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Benutzername: 
minjo
Wohnort: 
Reutlingen

Bewertungen

Insgesamt 48 Bewertungen
Bewertung vom 21.05.2023
Weniger ist Meer
Neder, Christine

Weniger ist Meer


sehr gut

Christine Neder hat es geschafft. Als Reisebloggerin mit großer Reichweite in der Social Media Welt jettet sie um die ganze Welt, entdeckt die schönsten und entlegendsten Orte, berichtet ihren Lesern davon, dreht Destinationsvideos und lebt somit mehr aus dem Koffer als in ihrer Wohnung in Berlin. Doch nach und nach schleicht sich etwas ein, was ihr das Abschiednehmen von ihren Liebsten immer schwerer macht: die Sehnsucht, irgendwo dauerhaft "anzukommen, ohne dabei stehenzubleiben". Während ihrer Sommer-Auszeit in Portugal hat sie diesen Sehnsuchtsort schließlich gefunden: Aljezur! Auch ihr Partner Paul ist bereit, an der West-Algarve ein neues Leben zu beginnen. Doch zwischen dem Entschluss und ihrem eigenen Haus am Meer liegt noch ein langer Weg ... und Corona ... und ein Baby ...

Dieses Buch versteht sich nicht als Handbuch für Auswanderwillige, sondern eher als Begleiter und Inspirationshilfe, wie die Autorin gleich zu Beginn selbst schreibt. So stellte sie sich viele elementare Fragen, was ihr im Leben wirklich wichtig ist und animiert auch ihre Leser dazu, sich immer wieder selbst zu hinterfragen: was brauche ich wirklich, was kann ich ändern, wovon kann ich mich trennen? Dabei handelt es sich nicht nur um das Entrümpeln von materiellen Dingen à la Marie Kondo, sondern auch um verinnerlichte Glaubenssätze, die einen auf dem Weg zu einem von Ballast befreiten Leben blockieren. Man muss nicht gleich auswandern wollen, um die Gelegenheit zum entrümpeln zu nutzen, auch kleine(re) Änderungen können langfristig schon etwas bewegen und für mehr Klarheit und Zufriedenheit im Leben sorgen.

Persönliche Meinung:
Die erste Hälfte des Buchs ist gespickt mit elementaren Fragen und vielen klugen Weisheiten. Einige davon habe ich mir sogar aufgeschrieben, da ich persönlich etwas damit verbinde, wie z.B. "Angst beginnt im Kopf, Mut aber auch" und
"Freiheit beginnt da, wo die Angst endet". Dennoch, zur Mitte hin wurde es mir dann fast zu viel der Weisheiten und ich war fast schon etwas genervt bei Aussagen wie "wir sind keine Problemsucher, sondern Lösungsfinder". Alles schien der Autorin leicht zu fallen, wenn man nur '"committed" genug ist, um mit den Worten ihres Surfgurus Bernado zu sprechen. Sie ist ein echter Tausendsassa und immer voller neuer Ideen, leider ist sie jedoch nicht committed genug, die Sprache ausreichend zu lernen, um sich in der Landessprache gut verständigen zu können... schade! Die schönen Fotos im Mittelteil sind natürlich der Traum jedes Auswanderer-Träumers: die sehr attraktive und fotogene Autorin weiß als Social Media-Expertin selbstverständlich, wie man sich und die Natur perfekt in Szene setzt; aber es sind auch zauberhafte "ungeschminkte" Fotos dabei, die endlich auch die natürliche, private Christine Neder zeigen. Richtig berührt hat sie mich dann allerdings erst in der zweiten Hälfte des Buches, als sie über zwei kurz aufeinander folgende Schicksalsschläge berichtet und wie sie verzweifelt versuchte, damit klarzukommen. Ja, auch im Paradies bleibt man nicht von tragischen Ereignissen verschont. Ich habe mich in ihrem Bemühen, mit dem Trauma und der Trauer umzugehen, absolut wiedergefunden und fand ihre offenen Worte darüber sehr wohltuend.
Was ich ebenfalls als absolut positiv empfinde, ist, dass sie nicht nur die positiven Aspekte des Auswanderns anspricht, sondern ehrlich auch die weniger schönen Seiten aufzeigt, die langfristig zum Problem werden können.
Ich fand "Weniger ist Meer" authentisch und auch inspirierend, auch der flüssige und bildstarke Schreibstil hat mir gut gefallen, auch wenn es oft recht sprunghaft zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herging und der zeitliche rote Faden dabei manchmal etwas verloren ging.

Fazit:
Leseempfehlung für alle, die etwas in ihrem Leben ändern mögen und etwas Inspiration und Anreize zu schätzen wissen. Ob Weniger ist Mehr oder Weniger ist Meer - man muss ja nicht gleicht auswandern, aber das Buch macht definitiv Lust, sich mit dem Gedanken "was wäre denn, wenn..." mal näher zu befassen.

Bewertung vom 19.03.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Die(ses Buch) spürst du ... Garantiert!

Was das Cover und der Titel nicht geschafft haben, hat der Inhalt zwischen den Buchdeckeln dafür umso mehr - diese Geschichte hat mich schon auf der ersten Seite erfasst, in den Bann gezogen und nicht mehr losgelassen ...

Da ist zum einen natürlich die Story selbst, die tief berührt:
Es fängt ganz unverfänglich mit dem Beginn des Toskana-Urlaubs zweier gut situierter österreichischer Familien an, die sich auf ein paar entspannte Tage unter südlicher Sonne freuen. Zum einen Familie Strobl-Marinek: Mutter Elisa, eine wohl bekannte Politikerin und ihrem besserwisserischen Mann Oskar sowie der 14-jährigen Sophie-Luise und der 9-jährigen Lotte. Sophie-Luise hat durchgesetzt, ihre Schulkameradin Aayana, ein somalisches Mädchen, mitzunehmen, was ihre Mutter nach diversen Widerständen schließlich möglich macht. Das befreundete Ehepaar Melanie und Engelhart Binder und ihrem 9-jährigen Sohn Benjamin, erfolgreiche Winzer, sind ebenfalls mit von der Partie. Kurzum: aus dem entspannten Urlaub wird nichts, denn schon am ersten Abend kommt es zur Katastrophe.

Das Unglück selbst nimmt nur einen kleinen Teil der Geschichte ein, stattdessen geht es darum, was es bei den einzelnen Familienmitgliedern auslöst und wie sie damit umgehen und zurechtkommen. Dabei liegt der Fokus auf Elisa und ihrer Tochter Sophie-Luise. Während Elisa anfangs sehr darum bemüht ist, ihre außereheliche Liebesgeschichte zu verkraften und ansonsten das Unglück aus ihrer politischen Karriere herauszuhalten - was dank der sensationslüsternen Medien und deren oft nicht minder sensationslüsternen Leserschaft natürlich NICHT gelingt - merkt sie zu spät, dass ihre ansonsten als so patent und pflichtbewusst bekannte große Tochter Sophie-Luise in die Drogensucht abrutscht, weil sie sich komplett allein gelassen fühlt und seit dem Unglück von ihren Mitschülern ausgegrenzt und übel gemobbt wird. Sie findet Gehör im Internet, wo sie einen Jungen namens Pierre kennenlernt - doch Pierre ist nicht der, für den sie ihn hält und so ist das nächste Drama vorprogrammiert.
Dann ist da doch das Gewissen von Melanie Binder, die es nicht fassen kann, dass ihre Freundin Elisa aus Angst vor dem politischen Untergang nicht die ganze Wahrheit über das Unglück sagt und stattdessen vor Gericht deren "Schuld" auf sich selbst nimmt, um mit ihrem Gewissen weiterleben zu können.
Unweigerlich kommt im Verlauf des Buches die Frage auf, was eigentlich mit der Familie von Aayana ist und wie diese mit dem Verlust zurechtkommen. Nun, der Autor hat sich das bewusst bis zum Schluss aufgehoben und das nicht ohne Grund, denn deren Schicksal geht wirklich unter die Haut und berührt zutiefst. Ja, es ist die Geschichte einer fiktiven Familie, aber in der Realität passieren unsagbare Dinge wie diese täglich unzähligen Flüchtlingsfamilien und es wird kaum noch wahrgenommen. Deren Anwalt bringt es im Buch auf den Punkt, denn eigentlich ging es nicht nur um die große Frage "Was ist ein Menschenleben wert bzw. was kostet ein Leben?" sondern er gibt den Flüchtlingsfamilien eine Stimme, gehört zu werden: "Anders ist es bei denen da. Die sind zwar auch unter uns, aber nun scheinbar mitten unter uns. Sie sind unter uns in einem anderen Sinne: Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören..."

Mich hat nicht nur die Geschichte selbst mitgerissen, sondern wieder einmal ist es der einmalige Schreibstil von Glattauer. Seine Gabe, mit Worten umzugehen und dabei zielsicher ins Schwarze zu treffen, fasziniert und begeistert mich total!
Sein Stilmix aus verschiedenen Elementen gibt dem Buch die besondere Würze: mal liest es sich wie ein Drehbuch mit wechselnden Dialogen und Blickrichtungen, dazwischen Pressetexte und Bekanntgaben incl. diverser Postings von Lesern, die von verständnisvoll über hämisch bis absolut menschenverachtend reichen - ein guter Querschnitt dessen, was täglich im Netz zu lesen ist. Zudem Plädoyers vor Gericht und diverse Interviews. Der Umfang von knapp 300 Seiten ist eigentlich zu wenig, um allen Facetten wirklich gerecht zu werden. Hier hätte es noch mindestens 100 Seiten benötigt, um noch mehr Tiefe zu erreichen. Dennoch:
Alles in allem ist es eine stimmige Geschichte, die einen als Leser nicht kalt lassen kann. Ich fand die Protagonisten so authentisch, dass ich das Buch mit Wehmut zu Ende gelesen habe, weil ich so gerne wissen würde, wie es mit So-Lu und ihrer Familie und natürlich Aayanas Familie und den Binders weitergeht.

Fazit:
Diese Geschichte geht unter die Haut und bleibt dort auch noch lange. Es ist nicht nur die Story selbst, auch die Schreibkunst von Daniel Glattauer ist ein wahrer Genuss.
Absolute Leseempfehlung!!!

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2023
Das Haus an der Herengracht / Die Magie der kleinen Dinge Bd.2
Burton, Jessie

Das Haus an der Herengracht / Die Magie der kleinen Dinge Bd.2


gut

Zeitlich beginnt die Geschichte 1705 in Amsterdam, wo eine kleine Familie
mühsam den Anschein vor der Amsterdamer Gesellschaft aufrechterhält, immer noch wohlhabend zu sein, um die gerade 18 Jahre alt gewordene Tochter Thea möglichst gut verheiraten zu können. Sie bewohnen ein äußerlich stattliches Haus an der angesagten Herengracht, doch die Familie kämpft seit Jahren darum, sich von vergangenen Skandalen zu befreien und wieder anerkannterTeil der feinen Gesellschaft zu sein. Doch Thea hat andere Pläne und verliebt sich in einen Kulissenmaler. Letztendlich muss sie sich jedoch entscheiden, ob sie ihrem Herzen folgt oder ihre Familie durch eine Heirat mit dem reichen Advokaten Jacob van Loos vor der drohenden Verarmung rettet.

Es gibt bereits eine Vorgeschichte über Nella, Thea's Tante, die in dem Buch "Die Magie der kleinen Dinge" beschrieben wird. Ich kannte die Vorgeschichte nicht und muss sagen, dass ich mir sicher leichter getan hätte, die Familienverhältnisse und vor allem die diversen Geheimnisse der Familienmitglieder sowie deren daraus resultierenden Verhaltensweisen zu verstehen. So tappte ich lange im Dunkeln und musste mir aus Andeutungen selbst einen Reim machen. Manches wird im Laufe der Geschichte zwar klarer, aber vieles bleibt bis zum Ende im Verborgenen. Die Geschichte wird aus der Perspektive der jungen und noch unerfahrenen Thea sowie deren Tante Nella erzählt. Thea ist die Tochter eines Farbigen namens Otto Brandt und der bei Thea's Geburt verstorbenen Amsterdamerin Marin. Um Otto Brandt's interessante Vergangenheit als Sklave auf einer Plantage in Surinam wird ein großes Geheimnis gemacht und man erfährt leider bis zum Schluss nichts näheres darüber - er bleibt im Wesentlichen eine Randfigur, der zuwenig Beachtung geschenkt wird. Ein weiteres "Familienmitglied" ist die Köchin und Hausangestellte Cornelia sowie der Kater Lucas.
Die Geschichte ist in der Gegenwartsform verfasst, was sich für mich bis zum Schluss leider nicht stimmig angefühlt hat, da es mir die Protagonisten und das Geschehen nicht näher gebracht hat. Die Autorin hat mit viel Liebe zum Detail das damalige Leben in Amsterdam beschrieben, wie man gelebt und gewohnt und was in den guten Häusern auf den Tisch gebracht wurde. Auch habe ich einiges über das gesellschaftliche Leben erfahren, welches sicher gut recherchiert wurde. Doch die Menschen selbst wurden eher distanziert beschrieben und so gelang es mir nicht, den Figuren wirklich näherzukommen und mitzufühlen. Erst ganz am Schluss wurden Thea und Nella "menschlicher" und dadurch spannender. Leider endete das Buch gerade dann, als es endlich begann, interessant zu werden.

Persönliche Meinung:
Das schöne, auf die Geschichte zugeschnittene Cover hatte mich neugierig gemacht, doch leider habe ich mir mit diesem Buch über weite Strecken sehr schwergetan. Das Verhalten von Thea und Nella konnte ich nur bedingt nachvollziehen, da diese beiden Hauptprotagonisten zu oberflächlich skizziert waren und viele Geheimnisse, die das Verstehen erleichtert und einem die Figuren näher gebracht hätten, nicht ausreichend aufgeklärt wurden. Der Schreibstil hatte etwas hölzernes und es kam keine echte Spannung auf, obwohl das Potential dafür dagewesen wäre. Erst ganz am Schluss, der den Beginn eines Neuanfangs für die ganze Familie einläutete, wurde es annähernd emotional. Dennoch blieben bis zum Ende viele Fragen unbeantwortet, was mich als Leser dann doch etwas enttäuscht und unbefriedigt hinterlässt. Vielleicht wird es einen dritten Teil geben, in dem die eine oder andere dieser Fragen beantwortet wird, allerdings hat die Autorin keinen Hinweis im Anschluss darauf gegeben, ob eine Fortsetzung geplant ist.

Durchaus interessanter historischer Roman mit viel Potential aber (zu) wenig Spannung, der letztlich mehr Fragen offenlässt als er beantwortet.

Bewertung vom 17.01.2023
Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11
Läckberg, Camilla

Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11


ausgezeichnet

Spannender neuer Fall aus Fjällbacka - Alte Sünden verjähren nicht

Zum Inhalt:
Das beschauliche Fjällbacka wird zum Schauplatz gleich zweier brutaler Morde.
Der bekannte Fotograf Rolf wird bei der Vorbereitung seiner neuen Ausstellung mit einer Nagelpistole erschossen und nur kurz darauf werden Peter und seine Kinder im Schlaf getötet. Hängen diese zwei Fälle miteinander zusammen und wenn ja, wie? Während Patrik Hedström mit seinem Team die Ermittlungen aufnimmt, wird seine Frau Erica, die eine erfolgreiche Krimi-Schriftstellerin ist, auf einen alten Fall im Stockholm der 80-er Jahre aufmerksam gemacht und beginnt erste Recherchen. Bald schon stellen Patrik und Erica fest, dass der damals ungelöste Mord mit den aktuellen Geschehnissen zusammenhängen. Alte Sünden aus der Vergangenheit kommen ans Licht und nichts ist so, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.

Zum Buch:
"Kuckuckskinder" ist ein weiterer Fall der seit Jahren bestehenden erfolgreichen Serie von Camilla Läckberg. Die Hauptprotagonisten sind Patrik Hedström, Ermittler bei der Kripo Tanum und seiner Frau Erica, einer bekannten Schriftstellerin, die ihre Nase allzu gern in die Fälle ihres Mannes steckt und quasi backstage mitermittelt. Weitere bekannte Protagonisten sind die Kollegen von Patrik namens Martin, Paula, Annika, Gösta und der faule Dienststellenleiter Bertil. Und natürlich die Familie rund um Patrik und Erika: ihre drei kleinen Kinder, ihre Schwester Anna und die oftmals anstrengenden Eltern. Familiäre Angelegenheiten aller Protagonisten nehmen viel Raum ein, dadurch lernt man die Akteure gut kennen und kann ihre Handlungsweisen gut nachvollziehen. Mir persönlich gefällt das sehr gut, wenn die Ermittler mit all ihren persönlichen Facetten viel Raum bekommen - ich finde sie dann umso autthentischer und die ganze Geschichte berührt mich mehr. Man muss die Serie übrigens nicht kennen, um gut mitzukommen. Der aktuelle Fall entblättert sich langsam, aber stetig, die Spannung steigert sich kontinuierlich. Bis fast zum Schluss ist es unklar, wer der Täter ist und die Auflösung birgt noch so manche Überraschung.

Persönliche Meinung:
Für mich war es ein Wiedersehen mit den bereits liebgewonnenen Figuren Patrik und Erica, die mir inzwischen wirklich ans Herz gewachsen sind, da sie so authentisch und mit Ecken und Kanten beschrieben sind. Auch schätze ich es, dass es etwas dauert bis zur Auflösung und sich die Teile Stück für Stück wie ein Puzzle zusammenfügen, bis man das komplette Bild sieht. Dies ist kein reißerischer, blutrünstiger, schneller Plot, bei dem jedes Kapitel mit einer Cliffhanger endet, sondern ähnelt eher einem genussvollen mehrgängigen Menü.
Da ich ein großer Schweden-Fan bin, freute ich mich auch hier wieder über viel Lokalkolorit.

Fazit:
Absoluter Lesegenuss für alle, die einen sehr guten nordischen Krimi zu schätzen wissen.

Bewertung vom 28.11.2022
Der große Coup des Monsieur Lipaire / Die Unverbesserlichen Bd.1
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Der große Coup des Monsieur Lipaire / Die Unverbesserlichen Bd.1


gut

Vorhang auf für Monsieur Lipaire und seine bunte Dilettantentruppe

Vorab: Das Cover und auch den Titel finde ich sehr gelungen, ein richtiger Eyecatcher, der neugierig macht und schon konkrete Hinweise daraufhin liefert, was den Leser zwischen den Buchdeckeln erwartet.

Guillaume Lipaire - bzw. Wilhelm Liebherr - versucht das Beste aus seinem Leben nach der Trennung von seiner Frau zu machen und verdient sich neben seinem Job als Hausmeister im südfranzösischen Port Grimaud mit nicht ganz legalen Nebenvermietungen etwas dazu. Ansonsten lässt er es sich gutgehen und träumt davon, wieder zu Geld zu kommen. Als er jedoch in einer der Villen, die er betreut, eine männliche Leiche findet, hat er ein Problem, denn wenn er den Fund meldet, würde sein lukratives Nebengeschäft auffliegen. Also muss die Leiche weg und so wird sie kurzerhand mithilfe seines jungen Freundes Karim in der Bucht vor Port Grimaud versenkt. Doch damit fangen die Probleme eigentlich erst an und schnell kommen sie dahinter, dass die Leiche dabei war, eine örtliche Adelsfamilie um eine große Summe zu erleichtern. Kohle, die sie selbst ganz gut gebrauchen könnten ... Gemeinsam mit ein paar Gleichgesinnten, die sich alle mit kleinen Gaunereien über Wasser halten, versuchen sie, an das Geld zu kommen, bevor die Adeligen ihnen den Coup ihres Lebens vermasseln können.

Auf knapp 500 Seiten toben sich die mit dem Allgäuer Kultkommissar Kluftinger bekannt gewordenen Autoren Klüpfel und Kobr auf neuem Terrain und mit einer komplett neuen Idee aus. Sie wechseln dafür von der guten Seite des Kripo-Ermittlers auf die Seite der Leichtkriminellen. In einem sind sie sich aber treu geblieben: der Humor darf natürlich auch hier nicht zu kurz kommen und auch in Südfrankreich gibt es Fettnäpfchen en masse, in die Lipaire - der Hauptprotagonist - und seine kuriose Truppe in regelmässigen Abständen zielsicher tappen. Mit Lipaire selbst konnte ich mich leider bis zum Schluss nicht anfreunden, er ist mir zu glatt, unauthentisch, ein Schleimer, vor allem Frauen gegenüber bzw. allen, von denen er etwas haben will. Die weiteren Charaktere Karim, Jacqueline, Paul, Delphine und Lizzy sind unterhaltsam und entsprechen in jeder Hinsicht dem Anforderungsprofil: dilettantisch und unverbesserlich, aber durchaus sympathisch. Über die Nachvollziehbarkeit der Geschichte sowie der Handlungen einzelner Personen darf man sich bei dieser Geschichte nicht zu viele Gedanken machen: das Buch soll den Leser ja erheitern und unterhalten. Dennoch habe ich mich leider oft an sehr konstruierten Dialogen und hölzerner Ausdrucksweisen gestört, die einfach zu sehr gewollt-lustig daherkamen. Viele unnötig ausführliche Szenen hätte eine Überarbeitung und Kürzung gutgetan, um mehr Dynamik in die Story zu bringen. Hier hätte dem Buch ein finaler Feinschliff von einem erfahrenen Lektoren gutgetan.

Persönliche Meinung:
Es war höchste Zeit für einen Tapetenwechsel für die Autoren. Kluftinger ist auserzählt und sollte dringend in den Ruhestand geschickt werden oder den Heldentod sterben dürfen - die Fettnäpfchen werden zunehmend haarsträubender und Kluftinger wird nicht nur unglaubwürdiger sondern auch ins Lächerliche gezogen, viele Dialoge und Situationen ad absurdum geführt. Die Autoren haben sich gegenseitig überschlagen, um immer noch einen draufzusetzen und das fand ich im Lauf der Kluftinger-Entwicklung üer die Jahre immer überzogener.
Nun hat das Autorenduo also Monsieur Lipaire das Leben geschenkt und auch hier stellte ich fest, dass es allzu oft einfach zuviel des Guten ist und ich ertappte mich schon nach den ersten 100 Seiten, dass es mir zunehmend schwerer fiel, Situationen und Dialoge witzig zu finden und begann, mich zu fragen, ob die mit diesem Band begonnenene Reihe eine Art "Ocean's Eleven"-Serie auf Klüpfel/Kobr-Art werden soll? Zudem gab es mehr als deutliche Parallelen zu Louis de Funès. Insgesamt war die ganze Story sehr langatmig und aufgebläht, es dauerte lange, bis die Geschichte überhaupt in die Gänge kam, aber wirklich spannend wurde es bis zum Schluss nicht, es plätscherte entspannt dem Finale entgegen, ohne große Höhen und Tiefen. Dadurch fiel es mir schwer, dranzubleiben und die Geschichte wirklich bis zum Ende zu lesen. Eine Fortsetzung ist angekündigt - allerdings ohne mich als Leser.

Fazit: Ein nettes Katz- und Maus-Spiel an der idyllischen südfranzösischen Küste für unterhaltsame Lesestunden ohne Tiefgang - nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Bewertung vom 28.10.2022
Kalt und still / Hanna Ahlander Bd.1
Sten, Viveca

Kalt und still / Hanna Ahlander Bd.1


ausgezeichnet

Für die junge Stockholmer Polizistin Hanna kommt es knüppeldick: Zuerst macht ihr Chef ziemlich unmissverständlich klar, dass sie sich eine andere Dienststelle suchen soll und stellt sie mit sofortiger Wirkung frei. Zuhause erwartet sie der nächste Tiefschlag: ihr Freund beendet die Beziehung und gibt ihr eine Woche Zeit, aus der Wohnung auszuziehen. Im Ferienhaus ihrer Schwester in Nord-Schweden verkriecht sich Hanna und leckt ihre Wunden, doch das Verschwinden eines jungen Mädchens dort lässt sie nicht los und so rutscht sie mehr oder weniger in den laufenden Fall und ergänzt bald das Ermittler-Team um Daniel Lindskog, Anton und Raffe. Bald müssen sie erkennen, dass nichts so ist, wie es nach außen hin scheint...

Mit "Kalt und still" beginnt Bestseller-Autorin Viveca Sten eine neue, vielversprechende Serie mit der Hauptprotoagonistin Hanna Ahlander. Die Handlung spielt in Are, einem beliebten Skiort im Norden Schwedens. Mit Hanna hat die Autorin eine spannende Figur geschaffen: auf den ersten Blick wirkt sie sehr introvertiert und auf ihren Job fixiert, doch je besser man sie kennenlernt, umso mehr erwärmt man sich für sie, denn sie hat das Herz auf dem rechten Fleck und wehrt sich gegen Ungerechtigkeit und falsche Loyalität. Sie leidet darunter, den Erwartungen ihrer Mutter nicht gerecht zu werden und hegt große Selbstzweifel. Auch der Ermittlungsleiter Daniel Lindskog ist einer der Hauptfiguren und ist wie Hanna ein Charakter mit Ecken und Kanten. Man fühlt mit, wie er den Spagat zwischen junger Familie und der Auflösung dieses Falles hinzubekommen versucht. Hanna und Daniel ergänzen sich gut und es läuft wohl darauf hinaus, dass diese beiden künftig gemeinsam ermitteln. Auch die weiteren Figuren sind gut ausgearbeitet und das Zerbrechen der fiktiven Familie Halvorssen geht wirklich unter die Haut. Durch die Zeitform Präsens ist alles sehr direkt und unmittelbar und durch die kurzen Kapitel wird das Tempo der Geschichte deutlich forciert. Die Spannung baut sich langsam, aber stetig auf. Es ist kein Krimi, wo sich die Aktionen wild überschlagen, alles läuft etwas entspannter auf die finale Auflösung zu, aber das tut dem Lesevergnügen absolut keinen Abbruch.

Mir hat der erste Fall mit Hanna Ahlander sehr gut gefallen und ich habe mich bestens unterhalten gefühlt. Ich habe mitgelitten - sowohl mit Hanna und Daniel, als auch ganz besonders mit dem Schicksal der Familie Halvorssen: wie schnell kann eine bisher (scheinbar) intakte Familie aus dem Gleichgewicht geraten und zerbrechen.... Doch auch das Schicksal der Menschen, die unter falschen Versprechungen und voller Hoffnung ins Ausland gelockt werden und dort gnadenlos ausgebeutet werden, wird einem schmerzlich vor Augen geführt. Dies passiert ja nicht nur in Schweden, sondern überall, auch in Deutschland.

Ich freue mich schon auf den nächsten Fall dieser neuen Serie und hoffe sehr, dass Viveca Sten nicht allzu lange mit der Fortsetzung auf sich warten lässt.

Bewertung vom 14.08.2022
Lebe deinen Traum / Die Köchin Bd.1
Durst-Benning, Petra

Lebe deinen Traum / Die Köchin Bd.1


ausgezeichnet

Der erste Gang ist angerichtet ... bon appetit et chapeau!

Worum geht’s?
1880 Südfrankreich – Die junge Fabienne wächst als Tochter eines Schleusenwärters am Canal du Midi auf. Als ihre Mutter stirbt und der Vater alsbald eine neue Frau ins Haus holt, plant sie mit ihrem Freund heimlich ein neues Leben. Doch es kommt anders und sie landet in Carcassonne, wo sie die Bekanntschaft der jungen, geheimnisvollen Stéphanie macht, die ihr zu einer Anstellung auf dem Chateau ihrer Eltern verhilft. Fabienne ist glücklich, denn kochen ist ihre größte Leidenschaft. Doch dann schlägt das Schicksal noch einmal unerbittlich zu und Fabienne begibt sich erneut auf die Reise. Eine Reise, die sie quer durch Frankreich führt und sie viele wertvolle Erfahrungen machen lässt...

Zum Buch:
„Die Köchin – Lebe deinen Traum“ ist der erste Band der neuen historischen Trilogie von Bestsellerautorin Petra Durst-Benning. Er beschreibt Fabiennes Leben ab ihrem siebzehnten Lebensjahr und begleitet sie, bis sie Mitte zwanzig ist. Die Persönlichkeit Fabiennes wurde sehr klar herausgearbeitet - mit Fabienne hat die Autorin eine Protagonistin erschaffen, die man schnell ins Herz schließt und mit der man mitfiebert- und leidet. Mit der charismatischen, narzisstisch veranlagten Stéphanie wurde ein interessanter Gegenpol geschaffen, der sehr zwiespältige Gefühle auslöst. Die erste Begegnung der beiden auf dem Chateau endet schicksalhaft, aber man spürt, diese zwei Frauen werden sich in den nachfolgenden Bänden der Trilogie sicher wiedersehen. Auch die historischen Hintergründe und Lokalitäten des Romans sind sehr gut recherchiert und fließen harmonisch in die Geschichte ein. Eines wird schon in diesem ersten Teil sehr deutlich: es ist eine kulinarische Genussreise quer durch Frankreich. In nahezu jedem Kapitel meint man, neben Fabienne in der Küche zu stehen und all die Düfte und Aromen zu riechen und zu schmecken – es ist buchstäblich Lesen mit allen Sinnen und lässt einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sehr gelungen und insgesamt stimmig ist auch die ganze Aufmachung vom Cover über die Kapitelgestaltung bis zum Anhang, welcher noch einige Rezepte zum nachkochen beinhaltet.

Persönliche Meinung:
Man schlägt das Buch auf, fängt an zu lesen und kann es dann kaum noch aus der Hand legen. Das ist definitiv einer der großen Stärken der Autorin: man ist sofort mittendrin und bleibt es bis zum Ende. Ich bin selbst keine leidenschaftliche Köchin, aber das muss man auch nicht unbedingt sein, um diesen Roman genießen zu können.
Fabienne ist eine Protagonistin, die man schnell ins Herz schließt und deren Handlungen nachvollziehbar und schlüssig sind. Für meinen Geschmack ist sie etwas zu brav, aber das kann sich ja in Band 2 und 3 noch ändern. Sehr gespannt bin ich auch auf die weitere Entwicklung von Stéphanie, die ich fast noch interessanter finde als Fabienne. Auf jeden Fall haben beide Persönlichkeiten noch genug Entwicklungspotential und ich bin mir sicher, da wird noch einiges passieren.

Fazit:
Gelungener Auftakt einer neuen, mitreissenden Trilogie. Hier kommen nicht nur Hobbyköche auf ihre Kosten - am besten Termine für die nächsten 1-2 Tage absagen, zurücklehnen und genießen!

Bewertung vom 10.08.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


weniger gut

Worum geht’s?
Susanna Faesch wird 1844 als jüngstes Kind einer gutbürgerlichen Familie in Basel geboren und zeigt schon früh ihren außergewöhnlichen Charakter. Als sie acht Jahre alt ist, verlässt ihre Muter ihren Vater und nimmt Susanna mit, um mit ihr ein neues Leben in New York mit dem Freund ihres Mannes, dem Arzt Karl Valentiny zu beginnen. Schon in jungen Jahren macht sich Susanna einen Namen in ihrem Viertel Brooklyn als Porträtmalerin. Sie heiratet und bekommt einige Jahre später ein Kind. Jahrelang lebt sie mit Valentiny und ihrer Mutter unter einem Dach, bis beide versterben. Mit Mitte 40 schließlich bricht Susanna mit ihrem Sohn zu einer Reise in den Mittleren Westen auf, wo sie die Bekanntschaft von Häuptling Sitting Bull macht, der die amerikanischen Ureinwohner zum Widerstand gegen die Regierung anführt, die immer größere Anteile ihrer Territorien für die Besiedlung durch Weiße freigibt.

Zum Buch:
Eines muss man Alex Capus lassen: er ist ein großartiger Geschichtenerzäler. Wobei sein Buch „Susanna“ nicht einfach eine Geschichte ist, sondern eine biographische Erzählung über das Leben von Susanna Faesch, die wohl bekannter unter ihrem Künstlernamen Caroline Weldon ist, den sie sich in mittleren Jahren zugelegt hat. Alex Capus' etwas antiquierter Schreibstil passt wunderbar zu dieser Erzählung und zu der Zeit des späten 19. Jahrhunderts, um die es hier geht. Die Perspektive wechselt gerade in der ersten Hälfte des Buches mehrmals, so lernt der Leser auch die Eltern von Susanna sowie Karl Valentiny näher kennen. Für die doch überschaubare Gesamtseitenzahl von 286 nehmen diese Exkursionen jedoch sehr viel Raum ein. Die Geschichte dümpelt über lange Strecken vor sich hin und erst, als es mit Susanna's Aufbruch gen Westen interessanter zu werden verspricht, nimmt das Buch ein geradezu abruptes und nicht sehr schlüssiges Ende. Über Susanna Faesch aka Caroline Weldon ist im Internet und zahlreichen Publikationen viel zu finden, sogar verfilmt wurde ihr eindrucksvolles Wirken für die Rechte der amerik. Ureinwohner. Umso weniger kann ich nachvollziehen, warum der Autor sich auf die erste Lebenshälte Susanna's konzentriert, die im Vergleich zu ihrem späteren Wirken als Bürgerrechtlerin doch wenig Ereignisreiches bietet. Er beleuchtet Susanna's Wesen und Leben von allen Seiten, doch wieviel davon ist Fiktion und wieviel Wahrheit? Hierzu hätte ich mir spätestens einen Epilog des Autors gewünscht, in dem er auf diese Punkte näher eingeht. Doch es findet sich weder ein Prolog noch ein Epilog. Das Covermotiv ist zwar sehr interessant, lässt den Leser aber genauso wie der Klappentext doch etwas anderes erwarten, als dann tatsächlich geliefert wird.

Persönliche Meinung:
Da ich bisher von Alex Capus nichts gelesen habe, war ich frei von Erwartungen und habe mich aufgrund der interessanten Leseprobe sehr auf das Buch gefreut. Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen, da er doch etwas besonderes ist. Leider wurde der weitere Verlauf der autobiographischen Erzählung dann aber zunehmend zäh und ich musste mich immer wieder motivieren weiterzulesen in der Hoffnung, dass es bald interessanter werden möge, sobald Susanna auf Sitting Bull trifft. Susanna Faesch ist mir leider nicht wirklich nähergekommen. Sie mag eine faszinierende Frau ihrer Zeit gewesen sein, aber leider ist der Funke nicht übergesprungen, dies zu vermitteln. Das Ende ist zudem wohl der künstlerischen Freiheit zum Opfer gefallen, denn in Wahrheit hat sich lt. historischer Quellen die Verbindung zu Sitting Bull anders zugetragen. Schade, aus diesem Buch hätte man mehr machen können und müssen!

Fazit:
Interessanter Schreibstil, aber das alleine tröstet nicht über die Tatsache hinweg, dass man über die „wahre“ Susanna Faesch/Caroline Weldon nicht wirklich viel erfährt und selbst davon ein großer Teil fiktiv sein dürfte.

Bewertung vom 03.07.2022
Findelmädchen
Bernstein, Lilly

Findelmädchen


ausgezeichnet

Worum geht's?
Helga, 15, und ihr ein jahr älterer Bruder Jürgen erfahren bei ihren Pflegeeltern Claire und Albert in Frankreich, dass ihr Vater den Krieg überlebt hat und in ihrer Heimatstadt Köln auf sie wartet. Die Wiedervereinigung mit ihrem leiblichen Vater ist herzlich, doch von ihrer Mutter fehlt jede Spur. Gerade Helga kann den Gedanken nicht aufgeben, was damals in ihrer Kindheit passiert sein mag. Sie beginnen ihr neues Leben in Köln, Jürgen geht bei Ford in die Lehre und Helga wird gegen ihren Willen auf der Haushaltsschule angemeldet, was sie sehr unglücklich macht, da es ihr sehnlichster Wunsch ist, auf's Gymnasium zu gehen. Im Rahmen eines Praktikums wird Helga in ein Waisenhaus geschickt und erlebt dort, wie unendlich grausam mit den Kindern umgegangen wird. Besonders die kleine, dunkelhäutige Bärbel wird seelisch und körperlich gequält und Helga kann nicht anders, sie muss handeln...

Zum Buch:
"Findelmädchen" ist die Fortsetzung von "Trümmermädchen", konzentriert sich aber auf die Geschichte von Helga und Jürgen. Man muss den ersten Band nicht gelesen zu haben, um den Nachfolger zu verstehen, beide stehen auch sehr gut für sich alleine. Es spielt in Köln Mitte der 50-Jahre: die Stadt ist immer noch deutlich gekennzeichnet mit Brandnarben aus dem Krieg, viele Menschen leben in halben Ruinen, Flüchtlinge aus den Ostgebieten darben ein armseliges Leben. Doch überall ist die Stadt im Aufbruch und die jungen Leute tanzen ausgelassen zur Musik von Elvis Presley, tragen Jeans und Petticoats und begehren gegen ihre Eltern auf. Was die 50-er Jahre ausmacht, wurde sehr anschaulich im Buch umgesetzt, man spürt förmlich den Puls der Zeit.
Doch hinter den oft glitzernden Fassaden gibt es immer noch die alten, harten Strukturen und Hierarchien. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Waisenhäuser und dem Schicksal der Besatzerkinder. Was sie ertragen mussten, mag sich kaum ein Mensch vorstellen. Der gut recherchierte Blick hinter diese Kulissen ist wirklich kaum auszuhalten ...Und wieder einmal bewahrheitet es sich: die wahre Bestie ist der Mensch (selbst wenn sie als Nonne daherkommt).
Auch die weiteren Charaktere wie z.B. Fanny sind authentisch und mit ihrer eigenen interessanten Geschichte ausgestattet, die nach und nach ans Tageslicht kommt.

Persönliche Meinung:
"Findelmädchen" hat mich von der erste Seite an mitgerissen. Helga und Jürgen sind mir schnell ans Herz gewachsen, weshalb ich vor allem mit Helga sehr mitgelitten habe und ihre Empfindungen und Handlungen gut nachvollziehen konnte. Die Autorin hat einen wunderbaren, warmherzigen Schreibstil und ihre Geschichte gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt. Ganz besonders mitgenommen haben mich die Geschehnisse im Waisenhaus und ich fragte mich ein ums andere Mal, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind. Was dort und in vergleichbaren Einrichtungen geschah, ist ja kein Fantasiekonstrukt der Autorin, sondern leider die bittere Wahrheit, wie man inzwischen weiß.
Im übrigen finde ich es absolut richtig, dass im Buch das N-Wort verwendet wurde: es ist ein Zeugnis der damaligen Zeit und gehört somit auch nicht verfälscht.

Fazit:
Ein wunderschöner Roman, der auch die dunklen Seiten der Vergangenheit nicht auslässt und Wahrheit mit Fiktion verschmelzen lässt. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.06.2022
In fünf Jahren
Serle, Rebecca

In fünf Jahren


ausgezeichnet

Die Ankündigung auf dem Cover "Dies ist eine Liebesgeschichte ... aber nicht die Liebesgeschichte, die du erwartest." trifft absolut ins Schwarze! DIESE Liebesgeschichte habe ich so nicht erwartet und umso mehr hat sie mich daher berührt und mitgerissen.

Doch von Anfang an:
Die junge Anwältin Dannie lebt ein durchgetaktetes Leben in New York. Wie ihr Freund David verfolgt auch sie ehrgeizig ihre beruflichen Ziele und weiß auch im Privatleben ganz genau, was sie will und wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Es läuft alles "nach Plan", doch dann hat sie am Abend ihrer Verlobung einen Traum, der sie genau fünf jahre in die Zukunft versetzt. Sie wacht in einer ihr fremden Wohnung auf, mit einem fremden Mann. Obwohl sie nach diesem Erlebnis wieder in ihrer vertrautetn Wohnung aufwacht, lässt sie diese Zukunftsvision nicht mehr los. Etwa vier Jahre später trifft sie den Fremden wieder - es ist ausgerechnet der neue Partner ihrer besten Freundin Bella. Was hat das alles nur zu bedeuten?

Zum Buch:
Das ansprechende Cover verspricht auf den ersten Blick eine kurzweilige Liebesgeschichte, doch schon recht bald merkt man, dass sich zwischen den Buchdeckeln wesentlich mehr verbirgt als ein oberflächliches Leseerlebnis. Dannie erzählt die Geschichte aus ihrer Perspektive (ich-Form), wodurch man sie im Laufe der Geschichte recht gut kennenlernt, jedoch verblassen dadurch die weiteren Figuren zwangsläufig etwas - was schade ist, denn diese sind ebenfalls interessant und hätten das Potential, mehr Raum in der Geschichte einzunehmen. Doch der Umfang von 317 Seiten ließ das wohl einfach nicht zu. Der Story hätten weitere 150 Seiten gutgetan, um noch mehr Tiefe zu erreichen. Die Kapitel haben eine angenehme Länge und der Schreibstil ist sehr flüssig und bildstark. Besonders das Leben in der Weltmetropole New York wird sehr lebendig beschrieben. Wer die Stadt schon erleben durfte, wird das Big Apple-Feeling bestimmt schätzen.

Persönliche Meinung:
Ich brauchte etwas Zeit, um mit Dannie warm zu werden. Ihre stets kontrollierte Daten-Zahlen-Fakten-Attitude waren mir einfach zu fremd, um mich zu berühren. Doch das änderte sich spätestens, als ihre Freundin Bella krank wird. Dannies Fassade beginnt zu bröckeln, ihre selbsterrichtete Schutzmauer (die nur dazu da war, sie vor einem weiteren schweren Verlust wie den ihres Bruders zu schützen) bekommt Risse und zum Vorschein kommt die wahre Dannie, wodurch es klarer wird, warum diese so unterschiedlichen Charaktere von Dannie und Bella in so unverbrüchlicher Freundschaft zueinander gefunden haben. Das Ende der Geschichte war für mein Empfinden zu kurz und zu abgehackt. Hier hätte ich mir doch sehr gewünscht zu erfahren, wie Dannie den Verlust erlebt und wie sie damit umgeht. Doch das kam gerade am Ende viel zu kurz. Mich haben auch die gut verpackten Lebensweisheiten und so manche poetische Stelle sehr berührt. Kurzum: ich konnte das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen und es ist so manche Träne geflossen.

Fazit:
Für mich eines der Buchhighlights 2022 und deshalb eine absolute Leseempfehlung!