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Juma

Bewertungen

Insgesamt 126 Bewertungen
Bewertung vom 06.09.2024
Hüetlin, Thomas

"Man lebt sein Leben nur einmal"


sehr gut

Gemeinsames Schlafatmen oder sanfte Hölle?
Als sich Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque 1937 kennenlernen, sind sie beide berühmt, sie die Filmdiva aus Der blaue Engel, er der Schriftsteller von Im Westen nichts Neues. Vorerst bestehen keine Geldsorgen, aber andere Sorgen gibt es ohne Ende.
Remarque hat nach Hitlers Machtergreifung Deutschland fluchtartig verlassen und im Tessin ein neues Zuhause errichtet, die Dietrich war mit Joseph Sternberg, dem Regisseur des Blauen Engels schon vorher in Richtung Hollywood weggegangen. Beiden fehlt das Zuhause, das deutsche Essen hat die Dietrich jedenfalls über die Grenze gerettet, sie bekocht mehr oder weniger leidenschaftlich ihre zahlreichen, wechselnden Liebhaber mit deutscher Hausmannskost. Davon bekommt auch Remarque etwas ab, er hat sich eingereiht die illustre Menge der Verehrer, die ab und zu mit der Diva das Bett teilen und beköstigt werden.
Warum sie recht schnell vom Remarque den Spitznamen Puma bekommt, kann man in diesem Buch bestens nachvollziehen. Hinterhältig und einschmeichelnd, liebeshungrig und bös kratzend, die Dietrich ist ein Raubtier. Der Poet, nein, ein armer Poet ist er nicht, aber ein armer Tropf in Hinsicht auf diese Liebesaffäre. Denn die kann man im Buch minutiös nachvollziehen. Ob man als Zuschauer immer gern so nah dran ist, dass man die Krallen spürt, den Alkoholdunst, die Liebe und die Eifersucht, das weiß ich nicht so genau. Es ist schon ein sehr privates Buch, dass Thomas Hüetlin da geschrieben hat.
Um hin und wieder den Abstand zu vergrößern, flicht er gekonnt politische Zustandsbeschreibungen mit ein, die Nationalsozialisten liefern ausreichend Futter in den beschriebenen Jahren 1937 bis 1939. Dann springt der Autor über die ersten Kriegsjahre ins Jahr 1942 und beschreibt den Wechsel der Dietrich vom fallengelassenen, nicht mehr sonderlich beachteten Filmstar zur Frontsängerin. Das bringt ihr Erfolg und Medienaufmerksamkeit. Man kennt diese Geschichte.
Die Lebens- und Liebesgeschichten von Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque werden auch in der Rückschau erzählt, beide haben ein „Eigenleben“ das zum anderen aber überhaupt nicht passen will. Remarque fühlt sich wie im Luxusknast und ist überfordert von der „Komplexität des Affärenreigens“ der Dietrich, sie findet ihn provinziell und bürgerlich. So heißt es denn auch an einer Stelle, „Nicht bürgerlich zu sein – so richtig einfach war das nicht.“ Auf gut Deutsch, er kann ihr in Sachen Exaltiertheit, Arroganz, Narzissmus und Borniertheit nicht das Wasser reichen. Was er dagegen hält, ist Geld. Das wirkt beim Puma wie frisch gerissenes Fleisch.
Die Orte der Handlung wechseln je nach Laune oder Großweltlage, Frankreich, die USA, mal in Paris mit Eifersucht und Drama, mal am Mittelmeer mit Alkohol und Streit, Hollywood, Beverly Hills, nirgends wird es besser. Die Dietrich auf der ständigen Suche nach Anerkennung und neuen Opfern, der Poet hinterdrein, fügt sich, um Schlimmeres zu vermeiden. Fast täte er mir leid, aber er hat kein richtiges Kreuz und keine Entscheidungskraft, da muss er es eben aushalten. Dass er sogar einknickt, als die Dietrich veranlasst, dass seine Ehefrau nicht in die USA einreisen darf, ist nur das Krönchen. Was ansonsten in dieser Beziehung und in beider Leben noch geschieht, will ich natürlich nicht beschreiben. Überraschungsmomente birgt das Buch jedenfalls noch reichlich.
Zu Beginn fand ich das Buch eher langatmig, aber im Laufe des Hineinlesens und Hineinfindens wurde es doch eine ereignisreiche Lesezeit. Der Anhang mit Quellen und Literatur sollte nicht überlesen werden, da fand ich recht viele, noch ungelesene Bücher, die zusätzliche Erkenntnisse bringen würden. Verwundert hat mich, dass der Roman Ascona von Edgar Rai gar nicht erwähnt wird, denn der bot einen tieferen Einblick in Remarques erste Jahre im Exil.
Der Schreibstil passt sich sehr den Brief- und Tagebuchfragmenten an, dadurch liest sich alles manchmal etwas gewollt, auch holprig, in den rein historischen Kapiteln jedoch wird es bisweilen etwas trocken, besonders im ersten Teil des Buches. Insgesamt ist das Ganze gut lesbar und manchmal sogar erheiternd. Meine Sympathien gehen mehr zu Remarque als zur Dietrich, sie ist mir dann doch zu abgehoben von der Szenerie, egal wo sie gerade ist. Aber das ist absolut subjektiv.
Fazit: Ich kann das Buch empfehlen, als Ergänzung zu schon zahlreich erschienenen Biografien und Abhandlungen über beide Protagonisten. Der historischen Bestandsaufnahmen hätte ich in der Ausführlichkeit nicht bedurft, aber sie bringen oft Gelesenes wieder in Erinnerung. Gute vier Sterne vergebe ich gern.

#ManlebtseinLebennureinmal #NetGalleyDE

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


gut

Drei heiße Monate = ein vergeudeter Sommer
Vor zehn Jahren hat Olga Grjasnowa schon einmal einen Roman über Ehe, Liebe, Familie und deren Schicksal geschrieben, der hieß „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Ihr neuer Roman hat zwar einen ganz anderen Titel, aber auch hier wird die Unschärfe einer Ehe in den Mittelpunkt gezogen. Ich schreibe absichtlich gezogen, weil die Autorin an der Ehe von Lou (eigentlich Ludmilla) und Sergej kaum ein gutes Haar lässt. Lou und Sergej sind vor Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen, haben in Amerika studiert, sie hat ihren Doktor gemacht, er ist ein anerkannter Pianist geworden. Nun leben sie in Berlin, haben die kleine Tochter Rosa und jede Menge Probleme. Sind sie nun russische Juden oder jüdische Russen? Wie auch immer, sie fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie sind nicht religiös, aber das Jüdische ist ihnen wichtig. Besonders in Hinblick auf die weitere Bildung ihrer Tochter, die bereits im Kindergarten erste ungewollte Kontakte zum Thema Holocaust, Judentum, Anne Frank u. ä. hat. In die aufgeheizte Stimmung zwischen den Eheleute platzt eine Einladung zum Familientreffen, die uralte Großtante hat Geburtstag und außerdem wohl eine Reise gewonnen. Also wird sich die gesamte Mischpoke auf Gran Canaria treffen, fast alle Verwandten kommen aus Israel, Lou, ihre Mutter und die kleine Rosa aus Berlin. Dass es im Hotel nicht gerade erholsam zugeht, sondern recht turbulent, das kann man im Buch nachlesen.
Auch Lous Trauma einer Totgeburt spielt eine Rolle, aber offenbar ist auch dieses Thema in der angeknacksten Ehe nicht zufriedenstellend zu bewältigen. Ihr Versuch, vieles mit Alkohol zu betäuben, führt auch nicht zum Erfolg.
Die im Klappentext angekündigte Spurensuche und Selbstfindung von Lou ist weit weniger interessant, als ich es mir vorgestellt und erhofft hatte. Lou wird vielmehr von Eifersucht gequält, weil ihr Mann ohne sie und mit von ihr nicht gutgeheißener weiblicher Begleitung wegen eines Konzerts in Salzburg weilt. Sie wird ihre Reise noch ausdehnen, aber ihr Mann ist nicht oder kaum erreichbar und ihre Unsicherheit wächst. Ob am Ende dann doch noch alles gut wird und welche Rolle Lous Mutter und Schwiegermutter spielen, das kann nur herausfinden, der bis zur letzten Seite selbst liest.
Mir hat von allem am besten der Schutzumschlag gefallen, aber er versprach mehr, als das Büchlein halten konnte. Die kleine Druckschrift hat mich auch etwas irritiert, es war für mich jedenfalls ein anstrengendes Lesen.
Fazit: ein Roman aus vielen Puzzleteilen, für mich aber kein großes Leseereignis.

Bewertung vom 29.08.2024
Ein Präsident verschwindet / Philipp Gerber Bd.2
Langroth, Ralf

Ein Präsident verschwindet / Philipp Gerber Bd.2


gut

Verbürgte Geschichte plus phantasiebegabte Kriminalstory:
Ich war wirklich sehr gespannt, wie der Autor das bis heute nicht vollkommen gelöste Rätsel um die "Entführung" von Otto John mit einem Kriminalroman kombinieren würde. Mangelnde Phantasie kann ich ihm nicht vorwerfen, aber ... einiges gefiel mir dann doch nicht.
Gleich zu Beginn habe ich ein erhellendes Vorwort vermisst, dass nach 67 Jahren den heutigen Leser zumindest einweiht in die verworrenen Ereignisse des Jahres 1954. Im E-Book gibt es das "Über dieses Buch", das aber nicht sehr erhellend ist. Der Prolog beginnt "Neun Tage nach Otto Johns Verschwinden". Ich gehöre zu denjenigen, die die Geschichte um Otto Johns Verschwinden ganz genau kennen, bei mir waren es familiäre Gründe und später die Recherche für eine Biographie meines Vaters. Aber der durchschnittliche Krimifan hat dieses Hintergrundwissen wahrscheinlich nicht. Ich empfehle hier einen Blick ins Internet, um einen kleinen Überblick zu bekommen, worum es denn wirklich ging bei der Affäre John.
Man wird also hineingeschmissen in die Zeit des Kalten Krieges, lernt die "Org." des Herrn Gehlen kennen, den Verfassungsschutz, die Polizei und den Kanzler Adenauer. Dann geschehen erste Morde und Kommissar Philipp Gerber wird auf eine harte psychologische Probe gestellt. Seine Liebste, eher den Kommunisten zugeneigt, wie sich zeigt, wird des Mordes verdächtigt. Der Autor traut ihr im Buch sogar zu, John zu seinem "Übertritt" in den Osten veranlasst zu haben.
Wir erleben also jenen Philipp Gerber auf den Spuren Johns, sowie eines dubiosen Verbrechers, seiner Geliebten und manch anderen Protagonisten. Er landet, blauäugig ist noch geschmeichelt, in den Fängen es KGB und muss im U-Boot Hohenschönhausen um sein Leben fürchten.
Hanbüchene Geschichten um seine Geliebte, deren Vater und dessen Geliebte reihen sich mit Macht aneinander. Der Autor streut in seine fiktionalen Ideen dann auch immer wieder die tatsächlichen Geschehnisse mit ein.
Der Stil des Buches hat mich nicht so sehr gefesselt, als ich in der Mitte angekommen war, bin ich aufs Hörbuch übergewechselt. Johannes Steck hat recht unterhaltsam gelesen, so dass ich die Geschichte trotz einiger Längen bis zum Ende verfolgt habe. Der Showdown war dann doch recht haarsträubend!
Ja, Otto John ist tatsächlich mit Hilfe eines Journalisten wieder in die BRD gekommen, dass man ihn dort verurteilt, später begnadigt, aber nie rehabilitiert hat, ist für mich folgerichtig.

Bewertung vom 25.08.2024
Madame Beaumarie und die Melodie des Todes (MP3-Download)
Walther, Ingrid

Madame Beaumarie und die Melodie des Todes (MP3-Download)


sehr gut

Musikalisches Umfeld für überraschende Morde in der Provence
Madame Beaumarie kenne ich seit dem Krimi „… und der Winter in der Provence“, nicht jedoch als Hörbuch sondern in gedruckter Fassung. Erst jetzt stelle ich fest, dass „Madame Beaumarie und die Melodie des Todes“ schon 2020 erschienen war. Umso überraschender, dass der Titel mir jetzt als Hörbuch begegnet. Und auch eine Freude, denn Madame Beaumarie hatte mir schon beim Lesen recht gut gefallen. Brigitte Carlsen als Erzählerin liest dieses Hörbuch so frisch und fesselnd, dass es eine Freude ist.
Die Story ist zwar nun nicht vollkommen überraschend, es gibt ja so unendlich viele Frankreich-Krimis, aber ich finde, für einen Urlaubskrimi, der in der Provence spielt, ist sie durchaus annehmbar und unterhaltsam.
Madame Beaumarie,eine frisch pensionierte Polizeikommissarin aus Paris, der sozusagen ein Ruf vorauseilt(e), trifft natürlich ohne zu zögern auf Mord- und Todschlagopfer. Der erste ist ein Dirigent, der mit nicht gerade anheimelnden Charaktereigenschaften aufwartet und im schönen Avignon auch nicht nur mit offenen Armen empfangen wird. Es kommt, wie es kommen muss in einem Krimi, er stirbt eines unnatürlichen Todes.
Madame Beaumarie macht derweil auch noch die Bekanntschaft mit Monsieur Florentine, wem das gefällt, der kann gern den Verlauf der sich möglicherweise anbahnenden Beziehung in den beiden Folgebänden nachlesen.
Ich erzähle über den Krimi nun nichts mehr, nur selbst lesen wird Sie auf die Spur bringen. Das Buch/Hörbuch hat einen einnehmenden Stil, es macht Spaß, mit Ingrid Walther die Provence zu bereisen.
Fazit: Ich empfehle das Buch allen, die eine angenehme, leichte und doch mörderische Krimilektüre zur Entspannung mögen. Gute 4 Sterne.

#MadameBeaumarieunddieMelodiedesTodes #NetGalleyDE

Bewertung vom 24.08.2024
Vielleicht können wir glücklich sein (eBook, ePUB)
Hennig Von Lange, Alexa

Vielleicht können wir glücklich sein (eBook, ePUB)


sehr gut

Glück entsteht zuerst im Kopf
Mit dem dritten Roman ihrer Heimat-Trilogie vollendet Alexa Hennig von Lange die jahrelange Beschäftigung mit der Vergangenheit ihrer Großmutter zumindest auf dem Papier. Diese Vergangenheit ist so vielfältig und schicksalhaft, dass sie die Autorin wahrscheinlich aber auch jetzt noch bewegt.
Kurzer Rückblick: Der erste Teil beschreibt die Entwicklung von Isabells Großmutter Klara zu einer dem Nationalsozialismus dienenden Leiterin eines Mädchenschulheims. Konträr zu ihrer Tätigkeit steht, dass sie ein jüdisches Mädchen aufnimmt und als ihre Tochter ausgibt. Im zweiten Teil muss sie dieses Kind weggeben, aber die geplante Rettung mit einem Kindertransport nach England scheitert. Klara hat unterdessen Gustav, einen Volksschullehrer kennengelernt und heiratet ihn. Als sie selbst Kinder bekommt, kann sie ihre leitende Funktion nicht mehr ausüben. Gustav wird eingezogen, als der zweite Weltkrieg beginnt. Klaras beste Freundin Susanne entzieht sich den Nationalsozialisten und geht nach Rom, Klara bleibt ohne viel Hoffnung und mit den Kindern zurück.
Im letzten Teil geht es auf das Ende des Krieges zu, die unterdessen vier kleinen Kinder müssen versorgt und behütet werden, was sich als äußerst schwierig erweist. Parallel zu Klaras Geschichte ist es die Enkelin Isabell – die um die Jahrtausendwende auf die Tagebücher und Briefe ihrer verstorbenen Großmutter stieß –, die immer wieder als mahnende Stimme und Erzählerin in den drei Romanen erscheint. Auch ihr Freund Patrick, Vater ihrer kleinen Tochter, wird mit seiner pathetisch aufgesetzten Meinung zum Nationalsozialismus und zum Widerstand „political correct“ dargestellt. Klara wird als eine innere Antifaschistin gezeigt, die tunlichst in der Öffentlichkeit jede Regung zu vermeiden sucht, die sie auch nur in die Nähe von Widerstand bringen würde. Sie versteckt die Bilder und Karten von Tolla, die nun ab und an aus Theresienstadt schreibt, niemand, schon gar nicht die eigenen Kinder, soll von ihr erfahren. Die Angst ist täglicher Begleiter Klaras geworden.
Tolla als Romanfigur ist rein fiktiv, sie hält durch ihr bloßes Dasein die Geschichte von Anfang bis Ende zusammen, mit ihr kommen Mitgefühl, Trauer und Angst in die Trilogie und damit auch zum Leser.
Aus meiner Sicht ist vieles zu ausführlich beschrieben, bekommt manchmal einen unnatürlichen Klang. Sicher ist es schwierig, sich die heimlichen Gespräche von Klara mit ihrem Ehemann vorzustellen, was sie sich erzählt haben mögen. In mir lauert dabei immer die Vorsicht, wenn ein Wehrmachtsangehöriger nur über die üblen Taten der anderen berichtet und sich selbst nur in der Rolle des leidenden Zuschauers sieht. Wie unschuldig ist Gustav wirklich?
Ich will nicht zu viel vorwegnehmen, mir hat das Buch bis zum Ende gefallen und ich wünsche mir, dass es möglichst viele andere auch zu Ende lesen. Aus Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist über die eigenen Familienangehörigen zu schreiben und trotzdem eine gewisse Distanz zu halten, um das Geschriebene auch für die Leser spannend und interessant zu gestalten.
Neben dem Buch habe ich auch noch das Hörbuch gehört, teilweise gefiel es mir sogar noch besser als das gedruckte Buch. Die Sprecherin Tessa Mittelstädt liest sehr authentisch und empathisch, da erscheint einiges viel natürlicher als im Buch. Manchmal übertreibt sie die schauspielerische Leistung ihrer Stimme etwas, besonders beim Versuch, die Kinder zu spielen. Aber insgesamt legt sie eine tolle Sprecherleistung hin.
Fazit: Der Autorin gelingt ein Blick hinter die Kulissen derer, die nach dem 2. Weltkrieg als „Mitläufer“ und „unbelastet“ deklariert wurden, wie auch auf die Generationen, die danach kommen. Gute vier Sterne.
#dumontbuchverlag #NetGalleyDE

Bewertung vom 22.08.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


ausgezeichnet

Denk ich an Gudelia in der Nacht

Es gibt ihn, den Murbach, aber es gibt keinen Ort Unterlingen, das Buch spielt an einem fiktiven Ort, zu einer fiktiven, aber realwirkenden Zeit, im Juni 2024, und es hat eine Flutkatastrophe gegeben in diesem Dorf. Die Szenerie erinnert sicher nicht ungewollt an die Ahrtalkatastrophe vor knapp drei Jahren. Ja, so könnte es gewesen sein, als das Wasser alles mit sich riss und Schlamm, Fäkalien, tote Menschen und tote Tiere hinterließ. Dass Einwohner Hals über Kopf noch flüchteten, dass fremde Menschen helfen kamen, all das erinnert an den Juli 2021. Aber der Autor hat bewusst auf eine von Fakten unterlegte Szenerie verzichtet und es beginnt in einer Nacht im Juni 2024 ein Krimi, der es in sich hat.
Gudelia, eine Frau aus Unterlingen, 81, vollkommen klar im Kopf, aber nach zwei Hieben mit einem Spaten auf ihre Beine liegt sie auf dem Friedhof und rechnet mit dem Tod, aber der ist so einfach nicht zu haben. Gudelia denkt an die wichtigsten Jahre ihres Lebens, an 1984, als ihr Sohn Nico stirbt, an 1998, als sie mit Bauernschläue ihr Haus für sich rettet, an 1968, als sie heiratet. Ihre Gedanken fliegen vor und zurück, der Leser lebt und liest sich durch Gudelias Schicksal, das verbunden ist mit dem ihres Ehemanns Heinz, mit ihrem Sohn Nico, mit Andre, dem Pferdehofbesitzer. Man lernt eine Menge über das einsame Leben einer alten Frau, die sich aus vielfältigen Gründen gegen jegliche Evakuierung aus dem flutgefährdeten Haus sträubt, die viel und lange betet in diesen Tagen und die ein Ferkel rettet und Stephanus nennt, so wie die Kirche des Dorfes heißt es, und frisst Möhren und Hundefutter und weicht ihr nicht mehr von der Seite.
Warum Gudelia mitten in der Nacht auf dem Friedhof ist und warum einer ihr die Beine bricht, das erfährt man peu à peu in diesem Buch. Ich hatte einen Krimi erwartet, dass es ein Psychothriller mit echtem Horror werden könnte, habe ich nicht vermutet. Ich fand das so spannend, dass ich entgegen aller Gewohnheit sehr schnell und immer zwischendurch, wenn ich die Zeit hatte, gelesen habe. Es hat sich bis zum Ende, das unerwartete Wendungen bot, gelohnt. Der Schreibstil hat mir sehr gefallen, die Rückblenden wurden schlüssig erzählt und es war keine Minute langweilig.

#DasHausindemGudeliastirbt #NetGalleyDE

Bewertung vom 16.08.2024
Endstation Rursee (eBook, ePUB)
Müller, Olaf

Endstation Rursee (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Dieses Papier ist keineswegs trocken, sondern Genuss bis zum Schluss

Man kann Regionalkrimis lieben oder auch nicht, aber Kommissar Fett, egal ob ehedem mit Schmelzer oder jetzt mit Conti im Duo der Ermittlung in und um Aachen, das sollte man sich nicht entgehen lassen.
Der Krimi beginnt, wie es sein muss, mit einer Leiche. Langsam entwickelt sich ein Bild der toten Louise Buchsbaum und der Lebenden um sie herum. Gespickt mit herrlichem Humor und vielen lesenswerten Szenen tastet sich Kommissar Fett vor. Romanisten und Möchtegernschriftsteller allenthalben. Da beginnen selbst Polizisten mit der Maigret-Lektüre. Abgelenkt wird Fett dann immer wieder von seiner schönen Lütticher Kollegin Chantal Kalumba, die erst einmal ahnungslos in den Fall hineingezogen wird. Alle Ermittler haben ein feines Gespür für die Zwischentöne, für das was nicht gesagt wird auch. Im Umfeld der Ermordeten findet sich so manche Spur, die erst der Polizei noch vorenthalten werden soll, aber nach und nach ergibt sich ein Bild vom Mörder, auch weil noch eine zweite Leiche im wahrsten Sinne des Wortes auftaucht.
Und dann plötzlich wird die Zeit knapp. Ab Kapitel 30 hatte ich das Gefühl, ein Bahnwärter Thiel hätte abrupt die Weichen auf eine schnelleres Gleis umgestellt. Es überschlagen sich Erkenntnisse und Einsatzorte, es wird gefährlich, es wird alles mobilisiert, was Beine und Flossen hat, ein irres Spiel beginnt, entsprechend dem Buchtitel natürlich auf dem Rursee. Diese letzten sechs Kapitel haben mich den Atem anhalten lassen, ich fand es spannend, wie selten in einen Krimi und perfekt beschrieben. Da am Ende die bei anderen Autoren üblichen Dankeselogen fehlen, habe ich mir schon Gedanken gemacht, wie ein Schriftsteller ein so perfektes Szenario beschreiben kann. Chapeau! Der zeitliche Ablauf war maximal eng, es würde mich interessieren, ob das „in echt“ auch so gut funktionieren würde wie im Buch.
Der Krimi ist aber nicht bloß Krimi, er enthält auch ein wunderbares Stück Gesellschaftssatire, das Kapitel „Kastrationsängste“ mit dem Gender-Tribunal und dem Ministerium für Gendergerechtigkeit sollte niemand überspringen, der so wie ich das Gendern aus tiefster Seele und Überzeugung meidet. Diesen Traum könnte ich mir als Feuilleton-Beitrag in einer renommierten Zeitung, die ich sonntags gerne lese, gut vorstellen, das wäre mal was! Da auch schon auf den ersten Seiten Studenten auftauchen und keine Studierenden, hatte mich der Autor dieses Krimis aber sowieso schon auf seine Seite gezogen, noch ehe die Tote überhaupt in Sicht war.
Gerne mehr von Fett aus Aachen! Nur die RWTH musste ich mal googeln, unter TH konnte ich mir ja gut etwas vorstellen, aber RW war für mich, aus Norddeutschland gesehen, sehr fremd. Man kann ja eben nicht alles wissen.
Fazit: Ein Kriminalroman, der mich ganz wunderbar unterhalten hat, der in gutem und humorvollem Deutsch geschrieben ist, der spannend war und den ich nun uneingeschränkt weiterempfehle.
Fünf Sterne mit Sahnehäubchen

#EndstationRursee #NetGalleyDE

Bewertung vom 15.08.2024
Pi mal Daumen
Bronsky, Alina

Pi mal Daumen


sehr gut

Erinnerungen eines unterforderten Fötus

Alina Bronsky reizt mich generell, wenn ein neues Buch von ihr erscheint, muss ich es auch lesen. Gut in Erinnerung sind mir Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, Baba Dunjas letzte Liebe, Der Zopf meiner Großmutter, Barbara stirbt nicht und zuletzt Schallplattensommer. Da hängt die Latte fürs neue Buch gleich immer noch ein bisschen höher.
Alina Bronsky hat einen wunderbar lockeren und ironischen Tonfall, auch wenn die Dinge wirklich tragisch, problematisch oder außergewöhnlich sind. Sie hat immer einen Blick fürs Unangepasste, für die, die „aus der Reihe tanzen“. In "Pi mal Daumen" tun sie letzteres ganz bestimmt. Wenn man sich auf ein modernes Märchen einlassen will, ist man bei Moni und Oscar goldrichtig. Leider ist gerade Mathematik nie mein Lieblingsfach gewesen, so dass ich bei bestimmten Begriffen nur Bahnhof verstehe, aber das tut der Geschichte im Mathematikprofessoren- und Studentenmilieu wenig Abbruch.
Die Protagonisten: Oscar ist nicht nur ein hochbegabter Schüler, der bereits mit fast 17 Mathematik studieren kann/will/soll. Er ist gleichzeitig in seinem alltäglichen Denken und Handeln eingeschränkt wie ein kleines Kind, hat Zwangsneurosen, kapselt sich ab wie ein Mensch mit Asperger-Syndrom und versucht seine Sicht der Dinge unangetastet zu erhalten. Moni hingegen ist tatsächlich eine irre Nummer, offensichtlich auch sehr selbstbewusst, außer wenn es um ihren Lebensabschnittspartner und ihre Familie geht. Aber das kann man verstehen, wenn man ihn und die anderen kennengelernt hat. Pit ist nun nicht gerade mathematikaffin und auch sonst nicht der Hellste, da kann der Oscar froh sein, wenn er nur an ihm vorbei geht. Wobei aber Justin, der älteste Enkel von Moni, bei Oscar für ihn merkwürdige und unerwartete Gefühle auslöst. Zum mittleren Enkel Quentin entwickelt sich hingegen eine fast brüderliche und enge Beziehung, die wiederum sehr stark auf der mathematischen Ebene wächst.
Ich las gespannt, wie das weiterging mit dem ungleichen Paar, das ja definitiv kein Liebes-Paar ist. Moni (53) könnte auch die Oma von Oscar sein, so behandelt sie ihn dann auch. „Kleiner“! Ob zwischen Oscar und Moni Mutter-(Oma)-Kind-Gefühle entstehen, bleibt ein Geheimnis. Aber ein paar Gefühle hat Oscar schon, am Anfang vor allem aber Angst. Ein Betreuer- und Beschützersyndrom entwickeln beide, das ist schon recht witzig.
Im Mittelteil überkam mich von Zeit zu Zeit trotz der flotten, mit Ironie und Witz gespickten Geschichte echte Langeweile, die mathematiktheoretischen Ausführungen (inklusive der nie gehörten Fachbegriffe) und auch die Beschreibung mancher Familiensituationen, in die Oscar bei Moni hineingerät, sind etwas breit ausgewalzt. Oscars Mutter bekommt auch eine Nebenrolle, aber irgendwie erscheinen mir die Eltern etwas steril in der ansonsten lebhaften Romanszenerie. Da hatte die Geschichte, oder auch die Autorin, aus meiner Sicht einen Durchhänger.
Im letzten Drittel macht sie das dann mehr als wett, hier hatte ich endlich nicht mehr das Gefühl, als Oma in einem Jugendroman gestrandet zu sein. Die Mathematik und das Studium spielten zwar immer noch eine Rolle, aber die Psychologie gewinnt die Oberhand.
Der unseren Helden Oscar begleitende Mister Brown ist eine wunderbar real-unreale Persönlichkeit, die Oscar nicht nur bei der Mathematik, sondern auch beim Denken hilft. Fast wie die gute Fee im Märchen.
Alina Bronsky nutzt in ihrem Buch das eigentlich für Sachbücher prädestinierte Fußnotenschreiben. Man sollte sie nie unbeachtet überlesen, man würde einiges an Unterhaltung einbüßen.
Warum das Buch den Titel Pi mal Daumen trägt, erfährt man natürlich auch ganz konkret. Aber der Titel ist sicher viel mehr auch eine Metapher für Monis Art, sich der Mathematik zu nähern und gibt einen Vorgeschmack auf ein zumindest für mich einfach unvorstellbares Mathematikstudium.
Mein Lieblingszitate: „Wir studieren keine Gnade, sondern Mathematik.“ und „Menschen, die gerade ernsthaft über Mathematik nachdachten, sollten weder Auto fahren noch mit scharfen Gegenständen hantieren.“
Fazit: Das Buch liest sich locker und leicht, man denkt sich seinen Teil und schmunzelt als Leser. Ich habe meine Mathematikaversion erfolgreich bekämpft und dieses Buch gut unterhalten bis zum Ende gelesen. Da kann ich es auch guten Gewissens weiterempfehlen.
Gerne 4 Sterne
#PimalDaumen #NetGalleyDE

Bewertung vom 13.08.2024
Die Welt zwischen den Nachrichten
Kuckart, Judith

Die Welt zwischen den Nachrichten


sehr gut

Und es geht weiter, weiter, weiter …
Das Rezensieren dieses Buches, das das Genre Roman hat, aber sich nicht wie ein Roman flüssig und schon gar nicht leicht gelesen. Zu Beginn war ich unsicher, ober ich überhaupt weiterlesen möchte, aber Seite um Seite habe ich mich „dem Mittelpunkt der Erde“ genähert und es war tatsächlich spannend, Judith Kuckarts 12. Roman bis zur letzten Seite zu folgen. Dort findet sich dieses Gedicht „Telegramm – Nicht wichtig / ist / was man aus uns gemacht hat / wichtig ist / was wir aus dem machen / was man / aus uns gemacht hat. *“
Ich habe selbst im letzten Jahr versucht, für meine Tochter einige Erinnerungen aufzuschreiben, die einzelnen Kapitel nannte ich „Gedankensplitter“. Nun begegne ich einem Roman, der aus solchen Erinnerungen an Kindheit, Jugend, Liebe und anderes besteht, aus vielen Gedankensplittern eben. Das hat mich beim Lesen mehr und mehr fasziniert, obwohl der Beginn des Romans schon sehr holperig und sprunghaft erschien. Ja, man muss sich darauf einlassen, dass hier Gedanken, Träume, echte Erinnerungen und fliegende Ideen ineinandergreifen. Ich kenne den Begriff autofiktional, vielleicht trifft er ja zu. Beim Lesen jedenfalls hatte ich das Gefühl, in einen wolkigen Himmel zu schauen und je länger ich schaute und las, um so mehr erschienen Gesichter, Umrisse von Gebäuden, Tiere und Stadtsilhouetten vor meinem geistigen Auge.
Judith Kuckart ist fünf Jahre jünger als ich, aber wir gehören beide dieser ominösen sogenannten Babyboomergeneration an, habe Ähnliches und doch ganz Verschiedenes erlebt. Sie vor der Mauer im Ruhrgebiet, ich in Ostberlin. Oder war sie hinter der Mauer und ich davor? Eine Frage der Perspektive. Sie sagt Grenzübergang Moritzplatz, ich sage Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Ich kannte bis heute Judith Kuckarts Namen nicht, Tanz ist nicht unbedingt in meinem Fokus (gewesen) und ihre Romane sind leider alle ungelesen an mir vorbeigezogen. Umso froher bin ich, Judith Kuckart jetzt kennengelernt zu haben. In einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, wie sie in der Bundesrepublik auch nur selten so sichtbar waren, stellt sie sich der Frage nach dem Woher und Wohin. Und sie beschreibt auf sehr eigene Art den Weg dazwischen. Vom Kind, vom Mädchen zur Frau, immer mit eigenem Kopf und eigenen Gedanken. Nur so konnte sie etwas werden, was sich von anderen abhebt und beachtet wird.
Der bruchstückhafte Erzählstil wird unterbrochen von den zwölf „Kantinen“-Kapiteln. Und mit diesen Kapiteln kommen die Begegnungen mit Eva K., geheimnisvoll, verwirrend, anziehend, ermunternd, wie auch immer, Eva K. bleibt beinahe bis zum Schluss. Mir hat diese Art, den (Lebens)-Kreis zu schließen dann doch sehr gefallen. Auch die anderen Protagonisten sind liebevoll und zugewandt beschrieben, selbst Methusalem, den älteren und jahrelangen Lebensgefährten kann ich mir hundertprozentig vorstellen. Einfach berührend, wie Judith Kuckart auf ihre Freunde, Bekannten und Zeitgenossen blickt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es sehr schwer ist, über die eigenen Eltern oder Verwandten zu schreiben, das ist immer auch eine Gratwanderung. Der Autorin gelingt auch das gut, es gibt eben einfach nicht immer nur eitel Sonnenschein in den Erinnerungen an ein ganzes Leben.
Eingestreut in die Texte sind Fotos, bei manchen erschließt sich der Sinn, manche hätten vielleicht einen kleinen Bildtext benötig.
Das Cover kenne ich nur durch das E-Book, wie es gedruckt wirkt, weiß ich nicht, es ist nicht ganz mein Geschmack, aber der Buchtitel ließ mich bei der Ankündigung aufhorchen. Jeder kann da seine Empfindungen hineininterpretieren. Irgendwann ist die Mauer weg und es zieht um alle Ecken in Berlin, dazwischen eben das Leben, der aufgewirbelte Staub und die Liebe und der Tod.
Ich hoffe, Judith Kuckart, braucht noch keine Stützstrümpfe, und wenn, bringt sie das hoffentlich nicht um. Aber was ich mir wünsche, ist, dass sie niemals wieder eine Lehrerin verbessert und meint, es heiße nicht Lehrerzimmer, sondern LehrerInnenzimmer. Oder sollte das ein Witz sein? Da kann ich leider nicht drüber lachen. Auch Studierende und Tanzende muss ich nicht unbedingt haben, wenn es sich um schlichte Studenten oder Tänzer handelt.
Trotz Kritiken: Gern empfehle ich das Buch, es könnte aber sein, dass manche Leser es wieder weglegen, weil sie mit dieser Zeit zwischen Ost und West und den zwölf Kantinen nichts anfangen können. Bei mir hat das Buch jedenfalls viele Erinnerungen getriggert, Dinge, an die ich schon Jahre nicht mehr gedacht habe.
Gute vier Sterne

#dumontbuchverlag #NetGalleyDE

Bewertung vom 03.08.2024
Die Geschichten in uns
Wells, Benedict

Die Geschichten in uns


gut

Schlecht Gendern kann er gut
Ich habe bisher noch kein Buch von Benedict Wells gelesen, es mag an den Themen liegen oder an der Menge der Bücher, die jährlich erscheinen. Auch wer gerne liest, schafft nicht alles. Also dachte ich mir, wenn dieser Autor nun übers Schreiben schreibt, warum nicht, das interessiert mich, und will ich wissen, wie er es geschafft hat, zum berühmten Diogenes Verlag zu kommen. Ich erfuhr: es war ein steiniger Weg. Aber er war erfolgreich und unterdessen sind seit 2008 so einige Romane von Wells über den Ladentisch gegangen und in unfassbar viele Sprachen übersetzt worden. Wenn so viele ihn mögen, muss doch etwas dran sein, war da mein Gedanke. Ich glaube, das stimmt sogar, dieser Benedict Wells kann schreiben, er schreibt schnell lesbare und flüssige Texte, streut Ironie und Selbstkritik ein – hier im beschriebenen Buch ist das jedenfalls so. Und er erzählt ein bisschen von seiner Familiengeschichte und seiner eigenen Biografie. Etwas ungewöhnlich ist diese, besser gesagt, dieses Künstlerleben fällt schon aus der Reihe. Besonders seine Kindheit und Jugend ist halbvoll von unangenehmen Erlebnissen, aber der Liebe zu den Eltern tut das keinen Abbruch, und das Aufwachsen in Internaten ist gewiss prägend für sein späteres Dasein.
Was mich zumindest innig mit Wells verbindet, ist seine Leidenschaft für John Irving. Ich las Das Hotel New Hampshire und andere Romane mit Ende 20 im Original und konnte nie mehr von Irving lassen.
Wells lässt den Leser also hinter seinen Vorhang schauen und es macht auch Spaß, ihm zu folgen, wäre da nicht das permanente Gendern, das mich bei der Lektüre total aus der Bahn geworfen hat.
Das Buch strotzt von „Autor:innen, Leser:innen, Anfänger:innen, …“, als ich dann die Danksagung erreicht hatte, kam es ganz dicke „Liebe Diogenes:innen“…“. Die geschlechtergerechten Partizipialkonstruktionen erwähne ich gar nicht erst. Mir tut das jedenfalls in meiner deutschen Bücherseele weh, dieses Buch so verhunzt zu sehen. Wells bezieht sich u. a. in seinen Erinnerungen auch auf einen Spiegel-Artikel von Verena Carl vom 26.09.2004. Zu der Zeit wurde aber noch nicht gegendert, Zitat aus dem Artikel von Carl: „Auf den ersten Blick schon: Jungautoren mit Substanz wie Judith Hermann haben sich gehalten, um literarische Dampfplauderer ist es nicht weiter schade.“ Die Erwähnung von „Jungautoren war damals noch legitim, selbst wenn es um weibliche Autoren ging. Wells impliziert so, dass das Gendern ihm eigentlich fast angeboren ist. Empfinde ich als Verfälschung. Zumindest gab es beim jungen Wells noch ein „Studentenleben“!
Wells hat wirklich kluge Gedanken geäußert, gerade im zweiten Teil könnten potentielle Schriftsteller so einiges lernen, das fürs Erstlingswerk sehr wichtig wäre, auch wenn mir nicht alles, was er empfiehlt, praktikabel erscheint.
Wells hat dann doch noch den Bogen gekriegt, wenn er schreibt: „Oder wie der Sprachkritiker Wolf Schneider sagt: »Beim Text muss sich einer quälen, der Absender oder der Empfänger. Besser ist, der Absender quält sich.«“ Bei mir war es wohl eher umgekehrt.
Mir hat tatsächlich der erste, aufschlussreiche biografische Teil sehr gefallen, aber richtig am gesamten Buch freuen kann ich mich nicht. Schade.
Aber: man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, deshalb habe ich mir nun „Hard Land“ gekauft, um den Romanautoren Benedict Wells besser kennenzulernen. Es ist zwar als „Jugendbuch“ bekannt geworden, aber das stört mich auch im Alter nicht! Und im Gegensatz zu dem hier rezensierten Sachbuch fand ich in seinem Roman zumindest auf den ersten dreißig, vierzig Seiten keinen Gender-Doppelpunkt. Wie er mir inhaltlich gefällt, werde ich in einer anderen Rezension schreiben. Dass mich der Schreibstil von Wells sehr anspricht, habe ich ja schon erwähnt.
3 Sterne, mehr werden es trotzdem nicht.
#DieGeschichteninuns #NetGalleyDE

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