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Juma

Bewertungen

Insgesamt 139 Bewertungen
Bewertung vom 29.10.2024
Das rote Vogelmädchen
Steinhardt, Stephanie Marie

Das rote Vogelmädchen


ausgezeichnet

Überschäumende Liebe und tiefe Selbstzweifel

Das Cover ist passend zum Titel mit vielen Rottönen sehr aufmerksamkeitsstark. Das Mädchen aber schaut am Betrachter vorbei, vielleicht auf einen unsichtbaren Dritten, von dem nur noch die Finger sichtbar sind. Ein gedruckter Button gibt dem künftigen Leser den ersten Hinweis auf den Inhalt: Ein außergewöhnlicher Adventskalender voll Liebe und Glück.

Die Autorin Stephanie Marie Steinhardt bringt hier ihr erstes Buch zur Welt, ihre Bilder aber sind bereits seit einigen Jahren in der Welt. Sie hat durch Studium und Berufstätigkeit einen hohen Level, was Kunstkenntnis, künstlerisches Arbeiten, Texten und Schreiben anbelangt. All das verwendet sie gekonnt in ihrem Buch. Sie hat sich als Arbeitsort ihrer Protagonisten eine Werbeagentur erwählt, in der Jacob als Grafikdesigner tätig ist und in die sich Bene als neue Mitarbeiterin bewirbt. Bene also ist das rote Vogelmädchen des Titels. Während des Lesens hatte ich das eine oder andere Mal das Gefühl, ich hätte das Buch mit dem Titel „Das bunte Vogelmädchen“ versehen, dann wieder war sie für mich „Das verlorene Vogelmädchen“. Es gäbe wohl noch andere Adjektive, die ich der wilden, bunten, ausgelassenen, traurigen Bene geben könnte, sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Und sie ist es, die von Anfang an Jacob zu ihrem Ideal erhoben hat und ihn unbedingt erobern will. Erst ganz am Ende löst sich das Geheimnis um den Titel auf.

Die Lovestory wird dem Leser in 24 Adventsgeschichten erzählt, Bene gibt ihrem Jacob für jeden Tag ein Geschenk, immer eine ausgefallene Dose, immer mit passendem Dekor, in die sie ihm immer einen Tagebuchabschnitt aus der Zeit ihres Kennenlernens legt. Zu Beginn sah ich in Bene die junge verliebte Frau, mit Tausend Gedanken und Ideen im Kopf, mit immer mindestens zwei Dingen gleichzeitig beschäftigt, mit einem vollen Herzen und überhaupt nicht auf den Kopf, noch weniger auf den Mund gefallen. Man lernt peu à peu ihre Freunde und Bekannten kennen, man erlebt das Zueinanderfinden zweier verliebter Seelen.

Aber es ist wie im richtigen Leben, nicht alles, was nach außen glänzt und leuchtet, ist auch im Inneren so wunderschön. Jacob zweifelt an seinen künstlerischen Fähigkeiten, Bene will ihn zu seinem Glück zwingen, aber zweifelt an sich selbst, sie gleicht einer tickenden Zeitbombe. Dieses Miteinander birgt dann auch tückische Fallen. Wie sich beide daraus befreien wollen, das verrate ich natürlich nicht, auch nicht, ob es gelingt.

Für mich war das ein interessantes Lesevergnügen, auch wenn mir die Verherrlichung von Jacob, dem unwiderstehlichen und perfekten Mann, etwas zu vordergründig war. Jacob steht aber seiner Bene da im Buch auch nicht nach, er ist Seite für Seite entzückt von ihr. Dass die pure Lovestory dann doch einige Knicks und Falten bekommt, ist nachvollziehbar. Was ich nicht so recht nachvollziehen kann, das sind die massiven Selbstzweifel von Bene, hier fehlte mir dann doch etwas Hintergrundwissen. Wer oder was hat sie jemals so enttäuscht oder gedemütigt, dass die Minderwertigkeitsgefühle und der Selbstzweifel trotz der Verliebtheit und der schönen Zeit mit Jacob so massiv in Benes Psyche eingreifen? Offenbar braucht sie ein buntes, auffallendes Äußeres und sehr viel Deko und Antikes in ihrer Wohnung, um sich sichtbar und nicht minderwertig oder langweilig zu fühlen. Wie wird man so? Das verrät das Buch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nur an dem „langweiligen Leben“ der Eltern liegt. Andererseits weist das Buch auf ein Grundproblem des Zusammenlebens hin: dass Menschen sich ständig verpflichtet fühlen. Zum Loben, zum Schenken, zum Einladen, wozu auch immer. Etwas ohne Gegenleistung zu tun, fällt vielen schwer, den Schenkenden wie auch den Beschenkten.

Der Schreibstil ist mal leichtfüßig, mal gedankenbelastet, aber gut lesbar. Ein bisschen mehr Genauigkeit im Korrektorat hätte mich zu einer „sehr gut lesbar“-Bewertung veranlasst. Gut gefallen hat mir die Typografie, die 24 Tage immer auf einer neuen Seite, jeder Tag beginnt mit einer passenden Vignette. Aber die Grundschrift hätte für mich 1 p größer sein können, besonders die langen kursiven Passagen fand ich anstrengend zu lesen. (Liegt sicher am Alter und meiner Brille.)

Bene und Jacob, die sich gegenseitig glücklich machen wollen, das ist eine schöne Liebesgeschichte. Die kann man auch zu anderen Jahreszeiten lesen, aber zum Advent passt sie ganz besonders gut. Tränen der Rührung inklusive.

Fazit: Ob man es als Liebesgeschichte der anderen Art oder als ungewöhnlichen Adventskalender betrachtet, dieses Buch hat seine Reize! Vielleicht ist es mehr ein Frauenbuch, ich glaube, Männer lesen solchen Geschichten nicht so häufig. Zum Verschenken eignet es sich bestimmt in der jetzt beginnenden Vorweihnachtszeit.

Bewertung vom 29.10.2024
Rath / Kommissar Gereon Rath Bd.10
Kutscher, Volker

Rath / Kommissar Gereon Rath Bd.10


ausgezeichnet

Wiedersehen und Abschied

Als ich 2012 „Haus Vaterland“ las, war das meine erste Begegnung mit Volker Kutscher und seinen beiden Protagonisten Gereon Rath und Charlotte Ritter, genannt Charly. Seitdem habe ich auch die ersten drei Bände und alles, was danach erschien, mit Freude und Interesse gelesen. Zwischendurch aufgelockert von Hörspielserien, Hörbüchern und natürlich „Babylon Berlin“. Durch diese Fernsehserie erhielten die Protagonisten Gesichter, ich habe mir jedenfalls vor allem immer Volker Bruch und Liv Lisa Fries vorgestellt in den Romanen.
Kutscher ist es mit seiner historischen Berlin-Krimi-Reihe hervorragend gelungen, seine Leser zurückzuholen in die Zeit des Nachkriegs, der Weimarer Republik, der Machtergreifung Hitlers und nun im 10. und letzten Band ins Jahr 1938 mit seinen grausamen Höhepunkten: Der Anschluss Österreichs, die Unterwerfung der Tschechoslowakei, die Vertreibung von zehntausenden polnischen Juden über die polnische Grenze in eine ungewisse Zukunft, und – die Pogromnacht am 9. November, die nicht ganz zu Unrecht früher Reichskristallnacht genannt wurde. Denn in dieser Nacht wurden unzählige Spiegel, Scheiben und nicht zuletzt die Synagogen ein Opfer der entfesselten „Volksseele“, die Scherben blieben zurück, die Juden wurden gedemütigt, gefoltert, getötet, ins KZ gesperrt. In diesem letzten Jahr vor Kriegsbeginn spielt dieser Roman und er lässt einen tiefen Einblick zu in die Gepflogenheiten von SA und SS, in die fast unsichtbar gewordene Kriminalpolizei um Ernst Gennat. Berlin bildet den Hintergrund mit seinen teilweise heute nicht mehr existierenden Straßen und Plätzen, mit seiner Bevölkerung, die sehr gemischt ist, von obrigkeitshörig über devot bis hin zu brutal und denunzierend. Und unter ihnen leben Tausende Juden, deren Lebensgefahr von Tag zu Tag größer wird.
Der ehemalige Pflegesohn von Charlotte und Gereon Rath, Fritze, lebt unterdessen wieder in der Familie des HJ-Führers Rademann und gerät im Verlauf der Geschichte unter Mordverdacht. Gleichzeitig stirbt seine Geliebte in einem Berliner Krankenhaus. Fritze begibt sich wieder einmal auf die Flucht. Gereon, der seit dem letzten Teil der Serie in Deutschland als tot gilt, taucht wieder auf und auch sein Bruder Severin, nun amerikanischer Staatsbürger, hat mit seiner Freundin den Weg nach Deutschland gewagt. Der Vater der beiden Männer liegt im Sterben, es scheint, dass das die Familienbande im Hause Rath wieder kittet. Ausreichend Stoff schon zu Beginn des Buches, Volker Kutscher mit seiner Fantasie gibt dem Leser gutes Futter, es macht Spaß, die verschlungenen Pfade der einzelnen Figuren zu verfolgen und zu rätseln, was als nächstes passiert, wer als nächster in die Fänge der Gestapo gerät oder gar zu Tode kommt. Tragische Verwicklungen und Entwicklungen halten die Spannung hoch bis zum Ende.
Kutscher hat einen gut lesbaren Stil, seine Dialoge sind wirklichkeitsnah und seine Charaktere interessant gezeichnet. Das düstere Cover verleiht dem Buch etwas Dunkles, nicht Greifbares, es scheint wie die letzte Szene mit Gereon und Charly im Buch unwirklich und doch endgültig. Ohne Übertreibung kann ich sagen, schade, dass diese Romanreihe hier ihr Ende gefunden hat. Wenn man der Entwicklung von Kutschers Protagonisten so lange und sehr begeistert gefolgt ist, würde man schon gern wissen, wie sie sich weiterentwickeln, was ihnen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geschieht. Da ist nun die eigene Fantasie gefragt.
Fazit: Leseempfehlung, Krimi mit historischem Hintergrund auf hohem Niveau. Fünf Sterne.

#Rath #NetGalleyDE

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.10.2024
Suche liebevollen Menschen
Borger, Julian

Suche liebevollen Menschen


sehr gut

Dem Vergessen entrissen

Julian Borger, Vollblutjournalist und auf der ganzen Welt zu Hause, geboren Anfang der 1960er Jahre in England als Sohn eines jüdischen Wiener Emigranten und einer britischen Mutter, beginnt 20 Jahre nach dem Freitod des Vaters dessen Geschichte und die Familiengeschichte zu recherchieren. Dass es bis 2020 dauerte, ehe er damit überhaupt begann, hatte viele Gründe: das Schweigen in der Familie, das viele dieser Generation kennen und erst spät aufbrechen wollen oder müssen, die Arbeit, die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit, immer war etwas anderes wichtiger. Dann fiel ihm die Anzeige wieder in die Hände, um die er sich schon lange kümmern wollte „Seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11, Viennese of good family, Borger, … Vienna 3“. Sie war im Manchester Guardian am 3. August 1938 veröffentlicht worden. Der intelligente Junge, der in der Anzeige beschrieben wird, war sein Vater Robert. In der gleichen Zeitungsspalte wird für vier weitere Kinder ein „Ausbildungsplatz“ gesucht. Julian Borgers Interesse ist plötzlich geweckt, er beginnt zu suchen und findet zuerst Material für einen umfangreichen Zeitungsartikel, der dann den Grundstock für dieses Buch bildet.
Julian Borger beschränkt sich aber in seinen Recherchen rund um den Erdball nicht auf die Lebensgeschichte seines Vaters, er sucht auch nach den anderen Kindern, die auf diese Weise vor dem sicheren Tod bewahrt wurden. So entstehen mehrere Porträts von jüdischen Familien mit ihren unterschiedlichen Schicksalen, immer im Fokus die geretteten Kinder.
Bisher gab es wahrscheinlich kein einziges Buch, dass die Geschichte der privaten Rettung von jüdischen Kindern über Zeitungsanzeigen beschrieben hat. Ich kenne jedenfalls keines. Schon das allein ist für mich die große Überraschung dieses Buches. Mich haben die einzelnen Geschichten sehr berührt, gerade weil auch ich Nachkomme eines Holocaustopfers und dessen Tochter, einer Überlebenden, bin. Ich beschäftige mit seit Jahren mit der Thematik und bin doch immer wieder erstaunt, wie vielfältig und unterschiedlich die Schicksale einzelner Menschen sind, die am Ende doch ein großes Ganzes bilden, immer mit der Hoffnung „Nie wieder“.
Fazit: Ein starkes und tragisches Buch, gut lesbar, nahe an den beschriebenen Menschen. Jedes einzelne Schicksal könnte einen Roman füllen. Eindeutig eine Leseempfehlung. Gute vier Sterne.

Bewertung vom 09.10.2024
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


ausgezeichnet

Wie schön ist diese Welt!
Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische Gesellschaft oder das Laufen als innere Reinigung und Befreiung aufgreift, sondern mitten im Leben landet. Wohnverwandtschaften lassen – zumindest bei mir – ja sofort im Kopf das Wort Wahlverwandtschaften aufblitzen und beim Lesen stellte ich fest, dass auch letzteres gut als Titel getaugt hätte für dieses wunderbare Buch.
Die wichtigsten Protagonisten des Romans kann man an einer Hand abzählen, dadurch bildet sich schon von Beginn an eine sehr emotionale Nähe zwischen ihnen und dem Leser. Kaum hat man begonnen, kennt man Constanze, die junge Zahnärztin, Murat, den Zauberkoch, Anke, das verkannte Schauspielgenie, und Jörg, den Endsechziger mit großem Reisewunsch. Die vier sind es, die eine WG (gern auch Wohngemeinschaft genannt, vielleicht auch Wahlgemeinschaft) bevölkern, Jörg ist der Besitzer der Wohnung und Constanze das Kücken, das als letztes inklusive unnützem und ungeliebtem weißen Klavier zur WG stößt.
Bezaubernd die Beschreibungen des ersten Kennenlernens, gemeinsamen Kochens und Sinnierens. Mit gekonnter Leichtigkeit geht die Autorin in die Vollen und lässt die Hüllen der vier Stück für Stück fallen. Aber nichts ist so leicht, wie die Fantasie, und so kommen erhebliche Probleme auf das Kleeblatt zu, das gegenseitige Liebe und Freundschaft entwickelt hat. Und diese wird auf eine harte Probe gestellt, als Jörg zu einer Not-OP ins Krankenhaus muss. Den weiteren Verlauf dieser ungewöhnlichen und sehr zu Herzen gehenden Viererbeziehung möge jeder selbst lesen. Es lohnt sich auf jeden Fall.
Der Stil von Isabel Bogdan hat eine Leichtigkeit und Frische, die man nicht so häufig findet in den Gegenwartsromanen. Ihre Dialoge und Selbstgespräche lesen sich echt und lebensnah. Das hat mir sehr gefallen. Das Einstreuen von Zitaten und Liedtexten gelingt ihr punktgenau.
Jede der vier Hauptfiguren ist auf ihre Art lebendig und nachdenklich, es macht Freude, den Gedankensprüngen zu folgen, die Traurigkeiten machen etwas traurig und trotzdem bleibt bis zum Ende des Buches eine fast euphorische Lebensfreude erhalten. Meine Lieblingsfigur ist Murat, der Deutsche mit türkischen Wurzeln und einem großen Herzen und einem Händchen für Küche und Garten. Die fünfte Hauptfigur ist dann auch sein spontan adoptierter Hund Alien, eine perfekte Idee für die WG hatte die Autorin auch hier.
Gern würde ich das Buch auch als Hörbuch genießen, die Vorstellung ist jedenfalls sehr verführerisch, schon weil viele gute Schauspieler, z. B. Heikko Deutschmann, lesen. Und die Geschichte ist es auf jeden Fall wert!

Fazit: Ich kann das Buch aus vollem Herzen empfehlen, mir waren es bereichernde Lesestunden. Uneingeschränkt 5 Sterne!

#Wohnverwandtschaften #NetGalleyDE

Bewertung vom 06.10.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)


weniger gut

Kluftinger passt nicht in die Politik

Rein gefühlsmäßig ist schon der Titel Lückenbüßer eine große Bürde für einen Krimi. Nun ist dieser ja zu allem UNGLÜCK auch noch der 13. Teil einer bisher zumindest für mich recht unterhaltsamen Krimireihe. Hätte ich die beiden Autoren Klüpfel und Kobr beraten dürfen, hätte ich dazu geraten, Nummer 13 gekonnt zu überspringen und für Kommissar Kluftinger einen neuen, spannenden Fall zu erfinden. Selbst die sehr regionale und gekonnte Lesung der Autoren gemeinsam mit Martin Umbach reißt dieses Buch nicht mehr raus. Ich jedenfalls gehöre zu den Krimilesern, die Spannung, Ablenkung vom Alltag und gute Unterhaltung suchen. Mit politischen Witzchen, versuchter Satire und vermeindlich ÖRR-tauglichem Geschwätz fand ich mich aber nicht gut bedient. Der Kriminalfall an sich ist so unbedeutend, dass er fast verschwindet im Wahlkampfgetöse. Political Correctness hingegen wurde sehr groß geschrieben, wenn irgend etwas davon als Satire gemeint war, sollten die Autoren es gern als solche markieren. Sieht man in einem Hörbuch leider nicht.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.10.2024
Gebt mir etwas Zeit
Kerkeling, Hape

Gebt mir etwas Zeit


sehr gut

Opulente niederländische Geschichte(n)
Warum höre ich so gerne Hörbücher? Weil HP Kerkeling mich mit seinem "Ich bin dann mal weg" einfach süchtig gemacht hat. Das ist bald 20 Jahre her, ich höre immer noch gerne und ganz besonders ihn, HP! Trotzdem bin ich geneigt, dieses jetzt erschienene Hörbuch doch etwas kritisch zu betrachten. Ahnenforschung ist auch mein Hobby und unterdessen ist mir klar geworden, dass nicht jeder an den Tausenden Details interessiert ist, die ich im Laufe vieler Jahre über meine Vorfahren ausgegraben habe. Nun ist mir nicht das Talent des Romanschreibens in die Wiege gelegt, aber auch HP Kerkeling macht aus seiner Obsession nicht gerade einen Bestsellerroman. Sein Motto "Gebt mir etwas Zeit" hat er für meine Begriffe etwas zu lang gedehnt, insbesondere die niederländische Geschichte und die Geschichten, die er sich rund um seine Vorfahren ausgedacht hat, ließen mich ziemlich ermüdet in den Schlaf sinken. Nun gehöre ich wahrscheinlich zu den Ignoranten, die das Niederländische vor allem mit den Malern Rembrandt, Hals oder Vermeer, um nur drei zu nennen, und mit deren Gesellschaftsbildern verbinden. Aber nur deshalb konnte ich mir dann beim Zuhören auch einiges vorstellen, Städte, Schiffe, Leute und Gewänder, die beschrieben werden. Besonders gedehnt fand ich die Heraldik, die Wappenbeschreibungen sind wirklich nicht geeignet, meine Fantasie zu beflügeln. (Wobei ich mich gefragt habe, ob es im gedruckten Buch vielleicht Abbildungen gibt, die man als Hörer gar nicht sieht.)
Dass mir dann die Geschichten um Urgroßmutter Agnes und die uneheliche Oma Bertha wirklich gut gefallen haben, liegt vielleicht an den für mich eher vorstellbaren Gegebenheiten und dem Kuriosum der Abstammung vom englischen Königshaus. Solche Enthüllungen hätten mich bestimmt auch bei meiner Ahnenforschung beflügelt.
Die tragische Liebe zu Duncan wird von HP sehr zurückhaltend und doch mit Traurigkeit in der Stimme erzählt. Einiges kann ich nicht nachvollziehen, aber das Leben spielt manchmal mit den Menschen schon ein seltsames Spiel. In jedem Fall erinnerten mich diese Szenen um das Thema AIDS sehr an die 1980er Jahre und das Entsetzen über diese Krankheit, ja, Seuche ist der bessere Ausdruck, und an die Angst, die damals mit rasender Geschwindigkeit um sich griff und wohl niemanden ausließ.
HP Kerkeling ist ein begnadeter Sprecher seiner eigenen Bücher und ich hoffe, dass er noch ein weiteres schreiben und dann sprechen wird.
Fazit: bei den opulenten niederländische Geschichten kommt der englische König fast etwas zu kurz. Hörenswert schon weil HP Kerkeling so toll vorlesen kann!

#GebtmiretwasZeit #NetGalleyDE

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.09.2024
Im Warten sind wir wundervoll
Inden, Charlotte

Im Warten sind wir wundervoll


sehr gut

Mich kriegt nichts klein

Das Zitat „Mich kriegt nichts klein“ ist das Credo dieses Romans und seiner Hauptfigur Luise Adler, einer jungen Frau, die Vorbild sein kann auch für uns, die wir fast 80 Jahre später leben. Mutig und unerschrocken zeigt sie der Welt die Stirn, verzagt nicht und kämpft für ihr Glück.
Die Schriftstellerin Charlotte Inden schrieb bisher Kinder- und Jugendbücher, nun hat ihren ersten erwachsenen Roman – oder sagt man besser Erwachsenenroman? – vorgelegt und sich eines sehr emotionalen Themas angenommen. Die als War Brides (zu deutsch Kriegsbräute) bezeichneten Frauen, die nach dem zweiten Weltkrieg die Freundinnen, Verlobten und später manchmal sogar Ehefrauen der amerikanischen Besatzungssoldaten wurden, werden hier in einem neuen Licht gezeigt. Der „War Brides Act“, der Ende 1945 diese Beziehungen erlaubte, ist in die amerikanische Geschichte eingegangen. Unzählige Frauen machten sich in der Folge auf, ihren Verlobten in die USA zu folgen.
Der Roman – bzw. die Enkelin Elfie – erzählt die Geschichte von Luise Adler und Joseph Hunter, die alles andere als unkompliziert verläuft. Beginnend am Ende des Krieges, mit der Befreiung Deutschlands durch die Amerikaner, die nicht überall mit offenen Armen empfangen wurden, verläuft der Erzählstrang entlang Luises Leben bis zu dem Punkt, an dem sie „sitzengelassen“ auf dem US-amerikanische Flughafen strandet und dann weiter bis in die heutige Zeit.
Enkelin Elfie erzählt diese Geschichte ihrem zufälligen Sitznachbarn im Flugzeug, als sie auf der Reise von Europa nach Amerika etwas Zuspruch und Hilfe sucht. Der Sitznachbar entpuppt sich als Mann der Tat und des guten Zuhörens, so dass bald auch hier aus Interesse Zuneigung wird. Mehr als das, was aus dem Werbetext hervorgeht, will ich nicht vorwegnehmen, es lohnt sich aus meiner Sicht auf jeden Fall, diesen Roman bis zum Ende selbst zu lesen.
Die Autorin versteht es geschickt, die beiden Erzählstränge zu verknüpfen, es macht wirklich Spaß und erweckte meine Empathie für die Hauptfiguren dieses Buches. Eine moderne, erfrischende Sprache und ein nicht zu ausufernder Schreibstil lassen einen nur so durch die Seiten eilen, um recht bald zu erfahren, was sich noch ereignen wird. Die Charaktere der Protagonisten sind gut beschrieben, einzig Jo ist mir etwas fremd geblieben. Dagegen ist die Figur der Luise Adler einzigartig, wirklich nachvollziehbar und lebendig. Elfie als Gegenpart des zweiten Erzählstranges scheint mir jedoch eher einem Jugendbuch mit noch recht unfertigen Persönlichkeiten entsprungen, aber das ist nun wirklich subjektiv.
Zum Ende des Buches hatte ich aber trotz der flüssig laufenden Story das Gefühl, dass der Autorin die Puste etwas ausgegangen ist. Sollte sie sich vor Abgabe des Manuskripts auf eine genaue Seitenzahl festgelegt haben, hat sie wohl in den ersten 350 Seiten zu viel Pulver verschossen. Seien es Momente im elterlichen Zuhause, in der Wohngemeinschaft oder wo auch immer Luise sich aufhielt, überall war Leben drin, das echt wirkte. Zum Ende hin hätte ich mir genauso schöne und lebendige Szenen gewünscht, wie sie seit Beginn erzählt wurden.
Fazit: Ein Roman über die Nachkriegszeit, der sich mit anderen Romanen dieser Thematik, wie z. B. Stay away from Gretchen oder Als Großmutter im Regen tanzte durchaus messen kann. Lesenswert. Gute 4 Sterne.

#ImWartensindwirwundervoll #NetGalleyDE

Bewertung vom 24.09.2024
An den grünen Hängen des Vesuv
Matisek, Marie

An den grünen Hängen des Vesuv


sehr gut

Italien hat schon so manchen verzaubert – Eine Familiengeschichte

Marie Matisek hat ein Thema aufgegriffen, das nicht nur mich, sondern viele Leser sehr interessiert: woher komme ich, wer sind meine Vorfahren, welche Geheimnisse nahmen sie mit ins Grab?

Selina, aufgewachsen in Wuppertal, Enkeltochter der lebenslustigen rheinländischen Marianne und des italienischen Eisdielenbesitzers Sergio, steht nach dem Tod ihres Großvaters plötzlich vor vielen Rätseln. Warum kam Sergio tatsächlich 1956 nach Deutschland und verließ sein geliebtes Dorf am Fuß des Vesuvs und seine Eltern? Nie wurden die Gründe in der Familie thematisiert, selbst Selinas Vater Marcello kennt sie nicht.

Selina beschließt, ihre „Auszeit“ zu nutzen und endlich ins Land ihrer Vorfahren zu reisen, um die Geheimnisse zu lüften. Wie ihr das gelingt und welche Schwierigkeiten zu überwinden sind, liest sich trotz der dahinter verborgenen Tragik leicht und angenehm. Einen Teil der Zeit in Italien verbringt sie sogar mit ihrem Bruder, der plötzlich als Überraschungsgast auftaucht. Mehr möchte ich zum Handlungsverlauf nicht verraten, ich empfand ihn als spannend und aufschlussreich.

Die ersten Kapitel fand ich nicht besonders aufregend und spielte schon mit dem Gedanken, das Lesen abzubrechen. Aber plötzlich, mit Beginn der Reise, gefiel mir das Buch dann doch von Seite zu Seite besser. Viel Platz wird der Liebesgeschichte von Sergio und Rosa vor seiner Auswanderung nach Deutschland gegeben. Aber das Kapitel 18 über Rosa und ihre Entscheidungen hat für mich den Spannungsverlauf unterbrochen, all das wäre besser am Ende der Spurensuche aufgehoben gewesen. Aber hier haben natürlich Autorin und Lektorat die Entscheidung getroffen. Als Leser muss man trotzdem den Spuren weiter folgen, die Selina und Bruder Fabio verfolgen, die beiden kennen ja das Kapitel 18 nicht.

Etwas irritiert hat mich der Ausdruck „Fremdarbeiter“, der für die Gastarbeiter der 1950er Jahre verwendet wird. Für mich ist diese Bezeichnung verbunden mit dem Nationalsozialismus und den aus vielen besetzten Ländern nach Deutschland zur Arbeit gebrachten Menschen, egal, ob aus Polen, der Ukraine oder Italien. Sie wurden alle mehr oder weniger gezwungen, für Hitlerdeutschland zu arbeiten. Die vielen insbesondere italienischen und türkischen Männer, die ab Mitte der 1950er Jahre zum Arbeiten nach Deutschland kamen, taten dies vor allem wegen der Not und Arbeitslosigkeit in ihren Heimatländern, in Deutschland waren sie in erster Linie willkommene, billige Hilfsarbeiter.

Sehr erfreut habe ich mich an den lebhaften Beschreibungen Italiens, kürzlich war ich in Neapel und auch auf halber Höhe des Vesuvs, an der Amalfiküste und in Neapels Umgebung. Die Autorin beschreibt alles sehr genau und liebevoll. Einfach traumhaft, dieses Italien! Dass Sergios Wohnort tatsächlich ein Fantasieort ist, lässt sie den Leser nicht merken.

Fazit: Ich bewundere die Autorin für ihren Einfallsreichtum und die Umsetzung in einen wirklich lesenswerten Roman. Danke für die gute Unterhaltung. Gute vier Sterne!

#AndengrünenHängendesVesuv #NetGalleyDE

Bewertung vom 10.09.2024
Die Bilder meines Vaters
Goltz, Astrid

Die Bilder meines Vaters


gut

Fragile Utopien zwischen Leben und Tod

Astrid Goltz hat sich mit ihrem Roman des Lebens der Marie Luise Vogeler, genannt Mieke, angenommen, aber es ist keine Biografie im Sinne zusammengetragener Tatsachen, sondern ein Roman. Diese künstlerische Freiheit hat Vor- und Nachteile. Die Autorin verleiht ihrer Hauptperson Mieke ihre Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Träume, Wachträume, all ihre Liebe und Verzweiflung. In chronologischer Reihenfolge lässt sie uns die letzten zwei Jahre des widersprüchlichen Lebens der Mieke miterleiden. Die starke Mieke ist krank, sehr krank, der Krebs wird sie zerfressen, gegen den Krebs ist sie nicht stark genug.
Ein feiner literarischer Kniff lässt den Leser zuerst ihre Kindheit und Jugend erleben und er wird dann Zeuge der großen Liebe zu Gustav Regler. Mieke berichtet zuerst Gustav, dann erzählt sie von der großen Liebe ihrer treuesten und besten Freundin Alice. So bleibt Mieke immer in der Ich-Form des Erzählens, auch dann, wenn sie ihre leisen Selbstgespräche führt, in romantischen, blumigen Bildern denkt und lebt, mit Katzen spricht oder mit einer Hexe.
Ihr Vater, der Maler Heinrich Vogeler, ist ein herber Gegensatz zu Mieke und ihr doch sehr ähnlich. In Worpswede lebt er zuerst auf dem Barkenhoff mit Frau und drei Töchtern, malt und lebt ein Künstlerleben. Das wird ihm dann manchmal recht sauer, besonders, weil mit im Haus auch Ludwig, der Geliebte seiner Frau Martha, ein merkwürdiges Dasein fristet. Als Vogeler es wagt, sich einer neuen Frau zuzuwenden, bricht die Idylle zusammen, Mieke wendet sich beschämt und „entliebt“ von ihm ab. Erst Jahre später kommen sich beide wieder nahe.
Vogeler zieht in den ersten Weltkrieg, der ein Schlüsselerlebnis für ihn wird, wendet sich den Kommunisten zu und wird schließlich in die Sowjetunion ziehen mit seiner Freundin und seinen Idealen. Vogeler ist verblendet vom Sowjetstaat, noch bevor Mieke stirbt, wird er dort auch zu Grunde gehen.
Der Barkenhoff derweil wird verkauft und Martha schafft eine neue Heimstatt für sich, die Töchter und jede Menge Gäste. Martha ist die Pragmatische in der Familie, anpassungsfähig und überlebensfähig, beinahe führt das in der Nazizeit zu einem endgültigen Bruch mit Tochter Mieke.
Mieke geht einen harten Weg, ihre künstlerische Begabung ist bemerkenswert, sie lernt das Goldschmiedehandwerk, zieht als Gelegenheitsarbeiterin durch die deutschen Lande, arbeitet und wird ausgebeutet in Schwerin, macht sich frei und lernt den romantischen Kommunisten, man könnte ihn auch den kommunistischen Romantiker Gustav Regler kennen. Beide bleiben über viele Jahre ein Paar, überstehen Gefahren und sind am Ende dort, wo das Buch beginnt, in Mexico im Exil.
Dieses Buch liest sich nicht schnell und leichtfüßig, es zieht den Leser in einen Sog von Natur- und Zustandsbeschreibungen, die so blumig und wortreich sind, als wären sie nicht von dieser Welt. Ob diese herbe Mieke, dieses norddeutsche Wesen, so gedacht hat? Mir war das zu viel der schönen Schreiberei, dafür muss man wohl künstlerisch, träumerisch und romantisch veranlagt sein.
Eingestreut in die Kalenderblätter – oder Tagebuchseiten, wie man es nennen will, ist nicht wichtig –, sind Beschreibungen von Vogelers Bildern. Nur das Porträt von Mieke schmückt auch das Cover, die anderen Bilder muss man sich vorstellen. Mir fiel das nicht so leicht, deshalb habe ich gegoogelt und die Bilder auch gefunden. Vor ein paar Jahre sah ich Vogeler-Bilder in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die mich sehr beeindruckt haben, in ihrer Farbigkeit und ihrer Schärfe, wie leuchtende politische Plakate. Es ist schade, dass dem Buch – das ja den Titel Die Bilder meines Vaters trägt – nicht ein paar farbige Kunstdruckseiten mitgegeben wurden, die die beschriebenen Bilder zeigen. Die Fotos, auch Bilder des Vaters sind dabei, am Ende des Buches in Schwarz-Weiß sind sie eine schöne Ergänzung. Dass sich der Buchtitel nicht nur auf die materielle Seite bezieht, wird bei Lesen klar, denn es sind wohl vor allem auch die Bilder im Kopf, die die Autorin hier heraufbeschwört.
„Vor dem Tode solltest Du nicht vergessen, gelebt zu haben.“ Ein Zitat, Gustav zugeschrieben, dass das ganze Buch beschreibt, Mieke hat gelebt, aber ein Traumleben war es nicht. Zugleich ist der Roman eine biografische Ergänzung, wenn man Gustav Regler noch nicht kannte.
Fazit: Ein Künstlerroman über eine Künstlertochter, die ein hartes, aber erfülltes und abenteuerliches Künstlerleben gelebt hat. Auf dem Friedhof in Paris denkt Mieke „Ist man überflüssig, wenn man tot ist?“ – wenn man das Buch gelesen hat, beantwortet sich die Frage von selbst.
Gute drei Sterne.