Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Juma

Bewertungen

Insgesamt 96 Bewertungen
Bewertung vom 04.03.2024
Marseille 1940
Wittstock, Uwe

Marseille 1940


ausgezeichnet

Schicksalsfrage Flucht – spannend und bewegend

Wer sich für Geschichte und Literatur und auch Kunst gleichermaßen interessiert, liest bei Uwe Wittstock wie in einem Kompendium dicht gedrängt und doch auch wie in einem spannenden Roman über die schicksalhaften Ereignisse am Beginn des 2. Weltkriegs in Frankreich. Dieses Land, oft der Sehnsuchtsort von Künstlern und Intellektuellen, wurde nach 1933 Zufluchtsort für Emigranten vor allem aus Deutschland, Österreich, später auch aus der Tschechei. Einige verließen die Heimat freiwillig, weil sie frühzeitig ahnten, was nach Hitlers Machtübernahme geschehen würde, viele flohen in letzter Minute, um Verhaftungen zu entgehen. Unter ihnen überdurchschnittlich viele Juden, aber auch Kommunisten, Sozialisten, Dichter und Denker.
In Amerika formiert sich die Hilfe nur schleppend, ein höchster Aufwand und teilweise unüberwindliche bürokratische Hürden stellen sich Asylsuchenden in den Weg. Einer, der das Schicksal der Verfolgten und Gefährdeten in Frankreich nicht länger passiv mitansehen, sondern aktiv zu ihrer Rettung beitragen will, ist der junge Amerikaner Varian Fry. Das neu gegründete Emergency Rescue Committee (ERC) wird ihn für vier Wochen nach Marseille senden, damit er die auf einer Liste zusammengefassten und am meisten gefährdeten Schriftsteller rettet. Als Fry Anfang August 1940 in Marseille ankommt, ahnt noch niemand, welche Entwicklung sich anbahnt.
Fry muss nun einerseits Mitarbeiter und Helfer für sein Vorhaben finden, andererseits aber den Kontakt zu den zu Rettenden finden. Bekannte Namen wie Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Walter Mehring und Heinrich Mann und deren Ehefrauen finden sich auf Frys Liste, doch binnen weniger Wochen werden es immer mehr, die dringend Hilfe benötigen.
Aus Frys Kurzreise wird am Ende ein ganzes Jahr geworden sein und der Leser erfährt unheimlich viele Details über die einzelnen Menschen, über die ständig wechselnde politische Lage im unbesetzten Frankreich, das am Ende die Judenverfolgung und -vernichtung mit größter Vehemenz für die Nazis in die Tat umsetzt. Dass die US-amerikanische Regierung unterdessen eher auf Abstand geht, wenn es um Einreisevisa geht, kommt erschwerend hinzu. Kein leichtes und noch dazu gefährliches Unterfangen, auf das sich Fry da eingelassen hat. Es sind trotzdem einige Hundert, die durch Frys Aktivitäten und man muss sagen, seine Dickköpfigkeit und seinen Gerechtigkeitssinn, vor den Henkern gerettet werden.
Dass nicht jede Fluchtgeschichte zu einem glücklichen Ende führte, ist umso tragischer, wenn man die Details liest, gerade die Suizide von Ernst Weiß und Walter Benjamin sind da schreckliche Beispiele.
Mich hat dieses Buch sehr bewegt, auch wenn mir einige Schicksale schon vorher bekannt waren. Diese Rettungsgeschichten so komprimiert noch einmal zu lesen, und das in einem eher romanhaften Stil, hat mich von diesem Buch vollkommen überzeugt. Spannend bis zur letzten Seite, womit ich auch die Kurzbiografien und den gesamten, sehr informativen Anhang meine.
Dass dieses Buch außerdem dazu anregt, sich (noch einmal) der Literatur und den Biografien der Protagonisten zu nähern, ist ein guter Nebeneffekt. Auch Wittstocks Vorgängerbuch Februar 33: Der Winter der Literatur steht nun auf meiner Wunschliste weit oben.
Varian Fry ergeht es nach seiner Rückkehr ähnlich wie anderen Diplomaten, die sich für die Rettung von Juden und anderen Naziverfolgten eingesetzt haben. Ich denke da an den Portugiesen Aristides de Sousa Mendes und den Japaner Chiune „Sempo“ Sugihara, aber auch an Oskar Schindler. Erst spät wurde ihnen die Ehre, Gerechte der Völker genannt zu werden, gewährt. Gut das Uwe Wittstock hier auch ein Erinnerungsbuch an Fry und seine Helfer veröffentlicht hat.
Warum von Zeit zu Zeit plötzlich vollkommen überflüssige Doppelnennungen wie Amerikanerinnen und Amerikanern oder Autoren und Autorinnen den Lesefluss hemmen, erschließt sich mir nicht. Und es fiel mir auf, dass Anna Seghers einen falschen Geburtsnamen erhielt. Auf ihrer Geburtsurkunde steht Netti, nicht Annette. Aber das sind auch schon alle Kritikpunkte, die mir aufgefallen sind.
Fazit: unbedingt lesen!

#Marseille1940 #NetGalleyDE

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.02.2024
Leuchtfeuer
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


ausgezeichnet

Leseempfehlung für feinfühlige Menschen!

Wie kommt man schnell und preiswert nach Amerika? Klar, mit einem Buch! Dani Shapiro versetzte mich in die Mittelklasse einer amerikanischen Kleinstadt, mit all ihren Nöten und Tücken, die das Eheleben, die Arbeit und das Kindsein so mit sich bringen. Das alles überschattende Drama vom 27. August 1985 stellt für die Familie Wilf das Ende des gewohnten Lebens dar, nichts ist nach einem Autounfall und dem durch die Kinder der Familie, Sarah und Theo, verursachten Tod der Schulfreundin Misty noch, wie es war. Mit eisernem Schweigen versuchen alle Beteiligten, das Unheil zu bannen.
Ich erinnere mich an die Hysterien zum Jahrtausendwechsel selbst sehr gut, ich hatte die Aufgabe, Hunderte PCs per Installationsdiskette auf das Jahr 2000 vorzubereiten. Das ist ein Klacks im Gegensatz zum unerwarteten Einsatz von Dr. Wilf, der dem Kind der Nachbarn auf dem Küchenboden den Weg ins Leben weist. Das ist der kleine Waldo.
Im Verlauf der Geschichte lernt man dann 2010 den unterdessen elfjährigen Waldo kennen, den auf ganz besondere Weise die Sterne faszinieren. Er kommt mit Dr. Benjamin Wilf, nun Mitte 70, zu einem nächtlichen Treffen zusammen, das sehr poetisch beschrieben wird. Dass Waldo für seinen Ausflug bei Nacht von seinen Eltern nicht gelobt wird, liegt auf der Hand. Der fitnessbesessene Vater liebt sein Kind zwar, wird aber sofort wütend, die Mutter, immer mit etwas Wein im Kopf, ist auch keine Hilfe fürs empfindsame Kind. So kommt es kurze Zeit später zu folgenschweren Verwicklungen.
Waldo verlässt sein Zuhause ein zweites Mal, Mimi Wilf entwischt aus dem Pflegeheim. Im Schneetreiben werden sich beide begegnen. Dass Mimi Wilf selbst kurz vor ihrem Tod fast nur einen Gedanken in ihrem alzheimerkranken Kopf hin- und herbewegt, hat mich sehr berührt. Theo, immer wieder Theo ist es, an den sie denkt. Er ist und bleibt ihr Ein und Alles. Der kleine, hochintelligente und hochsensible Waldo beschützt sie in ihren letzten Minuten, als wäre er ihr Theo.
Die letzten Episoden springen noch einmal zurück ins Jahr 1985, zum Tag des tödlichen Unfalls im Garten der Wilfs. An diesem Tag gab es den ultimativen "Point Of No Return" in der Familie Wilf, die Leben der vier zersprangen in zwei Teile, in zwei Seelenzustände: glücklich und unglücklich. Jeder bewältigt die (im Buch beschriebenen) kommenden 25 Jahre auf seine Weise. Sarah braucht unendlich lange, um sich, aber auch der Öffentlichkeit ihre Schuld einzugestehen. Theo versucht, nach fünf Jahren Familienabstinenz, seine Schuld auf seine Weise abzuarbeiten, Benjamin findet in Waldo sein Lebenselixier und Mimi, bevor sie in Alzheimer versinkt, verliert die Lebensfreude ohne ihren Theo. Hinzu kommen die Probleme der Familie Shenkman, jedes der drei Familienmitglieder immer im harten Kampf mit sich und der Welt da draußen. 2020 wird Waldo ein Student sein, immer noch befreundet mit seinem Ins-Leben-Bringer Benjamin, immer noch in Distanz zu seinem Vater, der versucht, sich ohne seine verstorbene Ehefrau über Wasser zu halten.
Am Schluss weiß man, es gibt eine leuchtende Zukunft, die jeder an einem bestimmten Tag in seinem Leben sehen kann und die doch nicht so in Erfüllung geht, wie man es sich erträumt hat. Trennungen, Kontaktabbrüche, Todesfälle, Trauer, Schweigen, Schuld, Vergeben, Vergessen, aber auch Liebe und Glück muss man aushalten können. Das macht das Leben lebenswert.
Es gab schon Bücher, in denen mich Zeitsprünge störten, in diesem ist das anders. Ich las es wie etwas, das Vergangenheit ist und durch den Kopf geistert, nicht in der richtigen zeitlichen Abfolge, aber immer mit den richtigen Übergängen. Ja, man kann im Kopf an zwei Jahrzehnte gleichzeitig denken, sie miteinander verknüpfen. „Alles ist miteinander verbunden.“ (S. 217)
Der Sprachstil ist angenehm, nicht aufdringlich, nicht Aufmerksamkeit heischend, sondern eher poetisch und wachsam. Mir gefällt das.
Das inhaltlich eher unpassende Cover ist zwar mit den pastellfarbenen Blüten ein Hingucker, aber ich finde es etwas kitschig und verspielt. Das amerikanische Original trifft den Kern der Geschichte schon eher – nachtblau, leuchtende Sterne, ein riesiger Baum, zwei kleine Menschen am Fuß des Baums...als würden sich Benjamin Wilf und Waldo dort treffen und das Weltall erkunden.
Die Typografie des Buches gefällt mir sehr, sie gibt dem Leser Halt in den vielen Zeitenwechseln, die Dani Shapiro bereithält. Der großzügige Satzspiegel, die Schriftwahl, auch die für mich als Brillenträger gut lesbare Schriftgröße sowie die Wahl des Papiers runden diesen Eindruck ab.
Fazit: ein hochemotionaler Roman, der eine Zeitspanne von 50 Jahren und zwei Familien umfasst, die man so leicht nicht wieder vergessen kann. Es gäbe viele Einzelheiten, die noch erwähnenswert wären in dieser Rezension, aber nichts geht über das Selbstlesen und Selbstempfinden.

Bewertung vom 01.02.2024
Hitler, Stalin, meine Eltern und ich
Finkelstein, Daniel

Hitler, Stalin, meine Eltern und ich


ausgezeichnet

Eiserner Überlebenswille hat die Eltern gerettet

Daniel Finkelstein hat ein gehörig Maß an Schicksal und Erinnerungskultur, dass er schultern muss. Er lebt in Großbritannien, aber seine Wurzeln sind breit gefächert: Der Vater Ludwik stammt aus Lemberg (der Stadt mit den vielen Namen und Herrschern), seine Mutter Mirjam aus Berlin. Während des Zweiten Weltkrieges erleben und überleben die Eltern sowohl den Holocaust als auch Stalins Regime. Insbesondere die Lebensgeschichte der Großeltern wird im Buch ausführlich beschrieben. Großvater Alfred Wiener, einen bekannter jüdischer Publizist und aktiver Gegner der Nazis, und seine Aktivitäten hat Daniel Finkelstein stark im Fokus. Aber auch die dramatischen Ereignisse in Lemberg, verbunden mit dem Tod des Großvaters Finkelstein, bestimmen seine Recherchen. Der Autor geht sicher davon aus, dass nicht alle seine Leser mit der Geschichte vertraut sind, vieles beschreibt er aus meiner Sicht zu ausführlich. Interessanter sind für mich die persönlichen Erlebnisse der Familienmitglieder, die Furchtbares und eigentlich Unvorstellbares erdulden und erleiden müssen. Sei es die "Verbannung" der Großmutter mit Finkelsteins Vater Ludwik, damals ein Zehnjähriger, in den unwirtlichen Kaukasus oder die Verfolgung und Deportation seiner Mutter, Tanten und Großmutter. All das ist heute schwer zu verkraften, ich gehöre zur Nachkriegsgeneration wie auch Daniel Finkelstein. Ich habe mit ihm gemeinsam, dass er alles, aber auch wirklich alles über seine jüdischen Wurzeln und die Schicksale jedes einzelnen erfahren will. Dass es ihm nicht leicht fällt, auch Passagen mit langen Erklärungen wegzulassen, kann ich verstehen. Für die Lesbarkeit dieses Buches mit über 500 Seiten wäre es besser gewesen.
Fazit: Eiserner Wille und eine nicht unterzukriegende Hoffnung haben die Eltern von Daniel Finkelstein überleben und weiterleben lassen. Ein lesenswertes Stück Geschichte.

#HitlerStalinmeineElternundich #NetGalleyDE

Bewertung vom 27.01.2024
Du bist nicht so wie andre Mütter (MP3-Download)
Schrobsdorff, Angelika

Du bist nicht so wie andre Mütter (MP3-Download)


ausgezeichnet

Die Geschichte der Mutter ist zugleich eine schicksalhafte Familiengeschichte – hörenswert!

Dieses Hörbuch mit beinahe 20 Stunden Laufzeit fesselte mich tagelang!
Das Buch von Angelika Schrobsdorff ist bereits 1992 auf Deutsch bei Hoffmann & Campe erstmals erschienen. Dieses Hörbuch aber ist vollkommen neu. Und es ist wirklich sensationell gelesen von Adriana Altaras. Diese hat auch ein ähnliches Schicksal, sie wurde als Kind aus dem damaligen Jugoslawien geschmuggelt und gerettet. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sie in der Lage ist, den schwierigen und langen Text von Angelika Schrobsdorff so einfühlsam und emotional zu lesen. Besonders zum Ende des Hörbuches ist die Stimme der Sprecherin passend zum Alter der Else Schrobsdorff, rau und leicht gebrochen, spiegelt es das Leid und den frühen Tod.
Angelika Schrobsdorff erzählt in diesem Buch nicht nur die Lebens- und Leidensgeschichte ihrer Mutter, sie berichtet von einem halben Jahrhundert Familiengeschichte, vielen Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten, aber ganz besonders auch von ihren Geschwistern, dem zehn Jahre älteren Peter, der fünf Jahre älteren Bettina. Jedes der Kinder hat einen anderen Vater, jedes der Kinder einen anderen Charakter. Angelika Schrobsdorff geht besonders mit sich selbst in diesem Lebensrückblick nicht gerade zimperlich um, die Mutter hat ihr in vielen Briefen und Diskussionen den Spiegel vorgehalten. Angelika, das schwierige Kind! Und doch ist sie es, die dieses Buch schrieb, aus Briefen und Erinnerungen zusammensetzte, was ein großes, tragisches Bild ergab. Sehr beeindruckend.
Die Mutter Else ist Jüdin, Angelika ist „nur“ Mischling ersten Grades, der Vater kein Jude. Nach dem 9. November 1938 sieht sich die Mutter gezwungen, Deutschland zu verlassen, die Ehe mit Angelikas Vater wird geschieden. Ab 1939 leben Mutter Else und ihre Töchter in Bulgarien. Auch dort immer in Angst vor den politischen Entwicklungen, dem Krieg und immer mit Armut und Schwierigkeiten konfrontiert. Aber sie erleben dort auch das Bulgarien der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, die ihnen das Überleben ermöglichen.
Else und Angelika werden bald nach Kriegsende zurück nach Deutschland gehen, die Mutter schon schwer gezeichnet von einer tückischen Krankheit, Angelika mit einem amerikanischen Ehemann. Bettina bleibt in Bulgarien, sie hat einen Bulgaren geheiratet und beide haben einen kleinen Sohn. Der Abschied fällt schwer, fast alles, was man im Hörbuch aus den Jahren 1946 bis 1949 erfährt, steht in den vielen, todtraurigen und doch so lebenssprühenden und ironischen Briefen der Mutter.
Die Veröffentlichung dieses Hörbuchs ist gerade in der jetzigen Zeit für mich ein Zeichen, dass sich die Beschäftigung oder besser noch Wiederbeschäftigung mit der Holocaustthematik und dem momentan überall aufflackernden Antisemitismus unbedingt lohnt. Ich schreibe dies hier heute, am 27. Januar 2024, es ist der weltweite Holocaustgedenktag. Ich denke, besser und würdevoller kann man ihn nicht begehen, als ein solches Hörbuch zu hören oder Buch zu lesen. Damit auch ein großer Dank an Aufbau Audio und Adriana Altaras.
Fazit: Mehr will ich aus dem Inhalt nicht preisgeben, nur so viel: das lange Zuhören hat sich gelohnt. Hochinteressant und mitreißend wie ein spannender Roman.

Nachtrag: Für mich zeigt dieses Buch wieder einmal eine ganz andere Seite des jüdischen Lebens in Berlin, denn meine Verwandten waren arm, konnten nicht auswandern, wurden ermordet. Die Familie von Angelika Schrobsdorff aber lebte selbst nach der Machtergreifung noch einige Jahre relativ unbehelligt. Das Kind Angelika hatte manches noch gar nicht verstanden oder erfahren, erst im Nachhinein beim Recherchieren zu diesem und anderen Büchern wird sie die ganze Wahrheit und Tragweite der Geschichte erfahren.
Angelika Schrobsdorff, Jahrgang 1927 wie meine Mutter, hat ein bewegendes und interessantes Leben gelebt, sie wurde Schriftstellerin und heiratete 1971 Claude Lanzmann, der vor allem für seine Shoah-Dokumentarfilmreihe weltbekannt wurde. 2012, vier Jahre vor ihrem Tod veröffentlichte sie als letztes Buch die Briefe ihres Bruders Peter, der auf der Seite der Alliierten Anfang 1945 gefallen war.

#DubistnichtsowieandreMütter #NetGalleyDE

Bewertung vom 24.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


ausgezeichnet

Eine ungeheuer bewegende Geschichte

Anouk Perlemann-Jakob, 100 Jahre alt, berühmte Architektin und man würde umgangssprachlich sagen "mit allen Wassern gewaschen", möchte ihre Geschichte endlich auf Papier sehen. Für eine Biographie erscheint sie ihr Geschichte jedoch zu unglaubwürdig und so bittet sie einen Schriftsteller, aus ihren Erzählungen einen Roman zu machen. Schwankend zwischen Ehrgeiz und Ehrfurcht hört er ihr fasziniert zu. Ja, er wird den Roman schreiben, aber was ihm bevorsteht, das ahnt er nicht.
Jetzt, im Jahr zwei nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, ist es ein sehr bedrückendes Gefühl, an das alte St. Petersburg, die bolschewistische Diktatur, die Unterdrückung und Verjagung der "Intelligenzija" zurückzudenken. Was wird aus dem geliebten Russland werden?
Aunouk hat als Kind und Jugendliche so viel Unrecht und Hass erfahren, mit 100 Jahren erscheint sie abgeklärt und weise. Aber sie ist auch verletzlich, eine einzige Frage, die eine wunde Stelle trifft, bringt sie zuweilen aus dem Gleichgewicht. Spricht man von Schicksal, wenn man so eine Lebensgeschichte hört und aufschreiben soll? Schwer zu sagen, Anouk hat ihren schicksalhaften Weg fast vollendet. Ich erzähle hier keine Einzelheiten, jeder Leser sollte sich selbst in diese Geschichte verlieben, ich jedenfalls habe es getan.
Nach "Zwei Herren am Strand" ist auch dieser Roman von Michael Köhlmeier ein tiefgründiges und philosophisches Werk, das unbedingt noch einmal gelesen werden will! Ein wunderbares Buch!

Bewertung vom 24.01.2024
Mit Herz und Mund und Tat und Leben
Flimm, Jürgen

Mit Herz und Mund und Tat und Leben


gut

Künstlerleben aus erster Hand

Jürgen Flimm ist mir seit über 30 Jahren ein Begriff, vor der Wende in der DDR habe ich ihn nicht gekannt. Schauspieler, Regisseur, Produzent, immer mit neuen Ideen und immer überzeugt von sich und seiner Arbeit. Flimm hatte eigentlich den passenden Namen fürs Geschäft, er flimmerte! Und das ganz wunderbar und überzeugend. Dass mir seine unvollendete Autobiographie dann doch nicht so gut gefiel wie seine Theaterarbeit, hat verschiedene Gründe. Einerseits bin ich mit seinem Schreib-/Erzählstil nicht so gut zurechtgekommen, wie erhofft, andererseits waren mir die vielen persönlichen "Abrechnungen" etwas zu viel. Ich behalte ihn deshalb am liebsten als den Intendanten meiner heimatlichen Berliner Staatsoper Unter den Linden im Gedächtnis, ohne das ganze Drumherum seiner Erlebnisse.
Fazit: interessanter und tiefer, sehr persönlicher Einblick in ein vollendetes Künstlerleben.

Bewertung vom 24.01.2024
DuMont Bildband Orte zum Staunen in Deutschland
Nöldeke, Renate;Wolfmeier, Melanie;Ormo, Nadine

DuMont Bildband Orte zum Staunen in Deutschland


ausgezeichnet

Deutschlandrundreise mit 52 Aha-Erlebnissen

Wer einen Urlaub in der Heimat plant und noch unentschieden ist ob der genauen Route, der findet hier jede Menge Anregungen für eine ausgedehnte Deutschlandreise. Für mich, die ich erst seit dem Mauerfall auch über den Tellerrand der DDR blicken durfte, fanden sich einerseits Orte der Kindheits- und Jugendurlaube wieder, andererseits jede Menge Ideen im Norden, im Herzen und im Süden Deutschlands.

Um einen Eindruck von den einzelnen Empfehlungen zu bekommen, habe ich mir bekannte Orte ausgewählt, z. B. das Feldberger Seenland (Nr. 8) und Görlitz (Nr. 28) im Osten und Bremerhaven (Nr. 11) im Norden und den Eibsee (Nr. 52) ganz im Süden. Alle Ziele fand ich kurz, prägnant und unterhaltsam präsentiert, besonders gefällt mir die Rubik "Weitere wunderbare Erlebnisse". Allein für die Feldberger Seenlandschaft Nr. 8 könnte ich einen mindestens einwöchigen Urlaub mit Kunst, Kultur, Natur, Erholung, Paddeln, Baden, Wandern, Radfahren und natürlich auch Fotografieren wärmstens empfehlen. Das war schon in den 1980er Jahren eine tolle Urlaubsgegend. Ganz im Süden dann der Eibsee, den kenne ich nur total zugefroren mit einem Glühweinstand darauf. Die Fotos belehren mich natürlich eines Besseren, denn wenn sich im See die Alpen spiegeln, muss es dort herrlich sein. Da wäre ich gleich bei der Ausstattung des Buches, die Fotos sind wirklich sehr verlockend und gut ausgewählt. Die Schrift der Grundtexte für meine Augen ein bisschen dünn geraten, aber insgesamt macht das Buch einen typografisch wohlüberlegten Eindruck.

Interessant ist die Idee, die Touren per QR-Code aufs Handy zu laden. Ich nutze Komot auf einem iPhone, das ist eine schöne Alternative zur guten alten Wanderkarte, die ja immer wieder zusammengefaltet werden möchte. Außerdem ist das Buch doch besser für Zuhause geeignet, denn für unterwegs ist es natürlich zu groß und zu schwer.

Was mich teilweise irritiert hat, ist die Reihenfolge der Empfehlungen. wie man zum Beispiel den Sprung von Nr. 20, der Pfaueninsel in Berlin, zur Nr. 21, dem Zwillbrooker Venn, gestalten soll, das ist Geheimnis der Autorin. Vielleicht wäre eine Unterteilung von Norden, Herz und Süden in kleinteiligere Regionen etwas übersichtlicher. Denn eine Überleitung von Berlin ins Münsterland gibt es z. B. nicht.

Für so ein Reisebuch hätte ich mir auch noch etwas anderes gewünscht: einen Zusatz mit Empfehlungen für Einkehr- und Übernachtungsmöglichkeiten.

Fazit: ein unterhaltsames und mit Anregungen gut gefülltes Deutschlandbuch, in dem eigentlich jeder Reiselustige eine Idee für den nächsten Urlaub finden sollte.

Bewertung vom 22.01.2024
Meine Großeltern & ich!
Giebichenstein, Cornelia

Meine Großeltern & ich!


sehr gut

Liebevolles Erinnerungsbuch
Das Buch ist sehr emotional und ansprechend gestaltet. Ich könnte es mir gut als Geschenk für werdende Großeltern vorstellen, die ihre Enkel schon von der Schwangerschaft bis ganz zum Erwachsenenalter begleiten. Für mich persönlich ist es nicht so gut geeignet, denn meine Enkel sind schon fast erwachsen und wir hatten durch die große räumliche Entfernung nicht so viele gemeinsame Erlebnisse.

Besonders ansprechend und wirkungsvoll ist die "Schulkind-Seite", auf der beide Seiten, die Enkel und die Großeltern, ihre Erinnerungen einbringen können.

Fazit: es ist auf jeden Fall einen Versuch wert, dieses schöne Buch gemeinsam mit dem Enkelkind zu gestalten. Vielleicht kommen da viele "Weißt Du noch?"-Momente, über die sich beide Seiten freuen.

Bewertung vom 29.12.2023
Das späte Leben (MP3-Download)
Schlink, Bernhard

Das späte Leben (MP3-Download)


ausgezeichnet

Fünf Stunden, die unter die Haut gehen
Bernhard Schlink sucht sich nie leichte, oberflächliche Themen für seine Bücher. Ob der Vorleser oder Olga, ob die frühen Selb-Romane, alles geht in die Tiefe, unter die Oberfläche der Protagonisten und unter die Oberfläche der Leser.
Dieser Roman geht beinahe noch tiefer, es macht betroffen, mit Martin, dem wichtigsten Protagonisten dieses Buches, einen sehr endlichen Weg zu gehen.
Martin, Mitte 70, später Vater des sechsjährigen David, Ehemann von Ulla, die wohl 30 Jahre jünger ist als er, erhält die tödliche Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Keine Aussicht auf Heilung oder Lebensverlängerung, ob er die Einschulung des Sohnes erleben wird, steht in den Sternen. Der Schock sitzt tief, bei allen dreien, auch der Junge beginnt zu begreifen, dass er nur noch einen Vater auf Zeit hat. Ulla möchte alles richtig machen, Martin auch, wie hinterlässt man etwas für sein Kind, ohne zu verletzen, zu kränken, sich selbst zu überhöhen.
Noch bringt Martin David in den Kindergarten, holt ihn ab, spielt mit ihm, noch empfindet er Begehren für seine Frau, hat Freude an gemeinsamen letzten Unternehmungen. Aber die Zeiger der Lebensuhr drehen sich schnell, schneller als gedacht. Und es ist nicht alles, wie es scheint, in ihrer Ehe.
Martin hat bis zum Schluss Prüfungen zu überstehen, die fast zu viel sind für ihn, aber immer bleibt er am Ende doch ruhig und verantwortungsvoll. Mit dieser Ehefrau Ulla, die manchmal sehr hart scheint, ist das nicht so einfach. Für David ist er schlimm-müde-krank. Sehr traurig. Die Betrachtung von Sterben und Tod mag für viele Leser oder Hörer sehr unangenehm, vielleicht zu eindringlich wirken, Ulrich Nöthen macht es dem Hörer etwas leichter mit seiner einfühlsamen Sprechweise. Dafür war ich am Ende am meisten dankbar.
Fazit: Tapferes Lebensende eines Todkranken, der nicht jammert, aber der es sehr bedauert, sein Kind nicht aufwachsen sehen zu können. Empfehlenswert.

Bewertung vom 26.12.2023
Geschichte Israels
Zadoff, Noam

Geschichte Israels


ausgezeichnet

Gerade jetzt, da seit dem 7. Oktober in Israel alles anders ist, das Leben auf den Kopf gestellt, der Krieg gegen die mörderische Hamas im vollen Gange, da ist es besonders wichtig, sich die geschichtlichen Hintergründe für alles noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Übersichtlich und gestrafft erhält der Leser in Geschichte Israels den notwendigen Überblick und Einblick, um sich zu orientieren.
Das gut ausgestattete Buch mit tabellarischer Übersicht über die Geschichte, Literatur- und Medienhinweisen, einem Personenregister ist für mich sehr hilfreich und es liest sich ausgezeichnet. Sehr empfehlenswert.