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lustaufbuch

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Insgesamt 165 Bewertungen
Bewertung vom 20.10.2024
Die Mandarins von Paris
Beauvoir, Simone de

Die Mandarins von Paris


ausgezeichnet

»Die Wahrheit sagen: Bisher hatte das nie ernsthafte Probleme aufgeworfen.«

Wir befinden uns im Paris der Nachkriegszeit. Eigentlich ein Grund aufzuatmen. Eigentlich. Henri Perron, Herausgeber der Zeitung Espoir, welche unabhängig von politischen Ansichten berichtet und dafür von unterschiedlichen Lagern geschätzt wird, muss sich nun entscheiden: Bleibt er seiner Linie treu oder hilft er der linken Gruppierung der SRL, die sich vom Kommunismus abgrenzt, zu Ansehen? Ins Leben gerufen wurde diese u.a. durch seinen Freund Robert Dubreuilh, der Henris Zeitung gerne zum politischen Sprachrohr der SRL ausbauen würde.
Wäre da nicht noch seine Frau Paule, die ihn eher krankhaft verehrt, als liebt.

Ein zweiter Handlungsstrang widmet sich Anne, Roberts Frau, der ihre Suche nach sich selbst und einem unabhängigen, selbstbestimmten Leben begleitet. Gleichermaßen wird auch das Leben, besonders das sich in Affären verlierende Liebesleben, der gemeinsamen Tochter Nadine beschrieben.

Die zwei Erzählperspektiven bieten teils subjektive, überschneidende Einblicke derselben Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln und veranschaulichen die Uneindeutigkeit gewisser Ansichten.
Darüber hinaus ist es nicht ausschließlich ein höchst politischer Roman, der sich den französischen Intellektuellen – Mandarins genannt – der Nachkriegszeit sowie den Kriegsverbrechen widmet, sondern ist auch stets gesellschaftskritisch angelegt. Rollenbilder geraten ins Wanken, partnerschaftliche Abhängigkeiten sowie die Rolle der Frau werden hinterfragt und nicht zuletzt überdecken moralische Fragen diese tausend Seiten.

Ein Roman, der, trotz seiner siebzig Jahre, besonders mit Augenmerk auf die Zerspaltung der Linken, höchst aktuell ist.
Die gute Lesbarkeit, welche keinesfalls trocken ist, verdanken wir in erster Linie der großartigen Autorin sowie den beiden Übersetzerinnen Claudia Marquardt und Amelie Thoma.
Wer sich für Politik und umfangreiche, gut geschriebene Klassiker interessiert, für den wird das Buch sicherlich ebenfalls eine Bereicherung mit Lesegenuss sein!

Bewertung vom 13.10.2024
Knife
Rushdie, Salman

Knife


ausgezeichnet

»Was den Rest anging - mir mein altes Leben zurückzuholen -, so wusste ich, das würde noch warten müssen.«

Für Salman Rushdie dauerte der Moment eine halbe Ewigkeit, doch es vergingen lediglich Sekunden. Wenige Augenblicke, nach denen nichts mehr war, wie zuvor:
Es sollte eine friedliche Diskussion über die Gewährleistung von Sicherheit für Autoren werden und endete in einem brutalen Angriff. An diesem Tag, dem 12. August 2022, waren sichtlich nicht genügend Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden.
Der Schriftsteller sah den 24-jährigen Angreifer vom Publikum schnurstracks auf die Bühne, auf ihn zurennen und 27 Sekunden sowie etwa 15 Stiche später wusste er nicht einmal, ob er überleben würde.
Der Schock dieser blanken Gewalt saß tief, bei allen Anwesenden. Achtzehn Tage verbrachte Rushdie auf der Intensivstation, um die schlimmsten Verletzungen im gröbsten auszukurieren und sich seines Zustandes bewusst zu werden.
Doch für Rushdie kam dieser Angriff nicht gänzlich unerwartet, viel eher überraschend. Er offenbart, dass er schon davor öfters von verschiedensten Attacken gegen ihn geträumt hat.

Was macht dieses Attentat mit einem?
Wird es danach jemals wieder so sein wie zuvor?
Kann es das überhaupt oder lebt man nun in ständiger Angst, dass sich dies wiederholen und der Mordversuch beim nächsten Mal gelingen könnte?
Warum wählte er den intimen Angriff mit dem Messer, anstelle einer Schusswaffe?

Diesen und noch weiteren Fragen widmet sich der Autor auf eine persönliche, über das Ereignis sowie sein Leben reflektierende Weise, stets den Blick der Zukunft zugewandt. Neben Schilderungen der Zeit vor und insbesondere nach diesem Tag, lässt Rushdie die Lesenden am Prozess seiner Genesung teilnehmen. Auch fiktive Gespräche mit dem Attentäter, das Kennenlernen mit seiner Frau Eliza und das erneute Aufsuchen der Chautauqua Institution, dem Ort des Geschehens, werden geschildert.
Rushdie erzählt eine der gravierendsten Szenen aus seinem Leben, teils als bewegendes autobiografisches Erlebnis und teils als distanzierter Entfernung.

Bewertung vom 06.10.2024
Arnes Nachlaß
Lenz, Siegfried

Arnes Nachlaß


ausgezeichnet

»Nehmt ihn wie einen Bruder auf und stellt ihm keine Fragen, irgendwann wird er schon von selbst sprechen wollen.«

Eines Abends – ein langer Monat des Wartens war verstrichen –, beginnt Hans, von seinen Eltern dazu aufgefordert, dass es nun doch mal Zeit sei, den Nachlass von Arne, mit dem er in letzter Zeit sein Zimmer teilte, zusammenzupacken. Diese Aufgabe fällt ihm nicht leicht, ganz im Gegenteil. Immer wieder verharrt er bei bestimmten Gegenständen, welche Auslöser sind, um in Erinnerung zu schwelgen – an eine Zeit der Gemeinsamkeit.
Dies zum Anlass nehmend erzählt Hans rückblickend und etappenweise dessen Geschichte:
Ein trauriges Schicksal umgibt den zwölfjährigen Arne Hellmer, welcher als Einziger gerettet werden konnte. So kam es, dass Hans‘ Vater Harald den Sohn seines Jugendfreundes aufnahm.

In einer etwas altmodischen, vom Autor gewohnten und von dessen Lesern geliebten, wunderschönen Sprache wird Arnes Geschichte – eine Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit – erzählt.
Um sich den Roman besser erschließen zu können, wird dieser vierzehnte Band der Hamburger Ausgabe um einen umfangreichen Kommentar von Maren Ermisch ergänzt. Im Zuge dessen werden nicht nur unbekannte Wörter im Stellenkommentar erschlossen, sondern neben unterschiedlichen Formen der Rezeption auch Referenzen zu weiteren Werken von Lenz und darüberhinaus anderen Autoren analysiert. Dadurch zeigen sich bspw. Ähnlichkeiten zu Thomas Manns „Tonio Kröger“, schließlich werden beide Protagonisten vom Bedürfnis nach Anerkennung geleitet.
Besonders interessant ist die von Ermisch chronologisch geschilderte Entstehung von „Arnes Nachlaß“, anhand der ersten zwei Fassungen, welche, neben drei gestrichenen Kapiteln, ebenfalls im Buch abgedruckt sind.

Manche Bücher von Lenz – dieser Roman zählt dazu – müssen langsam gelesen werden, um deren melancholische, emotionale und leise daherkommende Atmosphäre entfalten zu können.

Zuletzt bleibt mir nicht mehr, als den Worten des Lektors Helmut Wiemken beizupflichten:
„Ein Werk, das Zustimmung verdient; meine hat es.“

Bewertung vom 02.10.2024
Ein anderes Leben
Peters, Caroline

Ein anderes Leben


gut

Es ist die Beerdigung ihres Vaters, die Mutter ist bereits verstorben. Anders als ihre beiden älteren Schwestern, hat sie nun beide Elternteile verloren und steht alleine da. Über den ganzen Roman hinweg ist die Beerdigung des Vaters Bow als grundlegende Rahmenhandlung anzusehen.
Dieses Ereignis zum Anlass nehmend lässt die Protagonistin, zugleich die jüngste Tochter, ihr Leben von der Kindheit ausgehend Revue passieren und beleuchtet dabei besonders die stets ambivalente Beziehung zu ihrer Mutter. Diese hielt nicht viel von Konventionen und heiratete nacheinander ihre drei Studienfreunde, wobei ein jeweiliges Kind natürlich nicht fehlen durfte. Nur mit Bow, ihrem letzten Ehemann, blieb sie länger zusammen und übernahm mit ihm überwiegend die Erziehung ihrer drei Töchter. Doch als sich die Pubertät der Protagonistin ankündigt und diese sich gegen ihre Eltern auflehnt, möchte Hanna ihr Leben auf die bisherige Art nicht mehr so weiterführen – schon lange fühlt sie sich im Alltag gefangen. Sie zieht die Reißleine, sucht sich eine eigene Wohnung und kümmert sich in erster Linie um sich selbst. Hanna und ihre Tochter hatten es nicht leicht miteinander und doch liebten sie sich.

Sanft, als würden andererseits Beziehungsgeflechte zerbrechen, erzählt die Schauspielerin Caroline Peters in ihrem Debütroman von Menschen, die sich auf eine gewisse Art und Weise selbst verfehlen und zu spät die richtigen Fragen stellen.

Auch wenn dies alles einen emotionalen Roman verspricht, konnte er mich nicht überzeugen. Für mich blieben die Figuren, trotz ihrer Detailtreue, welchen man der Autorin, ebenso wie den klaren Stil lassen muss, oberflächlich und ließen mich nicht wirklich in die Geschichte eintauchen. Meines Erachtens will der Roman zu viel und wechselt teils zu stark zwischen unterschiedlichen Schwerpunkten.
Trotz allem kann man nicht sagen, dass das Buch nicht tief genug ging, eventuell war sogar das mein Problem damit. Es gab zu viele Details, insbesondere zu den drei Ehen, welchen in diesem Ausmaß nicht notwendig gewesen wären.

Bewertung vom 02.10.2024
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Stanisic, Sasa

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne


ausgezeichnet

»Für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät.«

Wie soll man den Inhalt dieses mehr als vielfältigen Buchs zusammenfassen ohne zu viel zu verraten und den Inhalt regelrecht zu offenbaren? Es ist schwierig – fast unmöglich –, schließlich lässt dieser nicht eben wenig Spielraum und gibt nur das Konstrukt vor. Zudem blicken Lesende in vollkommen anders verlaufende Lebensläufe in verschiedensten Situationen.
Versuchen wir es mal so:
Der übergeordnete Handlungsstrang erzählt von vier Jugendlichen, die überlegen, wie es wäre, wenn man seine Zukunft für zehn Minuten „anprobieren“ und falls diese vielversprechend wirkt, sich in diese „einloggen“ könnte. Dabei begegnen uns im weiteren Verlauf unterschiedlichste Momentaufnahmen, die in zukünftiger Hinsicht wegweisend für die erwähnten Figuren sind oder deren eigene Vergangenheit reflektieren.
Stanišićs neues Buch, bestehend aus mehreren einzelnen Erzählungen, die einzeln stehen und sich zugleich zu einem Gesamtkunstwerk verweben, ist ein Spiel mit dem Zufall, Schicksal und vorgegeben Lebensläufen.
Würde man sein Leben ändern, wenn man bereits wüsste, was passieren könnte? Oder sogar Geld investieren, damit es eben diese, gewollte Richtung einschlägt und ein erfüllendes, glückliches Leben mit sich bringt?
Manche Abzweigungen im Leben scheinen irrelevant, andere alternativlos und einige markieren Weggabelungen, die erst im Nachhinein deutlicher sichtbar sind.

Meisterhaft beherrscht Stanišić das Spiel mit der Sprache, irritiert und bricht konventionelle Regeln, schlichtweg um es auszutesten – und es gelingt ihm! Seiner grandiosen Fabulierkunst ist es zu verdanken, dass mich dieses Buch auf amüsante Weise unterhalten und gleichermaßen nachdenklich gestimmt hat.
Nach der Lektüre stehen die lesenden vor der Wahl selbst zu beurteilen, ob diese Geschichten belangloser Natur sind oder schlichtweg großartige Literatur.

Bewertung vom 02.10.2024
Der Zauberberg, die ganze Geschichte
Ohler, Norman

Der Zauberberg, die ganze Geschichte


ausgezeichnet

»Die Geschichte hinter dem Zauberberg schreibe ich«, sagte ich nun. »Die ganze Geschichte.«

Der Erzähler dieses Buchs, selbst Autor, reist mit seiner Tochter Suki zum Skifahren nach Davos, um einige Tage mit zwei Freundinnen dieser sowie deren Mütter zu verbringen. Aus einem erholsamen Kurzurlaub wird eine Reise in die Vergangenheit und die Zukunft. Der Protagonist entschließt sich der Geschichte sowie der Wahrnehmung des Dorfes auf dem Grund zu gehen, stellt alsbald das Skifahren hintenan und nutzt die folgenden Tage vielmehr zur lokalen Recherche.
Zudem überschattet eine schwierige Beziehung die Gedanken des Protagonisten – er stellt sich eine Zukunft mit Emma vor, während sie doch nicht von ihrem Mann lassen kann.

Hört man Davos, hat man regelrecht die Sanatorien vor Augen, welche u.a. aufgrund der guten Bergluft damit warben Tuberkulose heilen zu können oder man denkt an Thomas Manns 1924, nach zwölfjähriger Arbeit, erschienenen Roman „Der Zauberberg“.
Doch Davos hat noch mehr zu bieten. Zusammen mit den Lesenden erkundet der Erzähler die Abwendung vom Sklavenhandel und der Entstehung des Kurorts, geht selbstverständlich auch auf Manns Roman ein und erwähnt Klabunds Erzählung „Die Krankheit“, welche einige Ähnlichkeiten zu diesem aufweist. Auch die Zeit des Nationalsozialismus lastet bedrückend auf Davos, besonders das Leben Wilhelm Gustloffs, welcher später von David Frankfurter erschossen und als Symbolfigur der Nazis inszeniert wurde.
Kritisch beäugt er zudem das jährlich tagende Weltwirtschaftsforum und die Auswirkungen des Klimawandels, mit besonderem Blick auf den Skitourismus.

Ohler zeichnet eine Geschichte des Zauberbergs, respektive des Ortes Davos, von dessen Ursprüngen und Entstehung als Kurort bis in die heutige Zeit. Eine wirklich faszinierende Abhandlung, mit fiktiven Elementen, die sich wunderschön – als würde man selbst dort sein – lesen lässt und nicht nur begeisterten „Zauberberg“-Lesern mehr Hintergrundwissen über den Ort des Geschehens liefert.

Bewertung vom 02.10.2024
Hüetlin, Thomas

"Man lebt sein Leben nur einmal"


sehr gut

»Wir hatten es so gut, wir liebten das Leben, und das Leben liebte uns stürmisch zurück«

Als Erich Maria Remarque auf Marlene Dietrich traf, saß diese mit dem Regisseur Josef von Sternberg, dessen Verfilmung „Der blaue Engel“ sie berühmt gemacht hat, zusammen auf der Terrasse eines Hotels. Sie liebte seinen Roman „Im Westen nichts Neues“ und – als sie ihn jetzt vor sich sah – seine elegante Art und die blauen Augen. Sofort wusste sie, dass er der passende Mann sein könnte. Jedoch nicht ihr Mann, sondern vielmehr der nächste in ihrer Reihe unzähliger Affären und Liebschaften. Dazu kam, dass beide verheiratet waren, auch wenn das nicht viel hieß, schließlich betrogen beide ihre Partner hemmungslos und berichteten sogar darüber.
Überdies führte die Schauspieler-Diva ihre sog. „Umgebung“ fast überall mithin und überließ zudem ihrem Gemahlen die Aufgabe, sämtliche Briefe ihrer Affären sorgfältig zu archivieren.
Der Schriftsteller und die Schauspielerin durchlebten eine kuriose Beziehung – wenn man ihr Verhältnis überhaupt so bezeichnen kann – voller Höhen und noch mehr Tiefen, Neid, Ruhm, sexueller Befreiung und Zwang.
Um die zeitlichen Hintergründe der Liebesbeziehung nicht zu vernachlässigen – immerhin waren sie bestimmend –, ergänzen Einblicke in das Machtsystem der Nationalsozialisten das Buch.

Thomas Hüetlin hat geschaffen, was als unmöglich galt – er haucht Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque neues Leben ein und lässt beide Protagonisten erscheinen, wie sie wirklich waren. Behilflich waren ihm dabei besonders Briefe und Tagebücher, die den persönlichen Blick in die stetig wechselnden Gefühlslagen ermöglichen. Manche davon finden sich direkt im Text, was wiederum zeigt, wie akribisch der Autor recherchiert hat, um den Lesenden dieses detailreiche Porträt darbieten zu können.
Teils fiel mir die Lektüre etwas ermüdend, jedoch ist dies nicht dem Autor geschuldet, sondern vielmehr den oftmals ähnlichen, sich wiederholenden Handlungen im Leben von Dietrich und Remarque – sie konnten einfach nicht voneinander lassen.

Bewertung vom 26.09.2024
Wir waren nur Kinder
Jedinak, Rachel

Wir waren nur Kinder


ausgezeichnet

»Weil wir jüdisch waren, hatten wir keinen Wert. Man konnte uns demütigen, verängstigen, uns wehtun. Und man hatte das Recht dazu, so als hätten wir es verdient.«

Die passenden Worte, geschweige denn überhaupt welche zu finden, fällt manchmal nicht leicht. Dieses Buch stellt so eine Situation dar. 

Rachel Jedinak nimmt uns mit auf eine persönliche Reise in ihre eigene Kindheit in Paris. Sie schildert, wie die Deportationen begannen, wie ihr Leben davon beeinflusst wurde und dieses nicht nur einmal am seidenen Faden hing. Der Alltag, der plötzlich keiner mehr ist. Vielmehr beherrscht von nun an Angst die ganze Familie. Auch wenn sie, wie ihre Eltern, keine praktizierenden Juden waren, überschattete sie ihr Jüdischsein auf einmal vollkommen. Ohne den abwertenden gelben Stern durften sie nicht mehr aus dem Haus, doch dieser führte dazu, dass sich andere von ihnen abgrenzten. 
Als die Massenverhaftungen begannen, konnte sie, da ihre Mutter sie wegschickte, mit ihrer älteren Schwester entkommen. Ihren Eltern gelang dies nicht und diese mussten ihr Leben in deutschen Vernichtungslagern lassen. 
Dabei wollte sie, wie unzählige andere Menschen, ausschließlich weiterhin in Frieden leben, immerhin waren viele von ihnen, wie der Titel so prägnant und schonungslos offenbart, nur Kinder. 

Lange schwieg die Autorin über ihr Schicksal als jüdisches Kind und erst als ihr Enkel sie aufforderte, doch darüber zu sprechen, um dieses mit anderen zu teilen, fing sie damit an. Ebenfalls setzt sie sich für Gedenktafeln ein, welche die Massenverhaftungen unzähliger Kinder nicht vergessen lassen, sondern allgegenwärtig als Erinnerung sowie als Warnung dienen.

Meiner Ansicht nach kann es nicht genug Bücher über Leidtragende des NS-Regimes geben und selbst wenn sich manche Geschichten ähneln mögen, ist jede Erzählung wert gehört zu werden, denn niemals dürfen diese vergessen oder relativiert werden! 

Bewertung vom 26.09.2024
Gysi gegen Guttenberg
Guttenberg, Karl-Theodor zu;Gysi, Gregor

Gysi gegen Guttenberg


ausgezeichnet

»Warum ist Politik nicht vorbeugend, sondern es muss immer erst etwas passieren, um dann doch endlich irgendeine Lösung zu suchen.« 
~ Gregor Gysi 

Vor mittlerweile über einem Jahr entschlossen sich die beiden Politiker Gregor Gysi (Die Linke) und KT Guttenberg (CSU) dazu, einen Podcast zu starten, der nicht ausschließlich aktuelle oder politische Themen umfasst, sondern vielfältig aufgestellt ist. 
Wer jedoch gierig lautstarke Diskussionen erwartet hatte, wurde enttäuscht. Auch wenn die Grundansichten der beiden Gegenspieler teilweise weit auseinanderliegen – schließlich sind es die jeweiligen Parteikonzepte auch – und sich darüberhinaus bestimmte Argumente nicht ändern, lassen beide das jeweilige Gegenüber stets ausreden und hören dessen Gedanken respektvoll an. Schnell merkt man, dass sie sich so uneinig gar nicht sind, sondern durchaus gemeinsame Ansichten teilen. 
Ein Grund dafür könnte sein, dass Guttenberg selbst nicht mehr politisch aktiv tätig ist und somit auf keine Parteilinie Rücksicht nehmen muss und Gysi das sowieso nie tat, sondern seit jeher eigensinnig denkt. 

Nun liegen einige der bisherigen Diskussionen in Buchform vor und die beiden bieten sich, vor hörendem sowie lesendem Publikum, trotz uneiniger Meinungen, einen Schlagabtausch auf wertschätzender Ebene, wie es bei anderen Politikern der Parteien nicht möglich wäre. 

Dabei streifen sie persönliche Themen wie Heimat, Humor, Einsamkeit oder Depression. Aber natürlich umfassen diese Debatten auch das aktuelle politische Geschehen, wie den Krieg in der Ukraine, Israel und Gaza, Trump oder Ost- und Westdeutschland, insbesondere den aufsteigenden Triumphzug der AfD. 
Durch diese Gespräche bekommt man als Leser private Einblicke in die Biografien der beiden Politiker, welche einem sonst verwehrt bleiben. Zudem bietet die Lektüre andere Blickwinkel, durch die man selbst angeregt wird über bestimmte Thematiken nachzudenken. 

Bewertung vom 26.09.2024
Beklaute Frauen
Schöler, Leonie

Beklaute Frauen


ausgezeichnet

»Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.«

Ein jeder kennt diesen Satz, doch dieses Buch macht deutlich, dass auf ihm eine ganz andere Bedeutung lastet, die, anders als bisher angenommen, tiefer geht.
„Beklaute Frauen“ ist eines jener Bücher, von denen man sich wünscht, dass jeder, wahrhaftig jeder es liest.

Wie viele Männer gibt es, die für unterschiedliche Leistungen bis heute dafür geschätzt und geehrt werden, während sie selbst dafür gar nicht oder nur teils verantwortlich waren?
Diese Einstellung hat sich bis heute gehalten, schließlich denken wir bei berühmten historischen Persönlichkeiten fast ausschließlich an Männer. Gleiches gilt für bedeutende Schriftsteller des Bildungskanons. 
Die Liste wäre ewig weiterzuführen, doch Leonie Schöler zählt keine Beispiele auf, sondern schaut genau hin, hinterfragt deren wirkliche Leistungen und schildert bisher kaum erzählte Schicksale von Betrug, Diebstahl und Machtmissbrauch, jeweils zum Leidwesen der Frauen.
Dabei gibt die Autorin immer wieder spannende Exkurse und geht beispielsweise auf die kritisch zu hinterfragende patriarchale Institution der Ehe, das Wahlrecht oder den Nobelpreis ein.

Wir alle sollten endlich den Geschichten dieser vielen großartigen Frauen zuhören und sie selbst weiterhin in die Welt tragen. Immerhin verdanken wir ihnen, auch wenn sie dafür kaum bis keine Anerkennung bekommen haben, unendlich viel. 
Es ist Zeit, dass beklaute Frauen immerhin nachträglich den Ruhm bekommen, der ihnen seit jeher auch wirklich zusteht und dessen sie von Männern beraubt wurden.
Dieses Buch bietet einen Anfang, auch wenn es unergründlich bleibt, wie viele weitere Frauen – sicherlich sind die geschilderten Schicksale nur die Spitze des Eisbergs – um ihre Leistungen gebracht wurden. 

Doch, wer denkt, dass alle diese exemplarisch geschilderten Beispiele der Vergangenheit angehören und wir jetzt in anderen Zeiten leben, in denen so etwas nicht mehr möglich ist, irrt sich gewaltig.