem inneren Konflikt der Hauptperson, sich an die Regeln zu halten oder dem eigenen Instinkt zu folgen. Vor allem aber im zweiten Teil, wenn dieser Konflikt größer wird, nimmt die Handlung an Fahrt auf und als Fred beginnt, eigenmächtig zu handeln, möchte man das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Bewertung vom 10.03.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


gut

Elle ist Mitte 50. Trotzdem kann sie sich nicht entscheiden: Die Jugendliebe Jonas oder Ehemann Peter? Während sie in Rückblicken ihr Leben schildert, kommen natürlich Sympathien auf. Da ist eine Frau, eigentlich Mitten im Leben, glücklich. Doch unter der Oberfläche, wie so oft, verbirgt sich ein langer Weg geprägt von Leid, Schmerz aber auch Freude und Zuversicht. Und ganz, ganz vielen Entscheidungen. Obwohl Elle allerdings die Entscheidung, Peter geheiratet zu haben, keine Sekunde in Frage stellt, ist sie unentschieden. Während eine schaurige Geschichte die Erklärung dafür liefert, warum es mit Jonas nicht geklappt hat, werden viele Entscheidungen Elles nicht richtig motiviert. Sie handelt impulsiv. So sind einige Episoden gut nachvollziehbar, man fühlt und fiebert mit, andere machen wütend: Auf Elle, auf Jonas, auf Menschen, die vor allem eines im Kopf haben. Sich selbst.
Cowley Heller schafft eine tolle Atmosphäre in ihrem Roman. Trotzdem hätte ich von Erwachsenen ein Verhalten erwartet, dass sich von dem 15-Jähriger unterscheidet.

Bewertung vom 05.03.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


ausgezeichnet

Michael Hartung ist sympathisch. Ein wenig grummelig, ein bisschen hängengeblieben, aber irgendwie nahbar. Deshalb fiebert man auch mit, als er plötzlich ungewollt und vor allem unverdient zum Helden wird.
Dieser Roman bringt auf den Punkt, welche Probleme sich noch heute bei der Wiedervereinigung Deutschlands ergeben. Doch so trocken das klingt, so lustig ist das von Autor Maxim Leo realisiert. Nicht selten bringt einen der Roman zum Nachdenken, vor allem aber zum Schmunzeln oder direkt zum Lachen. Ohne Pathos legt er den Finger in die Wunde einer verschrobenen Erinnerungskultur, die lieber erklärt, als zuhört und das ein oder andere noch immer nicht gelernt zu haben scheint. Ein Buch für all diejenigen, die sich selbst nicht allzu ernst nehmen und all jene, die genau das lernen wollen. Eine Geschichte, die die Lesenden gleichermaßen fordert und unterhält. Das wahrlich gelungen erzählte Leben eines ungewollten Hochstaplers.

Bewertung vom 14.02.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Wenn Familien im Mittelpunkt stehen, haben Romane häufig die Tendenz, sich in die Länge zu ziehen. Familienmitglied um Familienmitglied muss eingeführt, entwickelt und in Aktion gezeigt werden. Nicht so bei Fatma Aydemir. "Dschinns" ist eine temporeiche Erzählung über das Leben einer kurdisch-stämmigen Familie. Die Eltern sind zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, die Kinder leben zwischen den Kulturen, versuchen ihren Platz zu finden. So weit, so wenig neu. Doch Aydemir erzählt frisch, gibt jeder Person einen ebenso individuellen wie glaubwürdigen Charakter, führt die Erzähl-Stränge gekonnt zusammen und löst auf, was erzählt werden muss, ohne in die Falle zu tappen, so viel zu erzählen, dass das Buch seine Interpretationsräume verliert. Konfliktreiche und gleichzeitig liebenswerte Charaktere. Die Frage, nach der Verantwortung für das eigene Leben. Und ein ehrliches Bild von Deutschland um die Jahrtausendwende. Rundum, der fesselnder Roman einer wahrlich großen Autorin.