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Top-Rezensenten Übersicht

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probelesen
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 53 Bewertungen
Bewertung vom 10.07.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


ausgezeichnet

Der 30jährige Autor verbringt drei Tage mit seinen Großeltern auf Sylt, die jetzt im Alter nicht mehr im Campingbus reisen, sondern sich eine Ferienwohnung leisten. Die Unterbringung aus Sparsamkeitsgründen im gemeinsamen Zimmer auf provisorischen Matrazen ist natürlich gewöhnungsbedürftig für den jungen Mann, passt aber wunderbar in das gemeinsame Ambiente. Er beschreibt die Tage mit den Alten, schweift aber immer wieder ab in Erinnerungen an Famlienereignisse, beschreibt liebevoll die Schrullen der Erwachsenen, die Streiche der Kinder, die gewöhnungbedürftige Art seiner Großmutter, ihre Liebe durch Kochen zu zeigen, die kauzige Sparsamkeit. Sehr komisch, dabei außerordentlich einfühlsam. Auch traurige Elemente bleiben nicht ausgespart wie der frühe Tod des Onkels, von dem mit sehr viel Empathie erzählt wird. Auf heitere Art entstehen lebendige Charaktere, die man trotz aller Eigenheiten lieb gewinnen kann. Ausgesprochen flüssig geschrieben, so dass man das Buch gut im Strandkorb lesen und sich dabei köstlich amüsieren kann.

Bewertung vom 26.06.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


gut

Eigentlich hätte der Plot für einen gesellschaftskritischen Roman gereicht: die Familie , ein Ehepaar und ihre drei Kinder treffen sich, um die Einweihung der queeren Buchhandlung der Tochter zu feiern und erleben eine Katastrophe, weil nichts so ist, wie es nach außen scheint. Betrug, Vertuschen, Verheimlichen: eigentlich lebt keiner, wie er möchte. Leider beschreibt der Spiegeljournalist diese Wirklichkeit in einem Ton, der mich ratlos macht. Er überspitzt die Situationen so, dass ich nicht erkennen kann, ob er es ernst oder satirisch meint. Die Entwicklung des Sohnes als Linguistikprofessor in New York von der Kündigung wegen Vertuschung des sexuellen Übergriffs eines Kollegen bis zum Sprecher der Republikaner Trumps scheint übertrieben und unglaubwürdig, aber in seiner Logik durchaus interessant. Alles ist aber eine Spur zuviel. Überall aktuelle Themen und Namen. Vieles könnte ja als Parodie durchgehen. Dafür ist mir der Schluss aber zu ernsthaft und zu konventionell.

Bewertung vom 23.05.2023
Zwischen Himmel und Erde
Rodrigues Fowler, Yara

Zwischen Himmel und Erde


ausgezeichnet

Ein ungewöhnliches Buch: manchmal lakonisch, manchmal rasant ohne Punkt und Komma, manchmal lyrisch. Manche Seiten sind nur mit einem Satz bedruckt, manchmal ist ein Satz mehrfach wiederholt. Der Schreibstil erfordert Aufmerksamkeit. Der Plot ist ebenfalls nicht einfach zu nachzuerzählen. Zwei junge Frauen treffen in einer Londoner WG aufeinander. Eine kommt aus Brasilien und will hier ihre Doktorarbeit beenden, die andere - ebenfalls mit brasilianischem Familienhintergrund- arbeitet als Softwarentwicklerin. Man lernt ihren Freundeskreis kennen: Die Londoner Szene mit Queeren, Drogen, Musik, politischem Engagement. Dazwischen wird die Geschichte der Familien erzählt. Viel über die politischen Verhältnisse in Brasilien, die Verfolgung während der Junta-Zeit. Die Autorin selbst ist britisch-brasilianischer Herkunft und kennt sich in der Geschichte aus. Ihr ist es offensichtlich ein Anliegen, für Verständnis zu werben. Wenn man wenig über Brasilien weiß, ist es schwierig dem Text zu folgen, zumal brasilianische Begriffe
manchmal nicht übersetzt sind. Mit einer Empfehlung tue ich mich schwer. Das Buch macht mich ein wenig ratlos.

Bewertung vom 24.03.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


ausgezeichnet

Ein Suter, wie man ihn gerne liest. Spannend und überraschend. Der arbeitssuchende Jurist Tom wird von dem totkranken Millionär Dr.Stotz eingestellt, um seine Papiere zu ordnen. Aber sein Hauptaufgabe ist es, den Erzählungen des Sterbenden zuzuhören, seiner Geschichte einer großen Liebe. die nie Erfüllung fand, weil Melody kurz vor der Hochzeit verschwand. Stotz schafft mit seinen Schilderungen den Mythos eines Verlassenen aus unerklärlichen Gründen: Mord wegen der Familienehre, Liebe eines andern? Er baut viele Legenden auf, auf die sich Tom keinen Reim machen kann. Erst nach dem Tod macht er sich auf den Weg, Erklärungen zu finden und begreift, dass Wahrheit nicht immer eindeutig ist. Spannend wie ein Kriminalroman mit einem überraschendes Ende. Und dabei fehlt das Suter-Ambiente nicht: gutes Essen, exqiusite Getränke, ein bisschen Dekadenz. Ein großartiger Roman.

Bewertung vom 23.02.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

Nach einem Streit mit ihrem Ehemann verliert die Ich-Erzählerin jegliche Orientierung und begibt sich in die Psychiatrie. Sehr einfühlsam beschreibt sie den Weg in die Krise. Siegfried, ihr Stiefvater, taucht immer wieder auf. Er trägt sie einerseits und gibt ihr Halt und Struktur, prägt aber auch mit seiner Dominanz und Emotionslosigkeit ihr weiteres Leben. Auch sein Herzinfakt löst die Krise aus. Berührend sind die Schilderungen der Kälte und stummen Gewalt, die sich durch alle Beziehungen ziehen und die weiter wirken in ihr jetziges Leben und bereits das Verhältnis zu ihrem Kind prägen. Ein sensibler Bericht über ein Leben, das nicht in den Griff zu kriegen ist. Auch die Psychiatrie scheint keine Lösung. Es bleibt ein Erschrecken über den Abgrund eines "normalen" Lebens, in dem auch das Schweigen die tiefen Verletzungen nicht zudecken kann.

Bewertung vom 03.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


ausgezeichnet

Ein schwerer Text und doch voller Poesie. Die Geschichte des türkischen Jungen Kaan aus München und seiner Familie wird rasant auf verschiedenen Zeitebenen erzählt: Kindheit und anrührende Liebesgeschichte, dann die Geschichte seiner Großeltern, sie Armenin, die den Völkermord als Kind erlebt, er Türke, der reich wird und dann doch alles verliert. Immer wieder wechselt die Erzählperspektive. Verschiedene Episoden aus dem Jahrhundert werden zu einer Komposition. Aber Grausamkeit und Gewalt bestimmen als Trauma die Familie. Erst nach dem Tod der Großmutter wird der Wunsch nach Bearbeitung geweckt, die nur gelingen kann, indem darüber geschrieben wird. So entsteht ein autobiographisch geprägtes Romandebüt wie ein Feuerwerk aus Erinnerungen, Fantasie, Rache und Versöhnung. Es bleibt die Anklage an den türkischen Präsidenten, der den Völkermord immer noch ignoriert, aber auch eine kleine Hoffnung auf Versöhnung. Ein nachdenklich machenden, ungewöhnlicher Roman.

Bewertung vom 03.12.2022
Die Stunde der Hyänen
Groschupf, Johannes

Die Stunde der Hyänen


gut

Warum man diesen Roman einen Thriller nennt, ist mir nicht ganz erklärlich. Zwar geht es um Brandstiftung im nächtlichen Berlin, es geht um Kindesmissbrauch, es geht um Intoleranz und Zwang innerhalb einer Sekte - aber alles nur mit mäßiger Spannung. Die Handlung ist nicht stringent auf eine Aufklärung der Straftaten gerichtet, sondern sie verzettelt sich auf verschiedene Handlungsebenen und ist nicht immer psychologisch nachvollziehbar. Verschiedene Bereiche werden sehr anschaulich geschildert, so der Kreis der sektenähnlichen Gemeinschaft und der daraus entstehenden familiären Konflikte. Auch die Stimmung in dem Berliner Stadtteil wird nachvollziehbar geschildert. Es ist für mich eher eine Milieustudie als ein Kriminalroman, den ich trotz der Einschränkung gerne gelesen habe, aber nach der Genreeinordnung hatte ich eine andere Erwartung.

Bewertung vom 24.10.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


ausgezeichnet

Connemara ist der Titel eines Chansons von Michel Sadou, veröffentlicht 1981 und den meisten Fanzosen wohl bekannt als Stimmungsmacher, zu dem man ausgelassen tanzen kann. Zu dieser Musik läuft die Hochzeitsfeier des Freundes von Christophe aus dem Ruder und endet in einem Saufgelage. Dies ist der Endpunkt der Affäre zwischen Hélène und ihrem Jugendfreund Christophe, mit dem sie ihre Schulzeit in einem kleinen Ort im Osten Frankreichs verbracht hat. Hélène kommt aus kleinen Verhältnissen, ist ehrgeizig und schafft es zu einem einträglichen Job in einer Beratungsfirma in Paris. Aber Job, Ehe und zwei Kinder ermüden die 40jährige und der Burnout führt sie zurück in die Provinz, wo sie ihren Jugendfreund, der den Ort nie verlssen hat, wieder trifft, mit dem sie ein Verhältnis anfängt. Sehr eindrücklich werden die Charaktere geschildert, ihr Gefangensein in der Enge der Provinzialität, ihre Fluchten. Christophe mit seinem Job als Hundefuttervertreter ist genauso hoffnungslos wie die hoch qualifizierte Hélène in einem Job, in dem sie Beratungen an Behörden verkauft, aber eigentlich nur eine Show abzieht, an die sie selbst nicht glaubt. Im Hintergrund die aktuelle politische Situation der Wahl zwischen Macron und Le Pen. Beeindruckende Schilderung der französischen Gesellschaft mit dem immer noch vorherrschen Klassensystem. Bleibt einem da mehr als der Schrei nach Connemara?

Bewertung vom 17.10.2022
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


sehr gut

Die 91jährige Gretel lebt in einer Villa in London und erzählt ihr Leben, das aus dem Ruder läuft, als die Wohnung unter ihr an eine Familie verkauft wird, in der Gewalt zum Alltag gehört. Auf zwei Zeitebenen wird ihre Geschichte erzählt: einmal im Jahr 2022 und dann rückblickend von 1945, als sie mit ihrer Mutter das Lager Auschwitz verlässt, dessen Kommandant ihr Vater ist, über verschiedene Stationen in Europa und Australien immer unter falscher Identität. Die Lebenslüge, die Erkenntnis auch als Kind Schuld zu tragen an den Verbrechen ihres Vaters, die Mitverantwortung am Tod ihres Bruders - all das wird mit Eindringlichkeit geschildert. Viele Fragen werden angeschnitten nach dem Umgang mit Opfern und Tätern. Manchmal sind die Szenen sehr brutal. Und zum Schluss bleibt die Frage, kann man Schuld durch neue Gewalt begleichen, um die nachfolgende Generation zu schützen oder sollte man die Justiz entscheiden lassen. Nachdenkenswert, dabei sehr spannend geschrieben, mit vielen überraschenden Situationen und Unwahrscheinlichkeiten, eben ein Roman.

Bewertung vom 07.10.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


weniger gut

Es geht in diesem Roman nicht nur um die Beziehung zweier Schwestern, sondern um eine ganze Familiengeschichte, die von vielen Konflikten und Störungen gekennzeichnet ist. Die Mutter lebt bereits in einer spannungsreichen Beziehung zu ihrer Schwester, sie ist geprägt von der unterschiedlichen Zuwendung mitterlicher Liebe und dadurch ausgelösten Minderwertigkeitsgefühlen. Diese Familienstruktur wird in die nächste Generation weitergegeben und führt zu extrem verletztenden Verhaltensweisen. Auch die beiden vorkommenden psychischen Erkrankungen Schizophrenie und Psychose hängen vermutlich damit zusammen. Die Sprache des Romans ist lakonisch. Bald bleibt einem das Lachen bei zunächst komischen Episoden im Halse stecken und wird nur noch bitter. Die Autorin erzählt nicht nur, sondern erklärt und kommentiert die Handlungen der Personen auch. Das fand ich störend und überflüssig. Eine gute Romanhandlung erklärt sich selbst.
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